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Leo Pavlät "V JÜDISCHE MÄRCHEN Illustrationen von Jin Behounek DAUSIEN
Inhaltsverzeichnis Chanukka (Einleitung) 7 ERSTES LICHT (Von der Erschaffung der Welt und den Urvätern Abraham und Mose«) Der jüdische Kalender 10 Vom Engel Schemchasaj 12 Abraham erkennt den Allmächtigen 16 Eliezer in Sodom 18 Die Rettung von Moses 21 Moses’ Stab 24 Die stärksten Waffen 29 Warum der Rabe hüpft 30 ZWEITES LICHT (Von den Königen David und Salomon) Das geliehene Ei 32 Davids Tod 35 Die Rätsel der Königin von Saba 37 Die neugierige Frau 42 Die drei Brote 46 Der Tempel der Bruderliebe 49 Salomon und Aschmodaj 51 Der Fuchs als Anwalt 59 Der dumme Esel 60 DRITTES LICHT (Vom Propheten Elias) Elias, der Gerechte 62 Wanderungen mit Elias 65 Das Geschenk des Propheten 68 Was Gott tut, das ist wohlgetan 71 Der undankbare Hirsch 75 Kopf und Schwanz 76 VIERTES LICHT (Von den Herrschern und Weisen, die einst im Heiligen Land lebten) Alexander und die jüdischen Weisen 78 Der geduldige Hillel 82 Rabbi Chanina ben Dossa 85 Der Rabbi und der Traumdeuter 89 Simeon ben Jochai, der Wundertäter 92
Wie dem Todesengel das Schwert entrissen wurde 95 Choni, der Kreiszeichner 97 Der Fuchs und die Fische 101 Der Fuchs im Weinberg 102 FÜNFTES LICHT (Von den sephardischen Juden im Orient und in Südeuropa) Der kluge Sohn 104 Ein Jerusalemer in Athen 107 Die Leuchtkäfer von der Feigenquelle 109 Der Wundersamen 112 Der kluge Maimonides 115 Traum und Wirklichkeit 118 Der Rat des Vaters 122 Des Teufels böses Weib 124 Samar, der Sängerberg 128 Das Lösegeld des Abraham ibn Esra 131 Ein Festmahl beim Löwen 133 Vergebliche Rache 134 SECHSTES LICHT (Von den Aschkenasim in Mittel- und Osteuropa) Der betrogene Betrüger 136 Ein Traum geht in Erfüllung 138 Der kleine Richter 141 Ein Festmahl bei Rabbi Löw 144 Wie Rabbi Löw den Golem schuf 147 Golem, der gehorsame Knecht 151 Pinkas und der Graf 155 Hütet euch vor dem Wolf 159 Der Streit der Bäume 160 SIEBTES LICHT fVon den Chassidim - Besondere Juden unter allen anderen) Das Chanukkalicht 162 Der Bock mit den Menschenaugen 166 Wie Feiwel auszog, um sich selbst zu suchen 171 Der Zaddik von Lisensk 175 Das Suppenhuhn 179 Die Bäume und das Eisen 183 Gold und Eisen 184 ACHTES LICHT (Chelm, das jüdische Schilda) Wie man in Chelm baute 186 Vom neugierigen Gejzel 190 Die Ziege des Lehrers 195 Wie man in Chelm Geschäfte machte 199 Wie der Fuchs den Leviathan überlistete 204 NEUNTES LICHT (Der Schammes - das Bedienungslfcht) Vom Ende der Welt 210 ] 6 [
Chanukka ZlZZtf jüdischen Feste sind schön. In ihren uralten Traditionen und Bräuchen, den feierlichen Gottesdiensten in der Synagoge, den Liedern, die nur an diesen Tagen gesungen werden und den Speisen, die man nur an diesen Tagen zubereitet, liegt ihr einmaliger Zauber. Es sind unvergeßli- che Augenblicke im Kreise der Familie und die jüdischen Kinder erleben sie an der Seite der Erwachsenen - Jahr um Jahr. Alle jüdischen Feste sind schön. Aber eines ist den Kindern am liebsten: Chanukka, das Lichterfest... Vor vielen Jahrhunderten wollte der seleukidische König An- tiochus Epiphanes die Juden zwingen, sich vom Glauben ihrer Väter loszusagen. Er verbot ihnen, zum einzigen Gott zu beten, die Heilige Schrift zu lesen und zu studieren, die Feiertage und die Gesetze ihrer Vorfahren einzuhallen. Antiochus war ein harter Herrscher, der über ein starkes Heer verfügte. Er ließ alle Juden, die seine Befehle nicht befolgten, töten. Schließlich wurde auch ihr Heiligtum, der Tempel von Jerusalem, entweiht. Da erfaßte die Juden Ratlosigkeit und Verzweiflung. Wohin sollten sie sich wenden ? Einige flohen in die Berge, um hier die Worte der Schrift zu befolgen, aber nicht einmal dort waren sie vor den Häschern des Antiochus sicher. In jenen Tagen suchte der Hohepriester Mattatias mit seinen fünf Söhnen die gesetzestreuen Flüchtlinge auf und ermutigte sie, sich zur Wehr zu setzen. Judas Makkabäus, sein ältester Sohn, stellte ein kleines Heer zusammen, und drei Jahre nachdem Antiochus sein schimpfliches Dekret erlassen hatte, errangen die Makkabäer den Sieg über den überlegenen Gegner. Nachdem sie die Sünder geschlagen hatten, betraten die Helden den verwüsteten Tempel, säuberten ihn und entfernten die Götzenbilder und be- ] 7 [
reiteten alles zu seiner Wiedereinweihung vor. Alles war bereit, nur der sicbenarmige Leuchter, die Menora, mußte angezündet werden. Dazu aber benötigte man ein besonderes Olivenöl, aber nur ein kleines Kännchen war noch vorhanden. Das war zu wenig, denn die Menora darf nicht erlöschen und das öl reichte höchstens einen einzigen Tag. Gleichwohl entzündeten die Makkabäer den Leuchter und dankten Gott für seine Hilfe. Da ließ er ein Wunder geschehen: Die von einem einzigen Kännchen Öl gespeisten Lichter brannten nicht nur am ersten Tag, sie brannten auch am zweiten und am dritten - sie brannten volle acht Tage, bis die Priester neues öl angefertigt hatten. Zur ewigen Erinnerung an den Sieg der Makkabäer und an das Lichtwunder, feiern die Juden das Lichterfest Chanukka. Die Kinder lieben dieses Fest, weil sie an diesem Tag Geschenke be- kommen und süßes, nur für diese Tage bestimmtes Gebäck essen dürfen. Vor allem aber freuen sie sich auf das Lichteranzünden, das den Kindern Vorbehalten ist. Am ersten Tag zünden sie das erste Licht an und jeden weiteren Tag eines mehr. Und am achten Tag strahlt dann der Chanukkaleuchter in vollem Glanz. Chanukka beginnt im Winter, nach dem jüdischen Kalender am 25. Tag des Monats Kislew. Es ist die Jahreszeit, in der die Tage am kürzesten und die Nächte am längsten sind. Eine Zeit, wie geschaffen zum Erzählen von Märchen, Geschichten und Le- genden. Die meisten von ihnen, der schon viele Generationen lauschten, kann man in diesem Buch lesen. Seme acht Themen- kreise erinnern an die acht Lichter des Chanukkaleuchters. Ein jedes Licht erzählt von einer anderen Zeit und einem anderen Land, denn schon Jahrtausende leben die Juden im Exil, verstreut unter anderen Völkern der Erde. Erst in unseren Tagen konnten viele in ihre neue Heimat, in das Land ihrer Vorfahren zurück- kehren. Die Chanukkalichter werden mit einem neunten Bedienungslicht, das Schammes genannt wird, angezündet. Dieses hebräische Wort bedeutet „Diener“. Und auch der Schammes hat in diesem Buch seine Geschichte - es ist das Märchen vom Ende der Welt. Es soll daran erinnern, daß unsere Welt ohne Nächstenliebe nicht voll- ständig ist: Weil nur die Liebe das Licht der Weisheit und des Witzes zu einer gesunden Flamme zu entfachen vermag. ] 8 [
ERSTES LICHT Von der Erschaffung der Welt und den Urvätern Abraham und Moses
Der jüdische Kalender Vor unendlich langer Zeit hat der Allmäch- tige viele Welten geschaffen, die er wieder zerstörte, da sie ihm nicht gefielen. Schließ- lich hob er seine Rechte und spannte den Himmel, dann streckte er die Linke und schuf die Erde. So entstand die Welt, auf der wir alle leben. „Allmächtiger Gott!“ seufzte die Erde. „Ich bin so weit entfernt von dir, der Himmel ist dir nah, ich bin einsam und allein.“ Gott aber erwiderte: „Dir soll kein Unrecht geschehen, ich habe für alles, was ich geschaffen habe, vorgesorgt. Menschen und Tiere, Bäume, Pflanzen und Vögel werden dich bevölkern. Bald wirst du voll Duft sein, es werden Blumen blühen, Früchte reifen, die Menschen und Tiere ernähren.“ Da beruhigte sich die Erde und Gott ging an seine Arbeit, denn die Schöpfung war noch nicht vollendet. Er schuf die Sonne und den Mond. Kaum waren sie am Himmel aufge- gangen, verschwand die Finsternis und die ganze Welt war voll Licht. Sonne und Mond waren damals gleich groß, denn Gott hatte ihnen die gleiche Macht verliehen. Sie strahlten mit gleicher Helligkeit und wechselten einander am Firmament ab. Indes - der Mond war unzufrieden. Er wollte größer und mächtiger sein als die Sonne. Also nahte er sich dem Thron des Ewigen und sprach: „Es ist nicht gut, daß zwei Könige nebeneinander regieren. Einer muß sich dem anderen unterordnen, so hast du es in der Welt eingerichtet.“ Gott grämte sich. ,Ich wollte Ruhe und Frieden für alle', dachte er, ,und schon ist der Neid auf der Welt/ Er maß den Mond mit traurigem Blick und sprach: „Wenn du so denkst, will ich einen Teil von dir in Milliarden Sterne verwandeln und du sollst in ihrem Glanz verblassen. Weil du der Sonne das Licht neidest, sollst du es von nun an von ihr empfangen. Und weil du glaubtest, ich würde dich, Ungerechter, erhören, so wie ich die gerechte Erde erhörte, sollst du in ihrem Schatten stehen.“ Und schon schrumpfte der Mond zusammen. 1 10 [
Da brach der Mond in Tränen aus. „Herr der Welt“, flehte er, „verzeih mir und er- barme dich meiner!“ „Mein Wort kann ich nicht zurücknehmen“, sagte Gott, „aber es sei dir ein Trost, daß Myriaden von Sternen dich umgeben werden, und die Juden werden Jahre und Tage nach dir berechnen und nie vergessen, daß Neid auch des hellste Licht verblassen läßt.“ Seither begleiten die Sterne den Mond und die Juden richten ihren Kalender nach ihm. Sie berechnen das Jahr nicht nach dem Sonnenumlauf, wie andere Völker, sondern nach den Mondphasen. Und wenn die Mondsichel zunimmt, beten die Israeliten im Schein des Mondes ein besonderes Gebet. In diesen Augenblicken ist der Mond am glück- lichsten. Er wird zum Vollmond, auf den die Erde keinen Schatten wirft; und während er seinen Schöpfer preist, vergißt der Mond seine uralte Sünde. £ ] 11 [
Vom Engel Schemchasaj Ais die Erde noch jung war und die er- sten Menschen sie bevölkerten, waren die Mädchen so schön, daß die Engel ihre Augen nicht von ihnen lassen konnten. Sie scharten sich in den himmlischen Gefilden zusammen und blickten hinab auf die Menschentöchter, diese bezaubernden irdischen Geschöpfe mit den strahlenden Augen und dem lockigen Haar, die leichtfüßig dahinliefen wie Ga- zellen. Die Himmelsbewohner erfaßte die Sehnsucht, sich den Töchtern der Menschen zu nähern. Und als ob sie diese Sehnsucht ahnten, blühten die Mädchen auf wie Knospen in der Frühlingssonne. Eines Tages konnten die Engel Asahel und Schemchasaj ihre Sehnsucht nicht mehr bezwingen. „Wir wollen zur Erde hinabsteigen“, beschlossen sie, „und Menschentöchter heiraten. Aus der Verbindung ihrer Schönheit mit unserer himmlichen Macht sollen Kinder mit wunderbaren Eigenschaften hervorgehen.“ Asahel und Schemchasaj vertrauten sich den anderen Engeln an. Die Engel berieten sich; die Mädchen gefielen allen, aber viele vertraten die Ansicht, daß ein Himmelsbe- wohner sich mit keinem menschlichen Wesen vereinen solle. Doch etliche waren bereit, den Himmel zu verlassen und zur Erde hinabzusteigen. Gott versuchte, ihnen ihr Vorhaben auszureden. Er warnte sie, daß eine Verbin- dung mit irdischen Geschöpfen nur Unglück über die Welt bringen würde. Aber ihre Sehnsucht hatte die Engel taub gemacht, und so schwebten sie hinab zum Berg Hermon, von dessen Gipfel man die ganze Welt überblicken kann. Nichts entging ihren Blicken, und so w’ählte sich jeder Engel das Mädchen aus, das ihm am besten gefiel, und die Töchter der Menschen, geschmeichelt vom Interesse der Himmlischen, willigten ein, sie zu heiraten. Die Engel bauten ihren Frauen neue, feste Häuser, sie lehrten sie den Boden zu be- bauen und Bäume zu pflanzen, sie zeigten ihnen, wie man sich das Feuer zum Helfer macht und sie lehrten die Menschen das Schreiben und das Lesen. Bald wurde die Welt unter ihren geschickten Händen zu einem blühenden Garten. 1 12 [
Der Engel Schemchasaj hatte wohl die schönste Frau. Sie hieß Istar, und Schemchasaj liebte sie, wie nur ein Engel lieben kann. Istar aber wurde immer trauriger und ver- schlossener. Und je mehr der Engel versuchte, sie zu zerstreuen, um so betrübter wurde sie. Da fragte Schemchasaj: „Istar, sage mir doch, was dich bedrückt! Ich will dir jeden Wunsch erfüllen, der dich glücklich macht!“ „Jeden Wunsch ?“ flüsterte Istar, „wirklich ?“ „Jeden!“ rief Schemchasaj. Da richtete Istar ihre dunklen Augen auf den himmlischen Gatten und sagte: „Ach, Schemchasaj, ich, ein Menschenkind, sehne mich so sehr danach, in Gottes Nähe zu weilen. Nichts wünsche ich mir mehr, als in seiner Nähe zu sein und ihn mit seinem heiligen Namen anzusprechen. Also halte dein Versprechen und verrate mir seinen Namen.“ Da bereute Schemchasaj sein Versprechen und bat seine Frau, ihren WTunsch zurück- zunehmen. Er erklärte ihr, daß es nur einigen Auscrwählten erlaubt sei, Gottes Namen zu kennen und auszusprechen. Istar aber bestand auf ihrem Wunsch, und schließlich verriet ihr Schemchasaj schweren Herzens, was bislang allen Sterblichen verborgen war. Kaum hatte Istar das Wort erfahren, eilte sie auf das Dach ihres Hauses, streckte ihre Arme zum Himmel empor und wandte ihr Antlitz dem Himmel zu. Und ihre Lippen formten den Namen, mit dem nur die Himmlischen den Allmächtigen rufen. Da leuchtete Istars Körper auf wie reines Gold: Der Allmächtige hatte sie gehört und er hob das Menschenkind zu sich hinauf in den Himmel und verwandelte es in einen strahlenden Stern. Der Engel Schemchasaj aber mußte auf der Erde bleiben. Er war verzweifelt und seine Tränen flössen Tag und Nacht. Seine schöne Frau aber konnte ihm niemand mehr zurückgeben. Bald nachdem Istar verschwunden wrar, gebaren die Frauen der anderen Engel ihre Kinder. Tagelang feierte man das Ereignis. Aber der Wein war noch nicht ausgetrunken, als der Jubel verstummte, um dem Entsetzen Platz zu machen. Anstatt der edlen Wesen, die aus der Verbindung der Engel mit den Menschen hervorgehen sollten, wuchsen die Neugeborenen vor den Augen der Menschen zu Riesen heran. Bald maßen sie dreitausend Ellen und sie stürzten sich auf die Früchte der menschlichen Arbeit. Sie fraßen die Ernte von den Feldern und das Obst von den Bäumen. Und bald begannen die Menschen zu hungern. Dann verschlangen die Riesen auch die Tiere. Als keine Kamele, Pferde und Kühe mehr da waren, töteten sie die wilden Tiere in den Wäldern und die Vögel, die Schlangen und die Fische in den Flüssen und Meeren. Am Ende bedrohten sie auch die Menschen. In ihrer Angst flohen diese in die Berge und verbargen sich in Felshöhlen und Erdlöchem. Die Riesen aber begannen nun, sich untereinander zu bekriegen und gegenseitig aufzufressen, und ihre schrecklichen Kämpfe verwüsteten das Land. 1 13(

Nicht einmal die Engel vermochten es, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Sie flohen vor ihren riesigen Söhnen, und manche Engel gesellten sich zu den Riesen und verbreiteten so das Böse in der Welt. Der Engel Asahel aber begann die Männer zu lehren, wie man Schwerter und Lanzen, Schilde und Rüstungen schmiedet. Die Frauen betörte er mit prächtigen Gewändern, mit Gold und Edelsteinen. Da hatten die Frauen nur mehr Interesse an den Gewändern und kostbarem Schmuck, und die Männer zogen mit ihren Schwertern und Lanzen in den Krieg. Die Völker begannen einander umzubringen und ihre Leichen dienten den Riesen als Nahrung. Viele der Engel bereuten nun, daß die Schönheit der irdischen Geschöpfe sie ver- führt hatte, den Himmel zu verlassen. Sie bedauerten, Gottes Warnungen mißachtet zu haben. Auch Schemchasaj bereute, was er getan. Ohne Istar war ihm das Leben auf der Erde zur Qual geworden und die von den Riesen geplagte und dem Unheil der Kriege preisgegebene Welt vergrößerte noch sein Leid. Und als Schemchasajs Schmerz bis zum Himmel gestiegen war, erbarmte sich Gott und nahm ihn wieder in die himmlischen Gefilde auf. Von dort sah er die Strafe, die Gott über die Welt schickte: Die Sintflut kam, um das Böse zu ertränken. ] 15 [
Abraham erkennt den Allmächtigen nis Abraham, der Erzvater der Juden, ge- boren wurde, waren schon viele Jahre seit der Sintflut vergangen. Die Menschen aber waren nicht besser geworden. Sie beteten Götzen an, und ihren Schöpfer, den einzigen wahren Gott, hatten sie vergessen. Als Kind mußte Abraham mit seinem Vater Terach in einer Felsgrotte leben, da Nimrod, der grausame König, ihm nach dem Leben trachtete. Die Seher hatten Nimrod prophe- zeit, daß sein Volk einst in dem der Juden, der Nachkommen Abrahams, aufgehen werde. So wollte Nimrod alle Knaben töten lassen. Abraham hatte jahrelang kein Tageslicht gesehen, und als er zum ersten Mal die Sonne erblickte, rief er voller Staunen aus: „So viel Licht kann nur derjenige verbreiten, der die Welt regiert!“ Und Abraham verneigte sich tief vor der Sonne. Abends jedoch ging die Sonne unter und am Firmament erschien der Mond in Beglei- tung der Sterne. Da meinte Abraham: „Ich habe mich geirrt. Dieses Licht ist mächtiger. Es ist zwar kleiner und schwächer als das andere, jedoch Myriaden leuchtender Diener begleiten seinen Weg.“ Und Abraham hob die Arme zum Himmel und pries den Mond. In der Morgendämme- rung aber verschwand der Mond, und die Sonne ging wieder auf.,Seltsam*, dachte Abra- ham, ,diese beiden müssen einander am Himmel abwechscln. Aus eigenem Willen würden sie das wohl kaum tun. Sicher gehorchen sie einem Unsichtbaren, der stärker ist als sie. Sein Antlitz kann man nicht sehen, aber es muß ein erhabener und starker Herrscher sein, dem alles untertan ist.* So erkannte Abraham den einzigen Gott, aber er behielt seine Gedanken für sich, be- sonders vor seinem Vater Terach. Terach betete Götzenbilder an, brachte ihnen Opfer dar und stellte sie auch selbst aus Ton her. Er war ein geschickter Handwerker; die Menschen kauften gern seine 1 16 [
Götzenbilder, und Terach hoffte, sein Sohn würde sein Handwerk fortsetzen. Gott aber hatte es anders beschlossen. Eines Tages mußte Terach verreisen und er vertraute Abraham sein Haus und seine Ware an. Bald nachdem er fortgegangen war, pochte ein Käufer an die Tür. „Was wünschst du?“ fragte der junge Abraham. „Meine Frau hat mich geschickt, einen Götzen zu kaufen“, erwiderte der Mann. Da fragte ihn Abraham: „Wie alt bist du ?“ „Sechzig Jahre“, erwiderte der Käufer. „Sechzig Jahre?“ lachte Abraham. „Und da willst du einen Götzen verehren, der erst einen Tag alt ist?“ Da schämte sich der Mann und ging nach Hause. Am nächsten Tag betrat eine Frau mit einer Schüssel Mehl den Laden. „Nimm diese Schüssel Mehl und opfere es dem Götzen.“ „Was für ein Unsinn!“ ereiferte sich Abra- ham. Dann ergriff er ein Beil und zertrümmerte aus Zorn über die menschliche Dumm- heit die tönernen Götzenbilder. Nur das größte verschonte er und gab dieser Figur das Beil in die Hand und stellte die Schüssel mit dem Mehl zu ihren Füßen ab. Als Terach von seiner Reise zurückkam und die Verwüstung sah, verlangte er empört eine Erklärung von Abraham. „Sei mir nicht böse, Vater“, sagte Abraham, „mir ist ein seltsames Ding widerfahren. Vor einigen Tagen hat eine Frau eine Schüssel Mehl gebracht, damit ich sie deinen Götzen opfere. Kaum aber hatten diese das Mehl erblickt, begannen sie zu streiten. Jeder von ihnen wollte als erster essen. Schließlich ergriff der größte ein Beil und begann, die anderen Götzenbilder zu zertrümmern. Das Mehl aber hat er nicht verzehrt. Wenn du es wünschst, Vater, will ich ihn fragen, ob er denn keinen Hunger hat.“ Kaum hatte Terach diese Worte gehört, schrie er erbost: „Was ist denn das für ein Geschwätz? Wie können denn Figuren aus Ton, die ich mit eigenen Händen geformt habe, Hunger verspüren oder sich gegenseitig zerschlagen ?“ „Siehst du, Vater“, lachte Abraham, „du sagst es selbst: Deine Götzen haben Augen, aber sie sehen nicht, sie haben Ohren, aber sie hören nicht, sie haben Nasen, aber sie riechen nicht, sie haben Münder, aber sie können nicht sprechen, sie haben Füße, aber sie gehen nicht! Sie sind nicht mehr als ein Stück Ton, das Menschenhand formen und Menschenhand zerstören kann!“ Da schwieg Terach, weil er keine Worte der Erwiderung fand. Abraham jedoch war frohen Mutes, und seither verbarg er nicht mehr, daß er den einzigen Gott erkannt hatte, den Allmächtigen, der den Himmel und die Erde und auch die Menschen erschaffen hat. $ J W(
Eliezer in Sodom Abraham seine Frau Sarah heiratete, nahm er einen Knecht ins Haus, den frommen Jüngling Eliezer. Eliezer war ein treuer Diener, ein ehrlicher und aufrichtiger Mensch, wie es nur wenige gibt auf der Welt. Einmal hörte Abraham, daß in Sodom besonders böse und gottlose Menschen wohnen. Man erzählte unglaubliche Dinge... Vier Richter gab es in Sodom: Lügner, Verlogener, Fälscher und Rechtsbeuger. Wenn jemand das Ohr eines seinem Nachbarn gehörenden Esels abschnitt, urteilten sie: Man lasse ihm den Esel, bis das Ohr nachgewachsen ist. Wer einen Ochsen besaß, mußte einen Tag lang Gemeindehirt sein, wer keinen hatte - zwei Tage. In der Nähe von Sodom führte eine Brücke über ein Bächlein, bei deren Überschreiten jeder Fremde eine Gebühr zahlen mußte. Wenn er über die Brücke ging, kostete es vier Sus, wenn er durch das seichte Wasser watete, mußte er doppelt so viel zahlen. Denn in Sodom mochte man keine Fremden. Wenn ein Bettler kam, gab ihm jedermann einen Denar, auf dem der Name des Spenders geschrieben war, aber Brot gab man ihm nicht. Wenn der arme Teufel dann vor Hunger starb, bekam jeder seinen Denar wieder zurück. Diese häßlichen Geschichten raubten Abraham den Schlaf und er gebot seinem treuen Eliezer nachzusehen, ob sie auf Wahrheit beruhten. Eliezer machte sich nach Sodom auf, kam gegen Abend an und ging geradewegs in ein Gasthaus. Bevor er eintrat, blickte er durch das Fenster. Er sah zwei Betten, und auf jedem lag ein gefesselter Mann. Der eine hatte lange Beine, die über das Fußende hinausragten, und der Wirt schickte sich gerade an, sie abzuschneiden. Auf der anderen Bettstatt lag ein Mann von kleinem Wuchs, dem sie zu lang war. Zwei Männer waren dabei, ihn in die Länge zu ziehen. Eliezer, der groß und kräftig war, hatte keine Angst und betrat seelenruhig das Gasthaus. Der Wirt begrüßte ihn freundlich und forderte ihn auf, gleich zu Bett zu gehen, da er doch sicherlich müde sei von der Reise. Eliezer aber sagte: „Ich habe seit dem Tod meiner Mutter ge- lobt, nicht mehr in einem Bett zu schlafen.“ Und der Wirt und seine Gehilfen mußten zusehen, wie er sich auf den Boden zur Ruhe legte. ] 18 f
Da schäumte der Wirt vor Wut, aber mit diesem baumlangen Burschen wollte er sich lieber nicht anlegen. Frühmorgens rief er die Sodomher zusammen, weckte Eliezer und schob ihn energisch zur Tür hinaus. Vor dem Gasthaus hatte sich schon eine erregte Menge versammelt, die Eliezer beschimpfte und ihn mit Kot und Steinen bewarf. Eliezer ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, aber ein Stein traf ihn so hart am Kopf, daß Blut aus der Wunde rann. Da verstummte die Menge, und aus ihrer Mitte trat ein Richter und der Mann, der den treuen Knecht Abrahams verwundet hatte. „Ich sehe“, sagte der Richter zu Eliezer, „daß der Mann dich zur Ader gelassen hat. Du schuldest ihm dafür fünf Sus. Ich verurteile dich, deine Schuld sofort zu begleichen.“ Eliezer wurde zornig. „Solche Sitten herrschen hier ?“ sagte er. „Gut. Wie du mir, so ich dir.“ Und Eliezer hob einen Stein, verwundete den Richter und rief: „Zahle dem Mann die Belohnung, die ich von dir zu erhalten habe, und wir sind quitt!“ ] 19 [
Ohne die Antwort des Richters abzuwarten, ging Eliezer weiter. Da er schon einige Tage unterwegs war, verspürte er großen Hunger, aber niemand gab ihm zu essen. Vergeblich klopfte Eliezer an, man jagte ihn fort wie einen Hund. Schließlich - er war schon ganz erschöpft - gelangte er zu einem Haus, wo eine Hochzeit gefeiert wurde. Die Tische bogen sich unter der Last der Speisen und Getränke, doch immer wurden neue Gerichte aufgetragen. Eliezer hatte so großen Hunger, daß er sich ohne zu fragen an die Tafel setzte. „Wer hat dich eingeladen?“ fragte sein Tischnachbar. „Das weißt du nicht mehr?“ antwortete Eliezer. „Du warst es doch, der mich ein- geladen hat!“ Der Mann sprang auf und floh vor Entsetzen, denn hier wurde Gastfreundschaft mit dem Tode bestraft. Die gleiche Antwort gab Eliezer seinem zweiten Tischnachbarn und auch dem dritten und vierten - bis er schließlich ganz allein an der Festtafel saß. Da aß Eliezer sich satt und kehrte wohlbehalten zu Abraham zurück. X? ]20[
Die Rettung von Moses \x>r langer, langer Zeit gab es so wenige Ju- den auf der Welt, daß alle einander kannten und beim Namen nennen konnten. Abra- ham und seine Frau Sarah hatten einen Sohn, der Isaak hieß, Isaaks Gattin Rebekka wurde ein Sohn namens Jakob geboren. Aber die Jahre flössen dahin, die Sonne ging auf und unter, und auch Jakobs Nachkommen erblickten das Licht der Welt: So ent- standen die zwölf Stämme Israels. Die Kinder Israels lebten schon lange nicht mehr unter einem Dach, ihnen gehörten viele Zelte, man konnte sie schon zu Tausenden zählen. Aber sie hatten kein Land, das ihnen gehörte. Daher lebten sie in Ägypten, dort regierte ein mächtiger Pharao, der das jüdische Volk haßte. Der Herrscher Ägyptens ließ sie harte Frondienste verrichten und befahl, alle neugeborenen Knaben im Nil zu ertränken, damit sich die Israeliten nicht vermehrten und ihre Zahl nicht größer werde als die der Ägypter. Gott sah, wie bitter die Knechtschaft Israels in Ägypten war und er beschloß, seinem auserwählten Volk einen Retter zu senden. Dieser sollte den Pharao bestrafen und die Israeliten aus Ägypten führen. Sein Name war Moses. „Welch schöner Knabe!“ rief Moses’ Mutter aus, als er geboren wurde. „Könnte er uns nur helfen“, seufzte sein Vater. Und die Eltern blickten einander traurig an, weil auf Befehl des Pharaos kein jüdischer Knabe am Leben bleiben durfte. Die betrübten Eltern überlegten, was sie tun könnten, bis sie einen rettenden Gedanken hatten. Sie würden das Gebot Pharaos einhalten und das Kind in den Nil werfen, aber in einem mit Pech abgedichteten Schilfkörbchen. „Vielleicht wird jemand das Körbchen aus dem Wasser ziehen und den Knaben retten!“ hoffte die Mutter. Und vorsichtig ließen sie das Kind in das Wasser des Nils, und das Körbchen schwamm stromabwärts, bis es sich endlich im Schilf verfing. Batja, die Tochter des Pharaos, ging mit ihren Dienerinnen am Fluß entlang. Da bemerkte sie im Schilf das Körbchen, in dem der kleine Moses lag. „Seht nur!“ rief Batja aus, „was ich gefunden habe!“ Und schon eilte sie zum Schilf, ]21[
um das Körbchen herauszuziehen. Sie streckte ihren Ann aus, aber so sehr sie sich auch bemühte, die Entfernung war zu groß. Da tat der Erzengel Gabriel ein Wunder und ver- längerte Batjas Arm, so daß sie das Körbchen aus dem Wasser ziehen konnte. Kaum war es auf dem Trockenen, so geschah ein weiteres Wunder: Der häßliche Ausschlag, der die schöne Prinzessin bis dahin verschandelt hatte und den kein Arzt zu heilen vermochte, war verschwunden. Die glückliche Batja schloß das Knablein in ihre Arme und eilte zum Palast zurück. Als der Vater sah, daß ein Wunder geschehen war, erlaubte er ihr, das Kind zu behalten. Moses war gerettet! Und die ägyptische Prinzessin umhegte ihn, als wäre er ihr eigenes Kind. Bald liebte der ganze Hof das aufgeweckte Kind, sogar der Pharao pflegte ihn auf seinen Knien zu schaukeln. ]22(
Eines Tages, Moses mochte drei Jahre alt gewesen sein, spielte er auf Batjas Schoß. Auf einmal griff er nach der Krone Pharaos und setzte sie sich aufs Haupt Da erinnerte sich der Pharao der Prophezeiung, daß derjenige, der nach seiner Krone faßte, sich ganz Ägypten untertan machen werde. Sogleich berief der Pharao seine Ratgeber zu sich, um das Ereignis zu deuten. War es nur ein kindliches Spiel oder eine böse Vorbedeutung ? Man sollte das Kind töten, entschieden seine Ratgeber, nur einer von ihnen, der weise Jithro, wollte nicht so schnell urteilen. „Großer Pharao!“ sagte er. „Um Gewißheit zu erlangen, lege man dem Kind auf der einen Seite funkelnde Edelsteine, auf der anderen glühende Kohlen hin. Wenn das Kind, wie es alle Kinder tun, nach dem Feuer greift und nicht nach den Edelsteinen, so ist keine Gefahr vorhanden.“ Dieser Rat gefiel dem Pharao, und die Diener brachten eine Schüssel mit glitzernden Edelsteinen und eine andere mit glühenden Kohlen. Moses hatte schon sein Händchen nach dem größten Edelstein ausgestreckt, als der Erzengel Gabriel seine Hand lenkte und er in die Schüssel mit glühender Kohle griff. Vor Schmerz steckte er schnell die verbrannten Finger in den Mund, und da noch ein Stückchen glühende Kohle an ihnen haftete, verbrannte er sich auch die Zunge. Mit Gottes Hilfe war Moses zum zweiten Mal gerettet. Aber solange er lebte, sollte seine behinderte Sprache an dieses Ereignis erinnern. o. |23(
Moses’ Stab Seit dem Tag, an dem die Tochter des Pha- raos, Batja, den kleinen Moses aus dem Nil gerettet hatte, waren viele Jahre vergangen. Aus Moses war ein gut aussehender Jüngling geworden. Er wußte, daß er ein Jude war, obgleich er das Gewand eines ägyptischen Höflings trug. Moses wußte auch, wie bitter sein Volk unter der Knechtschaft litt, er kannte die Trauer der jüdischen Mütter, die ihre neugeborenen Söhne hergeben mußten. Einmal, als Moses sich vor dem Palast erging, rissen ihn Schmerzensschreie aus seinen Gedanken. Er hob den Kopf und sah, wie ein ägyptischer Soldat jüdische Arbeiter züchtigte. Moses konnte das nicht mit ansehen und er stürzte sich auf den Aufseher und erschlug ihn in seinem Zorn. Was nun ? Zum Pharao konnte Moses nach dieser Tat nicht mehr zurückkehren, dieser könnte ihn mit dem Tode bestrafen. Daher ergriff er die Flucht. Viele Tage irrte er in den Bergen umher und verbarg sich in Felshöhlen, bis er schließlich bei dem Priester Jithro Zuflucht fand, der ihm schon einmal geholfen hatte. Jithro war ein weiser Mann. Er konnte aus den Sternen lesen und erkannte die geheimen Gedanken der Menschen. Er verstand sich darauf, die Geheimnisse der Natur zu deuten und sah, was anderen Sterblichen verborgen blieb. Einst hatte auch der Pharao von Jithros Weisheit gehört und ihn als Ratgeber an seinen Hof berufen. Jithro hatte dem Herrscher Ägyptens viele Jahre treu gedient. Und als er in seine Heimat zurückkehren wollte, fragte ihn der Pharao, welchen Lohn er wünsche. „Ich habe einen langen Weg vor mir“, sagte Jithro, „gib mir den Stab, der in einer Kammer deines Palastes liegt, damit ich mich auf ihn stütze!“ Der Pharao wunderte sich über den bescheidenen Wunsch. Er hatte erwartet, Jithro würde eine große Summe Geldes oder kostbare Edelsteine verlangen. Und bereitwillig erfüllte er Jithros Wunsch. Doch Jithro wußte, daß dieser Stab aus dem Holz des Baumes der Erkenntnis, der einst im Paradies wuchs, geschnitzt war. ]24[
Als Adam aus dem Paradies verstoßen wurde, erhielt er den Stab von seinem Schöpfer, damit er ihn tröste in seinem Kummer. Der Stab besaß Wunderkräfte - er verscheuchte die Müdigkeit und mit seiner Hilfe wurde auch die schwerste Arbeit leicht. Von Adam erbte der fromme Noah den Stab. Er half ihm beim Bau der Arche, in der er die Sint- flut überstand, und dann kam der Stab zu Abraham, dem Stammvater der Juden. Er begleitete seinen Sohn Isaak und dessen Nachkommen Jakob, Jakobs Sohn Joseph verhalf der Wunderstab zur einflußreichen Stelle eines Verwalters in Ägypten; und die Wunder, die er mit seiner Hilfe tat, brachten Wohlstand über das Land. Als Joseph ]25(
gestorben war, ließ der Pharao sich den Stab bringen. In der Hand des ägyptischen Herrschers aber schien er seine Zaubermacht verloren zu haben, geriet in Vergessenheit, bis ihn Jithro als Lohn für seine Dienste bekam. Jithro beschloß, den Stab im Garten seines Hauses in die Erde zu pflanzen. Er legte ihn daher beiseite, um eine Grube zu schaufeln, als etwas Seltsames geschah: Der Stab schlug ganz plötzlich tiefe Wurzeln, aber er blieb kahl und trieb weder Blätter noch Blüten. Jithro wollte ihn umsetzen, aber so sehr er sich auch bemühte - cs gelang ihm nicht, ihn herauszuziehen. Jithro hatte eine Tochter, von deren Schönheit man im ganzen Lande sprach. Man nannte sie Zippora - das Vögelchen. Kein Tag verging, ohne daß ein Brautwerber in Jithros Haus gekommen wäre. Junge und alte Männer bewarben sich um die schöne Jungfrau, sie boten ihr ihren Reichtum und ihre Macht an, Zippora aber führte sie alle in ihres Vaters Garten, wo der Stab aus dem Holze des Baumes der Erkenntnis in der Erde steckte. „Wer den Stab herausziehen kann“, sagte sie, „den will ich zum Mann nehmen.“ Zippora war nicht nur schön, sie war auch klug. Sie wußte, daß der Stab nur dem Auscrwählten Gottes gehorchen würde. Nachdem in Jithros Haus Moses aufgenommen worden war, machte er sich nützlich und trieb die Schafe auf die Weide. Er sah wohl, wie schön Zippora war, und bald liebte er nicht nur ihr Antlitz, ihren leichten Gang und ihr Lachen, er liebte auch ihr freundliches Wesen. Es gefiel ihm, wie arbeitsam das Mädchen war, und er wünschte immer inniger, Zippora möge seine Frau werden. Aber er scheute davor zurück, sich dem Wunderstab zu nähern. Er hatte gesehen, wie die stärksten Männer versagt hatten und wollte es daher gar nicht erst versuchen. So dachte er nur an Zippora, ohne zu wissen, daß auch er ihr gefiel. Zippora jedoch suchte immer häufiger seine Nähe und ertappte sich dabei, daß sie fürchtete, einem ihrer Bewerber könnte es gelingen, den Stab herauszuziehen. Aber niemandem gelang es, den Stab auch nur einen Fußbreit zu verrücken. Moses trieb frühmorgens die Schafe auf die Weide und in der Dämmerung kehrte er mit der Herde zurück. Eines Tages, als ihn die Gedanken an die für ihn unerreichbare Zippora und an sein unglückliches Volk so sehr quälten, daß er in Tränen ausbrach, ertönte vom Himmel eine Stimme: „Moses“, sprach Gott zu ihm, „gräme dich nicht! Kehre zu Jithro zurück und gehe in den Garten. Niemand konnte bisher den Stab herausziehen, dir aber soll es gelingen. Nimm ihn, um mit seiner Hilfe das Volk Israel zu retten.“ Moses tat, wie Gott ihm geheißen hatte. Jithro sah mit Staunen, wie Moses die Herde schon am Mittag nach Hause trieb, aber Zippora war froh, ihn zu sehen. Sie hatte an Moses gedacht, als er in den Garten ihres Vaters eilte. Moses ergriff den Stab und sah, daß an seinem Ende die Buchstaben eingegraben waren, die den heiligen Namen Gottes bedeuten. Moses sprach den Namen aus, und in diesem Augenblick löste sich der Stab ]26[


aus der Erde. Moses hob ihn hoch über sein Haupt. Zippora stand neben ihm, er umarmte sie, und wenige Tage später feierten sie in Jithros Haus Hochzeit. ,Gott hat mir Zippora geschenkt*, sagte Moses zu sich, ,und der Stab soll auch meinem Volk die Freiheit bringen.* So geschah es auch. In Moses Händen hatte der Zauberstab seine Macht wiederer- langt, und weder der Pharao noch seine Heere konnten ihm widerstehen. So löste Moses sein Versprechen ein, er befreite das Volk Israel aus der ägyptischen Knechtschaft. Moses lebte dann noch viele Jahre glücklich mit Zippora, und ihnen wur- den zwei Söhne geboren, Gerschom und Eliezer. Den Stab jedoch erbten sie nicht, und nach Moses* Tod hat ihn niemand mehr gesehen. ]28(
Die stärksten Waffen Am Abend des sechsten Schöp- fungstages berief Gott alle Lebewesen zu sich. Da versammelten sich alle und priesen ihn, wie vollendet er sie erschaffen hatte. Jedes Geschöpf dankte Gott, nur das Lamm schwieg und schien an der allgemeinen Freude nicht teilzunehmen. „Was fehlt dir?“ fragte Gott, „warum bist du traurig und stumm, während die anderen Geschöpfe lobpreisend zu mir emporschauen ?“ „Ach, mein Herr und Schöpfer“, erwiderte das Lamm, „wie gern würde ich mich freuen, aber du hast mich völlig wehrlos erschaffen und der Willkür meiner Feinde preisgegeben. Wie kann ich mich da meines Daseins freuen ?“ Gott hatte die Klage des Lammes angehört und war bereit, ihm zu helfen. „Möchtest du Tatzen wie ein Bär oder Fänge wie ein Geier haben ?“ fragte er. Aber das Lamm schüttelte ablehnend den Kopf. „Oder ein scharfes Gebiß wie der Löwre oder der Wolf?“ „Nein, mein Herr und Schöpfer“, sagte das Lamm, „solche Waffen wünsche ich nicht. Ich möchte Waffen, die mich mein Leid vergessen machen, die aber niemandem ein Leid zufügenI“ Da sprach Gott: „Weil deine Bitte gerecht ist, will ich sie erfüllen. Ich statte dich mit drei Eigenschaften aus, die dir helfen werden.“ Und Gott verlieh dem Lamm die Sanftmut, die Demut und die Geduld. $ ]29[
Warum der Rabe hüpft Gott den Raben geschaffen hatte, gab er ihm starke Flügel und kräftige Beine, denn Gott wollte, daß sein Geschöpf für die Luft und für die Erde gleich gut ausgerüstet sei. Und der Rabe war damit zufrieden. Eines Tages aber sah er eine Taube leicht und graziös da- hinschreiten, und seine Zufriedenheit war wie weggeblasen. „Ach! Was für ein anmutiger Gang“, rief er aus. „So schreitet ein erhabener Vogel, und nicht so sch werf ällig wie ich!“ Der Rabe beobachtete die Taube und begann ihren Gang nachzuahmen. Er versuchte, sich leicht und federnd fortzu- bewegen, plusterte sich auf und kam sich schön und erhaben vor. Aber auf einmal glitt er aus und brach sich ein Bein. Alle Vögel lachten ihn aus, und der Rabe, tief beschämt, sehnte sich nur noch danach, wieder so gehen zu können wie vorher. Endlich war er geheilt und konnte sich wieder auf die Füße stellen. Er versuchte den ersten Schritt, aber er konnte sich nur noch hüpfend auf der Erde fortbewegen. ]30[
ZWEITES LICHT Von den Königen David und Salomon J 311
Das geliehene Ei David herrschte als König über ganz Israel und übte Recht und Gerechtigkeit an seinem Volke. Er befehligte ein großes Heer und führte siegreiche Kriege. Einmal, als Davids Soldaten nach einem Feldzug ihre Zelte aufschlugen, bekamen sie gekochte Eier als Mahlzeit. Einer der Soldaten war so hungrig, daß er seinen Teil verzehrt hatte, bevor die anderen sich zu Tisch setzten. Er schämte sich, vor einer leeren Schüssel zu sitzen und bat seinen Freund: „Borge mir doch ein Ei.“ „Nimm es dir“, sagte dieser, „aber unter der Bedingung, daß du es mir zurückgibst, wann immer ich es zurückver- lange und mir den vollen Ertrag bezahlst, den es bis dahin eingebracht hätte.“ Ohne zu überlegen nahm der junge Soldat die Bedingung an und verzehrte das Ei. Die Jahre gingen dahin und die Soldaten Davids marschierten von Ort zu Ort, bis sie wieder einmal nach Jerusalem kamen. Da erinnerte der Soldat, der das Ei geliehen hatte, seinen Freund an ihre Vereinbarung und forderte ihn auf, die Schuld zu begleichen. Wie groß aber war dessen Erstaunen, als er erfuhr, daß er viel mehr als ein Ei abzuliefern habe. „Nun gut“, sagte der Schuldner, „wieviel schulde ich dir?“ „Rechne es dir aus“, sagte der Gläubiger: „Im Laufe eines Jahres schlüpft ein Küken aus dem Ei, das zu einem Huhn heran wächst. Dieses Huhn bekommt im nächsten Jahr achtzehn Küken und dann haben diese achtzehn Küken jedes wieder achtzehn Nachkommen. Und so geht das Jahr um Jahr. Du schuldest mir also eine sehr große Summe. Wir wollen auf den xMarkt gehen und fragen, wieviel ein Huhn kostet. Dann können wir die Schuld ganz ge- nau berechnen.“ Als der Schuldner begriff, daß er eine so große Summe nie bezahlen konnte, weigerte er sich, die Forderung anzuerkennen. So gingen sie zu König David, damit er ihren Streit entscheide, wie es damals Brauch war. König David hörte die Parteien aufmerksam an. Da der Schuldner nicht bestreiten ] 32 [
konnte, die Bedingung, unter der ihm das Ei überlassen worden war, angenommen zu haben, entschied König David den Streit zu Gunsten des Gläubigers. Auf den Stufen begegnete der Schuldner dem jungen Salomon, König Davids Sohn, der dort zu sitzen pflegte, wenn sein Vater Recht sprach. Als Salomon den Unglücklichen fragte, was ihm widerfahren sei, vertraute ihm der Soldat die Geschichte mit dem geliehenen Ei an. Da lächelte der Jüngling ermunternd und gab dem Soldaten einen Rat. Dieser tat, wie ihm geheißen und eilte zu einem Acker, an dem die Soldaten König Davids vorbeizu- ziehen pflegten. Wie Salomon ihm geraten hatte, nahm er ein Maß gekochter Bohnen mit aufs Feld, und als er die Soldaten kommen sah, warf er die Bohnen in die Furchen. „Was machst du da F* fragten sie. „Ich säe gekochte Bohnen 1“ antwortete der Schuldner. ]33[
„Was für ein Unsinn! Gekochte Bohnen können doch nicht sprießen!“ riefen die Vorbeimarschierenden. „Und wer hat je gesehen, daß ein Küken aus einem gekochten Ei schlüpft ?“ lautete die Antwort. So kam die Sache König David zu Ohren, und dieser ließ den schlauen Schuldner rufen. „Wer gab dir den Rat mit den gekochten Bohnen ?“ fragte David. „Niemand, mein König und Herr“, antwortete der Schuldner. „Mir ist das ganz allein eingefallen.“ Da lächelte der König: „Sicher steckt wieder mein Sohn Salomon dahinter!“, und er befahl auch Salomon zu sich. „Ich sehe“, sprach David, „daß dich mein Urteil nicht befriedigt. Wie würdest du entscheiden?“ „Nun“, erwiderte Salomon, „der arme Teufel kann doch nicht für etwas bezahlen, was gar nicht möglich ist. Gewiß kann ein Huhn aus einem Ei ein Küken ausbrüten, niemals aber aus einem gekochten!“ Nach diesen Worten ließ König David auch den anderen Soldaten rufen und änderte sein Urteil: „Wer ein gekochtes Ei ausgeliehen hat, soll ein gekochtes Ei zurückerstatten. Nicht mehr und nicht weniger!“ 0 ] M[
Davids Tod David war ein großer König. Als Gott seine Seele schuf, öffnete er die Tore des Gesanges und nahm das Zwitschern der Vögel, das Raunen der Wälder, die Stimme des W’indes, das Murmeln der Bäche und den from- men Gesang derer, die zu Gott flehen. Aus diesem Stoff machte er die Seele, die er David einhauchtc. Und in Davids Seele wohnte fortan die Musik. Über seinem Lager hing eine Harfe, und wenn cs Mitternacht wurde und der Nord- wind wehte, fing die Harfe von selbst zu spielen an, um Davids Gesang zu begleiten. David aber war mehr als ein Sänger; Gott hatte ihn bestimmt, ein großer König zu sein, der siegreiche Kriege führte und Israel zu einem mächtigen Reich vereinte. König David regierte viele Jahre. Er war reich und mächtig, und vor seinem Heer zitterten die Völker. Doch auch König David wurde alt und dachte immer häufiger an den Tod. Eines Abends spielte König David auf seiner Harfe und seine Psalmen waren so herr- lich, daß sie hinaufstiegen zum Himmel. Sie öffneten alle Himmelstore und erklangen für Gott, den Allmächtigen. Da blickte Gott zur Erde hinab und er hörte, wie David leise flüsterte: „Herr der Welt, wie lange werde ich dich noch preisen ?“ „Es ist mein Beschluß, den Menschen niemals mitzuteilen, wie lange sie leben“, erwiderte der Allmächtige. „So sage mir wenigstens, an welchem Tage in der Woche ich sterben werde“, bat David. „An einem Sabbat“, antwortete der Herr. Da versuchte David, Gottes Beschluß zu ändern: „Herr der Welt!“ rief er. „Nicht am Sabbat, laß mich am Sonntag sterben!“ „Nein“, sprach Gott, „es ist mein Beschluß, daß du am Sabbat dein Leben beendest und dein Sohn Salomon dir als König nachfolgt. Was beschlossen ist, will ich nicht ändern.“ 1 35 [
Trauer erfüllte David. Warum sollte gerade er dem Sabbat, dem Freudentag der Juden, mit Sorge entgegensehen ? Als er zur Harfe griff, um sich seinen Schmerz von der Seele zu spielen, kam ihm ein rettender Gedanke: Während ein Mensch die Thora, die heiligen Gesetze des Volkes Israel, studiert, hat der Todesengel keine Macht über ihn! Von nun an verbrachte David jeden Sabbat vor der Thorarolle. Als der Todesengel sah, daß er mit bloßer Geduld nichts ausrichten konnte, nahm er Zuflucht zu einer List. Der Sabbat, an dem David sterben sollte, fiel auf Schavuot. An jenem Fest gedachten die Juden des Tages, an dem Gott ihnen die Thora schenkte, und gleichzeitig freuten sie sich über die gerade reife Ernte. Mit Gesang brachten sie den Weizen und die Gerste ein, legten in die Körbe die ersten Feigen, Trauben, Datteln, Oliven und Granatäpfel. Auch die Bäume im Garten von David gaben die ersten Früchte. Die Mägde legten sie behutsam auf goldene und silberne Schalen und dankten dabei dem Schöpfer mit Liedern, Pfeifenspiel und Tanz im Rhythmus der Trommeln für die Gaben der Erde. Der Todcscngel sah, wie David sich in seinem Innern über die Gunst Gottes freute, deshalb begab er sich geradewegs zu den Pflückern. Unauffällig kletterte er auf den schönsten Granatapfelbaum, der in Davids Garten stand und seine schönste Zierde war, und er begann mit aller Macht dessen Äste zu schütteln. Es klang, als hätte sich ein Wirbelsturm über dem Garten erhoben. Es dunkelte, der Baum stöhnte schmerzlich auf und dabei fielen seine schönen roten Früchte im Nu auf die Erde. Der erschrockene David vergaß die Thora, eilte zur Treppe, die in den Garten führte, um zu sehen, welches Unheil seinen Garten betroffen habe. Und in dem Augenblick brachen die Stufen unter ihm zusammen. David fid aus der Höhe auf die Erde und blieb tot hegen. ]36[
Die Rätsel der Königin von Saba l^ach dem Tode Davids wurde sein Sohn Salomon König. Er liebte seinen Schöpfer und befolgte seine Gebote, so daß Gott Wohl- gefallen an ihm fand. Einmal erschien ihm der Ewige im Schlaf und sagte: „Weil du mein Vermächtnis so wohl verwaltest, will ich dich zum weisesten aller Menschen machen. Kein Sterblicher soll dir ebenbürtig sein.“ Es geschah nach Gottes Willen. Seine Weisheit gab Salomon Kraft, das Reich Israel zu regieren. Er übte Recht und Gerechtigkeit gegen jedermann. Er verstand die Sprache der Tiere und kannte die Geheimnisse der Pflanzen und auch die Geister waren ihm untertan. Eines Tages ließ Salomon alle Vögel zu sich rufen. Es dauerte nicht lange, und schon kamen sie herangeflogen: Die Adler aus den Bergen, die Möwen vom Meer, die Lerchen vom Felde und die Geier aus der Wüste, und sie versammelten sich vor Salomons Thron. Nur der Auerhahn fehlte. Schon wollte Salomon ihn von seinen Dienern holen lassen, als der Auerhahn erschien und seine Verspätung entschuldigte: „Mein König und Herr, höre mich an! Ich war so weit in der Welt, daß ich nicht früher kommen konnte!“ „Wo warst du?“ fragte Salomon mit gerunzelter Stirn. „Drei Monate lang habe ich ein Land gesucht, dessen Bewohner deinen Namen nicht kennen. Endlich fand ich das Sabäerland. Die Hauptstadt Kitor wird auch Weihrauch- stadt genannt. Ihre Häuser sind aus Gold und ihre Dächer aus Silber. Die Bäume in den Gärten sind uralt und werden von den Wassern des Paradieses gespeist. Ein Weib be- herrscht das Land, sie wird Königin von Saba genannt. Deinen Namen aber, König Salomon, kennt dort niemand. Wenn du es wünschest, großer König, so will ich zurück nach Kitor fliegen und der Königin von Saba von deinem Ruhm erzählen, damit auch sie sich vor deiner Weisheit und deinem Ruhm verneigt.“ ] 37 (
Die Worte des Auerhahns gefielen dem König Salomon. Sogleich rief er seine Schreiber und diktierte folgende Botschaft: „König Salomon entbietet der Königin von Saba seinen Friedensgruß. Der einzige Gott hat mich zum Herrscher über die Tiere der Erde, die Vögel des Himmels und über die Dämonen gemacht. Viele Könige erweisen mir Ehren, wie auch ich ihnen Ehren er- weise. Bist du gewillt, Königin, mich zu besuchen, so will ich dir Ehren erweisen, wie sie noch niemand zuteil wurden in Jerusalem. Solltest du aber meinem Wunsche nicht Folge leisten, so werden meine Mächtigen, meine Heere und meine Reiter, dein Land heimsuchen. Und wisse: Die wilden Tiere sind meine Mächtigen, die Vögel meine Reiter, die Dämonen meine Heere. Die Dämonen werden euch erwürgen, die wilden Tiere euch zerreißen und die Vögel euer Fleisch fressen!“ Als der Auerhahn der Königin von Saba dieses Schreiben Salomons überbrachte, verdunkelten seine Begleiter, Hunderte von Vögeln, die Sonne. Die Königin las die Botschaft und berief ihre Ratgeber zu sich. Diese meinten: „Auf einen König, dessen Namen wir nicht kennen, sollst du nicht hören und sein Schreiben auch nicht beantworten. Fahre nicht in dieses unbekannte Land Israel, Königin.“ Die Königin von Saba aber dachte: ,Wenn Salomon so mächtig ist, daß die Vögel auf seinen Befehl hin die Sonne verdunkeln, will ich ihn kennenlemen.* Und sie befahl Schiffe mit edlen Hölzern, goldenen Gefäßen und kostbaren Perlen zu beladen. Dann suchte sie sechzig Kinder, Knaben und Mädchen aus, die gleich alt und gleich groß waren und ließ sie in gleiche Purpurgewänder hüllen. Und als alles bereit war, schiffte sich die Königin von Saba mit ihrem Geleit ein und erreichte nach einer langen Reise glücklich die Ufer Israels. König Salomon empfing die Königin von Saba in seinem Palast in Jerusalem. Er hatte für die Begegnung einen Saal aus Kristall gewählt. Salomon saß auf einem kristallenen Thron, als die Königin eintrat; und da sie kein Kristall kannte, meinte sie, er säße im Wasser und schürzte den Saum ihres Gewandes. „Du hast das schönste Antlitz, das ich je bei einem Weib gesehen habe“, begrüßte sie Salomon, „deine Beine aber sind behaart, wie die eines Mannes.“ Die Königin errötete. „Ich sehe, daß du gern Verborgenes enthüllst“, sagte sie spitz. „Gewiß hast du nichts dagegen, wenn ich dir einige Rätsel aufgebe, bevor ich mich vor deiner Weisheit verneige.“ „Frage nach Herzenslust“, erwiderte Salomon, und die Königin begann: „Es wächst auf dem Feld und läßt den Kopf hängen. Es ist ein Ruhm für die Reichen, ein Spott für die Armen, eine Zierde der Toten, ein Schmerz für die Lebenden, eine Freude den Vö- geln, ein Ärger den Fischen.“ „Da ist der Lein“, antwortete Salomon. „Auf dem Feld senken seine Ähren die Köpfe, Gewänder aus feinstem Leinengewebe sind der Ruhm der Reichen, Lumpen ein Spott J 381

für die Armen, das Totenhemd die Zierde der Toten, der Galgenstrick ein Schmerz für die Lebenden. Der Lein erfreut die Vögel, die den Samen picken, und ist ein Ärger für die Fische, die in Netzen gefangen werden.“ Die Königin fragte weiter: „Es gibt ein Wasser, das nicht vom Himmel fließt und nicht von den Bergen. Manch- mal schmeckt es süß wie Honig, manchmal bitter wie Wermut - und doch kommt es aus derselben Quelle.“ Salomon entgegnete: „Es ist die Träne, die nicht vom Himmel fließt und nicht von den Bergen. Wenn das Menschenherz sich freut, ist sie süß, wenn es vor Schmerz überquillt, ist sie bitter wie Wermut.“ Und wieder fragte die Königin: „Weißt du, was meine Mutter mir schenkte ? Das eine Ding wurde im Meer geboren, das andere wuchs in den Tiefen der Erde.“ Salomon lächelte: „Das ist die Perlenschnur an deinem Hals und der goldene Ring an deinem Finger.“ Hierauf fragte die Königin von Saba: „Welches Ding steht unbeweglich an seinem Platz solange cs lebt, nach seinem Tod aber bewegt es sich von Ort zu Ort, von Land zu Land.“ Da antwortete Salomon: „Ohne dieses Ding hatte ich dich nie erblickt. Es ist der Baum, der nach seinem Tod als Schiff auf dem Wasser schwimmt, das ihn von Ort zu Ort, von Land zu Land trägt.“ „Nun“, sagte die Königin, „vier Rätsel hast du richtig beantwortet, erlaube mir, dir noch zwei aufzugeben. Das fünfte also lautet: „Wen begräbt man, obgleich er nicht gestorben ist, wer erwacht zum Leben, obgleich er unter der Erde liegt, wer bringt denen Gewinn, die ihn begruben ?“ Da antwortete Salomon: „Das ist das Samenkorn, die Ähren und das Getreide.“ Und die Königin von Saba nannte ihr sechstes Rätsel: „Wer ist es, der nicht geboren wurde und nicht sterben kann?“ Salomon erwiderte: „Gott der Allmächtige, gelobt sei sein Name.“ Da verneigte sich die Königin von Saba vor Salomons Weisheit und sagte: „Erlaubst du mir noch ein letztes, das siebente, Rätsel ?“ „Frage getrost“, lächelte Salomon. Da ließ die Königin die sechzig Kinder, die sie aus Kitor nach Jerusalem gebracht hatte, holen. ]40[
„Du siehst, Salomon, alle sind gleich alt, gleich groß und gleich gekleidet. Aber es sind Mädchen und Knaben. Wie willst du ihr Geschlecht unterscheiden?“ Salomon ließ einen Sack voll Nüsse bringen und sie unter die Kinder werfen. Da hoben die Knaben ihre Kleider und stopften die Nüsse in die Hosentaschen, die Mädchen aber schürzten ihr Kleid und fingen die Nüsse auf. Da konnte jedermann das Geschlecht der Kinder unterscheiden. Und die Königin von Saba erkannte, daß es keinen Sterblichen gab, der den König Israels an Weisheit übertraf. Sie verneigte sich tief und übergab ihm die kostbaren Ge- schenke, die sie mitgebracht hatte, und auch Salomon beschenkte sie und erwies ihr Ehren, wie sie noch keinem Gast in Jerusalem zuteil geworden waren. Als die Königin von Saba sich verabschiedete, um nach Kitor, der Weihrauchstadt zurückzukehren, sagte sie: „Du bist ein großer König, Salomon, und ich bin stolz, deinen Namen zu kennen. Gepriesen sei Gott, der Gefallen an dir fand, auf daß du in Frieden und Gerechtigkeit regieren mögest.“ ] 41 [
Die neugierige Frau Von nah und fern kamen Besucher zu Sa- lomon, brachten Geschenke und erzählten ihm von fremden Ländern und Völkern. Unter ihnen war auch ein Landbesitzer, der Salomon einmal im Jahr besuchte und stets ein besonderes Geschenk mitbrachte. Der König pflegte ihn reichlich zu belohnen, und beide freuten sich beim Abschied immer schon auf das Wiedersehen im nächsten Jahr. Einmal hatte der Mann ein besonders schönes Geschenk mitgcbracht, wollte aber von Salomon nichts entgegennchmen. Als Salomon ihn fragte, womit er ihm eine Freude bereiten könnte, vertraute er ihm seinen Herzenswunsch an. „Wenn du mir eine beson- dere Gnade erweisen willst, König Salomon, so lehre mich die Sprache der Tiere“, sagte er. Da verdüsterte sich Salomons Miene und er sprach: „Was du von mir verlangst, ist gefährlich. Es kann dir helfen, aber es kann dir auch Leid antun. Wenn du dein Ge- heimnis verraten solltest, bist du des Todes.“ Der Mann aber gab nicht nach: „Wenn es bloß darum geht zu schweigen, so kannst du dich auf mich verlassen, Salomon. Ich werde dein Vertrauen sicher nicht enttäuschen. Ich bitte dich, lehre mich die Sprache der Tiere!“ Als Salomon sah, wie sehr seinem Gast daran gelegen war, die Sprache der Tiere zu verstehen, erfüllte er seinen Wunsch. Stolz und glücklich verabschiedete sich der Mann und reiste in seine Heimat zurück. Seither war es sein liebster Zeitvertreib, der Sprache der Tiere zu lauschen, aber nie- mand wußte um sein Geheimnis. Eines Abends, als er an seinen Ställen vorbeiging, hörte er, wie der Esel und der Ochse sich unterhielten. „Wie ist es dir heute ergangene“ fragte der Esel. „Ach“, seufzte der Ochse. „Von früh bis spät schufte ich auf dem Acker. Und beim ersten Hahnenschrei geht es wieder an die Arbeit.“ „Du bist schön dumm“, meinte der Esel. „Mach es doch so wie ich. Ich habe mich krank gestellt und liege den ganzen lieben Tag auf der faulen Haut!“ „Wie stellst du das an?“ wunderte sich der Ochse. „Es genügt, daß du dein Futter nicht anriihrst. Wenn der Knecht sieht, ]42[
daß dein Heu unberührt ist, meldet er das dem Herrn und dieser läßt dich ruhen.“ „Sieh einer an, wie schlau mein Esel ist“, meinte er da, Der Mann wartete eine Weile, und als er nichts weiter hörte, öffnete er die Stalltür und trat ein. Er sah, daß der Ochse vor Erschöpfung eingeschlafen war und ertappte den schlauen Esel dabei, wie er sich am unberührten Futter des Ochsen gütlich tat. Da lachte der Mann laut auf: „Na warte, ich will dich lehren, gute Ratschläge zu geben!“ Er rief den Knecht und befahl ihm, den Ochsen einen Tag ruhen zu lassen und statt seiner den Esel vor den Pflug zu spannen. Er lachte noch, als er in die Stube zurückkehrte. Dort aber wartete auf ihn seine zänkische Frau und fragte mißtrauisch: „Worüber hast du draußen so laut gelacht? Komme ich dir vielleicht lächerlich vor?“ „Was fällt dir denn ein, Frau“, wehrte sich der Gatte, „mir ist nur eine lustige Geschichte eingefallen, die mir König Salomon erzählte.“ „Dann erzähle sie mir, damit ich auch lachen kann!“ ]43[
sagte die Frau. Aber dem Mann fiel nichts ein, und das bestärkte die Frau in ihrem Ver- dacht und sic schimpfte immer mehr auf ihren Mann. Am nächsten Tag saß der Mann wieder vor dem Stall, um zu hören, was die Tiere sagten. Der Knecht hatte eben den Esel vom Feld gebracht und führte ihn in den Stall. Erschöpft von der ungewohnten Arbeit streckte der Esel alle viere von sich und atmete schwer. Der Ochse hingegen war frisch und wohlgelaunt. „Du hast mir gut geraten“, sagte er. „Schon lange ist es mir nicht so gut ergangen. Endlich konnte ich mich ausschla- fen, und das Gesinde hat mich gepflegt. Ich hoffe, daß meine Krankheit noch lange dauert!“ Aber der Esel beeilte sich, ihm die Freude zu verderben: „Der Herr hat gesagt, ich sei zu schade zum Pflügen. Und wenn du nicht fressen willst und er mit dir nicht pflügen kann, läßt er dich schlachten!“ Kaum hatte der Ochse das gehört, sprang er auf und schlang das ganze Futter hinunter. Da mußte der Mann wieder herzlich lachen über seinen schlauen Esel und er freute sich, daß er die Sprache der Tiere verstand. Da be- merkte er, daß seine Frau ihm in den Stall gefolgt war und ihn mit bösen Blicken musterte. „Du lachst mir einfach ins Gesicht!“ schrie sie. „Was kommt dir denn wieder so ko- misch vor?“ Der Mann, der seine Frau mochte, wollte sie nicht kränken und sagte: „Glaube mir, daß mir nichts ferner liegt, als über dich zu lachen. Aber ich kann dir die Ursache meiner Heiterkeit wirklich nicht verraten. Es ist ein Geheimnis, das niemand erfahren darf. Würde ich es dir mitteilen, wäre es mein Tod. Bitte, frage nicht weiter.“ Die Frau aber war es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen und ließ nicht locker: „Ich will wissen, worüber du gelacht hast! Wenn du mir eine so einfache Frage nicht beantworten kannst, will ich lieber sterben!“ Das wollte der Mann nicht zulassen und er beschloß, sich selbst zu opfern. „Gut“, sagte er, „ich will tun, was du verlangst. Lasse mich allein, damit ich mein Testament machen und mich von meinen Freunden ver- abschieden kann.“ Der Mann blieb allein mit seinen traurigen Gedanken und erst jetzt begriff er Salomons warnende Worte. „Ach, ich meinte, es sei so einfach zu schweigen“, seufzte er. „Jetzt muß ich mein Geheimnis preisgeben und es wird mich das Leben kosten!“ Das hörten die Tiere auf dem Hof und trauerten mit ihrem Herrn. Am traurigsten aber war sein treuer Hund und er verweigerte aus Kummer Speise und Trank. Da kam der Hahn mit seinen Hühnern heranstolziert und pickte das Hundefutter auf. „Wie kannst du nur so herzlos sein ?“ wunderte sich der Hund. „Unser Herr muß sterben und du denkst nur an deinen Magen!“ Der Hahn blickte den Hund verwundert an und entgegnete: „Wenn der Herr so dumm ist, muß er eben mit der Strafe rechnen. Schau mich an! Ich habe zehn Frauen und komme mit allen zehn Hühnern gut aus. Sie gehorchen mir aufs Wort. Dein Herr hat wenig vom weisen Salomon gelernt, wenn er sich mit einer einzigen Frau keinen Rat weiß. Er sollte sie einmal tüchtig verprügeln und ihr zeigen, wer der Herr im Haus ist. Nie wieder würde sie ihm mit Zank und Streit das Leben ]44[
verbittern und ihn nötigen, Geheimnisse preiszugeben.“ Der Hahn ereiferte sich so sehr, daß seine Stimme auf dem ganzen Hof zu hören war. Da hörte ihn auch der Mann, der schon seine letzten Dinge bestellt hatte. Die Worte des Hahns erfüllten ihn mit neuem Lebensmut. Und als seine Frau verlangte, er solle doch endlich ihre Frage beantworten, versetzte er ihr eine ordentliche Tracht Prügel. Seither war die Frau wie ausgewechselt - sie war freundlich und sanft wie ein Lamm - und ihre Neugier war ihr gründlich ver- gangen. Bei seinem nächsten Besuch in Jerusalem berichtete der Mann Salomon, was sich be- geben hatte. Der Herrscher Israels unterhielt sich köstlich: „Bedanke dich bei deinem Hahn, daß er dir geholfen hat, aus deiner Frau einen anderen Menschen zu machen. Denn es ist besser unter freiem Himmel zu nächtigen, als mit einer zänkischen Frau unter einem Dach zu leben!“ *3 ]45l
Die drei Brote Zur Zeit als der weise König Salomon in Israel regierte, lebte in einem Ort am Meeresufer eine fromme Frau, die sich immer darum bemühte, Gutes zu tun. Sic war allein und verdiente ihren Lebensunterhalt mit Netzeflicken. Und wenn im Winter die Fischer nicht mehr aufs Meer hinausfahren konn- ten, hatte sie nur noch wenig Mehl in der Kammer. Trotzdem buk sie wie jeden Tag drei Brote, denn sie verschenkte täglich zwei an die Annen und eines blieb für sie. Die drei Brote waren im Backofen gerade fertig geworden, und da sic der Hunger schon bitter plagte, segnete sie ein Brot und w'ollte ein Stück abschneiden, als jemand an die Tür klopfte. Draußen stand ein in Lumpen gekleideter Mann, der vor Erschöpfung bald zusammenbrach. „Gute Frau“, bat er, „gib mir etwas zu essen! Man hat mich überfallen und ausgeraubt, und ich habe nur das nackte Leben gerettet.“ Da reichte ihm die Frau den Laib Brot, den sic eben hatte anschneiden wollen. „Nimm das Brot“, sagte sie, „und gehe in Frieden.“ Der Mann bedankte sich und ging. Da nahm die Frau das zweite Brot, segnete es und wollte es gerade anschneiden, als es wieder an die Tür klopfte. Sie öffnete und sah einen Fremden vor der Tür stehen. „Gute Frau“, sagte der Mann, „mein ganzes Hab und Gut ist verbrannt, ich konnte nur mein nacktes Leben retten. Ich bitte dich, gib mir etwas zu essen!“ Ohne Zögern reichte ihm die fromme Frau das zweite Brot und wünschte ihm Glück auf den Weg. ,Wie gut, daß ich drei Brote gebacken habe*, dachte sie und griff nach dem dritten Laib. Da brach ein heftiger Sturm los, der Luftzug riß Türen und Fenster auf, wirbelte alles durcheinander und trug das letzte Brot mit sich fort. Die arme Frau sah, wrie das Brot durch die Luft segelte und schließlich ins Meer fiel. Da brach sie in Tränen aus. Verzweifelt rief sie: „Wind, du hast mir meinen letzten Bissen genommen und das Meer ]46[
hat ihn geschluckt l Mit welcher Sünde habe ich das verdient ? Was habe ich Böses getan ?“ Die Frau quälte sich die ganze Nacht und prüfte ihr Gewissen. Am nächsten Morgen aber machte sie sich auf zu König Salomon, um ihn in seiner Weisheit zu befragen. König Salomon hörte die Frau aufmerksam an. Und als sie noch redete traten drei Kaufleute zu König Salomons Thron. Sie knieten vor dem Herrscher Israels nieder und sprachen: „Herr und König, nimm diese siebentausend Goldstücke und verteile sie an die Armen.“ „Was veranlaßt euch zu diesem Tun?“ fragte Salomon. Da erzählten die Kaufleute, was ihnen widerfahren war: „Als wir uns den Ufern deines Königreichs näherten, erhob sich ein schrecklicher Sturm, der unser festes Schiff wie eine Nußschale tanzen ließ, und bald zeigte sich an der Flanke des Schiffes ein Leck. Verzweifelt suchten wir etwas, womit wir es hätten stopfen können. In unserer Not be- ] 47 [
teten wir zu Gott und gelobten, den Armen ein Zehntel des Wertes unserer Schiffs- ladung zu geben, wenn der Allmächtige uns aus der Gefahr errettet. Bald danach ließ der Sturm nach, die Wellen glätteten sich, und unser Schiff konnte an deinen Ufern landen. Diese siebentausend Goldstücke sind ein Zehntel des Wertes unserer Schiffsladung. Wir lösen hiermit unser Gelübde ein. Nimm sie, König Salomon, und verteile sie nach deinem Ermessen.“ „Aber wie kommt es, daß euer Schiff nicht gesunken ist?“ fragte König Salomon die Kaufleute. Da zog einer der Kaufleute einen aufgeschwemmten Laib Brot aus den Falten seines Mantels. „Dieses Ding“, sagte er, „fanden wir in dem Leck in der Flanke unseres Schiffes. Nur so wurden wir gerettet.“ „Nun“, lächelte Salomon und wandte sich an die fromme Frau. „Hier ist dein drittes Brot. Deinetwegen hat es Gott, unser Herr, vollbracht, denn du bist auf Gottes Wegen gewandelt. Der Herr hat es gefügt, daß du mit dem dritten Brot die Schiffsbesatzung gerettet hast. Was dir ein Unglück schien, gereiche dir nun zur Freude. Wer auf Gottes Wegen wandelt, mit dem ist Gott“ Und alle Anwesenden staunten ob der Weisheit König Salomons. $ ]«[
Der Tempel der Bruderliebe K.önig Salomon hatte von seinem Vater David großen Reichtum geerbt, den er durch seine weise Regierung noch vergrößerte. Ruhm und Ehren wurden ihm zuteil, und alle Völker sprachen seinen Namen mit Ehr- furcht aus. Salomon aber wußte, daß er seine wichtigste Aufgabe noch nicht erfüllt hatte. „Was nützen mir alle Schätze“, sagte er sich, „wenn die Jahre dahingehen und ich das König David gegebene Versprechen, den Tempel zu Ehren Gottes zu bauen, noch immer nicht erfüllt habe. Gott aber ist mein Zeuge, daß ich noch keinen Platz gefunden habe, der würdig wäre.“ Eines Nachts überlegte Salomon wieder, wo er den richtigen Platz für den Tempel- bau finden könnte. Sein unerfülltes Gelübde bedrückte ihn sehr. Als er um Mitternacht noch immer kein Auge zugemacht hatte, erhob sich Salomon von seinem Lager, kleidete sich an und verließ den Palast. Der Herrscher Israels wanderte durch die nächtlichen Straßen Jerusalems, vorbei an Gärten und Hainen, bis er hinter der Stadt zum Berge Moria kam. Es war gerade Erntezeit, und auf der Südseite des Berghanges standen schon die Garben. Salomon lehnte sich an den Stamm eines Olivenbaumes und schloß die Augen. Plötzlich hörte er ein Geräusch. Er erblickte im matten Schein des Mondes einen Mann, der eine Garbe trug. ,Ein Dieb!‘ fuhr es ihm durch den Sinn. Schon wollte er aus seinem Versteck treten, dann aber zog er es vor abzuwarten, was der Mann vorhatte. Der nächtliche Besucher trug die Garbe an den Rand des Nachbarfeldes, dann kehrte er zurück und holte eine weitere, bis er einen Teil der Garben fortgeschafft hatte. Dann blickte er sich um und verließ das Feld. Salomon überlegte, wie er diesen Diebstahl bestrafen sollte. Da kam erneut ein Mann. Der vergewisserte sich, daß keine Zeugen da waren, und dann tat er genau das gleiche wie der erste, nur in umgekehrter Richtung. Er trug die Garben wieder zurück. ,Ein Dieb bestiehlt den anderen!' dachte Salomon. ]49(
Am Morgen ließ Salomon die Besitzer der benachbarten Felder vor seinen Thron rufen. Den älteren ließ er in einen Nebenraum führen und wandte sich zuerst an den jüngeren. „Sag mir, mit welchem Recht stiehlst du Getreide vom Feld deines Nachbarn?“ Der Mann blickte Salomon überrascht an und entgegnete: „Niemals würde ich so etwas tun, mein König. Das Getreide, das ich auf das Nachbarfeld brachte, gehört mir. Ich mußte es meinem Bruder heimlich schenken, denn er hätte es sonst nicht von mir angenommen. Ich wollte, daß niemand davon erfährt, aber wenn du es weißt, will ich dir die Sache erklären. Wir beide, mein Bruder und ich, haben von unserem Vater ein großes Feld zu gleichen Teilen geerbt, obgleich mein Bruder eine Frau hat und drei Kinder und ich Junggeselle bin. Natürlich braucht er mehr Getreide als ich, und weil ich weiß, daß er keinen Halm von mir annehmen würde, schaffe ich die Garben nachts auf sein Feld. Mir werden sie nicht fehlen, und der Familie meines Bruders ist geholfen.“ Da schickte Salomon den Mann in einen Nebenraum und ließ den älteren Bruder holen. „Warum bestiehlst du deinen Nachbarn ?“ fragte er ihn. „Gott bewahre!“ rief der Mann. „Ich bin doch kein Dieb! Ich muß dir die Sache er- klären. Wir, mein Bruder und ich, haben von unserem Vater ein großes Feld zu gleichen Teilen geerbt Mein Bruder aber ist Junggeselle, ich dagegen habe eine Frau und drei Kinder, eine große Familie, die mir auf dem Felde hilft. Er aber muß Schnitter, Garben- binder und Drescher bezahlen und braucht daher mehr Geld. Von mir würde er keinen Halm annehmen, und so bringe ich ihm heimlich ein paar Garben. Mir werden sic nicht fehlen und für ihn sind sie sicher eine Hilfe.“ Nach diesen Worten rief Salomon den jüngeren Mann aus dem Nebenraum und zog dann die beiden Brüder gerührt an seine Brust. „Ich habe schon viel erlebt“, rief er aus, „aber so selbstlosen Brüdern bin ich noch nie begegnet. Ihr erweist einander heimlich W’ohltaten als Zeugnis der Bruderliebe. Nun aber erfüllt mir eine Bitte: Verkauft mir euer geteiltes Feld, damit ich auf seinem Boden den Tempel zu Ehren Gottes erbaue.“ Die Brüder umarmten und küßten sich und sie erfüllten bereitwillig Salomons Wunsch. König Salomon aber ließ in ganz Israel verlautbaren, daß der Platz für den Tempel- bau nun gefunden sei. $ 1 50 I
Salomon und Aschmodaj Salomon hatte beschlossen, den Tempel zu Ehren des einzigen Gottes zu bauen, und er begann mit den Vorbereitungen für diesen einzigartigen Bau. Steinblöcke und Marmor wurden herbeigeschafft, und Hiram, der König von Tyros, lieferte Zedern- und Zypressenholz. Die besten Baumeister Israels hatten die Pläne entworfen, und aus dem ganzen Reich strömten die Bauarbeiter nach Jerusalem. Salomon aber wollte beim Bau des Tempels kein Eisen verwenden, weil die Kriegswaffen, diese Werkzeuge der Vernichtung und des Todes, aus Eisen waren. Der Tempel Gottes indes sollte eine Stätte des Friedens sein. Wie aber konnte man die riesigen Stein- und Marmorblöcke ohne eiserne Geräte bearbeiten ? Als Salomon keinen Ausweg fand, rief er seine Gelehrten zusammen und fragte sie um Rat. Da verneigte sich der älteste Ratgeber vor Salomon und sprach: „Weisester aller Könige, zehn Dinge entstanden in der Dämmerung des sechsten Schöpfungstages, darunter auch der Schamir, ein kleiner Wurm, der den härtesten Stein sprengen kann. Verschaffe dir den Schamir, Salomon, und du wirst auch ohne eiserne Werkzeuge den Tempel des Friedens zu Ehren des einzigen Gottes errichten können.“ „Weißt du auch, wo der wundertätige Schamir lebt und wie ich ihn finden kann ?“ fragte Salomon. „Kein Sterblicher kennt die Antwort auf deine Frage“, erwiderte der Ratgeber. „Vielleicht wissen es die Dämonen. Du mußt sie nur zwingen, dir das Geheimnis zu verraten.“ Da befahl Salomon den Dämonen, vor ihm zu erscheinen. „Ich danke euch, daß ihr gekommen seid, denn ich brauche eure Hilfe“, sprach der König. „Ich möchte zum Ruhme Gottes einen Tempel bauen und brauche zum Brechen und zum Behauen der Steine den wundertätigen Wurm Schamir. Sagt mir, wo der Schamir lebt.“ „Wir wissen zwar, daß es den Schamir gibt“, erwiderten die Dämonen, „aber das Geheimnis seines Lebens ist auch uns verborgen. Aber Aschmodaj, der König der Dä- monen, kennt cs gewiß.“ ]51(
„Und wo kann ich ihn finden ?** fragte Salomon. Da antworteten sie: „Aschmodaj wohnt auf einem Berge. Er hat da einen Brunnen gegraben, den er mit Wasser gefüllt, mit einem Felsstück zugedeckt und mit seinem Siegel versiegelt hat. Jeden Tag steigt Aschmodaj zum Himmel hinauf, um dort im himm- lischen Lehrhaus zu lernen. Dann lauscht er der Sphärenmusik und den Lobgesängen der Engel. Danach steigt Aschmodaj zur Erde hinab und besucht das irdische Lchrhaus und lernt hier. Nach Sonnenuntergang kehrt er zu seinem Brunnen zurück und unter- sucht das Siegel, um zu sehen, ob es unberührt ist. Dann öffnet er den Brunnen, er- quickt sich am klaren Wasser, deckt den Brunnen wieder zu und versiegelt ihn. Nun erst kann Aschmodaj, der König der Dämonen, ruhen.“ Nach diesen Worten lösten sich die Dämonen in Nebel auf und Salomon kehrte zu seinem Gefolge zurück. Salomon sprach zu seinem Feldherm Benajahu, einem schönen, mutigen Jüngling: „Benajahu, du bist mein bester Heerführer. Gehe und nimm den König der Dämonen gefangen und bringe ihn in Fesseln nach Jerusalem.“ „Mein König“, erwiderte Benajahu, „ich will tun, was immer du befiehlst.“ Auf Salomons Rat nahm Benajahu eine Kette, auf deren Gliedern die Buchstaben des göttlichen Namens eingraviert waren, ein Bündel feiner Schafwolle und einen Schlauch Wein mit und machte sich an der Spitze seiner Reiter auf den Weg zu dem Berg, wo Aschmodaj seinen Brunnen hatte. Als sie am Ziel waren, ging gerade die Sonne auf, und Aschmodaj war schon fortgeflogen. So hatte Benajahu genug Zeit, den Plan auszu- führen, den er mit Salomon besprochen hatte. Benajahu hob eine Grube unter dem Brunnen aus, damit das Wasser ablaufen konnte, und verstopfte die Öffnung mit der feinen Schafwolle. Dann ließ er eine höher gelegene Grube graben und füllte Wein durch eine Öffnung in den Brunnen, ohne das Siegel zu beschädigen. Benajahu und seine Begleiter verwischten sorgfältig alle Spuren, verbargen sich im Geäst der Bäume und warteten auf Aschmodajs Rückkehr. Ganz plötzlich brach die Dunkelheit herein, ein Blitz zerriß die Wolken, und in seinem Schein konnte man ein riesiges Wesen sehen, das sich zur Erde hinabsenkte. Mit klopfen- den Herzen erlebten Benajahu und seine Krieger die Ankunft Aschmodajs, des Königs der Dämonen. Aschmodaj trat an den Brunnen, untersuchte das Siegel und entfernte den Stein. Da fand er den Wein im Brunnen und wich erschrocken zurück. „Wein benebelt den Kopf*, sagte er, „davon werde ich nicht trinken. Der Wein schadet dem Weisen wie Gift“ Bald aber war er so durstig, daß er den Wein in die hohle Hand schöpfte, einen Schluck nahm, und als er ihn gekostet hatte, trank er weiter, berauschte sich, sank hin und schlief ein. Da stieg Benajahu vom Baum und legte Aschmodaj die goldene Kette mit dem ein- gravierten Namen Gottes an und verschloß sie. ] 52 [
Als es dämmerte, erwachte Aschmodaj. Er schrie so laut, daß die Erde erzitterte. So sehr er sich auch mühte, die Kette konnte er nicht entfernen. Benajahu sprach zu ihm: „Der Name des Herrn ist auf dir!“ Da sah der König der Dämonen ein, daß er seine Freiheit verloren hatte und ließ sich nach Jerusalem bringen. In Jerusalem wurde Benajahu mit großen Ehren empfangen. Dann befahl Salomon, Aschmodaj zu holen. Als der gefesselte König der Dämonen vor dem König Israels stand, zeichnete er mit einem Stock ein Rechteck, das vier Ellen maß, auf die Erde und sprach: „Wenn du gestorben bist, Salomon, brauchst du von dieser Welt nichts mehr, als diese vier Ellen. Genügt es dir nicht, daß du die ganze Welt erobert hast? Warum willst du auch mich noch bezwingen ?“ Salomon erwiderte: „Ich verlange von dir nichts, meine Frömmigkeit gebot mir mein Tun. Ich habe beschlossen, einen Tempel zu Ehren Gottes zu bauen. Um die Steine zu bearbeiten, brauche ich den Wurm Schamir.“ Da antwortete Aschmodaj: „Wisse, Salomon, den Schamir gab Gott bei der Erschaffung der Welt dem Meeresfürsten. Dieser aber hat ihn zur Aufbewahrung dem Großen Auerhahn anvertraut. Der Vogel hat dem Mecrcsfürstcn geschworen, den wundertätigen Wurm Schamir gut zu bewachen. Seither trägt der Auerhahn den Schamir stets bei sich. Das Nest des Auerhahns befindet sich auf einem kahlen Felsen inmitten der Wüste. Dort mußt du ihn suchen, Salomon.“ Da sandte Salomon Benajahu aus, den Großen Auerhahn zu suchen und sich des Schamirs zu bemächtigen. ]53[
Benajahu und seine Mannen waren lange unterwegs. Sie ritten durch Gegenden, die immer öder wurden, bis sic in einer Wüste ankamen, in deren Mitte sich ein kahler Felsen erhob. Sie erklommen ihn und fanden das Nest des Auerhahns, in dem sich nur die Jungvögel befanden. Da befahl Benajahu seinen Soldaten, das Nest mit einem Fels- block zu bedecken. So geschah es, und Benajahu und die Soldaten verbargen sich, um den Großen Auerhahn zu erwarten. Bald kam dieser mit Futter im Schnabel angeflogen und hörte seine Jungen unter dem Felsen schreien. Als er merkte, daß der Eingang zu dem Nest verschlossen war, flog er zu einem Fels, um mit dem Schamir im Schnabel wieder zurückzukehren. Der Auerhahn berührte mit dem Wurm den Felsblock, der sein Nest bedeckte, und der Stein zersprang. Benajahu stieß einen lauten Schrei aus, seine Mannen ergriffen den Schamir und brach- ten so den wundertätigen Wurm nach Jerusalem. Da jubelte das ganze Volk. Nun konnte der Tempelbau beginnen. Im vierten Jahr seiner Regierung ließ Salomon mit des Schamirs Hilfe die Grundsteine bearbeiten, und im elften Jahr war der Tempel vollendet. Während der sieben Jahre dauernden Bauzeit wurde weder Hammer noch Meißel verwendet, so, wie es die Thora vorschreibt. König Salomon hatte das seinem Vater gegebene Versprechen cingelöst, der Tempel stand und konnte eingeweiht werden. Salomon versammelte die Ältesten und die Vorsteher der zwölf Stämme Israels, damit sie die Lade mit den Steintafeln, auf denen der Bund Gottes mit den Kindern Israels verzeichnet war, ins Allerheiligste trugen. Sie stellten die Bundeslade auf ihren Platz, und das ganze Volk bewunderte die Herrlichkeit des Tempels. Es war ein würdiges Haus für den einzigen Gott. Später freilich geschah es, daß Salomon sich von seinem Ruhm und seinem Reichtum blenden ließ, denn alle Könige der Erde suchten ihn auf, um seine Weisheit zu hören, und jeder von ihnen brachte ein Geschenk mit: silberne oder goldene Geräte, Gewänder, Waffen, Balsam, Pferde und Maultiere, Jahr für Jahr. Und Salomons Schiffe brachten Gold, Silber, Elfenbein, Pfauen und Affen nach Jerusalem. König Salomon lebte also in Glanz und Herrlichkeit. Er liebte Festgelage und rühmte sich, daß es nichts gab, worauf er keine Antwort gewußt hätte. Da geschah es, daß er sich an Aschmodaj erinnerte, den König der Dämonen, den er noch immer gefangen hielt. Und er erinnerte sich, daß er, der weise Salomon, die Ge- heimnisse des Königs der Dämonen nicht hatte enträtseln können. Damals nämlich, als Benajahu den Aschmodaj in Fesseln nach Jerusalem geführt hatte, waren seltsame Dinge geschehen: Zuerst waren Benajahu und Aschmodaj einem Blinden begegnet, der vom Wege abgekommen war. Da brachte Aschmodaj ihn auf den rechten Weg. Dann trafen sie auf einen Betrunkenen. Auch der war vom Wege abgekommen. Auch den brachte er auf den rechten Weg zurück. Darauf kamen sie zu einem fröhlichen Hochzeitsfest, da * • ] 54[

brach Aschmodaj in Tränen aus. Bald darauf gingen sie an einem Mann vorbei, der beim Schuster Schuhe bestellte, die sieben Jahre halten sollten - und Aschmodaj lachte. Schließlich sahen sie einen Zauberer, der einen Schatz herbeizaubem wollte - und Aschmodaj lachte ein zweites Mal. Was sollte das seltsame Benehmen des Königs der Dämonen bedeuten ? Darauf hatte Salomon keine Antwort finden können. Also ließ er den gefesselten Aschmodaj vor seinen Thron bringen und verlangte eine Erklärung. Aschmodaj lächelte und sprach: „Als ich dem Blinden half, da dachte ich daran, daß es im Himmel über ihn hieß: Dieser Blinde ist ein gerechter Frommer und wer ihm hilft, dem ist die zukünftige Welt beschieden. Als ich dem Betrunkenen half, da dachte ich daran, daß es im Himmel über ihn hieß: Der Betrunkene ist ein vollendeter Frevler. Und ich half ihm, damit ihm für die zukünftige Welt nichts bleibt. Als ich das Hochzeits- fest sah, mußte ich weinen, weil ich wußte, daß der Bräutigam innerhalb emes Monats sterben muß. Ganz lächerlich erschien mir dann der Mann, der Schuhe für sieben Jahre bestellte, während kein Sterblicher seines Lebens sicher sein kann - nicht einmal sieben Tage lang. Und weshalb sollte ich nicht über den Zauberer lachen, der mit Sprüchen und Gesten versuchte, einen Schatz herbeizuzaubem, während unter dem Stein, auf dem er saß, ein Schatz vergraben war, von dem er nichts wußte.“ Salomon dachte über Aschmodajs Antwort nach. Dann fragte er ihn: „Wie kommt es, daß ihr Dämonen uns Menschen überlegen seid?“ Aschmodaj antwortete: „Mit der Kette, die mich fesselt, kann ich nur die Hälfte von dem tun, das ich in Freiheit tim könnte. Befreie mich von der Kette und leihe mir nur einen Augenblick deinen Ring, auf dem der Name Gottes geschrieben steht. Dann will ich dir die Antwort geben und dich zum einzigen Sterblichen machen, der die Geheimnisse der Dämonen kennt.“ Salomon trat zu Aschmodaj, nahm ihm die Kette ab und reichte ihm den Ring mit Gottes Siegel, den er einst im Schlaf vom Erzengel Michael erhalten hatte. Kaum aber hatte er Aschmodaj den Ring gegeben, so ergriffet Salomon und schleuderte ihn hundert .Meilen weit. Salomons Ring aber warf er ins Meer. Dann nahm Aschmodaj Salomons Gestalt an und begann, Israel an seiner Statt zu regieren. Salomon indes, der hundert Meilen durch die Luft geflogen war, sah sich um und merkte, daß er sich in der Nähe einer Stadt befand. Da ließ er sich beim Stadtoberen melden, sagte ihm, wer er sei, und bat ihn um ein Pferd und Geleit, um nach Jerusalem zurückzukehren. „Ich weiß wohl, wo diese ruhmreiche Stadt liegt“, sagte der Stadtobere, „wenn du aber wirklich der König von Israel bist, wie kommt es, daß König Salomon in Jerusalem auf seinem Thron sitzt ?“ Und er wies Salomon davon. ,Nun‘, dachte Salomon, ,wenn der mir nicht helfen will, so werden es andere tun/ Jedoch weder die Soldaten noch die Kaufleute, denen er begegnete, waren bereit, seinen Worten Glauben zu schenken. Zuerst versuchte Salomon zu befehlen, wie er es ]56(
gewohnt war, Hann mit guten Worten zu bitten, aber alles war umsonst. Die Leute lachten ihn aus. Salomon war nun ein Bettler, der verzweifelt versuchte, in seine Heimat zu gelangen. Endlich aber stand er wieder vor dem Tempel, den er zu Ehren des einzigen Gottes hatte errichten lassen und erblickte einen Soldaten. Da schossen Salomon die Tränen in die Augen und er legte dem Soldaten die Hand auf die Schulter: „Freue dich!“ sagte er. „Dein König ist zurückgekehrt!“ Der Soldat blickte Salomon verständnislos an. „Ich verstehe nicht, was du willst“, sagte er, „aber ich will dich in den Palast geleiten.“ Und er stieß Salomon vor sich her und rief: „Seht nur den König! Der König der Bettler bittet um Gehör!“ Bald hatte sich eine Volksmenge zusammengerottet und die Menschen lachten Salomon aus. Der Lärm war so groß, daß der Feldherr des Königs vor den Palast trat. Salomon sah mit Staunen, daß es ein anderer als sein treuer Benajahu war. Da rief er aus: „Mit welchem Recht nimmst du die Stelle des Benajahu ein ?“ Die Menge lachte, aber der Feldherr gebot Schweigen. Dann sagte er: „Gibt es viel- leicht zwei Götter, die mit Israel einen Bund schlossen, zwei Heilige Länder, zwei Städte, die Jerusalem heißen, zwei Tempel und zwei Könige, um das auserwählte Volk zu regieren?“ „So, wie es nur einen einzigen Gott gibt“, rief Salomon, „ein einziges Jerusalem und einen einzigen Tempel, bin ich der König von Israel. Ich bin Salomon, der Sohn Davids!“ „Wie kannst du es wagen, so etwas auszusprechen!“ schrie der Feldherr. „Du hast die Frechheit, dich einen König zu nennen? Jagt ihn fort!“ Da konnte Salomon, der Sohn Davids, froh sein, daß er mit dem Leben davonkam. Jetzt erst begriff Salomon, daß er in seinem Hochmut gesündigt hatte; und er fiel auf sein Angesicht und betete aus der Tiefe seines Herzens zu Gott. Dann verließ er Jerusa- lem und wanderte nach Japho. Da sprach ihn ein Mann an: „Bist du nicht Salomon, der König von Israel?“ Salomon aber schwieg. Dann traf er einen Bettler. Der verneigte sich tief vor ihm und fragte: „Bist du nicht Salomon, der Erbauer des Tempels ?“ Auch diesmal schwieg Salomon. Dann kam Salomon auf dem Markt zu einem Fischer. Der war damit beschäftigt, Fische auszunehmen. Einer der Fische war besonders groß. Als der Fischer ihm den Bauch auf schnitt, sah er, daß sich noch ein Fischlein darin be- fand, das war so klein, daß er es fortwarf. Doch eine kleine runde Erhebung unter der Fischhaut erregte Salomons Aufmerksamkeit. Neugierig schnitt er diesen Fisch auf und siehe: der Ring mit Gottes Siegel, den Aschmodaj ins Meer geworfen hatte, leuchtete ihm entgegen! Salomon steckte den Ring an seinen Finger und die Kraft des Ringes bewirkte, daß Salomon sich im gleichen Augenblick in Jerusalem auf der Tagung des Großen Rates befand. ]57[
Vor der Versammlung der Ältesten aber stand niemand anderer als Benajahu. Der berichtete der weisen Versammlung, der König habe sich völlig verändert. Seine ge- treuesten Diener seien alle in Ungnade gefallen und auch er hätte fliehen und sich ver- bergen müssen, um der Rache des Königs zu entgehen. Das Seltsamste indes sei, daß der König seine Füße stets sorgfältig verborgen halte. Er, Benajahu, habe unter den Saum des königlichen Gewandes sehen können und festgestellt, daß der König Hühnerfüße habe, wie sie die Dämonen besitzen, wenn sie menschliche Gestalt annehmen. Da erfaßte den Hohen Rat Entsetzen, das noch größer wurde, als Salomon mit seinem Ring vor die versammelten Ältesten trat. Alle erkannten ihren wahren Herrscher und fielen vor ihm auf die Knie. Und Salomon zog an der Spitze seines Volkes in den Palast ein. So gelangte er in den Saal, wo Aschmodaj in Salomons Gestalt auf dem Throne saß. Als dieser Salomon mit dem Ring am Finger erblickte, verzog sich sein Gesicht zu einer scheußlichen Fratze. Vor den Augen aller verwandelte er sich wieder in den Dämon, der mit schrillem Vogelschrei seine Flügel entfaltete und aus dem Palast flog. Vierzig Jahre regierte Salomon Israel, aber bis zu seinem Tode hütete er sich vor Aschmodaj, den König der Dämonen. Und da der Ring mit dem Siegel Gottes des Nachts keine Macht über die Dämonen besitzt, kann man im Hohen Lied lesen: „Seht, sechzig Helden stehen an seinem Lager, von Israels Tapfersten: Sie alle aus- gerüstet mit Schwertern, geschult für den Kampf. Jeder sein Schwert an der Seite, wider nächtliche Schrecknis!“ 1 58 (
Der Fuchs als Anwalt Einst geriet der Löwe in Zorn gegen seine Untertanen. In ihrer Angst suchten nun die Tiere einen tüchtigen Anwalt, der den erbosten König besänftigen sollte. Sic suchten und suchten, aber keiner wollte sich finden. Da bot der Fuchs seine Dienste an: „Ich weiß dreihundert Fabeln zu erzählen, die den Löwen wieder freundlich stimmen werden!“ Da nahmen die Tiere das Angebot an, und sie machten sich auf den Weg zum Löwen. Als sie eine Weile gegangen waren, blieb der Fuchs stehen und griff sich an die Stirn. „Was ist los?“ fragten die Tiere. „Ach, ich habe soeben hundert Fa- beln vergessen!“ erwiderte der Fuchs. „Das ist nicht schlimm“, meinten die Tiere, „zweihundert Fabeln werden wohl genug sein für den Löw’en.“ Nach einiger Zeit blieb der Fuchs wieder stehen und griff sich an die Stirn. „Welch ein Unglück!“ rief er. „Soeben habe ich weitere hundert Fabeln vergessen!“ Da beruhigten die Tiere ihren Anwalt und sagten: „Noch ist nichts verloren, vielleicht werden auch hundert Fabeln ihren Zweck erfüllen.“ Als sie aber vor der Höhle des Löwen anlangten, blieb der Fuchs erneut stehen, hielt sich den Kopf und rief: „Sie sind verschwunden! Alle meine schönen Fabeln habe ich vergessen! Tja, liebe Freunde, jeder muß nun für sich sprechen so gut er kann.“ Und er eilte davon. ]59(
Der dumme Esel Eines Tages beschloß der Kö- nig der Tiere, mit seinem ganzen Hofstaat in ferne Länder zu reisen. Er rief den Esel zu sich und sagte: „Ich betraue dich mit der Aufgabe, von allen Mitreisenden einen Zoll zu erheben!“ Da stellte sich der Esel an den Laufsteg, der zum Schiff führte, und verlangte von jedem Tier eine Gebühr. Als der Fuchs kam, wollte er nicht zahlen. „Was fällt dir ein, von mir Geld zu verlangen“, schrie er den Esel an, „weißt du nicht, daß das Gefolge des Königs keinen Zoll zahlt ?“ „Davon hat der Löwe nichts erwähnt“, sagte der Esel. „Ich bin beauftragt, von allen, die das Schiff betreten, Zoll zu ver- langen. Nicht einmal den König selbst würde ich auf das Schiff lassen, ohne daß er die Gebühr entrichtet!“ Der Fuchs ging erbost davon und ließ sich gleich beim Löwen zur Audienz melden. Als der Fuchs berichtete, was der Esel gesagt hatte, wurde der Löwe zornig. Er befahl, den gehor- samen Esel wegen Majestätsbeleidigung hinzurichten, und der Fuchs sollte dessen Fleisch lecker zubereiten. Der Fuchs ge- horchte und begann den Esel zu braten. Der Braten duftete und der Fuchs verspürte großen Appetit. Er konnte nicht wider- stehen und verschlang hastig das Herz des Esels. Beim Festmahl jedoch entging es dem Löwen nicht, daß das Herz des Esels fehlte. „Wie konntest du mich nur um den Genuß dieses Leckerbissens bringen“, fuhr er den Fuchs an. „Majestät“, lächelte der Fuchs entschuldigend, „wer so dumm war, von seinem König einen Zoll zu verlangen, konnte einfach kein Herz haben!“ Da mußte der Löwe lachen, und der Fuchs ging straflos aus. ]60[
DRITTES LICHT Vom Propheten Elias ]61[
Elias, der Gerechte V>r langer Zeit lebte im Heiligen Land ein Mann, den man Elias den Tisbiter nannte, weil er aus Tisbe stammte. Gott hatte Wohlgefallen an ihm gefunden und ihm besondere Eigenschaften verliehen: Elias war ein Seher, er konnte die Zukunft voraussagen und das Volk verehrte ihn als Propheten. Überall, wo Menschen Trost oder Ermahnung brauchten, konnte man Elias antreffen. Seine hohe Gestalt sah man bald hier bald dort und seinem scharfen Blick entging nichts. Die Missetäter fürchteten ihn, die Frommen und Gerechten aber liebten ihn; denn Elias war der Sendbote Gottes. W’enn einen armen Schlucker der Hunger plagte, war es Elias, der unbemerkt Mehl und öl in seine Töpfe füllte. Lag ein Kind im Fieber, legte er ihm die Hand auf die Stirn und die Krankheit verschwand. Als Wundertäter war Elias unsichtbar, aber die Menschen wußten um seine Gegenwart. Elias lebte in einer Höhle am Karmelberg; ihm genügte ein mit einem Riemen ge- gürtetes Fell, und sein einziger Besitz war ein Knotenstock. Ab und zu streifte er umher und ernährte sich von dem, was er fand. An den Hängen des Karmels w’ar fruchtbarer Ackerboden, der Joel, einem reichen Herrn gehörte. Seine Melonengärten am Karmel- berg hatten ihn reich gemacht, aber freigebig war Joel nicht. Alte und Bettler fanden bei ihm stets verschlossene Türen. Elias hatte von Joels Geiz gehört, und er beschloß, ihm eine Lektion zu erteilen. Er nahm die Gestalt eines alten Bettlers an und pochte an Joels Pforte. An diesem Tag ging es bei Joel hoch her, er feierte die Hochzeit seiner einzigen Tochter. Sein Haus war prächtig hergerichtet und fürstlich bewertete er seine Gäste. Jeder Raum war mit Blumen geschmückt, sie leuchteten in allen Farben und ihr Duft war betäubend. Von seinem Haus bis zu dem des Bräutigams hatte Joel Teppiche legen lassen, damit die Füße der Hochzeitsgäste nicht den nackten Boden berührten. Das Brautkleid seiner Tochter war aus golddurchwirktem Byssus und sie trug Schmuck aus der Werkstatt des besten Gold- schmieds von Jerusalem. Gleich nach der Hochzcitszeremonic begann das Festmahl. Die Gäste lobten die Kunst ]62[
der Köche, der Wein floß in Strömen und die Stimmung war heiter und gelöst. Als die Unterhaltung ihren Höhepunkt erreicht hatte, mischte sich Elias unbemerkt unter die Hochzeitsgästc. Niemand hatte ihn kommen sehen, obgleich er auffallend genug war. Seine hohe Gestalt war in Lumpen gekleidet, über der Schulter trug er einen Bettelsack und das wirre Haar fiel ihm in die Stirn. Joel aber war es nicht gegeben, in ihm den Propheten zu erkennen, und er rief unwirsch aus: „Für Bettelpack bin ich nicht zu spre- chen!“ Da blickte Elias Joel durchdringend an und verließ das ungastliche Haus. Auf der Straße nahm er die Gestalt eines jungen königlichen Beamten an, der mit einem Wagen vorgefahren kam. Kaum hatte Joel von der Ankunft des prächtig gekleideten Gastes gehört, eilte er ihm entgegen, um ihn gebührend zu empfangen: „Welche Ehre für mein Haus, edler Herr!“ rief er. „Tretet ein und setzt Euch an den Ehrenplatz an J63[
meiner Seite und bedient Euch reichlich mit Speise und Trank!“ Und Joel verbeugte sich abermals tief vor dem vornehmen Gast. Als er sich wieder aufrichtete, fuhr er ent- setzt zurück, denn vor ihm stand der zerlumpte alte Bettler, den er vor einer Weile aus dem Hause gewiesen hatte. Und dort, wo der Wagen gestanden hatte, waren nur die Spuren der Räder und der Hufe im Sand. „Was soll das bedeuten?“ stotterte Joel. „Ich wollte dir nur zeigen, wie töricht du bist“, antwortete Elias. „Als ich als Bettler zu dir kam, hast du mir keinen Bissen angeboten, im Gewand eines Würdenträgers aber erweist du mir alle Ehren. Du siehst das Kleid, Joel, und nicht den Menschen. Vergiß die Armen nicht, Joel! Hüte dich vor deinem Geiz und deinem Hochmut, damit sie dich nicht an den Bettelstab bringen!“ Elias verschwand und Joel kehrte nachdenklich zu seinen Gästen zurück, denn der seltsame Fremde hatte ihn erschreckt. Dann befahl Joel seinen Dienern, die Reste des Festmahls den Armen zu geben. Aber bald nach der Hochzeit hatte er die Begegnung mit Elias vergessen und verschloß wieder sein Herz vor den Armen und Bedürftigen. Einmal besichtigte Joel seine Melonengärten am Karmelberg und freute sich an den reifenden Früchten, die eine gute Ernte versprachen. Da erblickte er eine wunderliche Gestalt, die quer über die Felder auf ihn zukam. Der Fremde war in ein Tierfell ge- kleidet und sein wirres Haar wehte im Wind. Joel wußte nicht, daß es Elias war, der eben seine Höhle verlassen hatte, denn Joel war es nicht gegeben, den Propheten zu er- kennen. Daher fuhr er ihn böse an: „Wer hat dir erlaubt, meine Gärten zu betreten?“ Elias blickte erstaunt umher. „Ich lebe hier“, antwortete er, „und ich muß über deine Felder, wTenn ich hinuntergehe vom Berg. Es ist gut, daß ich dir begegnet bin, ich habe Hunger und Durst, gib mir doch eine deiner schönen Melonen, damit ich mich erfrischen kann!“ Joel wollte schon grob ablehnen, als ihm einfiel, sich mit dem armen Teufel einen Scherz zu erlauben. „Das sind doch keine Melonen hier in meinem Garten, sondern runde Feldsteine!“ Da blickte ihn Elias traurig an und sprach: „Möge Gott geben, daß du recht behältst!“ Kaum hatte Elias das gesagt, da verwandelten sich alle Melonen in runde Steine. Joel konnte keine Ernte mehr verkaufen, und von diesem Augenblick an verließ ihn das Glück. Mit der Zeit verlor er sein gesamtes Hab und Gut und er endete als Bettler. Bis heute aber kann man auf den Hängen des Karmelberges runde, melonenähnliche Steine sehen - die Überreste von Joels Meloncngärten. ]64[
Wanderungen mit Elias Josua ben Levi war ein großer Rabbiner; alle priesen seine Weisheit und seine Herzensgüte, alle liebten ihn, er aber war nicht glücklich: Er fastete und betete von früh bis spät, Gott möge ihm eine Begegnung mit dem Propheten Elias gewähren. Als nun Josua eines Morgens die Synagoge betrat, erwartete ihn der Prophet Elias. „Was wünschest du von mir ?“ fragte er den Rabbiner. „Ich möchte dich auf deinen Wanderungen begleiten, um deine gottgefälligen Hand- lungen und deine Wundertaten ganz nahe zu sehen“, antwortete Josua. „Dann komm mit mir“, sagte Elias, stellte aber die Bedingung, daß Josua keine Begründung seiner Handlungen verlangen dürfe. Also wanderten beide, der Prophet Elias und Josua ben Levi, gemeinsam, bis sie zum Hause eines armen Mannes kamen, der nur eine Kuh besaß. Der Mann und seine Frau empfingen die beiden freundlich und bereiteten ihnen ein Nachtlager. Am Morgen aber betete Elias, daß die einzige Kuh des Armen sterben möge, und sogleich fiel sie tot um. „Was tust du denn?“ rief Josua. „Als Dank für die Gastfreundschaft, die uns die armen Leute erwiesen haben, ist ihre Kuh nun tot!“ „Vergiß nicht, was wir abgemacht haben!“ antwortete Elias. Da preßte Josua die Lippen zusammen und schwieg. Nach einem langen Weg erreichten sie am Abend das Haus eines reichen Mannes, der die müden Wanderer nicht ehrerbietig empfing und sie auch nicht bewirtete. Sie mußten unter freiem Himmel übernachten. In der Nacht stand Elias auf, sprach ein Gebet, und schon stand ein prächtiger Palast da. ,Wo bleibt hier die Gerechtigkeit?* dachte Josua, beherrschte sich aber und schwieg. An diesem Abend kamen sie zu einem großen Bethaus. Die Bänke darin waren reich mit Gold und Silber verziert und die Gläubigen saßen ein jeder auf dem Platz, der ihm zukam. Als sic die beiden Wanderer eintreten sahen, sprach einer der angesehenen Bürger: „Wer wird die Bettler speisen?“ Und ein anderer antwortete: „Hartes Brot und J 65 [
Wasser werden ihnen wohl genügen!“ Aber niemand brachte ihnen zu essen oder zu trinken und Elias und Josua übernachteten hungrig in der Synagoge. Als die Männer zum Morgengebet in die Synagoge zurückkamen, sprach Elias: „Der Herr lasse euch alle Stadtälteste werden!“ Rabbi Josua fiel es schwer, Elias nicht nach der Begründung dieser Worte zu fragen, aber er wollte sich nicht von ihm trennen und schwieg. In der Dämmerung erreichten sie eine andere Stadt. Hier waren die Bürger sehr gast- freundlich und gaben ihnen Speise und Trank und ließen sie in einer Herberge über- nachten. Am anderen Morgen aber betete Elias und sagte dann zu seinen Gastgebern: „Der Herr lasse nur einen von euch Stadtältester werden!“ Da konnte Josua nicht mehr an sich halten und bat den Propheten, ihm seine Handlun- gen zu begründen. 1 66[
„So wisse denn“, sprach dieser. „Damals hätte die Frau des armen Mannes sterben sollen, und sie war ihm lieber als tausend Goldstücke. Deshalb tötete ich seine Kuh, damit anstelle der Frau sie sterbe. Den Palast habe ich dem geizigen Reichen aufgebaut, um zu verhindern, daß er den Schatz findet, der darunter liegt. Auch wird dieses Ge- bäude keinen Bestand haben, cinstürzen und den Schatz begraben. Den hartherzigen Männern in der Synagoge wünschte ich, sie sollten viele Häupter über sich haben, denn ein Ort, den viele Herren regieren, kann nicht gedeihen. Den Gerechten jedoch in der Stadt mit den gastfreundlichen Einwohnern wünschte ich, daß nur einer von ihnen Ältester werde. Nur ein Haupt wird sie leiten, der Geist der Zwietracht wird nicht auf- kommen und ihr Gemeinwesen wird gestärkt werden. Denn es heißt:,Viele Steuermän- ner steuern das Schiff auf den Grund, aber unter eines Herren Schutz bevölkert sich die Stadt.* “ Als sich ihre Wege trennten, umarmte der Prophet Elias den Rabbi Josua ben Levi und sprach: „Werde nicht unsicher, wenn du einen Gottlosen siehst, dem das Glück hold ist, und einen Frommen und Gerechten, der im Elend lebt. Denn Gott ist gerecht und wacht über das Tun der Menschen.“ ]67[
Das Geschenk des Propheten Ais der Prophet Elias, der Wohltäter Israels, wirkte, lebte unweit von Jerusalem ein armer Mann mit seiner zahlreichen Familie. Er besaß nur ein kleines Feld und ein baufälliges Häuschen, durch dessen Dach der Wind pfiff. Platz war wenig darin, und es wurde immer enger, da jedes Jahr ein neues Kindlein hinzukam. Der Mann hatte acht Kinder, und er mochte sich auf seinem kleinen Feld abrackem wie er wollte, abends mußten alle acht hungrig zu Bett gehen. Eines Tages war er wieder auf seinem Feld, aber die Arbeit wollte ihm nicht von der Hand gehen, da die Hacke ständig auf Steine stieß, und als die Sonne im Zenit stand, hatte er erst einen schmalen Streifen fertig. Traurig schaute er auf das kärgliche Ergebnis seiner Mühe, als ihn eine Stimme aus seinen Gedanken riß. Vor ihm stand ein hoch- gewachsener alter Mann, den er nicht hatte kommen sehen. Der Mann im Beduinen- mantel aber war der Prophet Elias. „Friede sei mit dir!“ grüßte der Prophet. „Im Himmel wurde beschlossen, dir sieben glückliche Jahre zu schenken. Willst du sie jetzt gleich genießen oder erst am Ende deines Lebens?“ Der arme Mann erkannte Elias nicht und hielt ihn für einen schaden- frohen Zauberer. „Geh deiner Wege, Zauberer, und laß mich in Frieden“, rief er. „Ich habe Kummer genugI“ Da ging Elias wortlos fort, aber am nächsten Tag war er wieder da. „Friede sei mit dir!“ grüßte er abermals. „Sieben glückliche Jahre sind dir beschieden. Willst du sie jetzt oder erst am Ende deines Lebens ?“ Da jagte der Mann den geheimnis- vollen Beduinen zum zweitenmal fort. Am dritten Tag jedoch war Elias wieder da. „Ver- traue mir“, sagte er, „und gib mir eine Antwort. Willst du die sieben glücklichen Jahre, die dir vom Himmel beschieden sind, jetzt gleich oder erst am Ende deiner Tage?“ Der arme Mann verlor nun sein Mißtrauen, zögerte aber noch immer mit der Antwort. „Ich berate mich in allen Dingen mit meiner Frau“, sagte er dann. „Gerne möchte ich auch jetzt ihre Meinung hören.“ Elias war einverstanden, und so lief der Mann schnell nach Hause, um seiner Frau vom Angebot des seltsamen Fremden zu erzählen. 1 68 [
I „Nun“, meinte die Frau, „wenn es uns wirklich beschieden sein sollte, besser zu leben als bisher, sollte es gleich sein!“ Der Mann richtete Elias die Antwort seiner Frau aus. „Es geschehe, wie du es wünschst“, sagte der Prophet, „noch heute sollst du ein reicher Mann sein. Aber wisse, nur für sieben Jahre ist das Glück dir sicher. Nach sieben Jahren werde ich dich wieder aufsuchen.“ Als der Mann am Abend vom Feld nach Hause kam, sah er gleich, daß der Alte nicht in den Wind gesprochen hatte. Die Kinder zeigten ihm ein großes Stück Gold, das sie im Garten gefunden hatten. Und der Mann und seine Frau fielen nieder und dankten Gott für seine Hilfe. Dann berieten sie, was sie mit dem unverhofften Reichtum anfangen wollten. „Wir könnten in die Stadt ziehen und uns dort ein Haus kaufen!“ schlug der Mann vor. „Das Elend und der Hunger werden bald vergessen sein.“ „Und was werden wir in sieben Jahren machen?“ wandte die Frau ein. „Das Geld, welches wir für das Gold bekommen, wird bald verbraucht sein, und was dann ? Nein, ich glaube, wir sollten den Kindern Kleider kaufen und sie satt machen, sonst aber fleißig arbeiten wie bisher. Wir sollten uns fruchtbaren Boden kaufen und bessere Geräte anschaffen, und mit Gottes Hilfe werden wir dann bis zum Ende unserer Tage keine Not mehr leiden müssen. Den Rest des Geldes nehmen wir, um den Armen zu helfen. Auch uns hat Gott nicht verlassen.“ Der Mann hörte auf den Rat seiner Frau, und bald zeigte es sich, daß er richtig ge- handelt hatte. Die neuen Felder brachten gute Ernte, für den Erlös des Getreides kaufte 1 69 [
er Rinder und Schafe, und er verkaufte Schafwolle, Milch und Käse. Sein Haus stand den Armen und Bedürftigen stets offen; und je freigebiger er war, um so größer wurde sein Vermögen. So verging Jahr um Jahr und nach genau sieben Jahren stand der Prophet Elias wieder vor ihm, ohne daß ihn jemand hätte kommen sehen. Er sagte: „Die sieben Jahre sind um. Gib mir zurück, was dir vom Erlös des Schatzes geblieben ist.“ „Ich habe das Ge- schenk des Himmels auf den Rat meiner Frau angenommen, und nur mit ihrem Ein- verständnis kann ich dir den Rest zurückerstatten“, antwortete der Mann. „Warte, bis ich mich mit ihr beraten habe.“ Elias war einverstanden und der Mann ging nach Hause. Seine Frau hörte ihn an und sagte: „Richte deinem Wohltäter aus, daß wir durch unserer Hände Arbeit genug erwirtschaftet haben, um ihm die volle Summe zurückerstatten zu können.“ Als er Elias die Antwort seiner Frau überbrachte, freute sich der Prophet; er segnete ihn und sagte: „Sei frohen Mutes, daß du eine so kluge Frau hast, und seid glücklich!“ So folgten den sieben glücklichen Jahren noch viele andere. ]70[
Was Gott tut, das ist wohlgetan Vor langer Zeit lebte der gelehrte Rabbi Na- chum. Was auch immer geschah - ob die Leute reich wurden oder ihr Vermögen verloren, ob sie gesund waren oder krank, ob es ihnen gut ging oder schlecht - der Rabbi sagte immer: „Auch dies ist zum Guten.“ Eine bittere Erfahrung hatte den Rabbi diesen Spruch gelehrt: Vor Jahren befand er sich auf einer Reise zu seinem Schwiegervater und führte drei beladene Esel mit sich; einen mit Speisen, einen mit Getränken und einen mit allerhand Köstlichkeiten. Die Sonne brannte und Nachum war froh, unter den Zweigen eines Baumes Schatten zu finden. Da kam ein in Lumpen gekleideter Greis des Wegs und bat: „Herr, gebt mir Speise und Trank, damit ich nicht sterbe vor Erschöpfung!“ „Warte, bis ich die Esel von ihrer Last befreit habe, dann will ich dir geben, wonach du verlangst!“ antwortete Nachum und machte sich an den Eseln zu schaffen. Er war aber mit dem Abladen noch nicht fertig, als der Bettler zu Boden sank und starb. Verzweifelt warf sich Nachum über den Toten und rief: „Was habe ich nur getan! Hätte ich dir gleich geholfen, wärest du noch am Leben! Meine Augen, die dein Elend nicht sahen, mögen erblinden, meine Hände, die keine Erquickung reichten, abgehauen werden, meine Füße, die nicht schnell genug waren, erlahmen!“ Der Rabbi unterstützte die Armen und seine Freigebigkeit und sein Wissen trugen ihm allgemeine Achtung ein. „Meine Teilnahmslosigkeit hat einst einen Menschen getötet“, sagte der Rabbi. „Sein Tod hat mich gelehrt, das menschliche Leid zu erkennen und die Lehre Gottes richtig zu verstehen.“ Die Juden litten damals sehr unter der römischen Oberherrschaft. Kaiser Hadrian war ein grausamer Herrscher und seine Willkür kannte keine Grenzen. Es geschah, daß Kaiser Hadrian einem ehrwürdigen jüdischen Greis begegnete. „Friede sei mit dir!“ grüßte der Greis nach israelitischem Brauch. Hadrian aber geriet in Zorn: „Was fällt dem denn ein?“ schrie er. „Dieser Jude grüßt mich, als wäre ich seinesgleichen!“ Und er ließ den Unglücklichen hinrichten. 1 71 [
Am nächsten Tag begegnete ihm ein anderer Jude. Dieser wußte, was sich zugetragen hatte, und grüßte nicht. Der Kaiser jedoch tobte: „Weshalb erweist der mir nicht die gebührende Ehre ? Weshalb grüßt er nicht ? Köpft ihn!“ Da erfaßte die Juden Angst und Entsetzen. „Wenn der römische Kaiser uns so feindlich gesinnt ist, wird er uns alle vernichten! Wir müssen etwas tun, um ihn versöhnlich zu stimmen.“ Die Rabbiner überlegten hin und her und beschlossen, daß man Hadrian ein kost- bares Schmuckstück schenken sollte, denn sie kannten seine Leidenschaft für Gold und Edelsteine. Wer aber sollte Kaiser Hadrian das Geschenk überbringen? „Ein schöner Jüngling, damit sein Anblick das Auge nicht verletzt“, meinte ein Teil der Weisen. Die anderen wiederum sagten: „Ganz im Gegenteil - ein Greis, sein weißes Haar gebietet Achtung.“ Da trat Rabbi Nachum vor die Versammlung und sprach: „Niemand kann die Laune des Kaisers voraussehen, vielleicht wird sein Auge einen Jüngling wünschen, vielleicht aber einen Greis. Eines indes ist sicher: Der Bote soll ein Mann sein, der nichts zu verlieren hat. Schickt mich.“ Da segneten die Weisen Rabbi Nachum und übergaben ihm ein kunstvoll mit Elfen- bein eingelegtes Kästchen, in dem sich das kostbare Schmuckstück befand. Und das Volk betete, der Rabbi möge gesund heimkehren. Am nächsten Morgen machte er sich auf den Weg, der ihn nach Rom führen sollte. Gegen Abend kam er zu einer Herberge, wo ihn die Wirtsleute sehr freundlich empfin- gen. Sie brachten ihm Speise und Trank und gaben ihm ein bequemes Lager. Als der Rabbi eingeschlafcn war, sagte der Wirt zur Wirtin: „Hast du das Elfenbeinkästchcn ge- sehen? Sicher ist ein Schatz darin!“ „Wir können ja nachsehen“, sagte die Wirtin. Als der Wirt dann das Kästchen öffnete und den herrlichen Schmuck sah, nahm er ihn an sich und befahl der Frau, das Kästchen mit Erde zu füllen und es wieder zurückzulegen. Die Frau tat, wie ihr geheißen, und der Wirt vergrub noch in der gleichen Nacht den für Kaiser Hadrian bestimmten Schmuck. Frühmorgens erhob sich Nachum, um seinen Weg fortzusetzen. Der W’irt glaubte, der Rabbi würde den Diebstahl gar nicht bemerken, dieser aber hatte das Kästchen kaum berührt, als er wußte, was geschehen war. „Auch dies ist zum Guten“, sagte er zu den Wirtsleuten, ohne sich etwas anmerken zu lassen, und wandte seine Schritte gen Rom. Nach langer Wanderung war der Rabbi in Rom angclangt und stand vor Kaiser Hadrian. Er übergab ihm das Schreiben der Israeliten und das mit Elfenbein eingelegte Kästchen. Hadrian hatte gelesen, daß es kostbaren Schmuck enthielt, und öffnete es voll Erwartung. Als er die Erde im Kästchen erblickte, war er fassungslos vor Zorn: „Diese verfluchten Juden machen sich wohl einen Scherz mit mir? Sie haben mir Erde geschickt! Nichts und niemand kann mich mehr mit diesem Volk aussöhnen - ich werde es ausrotten!“ ]72(

Kaiser Hadrian befahl seinen Wächtern, den Rabbi zu fesseln und zum Richtplatz zu führen. Da betrat der Prophet Elias in Gestalt eines königlichen Ratgebers den Saal und sprach: „Halte ein, großer Kaiser! Vielleicht ist die Erde in dem Kästchen von dem Stau- be, den Abraham, der Erzvater der Juden, auf seine Feinde schleuderte. Und der Staub verwandelte sich in Pfeile, Lanzen und Speere, die Mauern fielen und die Festungen öffneten sich!“ Hadrian überlegte: Seine Legionen standen überall, Rom hatte viele Feinde und zahlreiche Städte wurden belagert. So eine Waffe konnte er brauchen. Der Kaiser befahl also, den Rabbi am Leben zu lassen, und die Erde aus dem Kästchen zu erproben. Bald erreichte Hadrian die frohe Nachricht von der unerwarteten Übergabe einer stark befestigten Stadt. Nur ein wenig Erde hatten die römischen Soldaten auf die Wälle geschleudert, und die Mauern waren gefallen! Da bedankte sich Hadrian für das wunderbare Geschenk der Juden und gelobte, ihnen nie wieder em Leid anzutun. Der Rabbi Nachum wurde in allen Ehren entlassen. Auf dem Rückweg nach Jerusalem mußte er wieder an dem Dorf vorbei, wo sich die Herberge mit den unehrlichen Wirtsleuten befand. Der Rabbi erzählte dem Wirt, wie es ihm in Rom ergangen war, wie sehr sich der Kaiser über die Erde gefreut und wie reich er ihn belohnt hatte. Der Wirt platzte fast vor Neid. Kaum war der Rabbi fort, so ließ er seinen Garten umgraben und lud die Erde auf mehrere Fuhrwerke. Dann fuhr er nach Rom und konnte cs kaum erwarten, bis der Kaiser ihn empfing. Der Wirt fiel vor Hadrian auf sein Angesicht. „Mein Herr und Kaiser“, sprach er, „die Wundererde des Rabbi Nachum stammt aus meinem Garten. Vom Fenster deines Palastes kannst du meine Fuhrwerke sehen, ich habe dir alle Erde aus meinem Garten gebracht.“ Dem Kaiser kam die Sache nicht geheuer vor, darum ließ er die Erde prüfen. Man brachte zum Tode verurteilte Verbrecher und bewarf sie mit dieser Erde. Aber das Wunder, das Elias für Nachum getan hatte, wiederholte sich nicht. Die Erde blieb Erde, sie verwandelte sich nicht in Pfeile, Schwerter und Lanzen, und die Verbrecher blieben am Leben. Da mußte sich der Wirt dazu bekennen, daß er dem Rabbi das für Hadrian bestimmte Schmuckstück gestohlen hatte. Am Richtplatz ereilte ihn die ge- rechte Strafe. Die Israeliten aber gedachten in tiefer Dankbarkeit des Propheten Elias und ehrten Rabbi Nachum, dessen Worte sich wieder bestätigt hatten: „Auch dies ist zum Guten!“ ] 74 [
Der undankbare Hirsch Eines Tages gingen Jäger auf die Hirsch] agd. Da sahen sie am Waldrand einen prächtigen Hirsch stehen. Als sic näherkamen, sprang er über den Zaun und versteckte sich in den Büschen. Die Jäger suchten alles nach ihm ab, konnten ihn aber im Wald nicht finden. Als sie lange erfolglos gesucht hatten, schickten sie sich an zurückzu- kehren. Das bemerkte der Hirsch und freute sich. Er fraß die Blätter, die ihn versteckt hatten, genüßlich ab. Die Blätter jedoch, die in sein Maul kamen, seufzten. „Was seufzt ihr so?“ fragten die kahlen Zweige der Büsche. „Wir seufzen nicht über unser Ende“, entgegneten die Blätter, „sondern über das Ende des Hirsches, der uns frißt. Wenn er alles kahlgcfressen hat, wird er bald von seinen Verfolgern entdeckt werden!“ Doch der Hirsch hörte nicht darauf, sondern fuhr fort, die Blätter abzufressen. Die Jäger hörten es im Gebüsch rascheln, drehten sich um und sahen den Hirsch, den die kahlen Zweige nicht mehr verdeckten. Da schossen die Jäger und verletzten ihn tödlich. Als seine Verfolger ihn erreichten, da rief er noch: „Recht geschieht es mir, weil ich Gutes mit Bösem vergolten habe! Ich wollte nicht auf die Blätter hören, so kam dieses Unglück über mich!“ 1 75 (
Kopf und Schwanz Der Schwanz der Schlange sagte zum Kopf: „Niemand hat dich zu meinem Herrn gemacht, warum soll ich hinter dir herkriechen wie ein Diener? Ich denke nicht daran, dir immer zu folgen! Von heute an werde ich vorne sein und du hinten!“ Der Kopf wandte nichts ein, und so folgte der Schlangenleib dem Schwanz. Der Schwanz aber hatte keine Augen und konnte daher keinem Hindernis ausweichen. Er stieß sich an spitze Steine, stach sich an Dornen und Disteln, fiel ins Wasser und versengte sich am Feuer. Wäre der Kopf nicht gewesen, der den Leib herauszog - die ganze Schlange wäre verbrannt. So wie der Schwanz, der an Stelle des Kopfes am Leib sitzen will, sind die unerfahrenen Jünglinge, die an Stelle der Alten entscheiden wollen. Daher steht geschrieben: „Wenn die Alten dir zum Abbruch raten und die Jungen zum Aufbau, so breche ab und baue nicht auf. Weil Niederreißen bei den Alten Auf- bau bedeutet, Aufbau bei den Jungen jedoch Niederreißen.“ ] 76 r
VIERTES LICHT Von den Herrschern und Weisen, die einst im Heiligen Land lebten ] 77[
Alexander und die jüdischen Weisen Alexander, König von Makedonien, führte viele siegreiche Kriege und er machte sich viele Länder untertan. Niemand konnte seine Armeen aufhalten und alle Herrscher zitterten vor ihm. Alexander zog auch gegen Jerusalem. Seine Soldaten freuten sich schon auf reiche Beute, sie waren es gewohnt zu plündern und zu brandschatzen. Vor den Toren Jerusa- lems kam Alexander der weiß gekleidete Hohepriester entgegen. Vor ihm, der den Kopf- bund mit der goldenen Stirnplatte mit dem eingravierten Namen Gottes trug, verneigte sich Alexander tief, und er gestattete den Juden, ihre Bräuche bcizubehalten und ihren Glauben ungestört auszuüben. Da wunderten sich seine Offiziere, an reiche Beute gewöhnt, und fragten nach einer Erklärung dieser für Alexander ungewohnten Haltung. „Die Erklärung kann ich euch gern geben“, sagte Alexander. „Einst, als ich eine entscheidende Schlacht für verloren hielt, ist mir ein Engel, gekleidet wie dieser Hohe- priester, im Traum erschienen. Er flößte mir Mut und Stärke ein und ich schlug den Feind. Und immer, wenn ich später vor einem entscheidenden Kampf stand, erschien er mir wieder und prophezeite mir den Sieg. Dieser Hohepriester aus Jerusalem gleicht der Gestalt aus meinen Träumen. Es ist daher an der Zeit, daß ich ihm meinen Dank erweise.“ Als sie dies vernommen hatten, begegneten die Offiziere dem Hohenpriester ebenfalls ehrerbietig. Bald darauf rief Alexander die jüdischen Weisen zu sich. „Ich will Afrika erobern“, sagte er. „Was erwartet mich auf diesem Feldzug ?“ „Großer König“, warnten ihn die jüdischen Ältesten, „du kannst nicht nach Afrika, denn es ist durch hohe Berge geschützt. Es herrscht dort ewige Dunkelheit und du wirst den Weg verlieren. Falls du aber trotzdem Afrika erreichst, wirst du sehen, daß cs sich nicht gelohnt hat.“ 1 78 (
„Mein Entschluß steht fest“, erwiderte Alexander, „deshalb habe ich um Rat ge- fragt.“ „Dann laß lybische Esel holen, die auch in der Dunkelheit gehen, und binde sie an ein langes Seil. Ein Ende binde an die Grenze des Reiches der Finsternis und am anderen halte dich fest, damit du den Rückweg findest.“ Alexander tat, wie ihm die jüdischen Weisen geraten hatten. Er überwand alle Hinder- nisse und erreichte mit seinen Kriegern Afrika. Bald stand er an den Grenzen eines Reiches, in dem nur Weiber lebten, denn die Männer waren aus Furcht vor Alexander in die Berge geflohen. Alexander erklärte den Weibern den Krieg, aber jene ließen ihm folgende Botschaft zukommen: „Sei nicht töricht, König. Tötest du uns, so wird man sagen, Alexander hat nur Weiber getötet. Und töten wir dich, werden die Leute sagen: Welch ein Heerführer war Alexander und wie armselig war sein Tod!“ Die Worte überzeugten Alexander, und er zog weiter. Auf dem Rückweg lagerte er an einem kleinen Fluß. Er war müde und erschöpft und seine Glieder schmerzten. Nach kurzem Schlaf zog er gesalzene Fische aus seiner Feld- tasche und legte sie ins Wasser, um das Salz zu vermindern und sie abzuwaschen. Aber kaum waren die Fische mit dem Wasser in Berührung gekommen, als sie lebendig und munter davonschwammen. „Wie seltsam“, staunte Alexander, „und wie wunderbar das Wasser duftet!“ Er wusch sein Angesicht im Fluß und alle Müdigkeit war wie w’egge- blascn. Nie hatte er sich so wohl gefühlt. Da dachte er: ,Ich muß den Ort finden, wo dieses Wasser entspringt/ Alexander befahl seinen Kriegern zu warten und ging allein dem Lauf des Flusses nach. Sein Weg führte durch Engpässe und dichtes Gestrüpp, bis er eine hohe Mauer erblickte, unter der er zu entspringen schien. Alexander fand ein Tor, es war verschlossen. Da schlug er mit den Fäusten dagegen und rief: „Ich, Alexander von Makedonien, be- gehre einzutreten! Die ganze Welt ist mir untertan, alle Völker entrichten mir Tribut! Hütet euch vor meinem Zorn und laßt mich ein!“ Kaum hatte Alexander zu Ende gesprochen, da erklang eine Stimme: „Alexander, laß ab von deinen Drohungen! Du stehst vor der Pforte des Paradieses. Hier ist der allmächtige Gott!“ Alexander aber rief furchtlos: „Gebt mir etwas zur Erinnerung mit, so ich vor den Toren des Paradieses gestanden habe.“ Und siehe, seine Bitte wurde erhört! Die Pforte öffnete sich einen Spalt breit und ein Gegenstand wurde ihm zugeworfen. Es war ein glatter, runder Stein in der Form eines menschlichen Auges. Als Alexander zurückkehrte, berief er alle seine Ratgeber und W’eisen, um das Ge- heimnis des Steines aus dem Paradies zu ergründen. Alle priesen ihren Herrscher und sein Glück, über das steinerne Auge aber wußten sie nichts zu sagen. Da ließ Alexander 179[
jüdische Weisen kommen. Diese hätten Alexander gern geholfen, jedoch ihr Wissen war nicht groß genug, um den Sinn des Geschenkes aus dem Paradies zu begreifen. Damals lebte in der Stadt Susa ein weiser, alter Jude. Er war schon sehr alt und schwach. Als dieser von Alexanders Stein aus dem Paradies erfuhr, bat er den König, ihn zu empfan- gen. Alexander schickte Diener mit einer Sänfte, und der Jude wurde in den Palast getragen. Der makedonische König empfing den Juden mit allen Ehren und zeigte ihm den Stein in der Form eines menschlichen Auges. „Mächtiger König“, sagte der Jude, „lege den Stein aus dem Paradies auf die Waage.“ „Weshalb?“ wunderte sich Alexander, der Stein wiegt sicher nicht mehr als einen halben Schekel.“ Er aber tat, wie dieser ihm geheißen hatte. Auf die eine Waagschale legte er den Stein und auf die andere einen goldenen Schekel. Das Auge jedoch war schwerer, und als Alexander einen zweiten goldenen Schekel auf die Waagschale legte, änderte sich noch immer nichts. Als die Waagschale mit Gold, Silber und Edelsteinen gefüllt war und ]80[
Alexander eine größere Waage bringen lassen wollte, sagte der weise Jude: „Du mühst dich umsonst, König, auch wenn du alle deine Paläste und Schätze auf die Waagschale legtest, das Auge wird sie überwiegen.“ „Dann erkläre mir doch dieses Wunder“, bat Alexander. „So wisse“, sagte der Weise, „das steinerne Auge aus dem Paradies ist das Auge eines Menschen, der nie aufhört, nach irdischen Gütern, nach Gold und Silber zu jagen.“ „Kannst du beweisen, daß dem so ist ?“ fragte Alexander. Da nahm der Weise eine Handvoll Erde und bedeckte das steinerne Auge. Augenblick- lich schnellte die Waagschale in die Höhe. „Siehst du?“ sagte der Weise. „Wenn der Mensch stirbt und die Erde ihn bedeckt, hat jegliches Streben nach irdischen Gütern für ihn aufgehört.“ Dann blickte der Weise Alexander ernst an und sprach: „Mächtiger König, du bist jetzt auf der Höhe deines Ruhms, vergiß nie das Geschenk aus dem Paradies!“ ❖ )81(
Der geduldige Hillel Weisheit kann man nicht erben wie Geld und Gut, und Gelehrsamkeit fällt niemandem in den Schoß. Das wußte jedermann in Jerusalem, wo die Weisen höchste Achtung genossen. Hillel aus Babylon war ein armer Mann, den sein großer Wissensdurst nach Jerusalem geführt hatte, wo er sich dem Studium der heiligen Lehre widmen wollte. Täglich stand Hillel beim Morgengrauen auf, um durch seiner Hände Arbeit einen Sus zu verdienen. Wenn ihm das gelungen war, gab er seiner Frau die eine Hälfte für die Hauswirtschaft und mit der anderen eilte er zum Lehrhaus und reichte dem Torhüter den halben Sus, um eingelassen zu werden. Dann erst konnte er den weisen Auslegungen der Lehrer Schemaja und Awtalion lauschen. Einmal aber, es war im Winter, hatte Hillel keine Arbeit gefunden, und so konnte er auch das Schulgeld nicht bezahlen und stand traurig vor der verschlossenen Pforte des Lchrhauscs. Da stieg Hillel auf das Dach und legte sich flach auf das Fenster, durch das man die Worte von Schemaja und Awtalion hören konnte. Es fing jedoch an zu s dineien, und bald wurde er vom Schnee zugeweht. Hillel jedoch lag still da und fühlte keine Kälte, denn ihn wärmten die Worte der Thora. Die anderen Schüler waren schon längst nach Hause gegangen, die Nacht kam, und nur Schemaja und Awtalion waren noch im Lehrhaus und widmeten sich dem Studium. Als es Tag wurde, hob Schemaja die Augen von den Büchern und sagte: „Wieso ist es noch so dunkel? Steht nicht eine Wolke über dem Fenster?“ Die Lehrer sahen zum Fenster, dort erblickten sie den steifgefrorenen Hillel. Da stiegen sie auf das Dach, gruben den eifrigen Schüler aus dem Schnee und brachten ihn ins Lehrhaus, damit er wieder zu sich kam. Als er sich erholt hatte, sagten sie: „Hillel, deine Geduld und dein Lerneifer sollen belohnt werden, du darfst das Lehrhaus ohne Entgelt besuchen!“ Und der glückliche Hillel machte eifrig von dem Angebot Gebrauch; Schemaja und Awtalion hatten keinen fleißigeren Schüler. Seine Weisheit und sein Wissen brachten ]82[
ihm Ruhm und Anerkennung, die Liebe der Menschen aber gewann Hillel durch die Güte seines Herzens. Seine Sanftmut war so groß, daß sie zum Sprichwort wurde: „Sei sanftmütig wie Hillel!“ ermahnten die Juden ihre Kinder. Hillel wurde nie zornig, nie verlor er die Geduld, und er empfing jedermann freundlich. Eines Tages kam ein Fremdling nach Jerusalem, der das nicht glauben wollte. „Es gibt keinen Menschen, den man nicht erzürnen könnte“, meinte er. „Ich wette um vierhundert Sus, daß ich den guten Mann aus der Ruhe bringe!“ „Und ich“, erwiderte sein Freund, „wette dagegen vierhundert Sus, daß es dir nicht gelingt!“ Also ging der Fremde am Freitag vor Hillels Haus, um ihm bei seinen Vorbereitungen für den Sabbat zu stören. Der Fremde begann, an Hillels Tür zu trommeln und rief: „He, wohnt hier ein gewisser Hillel? Wo ist Hillel?“ Die Umstehenden trauten ihren Ohren nicht. War doch Hillel einer der weisesten Männer Israels, denen man den Titel „Nasi“ gab, was soviel wie Fürst bedeutet. Hillel indes ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und öffnete die Tür. „Was wünschest du ?“ fragte er den Mann. Dieser rückte ohne Gruß mit seiner Frage heraus: „Ich möchte wissen, warum die Schädel der Babylonier so flach sind.“ „Das kommt davon“, entgegnete Hillel, „weil sic keine Hebammen haben.“ Da machte der Fremde kehrt und ging ohne Gruß davon. Nach einer knappen Stunde aber war er wieder da und rief: „Hillel! Hillel, komm heraus!“ Der Fremde rief Hillel in dem Augenblick, als er sein Feiertagsgewand anlegen wollte. Er warf schnell seinen Mantel über und öffnete ebenso freundlich wie vorher. „Was ist dein Begehr?“ fragte er den Fremden. „Ich habe noch eine Frage, Hillel“, sagte dieser. „Sage mir, weshalb die Augen der Tardumäer stets entzündet sind.“ „Das ist leicht zu beantworten“, erwiderte Hillel freundlich. „Es ist, weil sie in sandigen Ge- genden wohnen und der Wind ihnen den Sand in die Augen treibt.“ Abermals entfernte sich der Fremde ohne Gruß, und in einer knappen Stunde war er wieder da und hämmerte an Hillels Tor: „He! Hillel! Komm heraus!“ Der Lärm hatte Hillel aus der stillen Andacht gerissen, mit der er den Sabbat zu er- warten pflegte. Indes auch jetzt verlor der Sanftmütige seine Ruhe nicht. „Was ist dein Wunsch?“ fragte er den Fremden. „Sag mir, weshalb die Afrikaner Plattfüße haben ?“ „Da der Boden ihres Landes sumpfig ist und sie ohne Schuhe gehen, werden ihre Füße so breit“, antwortete Hillel. „Nun, ich hätte noch eine Menge Fragen“, sagte der aufdringliche Fremde gereizt, „ich fürchte aber, dich zu erzürnen.“ „Frage nur zu“, entgegnete Hillel voll Gleichmut. Der Fremde, der allmählich die Fassung zu verlieren begann, fragte böse: „Bist du Hillel, den man in Israel einen ]83(
Fürsten nennt?“ „Ja, mein Freund“, sagte Hillel. „So wisse, daß ich nicht wünsche, daß es viele deinesgleichen gibt.“ „Weshalb?“ fragte Hillel. „Habe ich dich beleidigt?“ „Du hast etwas viel Ärgeres getan!“ stieß der Mann wütend hervor. „Ich habe gewettet, daß ich dich aus der Ruhe bringe - deinetwegen habe ich vierhundert Sus verloren!“ „Danke Gott, daß dem so ist“, sagte Hillel. „Es ist besser sein Geld zu vertieren, als die Geduld. Denn es heißt: Der Jähzorn ruht im Herzen der Narren!“
Rabbi Chanina ben Dossa Der weise Rabbi Chanina ben Dossa besaß nichts, er brauchte nichts, und er lebte nur für die Lehre der heiligen Thora. Seine Frau freilich brauchte allerhand, sie kam aus den Sorgen nicht heraus. Während Rabbi Chanina den ganzen lieben Tag in gelehrten Diskussionen mit seinen Schülern verbrachte, von denen er kein Schulgeld nahm, wußte seine Frau nicht, womit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollte. Am bittersten empfand sie ihre Not an jedem Vorabend des Sabbat. Zu dieser Zeit trafen alle anderen Frauen Vorbereitungen für das festliche Malil, sie reinigten den Fisch und kneteten den Teig für die Brote, nur die Frau des hochgelehrten Rabbis hatte nichts zu tun. Es gab nur Johannisbrot im Haus. Ihre Armut quälte die Frau und sic suchte sie zu verbergen. Am Vorabend des Sabbats steckte sie stets ein Scheit Holz in den Herd und zündete es an, damit der Rauch aus dem Kamin stieg, als ob auch in Chaninas Haus Brot gebacken würde. Chaninas Frau hatte eine böse Nachbarin. Als diese den Rauch aus dem Kamin auf- steigen sah, dachte sie: ,Die Frau des Rabbi heizt sicher im leeren Herd. Wo sollten denn die armen Schlucker Geld für den Fisch und das Mehl hernehmen I‘ Schnell entschlossen eilte die neugierige Nachbarin in Chaninas Haus, um sich zu überzeugen, ob sie recht hatte. Kaum hörte Chaninas Frau ihre Schritte, verbarg sie sich vor Scham in der Kammer. Die Nachbarin aber lief geradewegs in die Küche und schaute in den Backofen. Wie groß war ihre Überraschung, als sie goldbraun gebackene Brote erblickte. „He! Nach- barin!“ rief sie. „Wo steckt Ihr denn? Das Brot ist fertig!“ Da betrat Chaninas Frau die Küche und sprach: „Ich wollte gerade die Brote hcrausnehmen!“ Sie lächelte die Nach- barin freundlich an, und diese verließ beschämt Chaninas Haus. An diesem Tag konnte die Frau des Rabbiners seine Rückkehr kaum erwarten. ,Er weiß so viel‘, dachte sic, ,cr muß dieses Wunder getan haben. Würde er das häufiger tun, müßten wir keinen Hunger leiden!* 1 85 (
Als nun Chanina nach Hause kam, eilte ihm seine Frau entgegen und wollte ihm sagen, was ihr am Herzen lag. Der Rabbi indes kam ihr zuvor. „Ich habe getan, was ich tun mußte“, sagte er. „Denk aber nicht, daß ich von allein Wunder tun kann: Ohne den Willen Gottes kann der Mensch keinen Finger rühren. Sei froh, daß wir heute frisch gebackenes Brot haben und denke nicht an morgen.“ Abends kamen zwei Gäste, um den Sabbat zu feiern. Die Gäste aßen und tranken und lobten das gastliche Haus des Rabbiners. Zeitig am Morgen machten sie sich wieder auf den Weg. Kaum waren sie fort, als die Frau des Rabbiners mit einem Huhn gelaufen kam, das gackerte und mit den Flügeln schlug. „Sieh nur!“ rief sie, „was deine Gäste bei uns vergessen haben! Vielleicht erreichst du sie noch!“ „Aber ich weiß nicht, woher sie gekommen sind und wohin sie gehen“, sagte Chanina. „Wir müssen das Huhn so lange betreuen, bis sie zurückkommen.“ Es verging ein Tag, dann ein zweiter und ein dritter, aber die frommen Männer kamen nicht, um ihr Huhn abzuholen. Unterdessen hatte das Huhn begonnen, Eier zu legen. „Was sollen wir mit den Eiern machen?“ fragte Chaninas Frau. „Wir ernähren uns nur von Johannisbrot, da könnten wir ein paar Eier gut gebrauchen!“ „Nein“, entgegnete der Rabbi. „Die Eier gehören uns nicht. Laß die Henne ruhig Eier legen und sie dann ausbrüten!“ Und so geschah es. Bald waren flaumige Küken aus den Eiern geschlüpft, und diese wuchsen und wurden groß, und legten ihrerseits Eier, die sie ausbrüteten. Da Rabbi Chanina keinen Hühnerstall besaß, blieb ihm nichts anderes übrig, als das Hühnervolk in sein Haus zu nehmen. „Die Reisenden werden bald vorbeikommen“, tröstete er seine unglückliche Frau, „und sie nehmen dann alles mit, was ihr eigen ist.“ Jedoch die Zeit verging und niemand kam, um die Henne und ihre Nachkommen abzuholcn. Chanina und seine Frau litten jetzt nicht nur Hunger, sie litten auch an Platzmangel, denn im ganzen Haus flatterte und gackerte es wie in einem Hühncrstall. Da entschloß sich der Rabbi, die Hühner zu verkaufen und für ihren Erlös Ziegen an- zuschaffen, die er dann den Eigentümern der Henne übergeben würde. Gesagt - getan: Rabbi Chanina kaufte die Ziegen. Und da die Männer noch immer nicht kamen, warfen die Ziegen Junge, und Rabbi Chanina und seine Frau lebten nun in einem Ziegensrall. „Ich muß auch die Ziegen verkaufen“, beschloß der Rabbi eines Tages. „Für den Erlös will ich Gerste anschaffen.“ Also verkaufte der Rabbi auch die Ziegen, kaufte Saatgut und bestellte sein Feld so gut, daß es eine reiche Ernte erbrachte. Da mußte er eine Scheune bauen, um das Ge- treide zu lagern, und im nächsten Jahr war die Ernte noch besser. Endlich - volle drei Jahre waren vergangen - klopften die Reisenden wieder an Cha- ninas Tür. Chanina erkannte sie sofort und sagte: „Ihr habt vor drei Jahren ein Huhn bei mir vergessen!“ ]86[

„Gewiß, wir haben ein Huhn bei dir gelassen“, meinten die Männer, „aber es hat uns nicht gefehlt.“ „Das Huhn war euer Eigentum“, antwortete der Rabbi. „Ich bin froh, daß ich es euch zurückgeben kann. Kommt und seht, was aus eurem Huhn geworden ist!“ Dann führte der Rabbi seine Gäste in den Speicher, wies auf das Getreide und sprach: „Seht, das ist eure Henne. Sie legte Eier, aus den Eiern schlüpften Küken, die groß wurden und ihrerseits Eier legten, die sie ausbrüteten. Ich verkaufte die Hühner und schaffte für den Erlös Ziegen an. Als auch die Ziegen sich vermehrten, verkaufte ich auch sie und schaffte Saatgut an. Und seht: Gott hat mein Tun gesegnet. Bitte nehmt es, es ist euer Getreide!“ Die Reisenden waren verwirrt. „Verehrter Rabbi“, sprach der Älteste gerührt, „so etwas haben wir fürwahr nicht erwartet. Als wir vor drei Jahren bei euch zu Gast waren, habt ihr euer letztes Brot mit uns geteilt. Wir wußten, daß ihr kein Geschenk annehmen würdet, obgleich ihr Not leidet. Deshalb haben wir als Dank ein Huhn zurückgelassen, und so getan, als hätten wir es vergessen. Aber das Huhn, verehrter Rabbi, war ein Ge- schenk für dich und deine Frau, es war dein Eigentum. Wenn dieses Huhn dazu bei- getragen hat, deinen Besitz zu vergrößern, so soll es uns eine Freude sein!“ Chanina ben Dossa aber wollte das Getreide um keinen Preis behalten; und die Männer wollten es um keinen Preis annehmen. Da erzählte ihnen der Rabbi ein Gleichnis, um seine Haltung zu erklären. Es war die Geschichte von den zwei Schafen, die einen tiefen Fluß überqueren wollten. Das eine Schaf hatte ein dichtes, prächtiges Fell, das andere hingegen war frisch geschoren. Was aber geschah ? Die dichte Wolle des ersten Schafes sog das Wasser auf und war bald so schwer, daß sie das Tier in die Tiefe zog und es ertrank. Das zweite Schaf indes besaß nichts als seinen nackten Körper und erreichte daher unbehindert das Ufer. - „Auch ich fühle mich ohne Besitz wohl und unbeschwert“, schloß der Rabbi sein Gleichnis. „Daher werde ich mein Getreide an Arme verteilen. Ihr wolltet mir mit eurem Geschenk eine Wohltat erweisen, ich werde das Gleiche am, indem ich mich von dem Besitz befreie.“ Da verneigten sich die beiden vor Chaninas Güte und gingen ihres Weges. Und sie erzählten überall die Geschichte vom Rabbi, der sich lieber von Johannisbrot ernährt, als einen vollen Getreidespeicher zu besitzen. $ ]88[
Der Rabbi und der Traumdeuter Es gibt Menschen, die gleichen einem Trichter: was man oben hineingießt, fließt unten wieder hinaus. Von Rabbi Ismael, dem Sohn des bekannten Joseph Hagalili aber wird erzählt, er sei wie ein Schwamm gewesen. Denn ein Schwamm saugt alles auf, um es zu behalten. Und Ismael vergaß nie, was er gelernt hatte. Er wurde ein Rabbiner, mit dessen Gelehrsamkeit sich kaum einer messen konnte. Daher pilgerten die Schüler von weither zu ihm, und sie ehrten ihn wie einen Vater. Wenn Ismael sprach, wagten seine Schüler kaum zu atmen, bis ganz allmählich eine Änderung eintrat. Immer weniger Schüler kamen, um des Rabbis Auslegungen zu lau- schen, und die wenigen zeigten kaum Interesse für das Studium der Heiligen Schrift. ,Entweder hat mich mein Wissen verlassen, oder jemand macht mir meine Schüler abspenstig*, dachte der Rabbi. Schließlich ging er auf den Markt, um zu hören, wovon man sprach. Und bald wußte er, was geschehen war. „Habt ihr schon von dem wundertätigen Samaritaner gehört?“ sagte der Metzger. „Der kann jeden Traum deuten!“ „Ja, so ist es!“ fiel ein anderer Mann ein. „Man muß ihm nur den Traum schildern, und er deutet ihn genau. Was er sagt, das stimmt!“ Mehr wollte der Rabbi nicht mehr hören. Er eilte zu dem Ort, wo der Samaritaner sein Zelt aufgeschlagen hatte, und war nicht erstaunt, darinnen viele seiner ehemaligen Schüler vorzufinden. Sie lauschten den Worten des Samaritaners so andächtig, als kämen sie aus dem Munde eines Propheten. Kaum einer hatte Rabbi Ismaels Kommen bemerkt. „Was ist dein Begehr ?“ fragte der Samaritaner. „Ich habe gehört“, erwiderte Ismael, „daß du Träume deutest. Ich bin gekommen, um mich davon zu überzeugen.“ „Du hast Glück, Rabbi“, sagte der Samaritaner stolz. „Eben sind vier Menschen ge- kommen, um meine Deutung zu hören.“ Der Samaritaner hob die Hand, und ein alter Mann betrat das Zelt. Er verneigte sich tief und sprach: „Ich träumte, daß ich drei Augen habe. Was soll das bedeuten?“ „Dein Augenlicht wird stärker werden, du wirst ]89[
sehen wie ein Luchs“, sagte der Samaritaner. „Was fällt dir denn ein ?“ rief der Rabbi. „Dieser Mann ist doch ein Bäcker, und sein drittes Auge ist das lodernde Feuer des Backofens!“ Da fragte der Samaritaner den Mann: „Was ist dein Beruf?“ „Ich bin wirklich ein Bäcker“, antwortete der Mann erstaunt „Tagtäglich blicke ich ins Feuer. Das Licht des Ofens verbrennt meine Augen, ich sehe immer schlechter.“ Da runzelte der Sa- maritaner die Stirne und gab dem Mann sein Geld zurück. Dann winkte er dem zweiten Mann, daß er eintreten solle. Dieser verneigte sich und sagte: „Im Traum habe ich ge- sehen, daß ich vier Ohren habe. Ist das ein gutes oder ein böses Zeichen ?“ „Ein gutes“, erwiderte der Samaritaner. „Dein Ruf wird sich in der ganzen Welt verbreiten.“ Aber Rabbi Ismael schüttelte den Kopf: „Deine Deutung ist auch diesmal nicht richtig. Der Mensch sieht im Traum nur die Gedanken seines Herzens. Blicke aus dem Zelt, ]90(
und du wirst den Esel dieses Mannes, der ein Kaufmann ist, sehen. Ständig hat dieser die langen Ohren seines Esels vor Augen. Daher sieht er sich selbst im Traum mit vier Ohren.“ Die Miene des Samaritaners verfinsterte sich noch mehr und er gab auch dem zweiten Mann sein Geld zurück. Dann ließ er den dritten Mann eintreten. „Ich hatte einen seltsamen Traum“, sagte dieser. „Ich sah ein Buch mit 24 Tafeln. Was soll das bedeuten?“ „Nun“, erwiderte der Samaritaner, „du bist wohl ein Kaufmann und das war dein Geschäftsbuch mit den Einnahmen und Ausgaben.“ Der Rabbi aber lachte und sagte: „Siehst du denn nicht, daß der arme Schlucker lauter Flicken auf seinem Gewand hat? Er ist kein Kaufmann, sondern träumt von Flicken für die Löcher in seinen Klei- dern!“ Da mußte der Samaritaner auch dem dritten Mann das Geld für die Traumdeutung zurückgeben. Nun war der letzte Kunde, der vierte Mann, an der Reihe. „Weiser Sa- maritaner“, sagte dieser. „Mir träumte, daß alle Leute auf der Straße mit dem Finger auf mich zeigten.“ Da antwortete der Samaritaner: „Das bedeutet Ruhm und Ehre. Du wirst allgemeine Achtung genießen und alle werden auf dich hören.“ Da konnte Rabbi Ismael nicht mehr an sich halten und rief: „Du Schwindler! Dieser Mann ist ein verantwor- tungsloser Träumer, der sich weder um sein Haus noch um sein Feld kümmert! Der Regen hat sein Getreide verdorben und er hat zum Schaden jetzt noch den Spott seiner Mitbürger!“ „Und ihr? Was sagt ihr zu dieser Traumdeutung?“ wandte sich Ismael an seine Schüler. Diese senkten beschämt die Köpfe und folgten ihm, damit sie sich davon überzeugen konnten, daß ihr Lehrer nicht gelogen hatte. An der Spitze seiner Schüler kehrte Rabbi Ismael ins Lehrhaus zurück. Den Samaritaner freilich hatte nach Ismaels Besuch das Glück verlassen. Es hatte sich schnell herumgesprochen, daß seine Traumdeutungen die Menschen irreführten, und niemand ließ sich mehr anlocken. Der Samaritaner überlegte, was er tun könnte, und griff schließlich zu einer List. ,Rabbi Ismael hat mich zum Lügner gestempelt*, dachte er. ,Ich muß schnell etwas um, um zu beweisen, daß er selbst ein schlechter Traumdeuter ist.* Dann schickte der Samaritaner einen seiner Anhänger zu Ismael, um von ihm die Deutung eines erfundenen Traumes zu verlangen. Der Mann ging also zu Rabbi Ismael und sagte: „Weiser Rabbi, deute mir doch meinen Traum! Ich habe im Traum vier Zedern, vier Akazien und eine Garbe Stroh gesehen. Und ein Esel ritt auf der Garbe.“ „Du lügst!“ erwiderte der Rabbi ruhig. „Du hast gar nicht geträumt, sondern dir dieses Rätsel ausgedacht. Höre nun seine Lösung: Die vier Zedern sind die Pfosten deines Bettes. Die vier Akazien sind seine Seiten. Die Garbe ist das Stroh, das du unter dir ausbreitest - und der Esel auf dem Stroh bist du selbst!“ Als der Samaritaner erfuhr, daß sein Anhänger den kürzeren gezogen hatte, brach er eiligst sein Zelt ab und zog weit weg, wo man ihn nicht kannte. Rabbi Ismael aber unter- richtete wieder seine Schüler. Sie hatten gelernt, echte Weisheit von trügerischem Schein zu unterscheiden. ] 91 (
Simeon ben Jochai, der Wundertäter Wr die Thora, die heilige Schrift der Ju- den, begreifen will, muß sein wie das Wasser. Weil das W’asser nicht in den Bergen verweilt, wo cs entspringt: es fließt hinab zu den Menschen. Auch Rabbi ben Jochai war wie das Wasser: er wußte viel, behielt aber sein Wissen nicht für sich, sondern gab es weiter. Der Rabbi schrieb gelehrte Bücher und die Menschen konnten jederzeit Rat bei ihm finden. Indes - auch Rabbi Simeon ben Jochai wurde nicht als w eiser Mann geboren, auch er hatte Lehrgeld zahlen müssen. Das trug sich so zu... Einmal erörterte Rabbi Simeon mit seinem Freund Rabbi Joseph eine heikle Stelle in der Heiligen Schrift. Damals wraren böse Zeiten für die Juden, der römische Statthalter nötigte sic, ihre Gesetze im geheimen einzuhalten, und es war gefährlich, dies zu tun. Als nun Jehuda ben Gerim auf sie zukam, verstummten die gesetzestreuen Rabbiner, denn sie wußten, daß dieser den Glauben an den einzigen Gott gegen die Gunst der Römer eingetauscht hatte. Jehuda ben Gerim rühmte die Bauten der Römer, ihre Stra- ßen, ihre Aquädukte, Märkte, Brücken und Bäder, aber Simeon unterbrach den Re- deschwall des Verräters. „Schäme dich, Jehuda“, sagte er. „Anstatt das Vermächtnis deiner Väter zu ehren, lobst du jene, die jüdisches Blut vergießen. Die prächtigen Bauten der Römer bringen nur ihnen Nutzen - uns haben sie nichts als Tränen gebracht.“ Jehuda ben Gerim behielt die Äußerung seines Lehrers nicht für sich. Bald hörte auch der römische Statthalter davon und Simeon ben Jochai wurde zum Tode verurteilt. Aber die Häscher des Statthalters kamen zu spät; der Rabbi wrar zu seinem Sohn Elcasar in das Lehrhaus geflüchtet und hielt sich dort verborgen. Nachdem der Statthalter die Wachen verstärkt hatte und sie jedes Haus durchsuchten, flohen Vater und Sohn in die Berge. So hatten Simeon ben Jochai und sein Sohn Eleasar zwar ihr nacktes Leben gerettet, wovon aber sollten sie sich inmitten kahler Felsen ernähren ? Als sie am Morgen erwachten, sahen sie, daß über Nacht ein Johannisbrotbaum gew achsen w-ar und daneben eine kri- stallklare Quelle murmelte. Gott hatte ein Wunder getan, er hatte seine treuen Diener nicht verlassen. Da legten Simeon und Eleasar ihre Gewänder ab, gruben ihren Körper bis zum Hals in den Sand, und studierten die heilige Thora. Nur während der Gebete ]92[
legten sie ihre Kleider wieder an. So vergingen Monate und Jahre. Rabbi Simeon und Eleasar hatten schon zwölf Jahre in der Höhle verbracht, ohne das Licht der Sonne zu se- hen. Da erfuhr Rabbi Simeon im Traum, daß das Ende ihrer Verbannung gekommen sei. Der römische Statthalter war gestorben und damit war Simeons Strafe aufgehoben. Als die frommen Männer die Höhle verließen, war ihr Wissen so groß, daß der Feucr- blick ihrer Augen ihre Feinde zu töten vermochte und die Glaubensverrärer vor ihnen zitterten. Vater und Sohn pilgerten durch das Heilige Land, und allerorts feierte man sie als Sendboten der Weisheit und der Gerechtigkeit. Von nah und fern kamen die Menschen zu Simeon ben Jochai, um bei ihm Rat zu suchen. Einmal kam auch ein Ehepaar aus der Stadt Sidon. Die Augen der Frau waren vom Weinen gerötet und auch der Mann schien bedrückt. „Nun?“ fragte der Rabbi freundlich. „Was ist euch widerfahren? Vielleicht kann ich euch helfen.“ „Deshalb sind wir gekommen, Rabbi“, sagte der Mann. „Aber es wäre uns Heber, wenn wir allein einen Ausweg gefunden hätten. Wir sind zehn Jahre miteinander verheiratet und leben in Liebe und Eintracht. Aber Gott hat uns keine Kinder beschert, und kein Haus ist glücklich ohne das Lachen der Kinder. Wir gönnen einander alles Gute und haben uns daher ent- schlossen, uns zu trennen. Vielleicht ist es einem von uns doch noch bcschieden, Kinder zu haben. Wir bitten dich, weiser Rabbi, unsere Ehe zu scheiden.“ 1 93 (
„Ich werde tun, was ihr verlangt“, sagte Simeon. „Aber ich rate euch, zum Abschied Gaste zu einem Festmahl cinzuladen, als wäre es keine Trennung, sondern eine Hoch- zeit, die ihr feiert. Damals verbanden sich eure Wege, und sie sollen sich auf die gleiche Weise trennen. Nach der Feier kommt zu mir und ich will eure Ehe scheiden nach den Gesetzen Israels.“ Die Eheleute bedankten sich beim Rabbi und wollten schon fortgehen, als dieser dem Mann unbemerkt ins Ohr flüsterte: „Nimm würdig Abschied von deiner guten Frau. Bevor du zu Bette gehst, sage ihr, sie könne sich das Wertvollste, das sie im Hause findet, als Erinnerung mitnehmen.“ Der Mann versprach das gern und die Besucher kehrten nach Sidon zurück. Nach ihrer Ankunft begannen sie mit den Vorbereitungen für das Fest. Es wurde prächtig und fröhlich. Die Gäste aßen und tranken und man tanzte bis zum Morgen. Als der letzte Gast sich verabschiedet hatte, umarmte der Mann seine Frau, dankte ihr für die schönen gemeinsamen Jahre und sprach: „Ich werde dich nie vergessen und möchte dir etwas Schönes zur Erinnerung schenken. Nimm das Wertvollste, das du im Haus findest, und behalte cs.“ Kaum hatte der Mann die Augen geschlossen, rief die Frau ihre Diener herbei und ließ ihn dann samt dem Bett in das Haus ihres Vaters schaffen. Sie selbst setzte sich auf den Wagen mit ihrem Hab und Gut und kehrte dorthin zurück, wo sie bis zu ihrer Hoch- zeit gelebt hatte. Der Mann, der auf dem Abschiedsfest dem Wein reichlich zugesprochen hatte, er- wachte erst gegen Mittag. Verwundert blickte er um sich und rieb die Augen. „Wo bin ich ?“ rief er verwirrt. „Wo ist mein Haus ?“ Da öffnete sich eine Türe und seine Gattin trat ein. „Du fragst, wo du bist?“ sagte sie lächelnd. „Du bist im Hause meines Vaters. Du hast mir doch selbst gesagt, ich solle das Wertvollste, das ich im Hause finde, mit- nehmen. Und ich weiß sehr wohl, daß ich keinen größeren Schatz auf der Welt finden kann als dich, mein lieber Mann. Ich habe dich lieb, und so Gott will, wird er uns noch ein Kind bescheren.“ Da schloß der Mann seine Frau in die Arme und sie machten sich wieder auf den Weg zu Rabbi Simeon ben Jochai. „Nun? Was bringt üir mir heute?“ begrüßte sie der Rabbi. „Soll ich euch scheiden?“ „Keineswegs, weiser Rabbi“, erwiderte der Mann. „Du hast mir gut geraten, ewig wer- den wir dir dankbar sein. Wir sind nur gekommen, um dich um deinen Segen zu bitten, damit Gott uns einen Nachkommen beschert.“ Simeon ben Jochai segnete das Paar und sprach ein Gebet. Noch im gleichen Jahr wurde dem Ehepaar ein Sohn geboren, der den Namen Simeon erhielt. Und immer, w’enn die glücklichen Eltern den Namen ihres Sohnes aussprachen, erinnerten sie sich an Simeon ben Jochai, den W'undcrtätcr. Demi Simeon ben Jochais Weisheit war wie das Wzasscr, das in den Bergen entspringt und hinabfließt zu den Menschen, um sie zu erquicken. ] *4(
Wie dem Todesengel das Schwert entrissen wurde Gerechte gibt es wenig. Aber nur die Seele des Gerechten kann einen Platz im Paradies erwarten. Und Rabbi Josua, der Solin Levis, war ein gerechter Mann. Er hatte nie gesündigt, weder gegen Gott noch gegen die Menschen. Die Seele des Josua war so rein wie an dem Tage, als er sic von seinem Schöpfer erhielt. Aber jeder Mensch muß einmal sterben, und wäre er noch so fromm und gerecht. Auch Josua ben Levis Tage waren gezählt. Da sprach Gott zum Todesengel: „Geh hin und führe die Seele des Josua ins Paradies. Aber weil er ein Gerechter ist, sollst du ihm einen letzten Wunsch erfüllen.“ Der Todesengel schwebte hinab zur Erde. In der Rechten hält er sein Schwert, an dessen Spitze ein Tropfen Galle hängt. Jeder Mensch, der ihn erblickt, öffnet vor Ent- setzen den Mund, und der Todesengel tropft die Galle hinein. Da stirbt der Mensch und der Todcscngcl eilt weiter, um seine Mission auf Erden zu erfüllen. So also erschien er auch vor Rabbi Josua, der erschüttert sein Antlitz abwandtc. „Ist es Gottes Wille, daß ich sterben soll ?“ flüsterte er. „Es ist sein Wille“, entgegnete der Todcscngcl. „Aber ich habe den Auftrag bekommen, dir noch einen Wunsch zu erfüllen.“ „Wenn dem so ist, so zeige mir meinen Platz im Paradies“, sagte Josua. Da trat der Todesengel näher, um dem Rabbi seinen Platz im Paradies zu zeigen. Dieser aber sprang entsetzt zur Seite. „Wie kann ich mich dir anvcrtraucn, wenn ich mich vor deinem Schwert ängstige!“ stieß er hervor. „Gib cs mir, ich will cs halten!“ Da reichte der Todcscngcl dem Rabbi sein Schwert und nahm ihn in seine starken Arme. Und ehe Josua es sich versah, waren sic schon vor den Mauern des Paradieses angelangt. Der Todesengel hob den Rabbi in die Höhe auf die Mauer des Paradieses, so daß dieser das ganze Paradies überblicken konnte. ] 95 [
Und Josua schaute und schaute! Zwei diamantene Tore führten hinein und vor jedem Tore wachten siebzigtausend Dienstcngel. Die Diamanten strahlten heller als die Sonne und ihr Schein spiegelte sich in den vier Flüssen wider, die die neuntausend Bäume des Paradiesgartens bewässerten. Kein irdischer Duft konnte sich mit dem messen, den auch der kleinste Baum ausströmte. In den vier Ecken des Paradiesgartens sang ein Chor von je siebentausend Dienstengeln Lobeshymnen. Mitten im Garten aber standen zwei Bäume: der Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen und der Baum des Lebens, dessen Blätter das ganze Paradies bedeckten. Der Baum des Lebens atmete verschiedene Düfte aus, so daß das ganze Paradies mit seinen sieben riesigen Häusern und Myriaden Gemächern von diesen unbeschreiblich lieblichen Düften gesättigt war. .Ms nun Josua diese Herrlichkeit wahrnahm, wollte er nicht mehr zurück auf die Erde. Und so sprang er von der Mauer, ohne das Schwert des Todesengels Joszulassen, ins Paradies. Dorthin aber durfte ihm der Todesengel nicht folgen. Der Todescngel bat und drohte, aber Josua ben Levi wanderte bezaubert durch das Paradies und dachte nicht daran, das Schwert zurückzugeben. Da mußte der Todesengel beschämt vor seinen Gott treten, damit er ihm zu seinem Schwert verhelfe. Gott aber liebte Josua, den Sohn Levis, weil er fromm und reinen Herzens war, und es dauerte volle sieben Jahre, bis er die Bitte des Todescngels erhörte. Erst nach sieben Jahren befahl er dem Rabbi, dem Todesengcl das Schwert zurückzugeben. Und erst dann gab es wieder den Tod auf der Welt. Der erste, der sterben sollte, war der Rabbi selbst. Aber er hatte dem Tod das Ver- sprechen abgenommen, ihm weder sein schreckliches Antlitz noch sein Schwert zu zeigen. Und der Todesengel hielt sein Wort. Seither ist er unsichtbar, um die Sterbenden nicht zu erschrecken. Nur der Gottlose meint in der Angst seines Herzens den Todescngel zu sehen. Freilich zieht der Todesengcl den Gottlosen die Seele heraus, wie Domen aus der Wolle, aus dem Körper der Gerechten aber löst er sie sanft, wie man einen Faden aus der Milch zieht. Und so tat er cs auch bei Josua ben Levi, dessen Seele geradewegs in ihr Gemach in eines der sieben Häuser des Paradieses schwebte. 4 )96[
Choni, der Kreiszeichner Einst lebte in Jerusalem ein frommer Mann namens Choni. Das Volk vereinte ihn wie einen Heiligen und glaubte, daß Gott Wohlgefallen an ihm fand und ihm seine Bitten erfülle. Den Beinamen Hameagel - der Kreiszeichner - halte er erhalten, weil er beim Gebet immer einen Kreis um sich zeichne- te und nicht eher hinaustrat, bis Gott seine Bitte erfüllte. Einmal herrschte große Dürre, seit Wochen war kein Tropfen gefallen, die sengenden Strahlen der Sonne ließen das Getreide verdorren, und eine Hungersnot drohte. Da baten die Menschen Choni, den Kreiszeichner, Gott um Regen anzuflehen. Choni ging auf die Straße, zeichnete rings um sich einen Kreis in den Staub, stellte sich in die Mitte des Kreises und rief Gott an: „Herr, ich flehe dich an, laß dein Volk nicht verdursten! Herr, ich werde diesen Kreis nicht verlassen, bevor ihn der Regen auslöscht!“ Kaum hatte Choni zu Ende gesprochen, als die ersten Wolken sich am Himmel zeigten und es erhob sich ein Sturm. Die Schleusen des Himmels öffneten sich. Als der Regen seinen Kreis ausgclöscht hatte, ging er zufrieden nach Hause. Nach dem Regen leuchteten die Felder und Gärten in frischem Grün, alles war voll Duft und auch die Menschen hatten das Lachen wiedergefunden und sangen fröhliche Lieder. Choni bestieg einen Esel, um ins Land hineinzureiten. Er hielt erst an, als er hinter der Stadt einen alten Bauern sah, der einen Baum pflanzte. „Friede sei mit dir!“ grüßte Choni den Greis. „W’as ist das für ein Baum?“ „Ein Johannisbrotbaum.“ Und wann wird er Früchte tragen?“ „Nun“, erwiderte der Alte, „wohl in siebzig Jahren.“ , Choni überlegte. Nach einer Weile sagte er: „Glaubst du denn, daß du noch siebzig Jahre lebst?“ „Ich bin nicht so gelehrt wie du“, erwiderte der Alte, „und will dir mit einfachen Wor- 1 97 [
ten antworten: Ich tue, was meine Vorfahren taten. Die Bäume, die sie pflanzten, geben mir Früchte, und so pflanze ich Bäume, die dereinst meine Nachfahren ernähren werden.“ Inzwischen war es Mittag geworden und Choni, der Kreiszeichner, verspürte Hun- ger. Er trieb seinen Esel zur Eile an, bis er eine Fclshöhle erblickte, die Kühle versprach. Dort stieg er ab, band den Esel an, und ließ sich im Schatten der Felsen nieder, um etwas zu essen. Da überkam ihn bleierne Müdigkeit, und er fiel in einen tiefen Schlaf. Jahre vergingen und niemand wußte, was mit Choni, dem Kreiszeichner, geschehen war. Unterdessen war sein Sohn herangewachsen und hatte geheiratet, Chonis Frau war gestorben. Und die Menschen, die den Rabbi gekannt hatten, vergaßen ihn allmählich. Nur die Rabbiner kannten noch seinen Namen aus den heiligen Büchern. Choni erwachte. ,Wie seltsam*, dachte er verwirrt, blickte um sich und konnte die Gegend nicht wieder- erkennen. Wo ein Wald gewesen war, breiteten sich Felder aus, und an der Stelle des Weinberges war ein Garten. Unter einem großen Baum stand ein alter Mann, der Jo- hannisbrot in einen Korb sammelte. „Friede sei mit dir!“ grüßte Choni. „Ich sehe, daß du die Früchte deiner Arbeit ern- test.“ Der Mann blickte Choni erstaunt an. „Du sichst so weise aus“, sagte er, „aber deine Rede ist töricht. Diesen Baum hat mein Großvater gepflanzt. Er ist schon lange tot, seine Arbeit kommt jetzt mir zugute.“ ,Ich habe also siebzig Jahre geschlafen*, dachte Choni erstaunt. Dann ging er in die Stadt, in der er gelebt hatte, aber er konnte weder sein Haus noch die Straße finden, wo er gelebt hatte. Die Leute, die vorbeieilten, waren ihm alle fremd. „Kennt ihr den Sohn Chonis, des Kreiszeichners ?“ fragte er sie. Aber alle schüttelten den Kopf. Endlich traf er ein altes Weiblein, das ihm sagte: „Chonis Sohn ist schon lange tot, aber dessen Sohn lebt, den kannst du aufsuchen.“ Bald stand Choni vor dem Haus seines Enkels. Er klopfte an das Tor und ein hoch- gewachsener Mann öffnete. „Was ist dein Begehr?“ fragte der Mann. „Ich bin der Vater deines Vaters“, sagte Choni. „Ich bin Choni, der Krciszcichner, und habe siebzig Jahre in einer Felshöhle geschlafen. Jetzt aber ist der Zauber gewichen und ich bin heimgekehrt.** Der Mann blickte Choni unwillig an. „Wenn du ein Stück Brot willst, magst du es haben“, sagte er unfreundlich. „Deshalb mußt du mir keine Lügenmärchen erzählen.“ Da ging Choni wortlos fort und begab sich ins Lehrhaus, wo man einst seinen Worten ehrfurchtsvoll gelauscht hatte. Er betrat die Schule und erblickte eine Gruppe Rabbiner, die sich über die heiligen Schriften beugten. „Ihr Männer der Lehre“, redete Choni sie an, „erlaubt mir, mit euch die Geheimnisse der Thora zu studieren!“

Da erlaubten ihm die Rabbiner, an der gelehrten Diskussion teilzunehmcn. Chonis Wissen übertraf auch das des ältesten und weisesten Rabbiners und jener sagte: „Wer bist du, Fremder, du bist so weise, wie es einst Choni Hameagel war?“ „Aber ich bin cs doch selbst! Ich bin Choni! Erkennt ihr mich denn nicht an meinen Auslegungen?“ rief Choni freudig aus. Da verfinsterte sich die Miene des alten Rabbiners. „Weshalb die Lüge?“ sagte er traurig und wandte sich ab. „Dein Wissen genügt dir nicht ? Du möchtest auch noch wie ein Heiliger verehrt werden?“ Da verließ Choni das Lchrhaus und irrte verzweifelt durch die Straßen und fragte nach Menschen, die längst gestorben waren. Niemand beachtete ihn, niemand grüßte ihn, niemand lud ihn ein in sein Haus. Choni w’ar ein Fremder. „Was nützt mir all mein Wissen ?“ flüsterte er. „Der Greis, der den Brotbaum pflanzte, war viel glücklicher als ich. Er wußte, daß er in der Erinnerung seiner Enkel wcitcrleben würde, die nun die Früchte seiner Arbeit ernten. Aber ich ? Mein Enkel hat mich nicht erkannt, die Rabbiner glauben mir nicht. Mein Gott, wie kann ich so weiterlcbcn ?“ Choni wanderte gebrochen hinaus aus der Stadt, bis er wieder vor der Felshöhle stand, in der er siebzig Jahre geschlafen hatte. Erschöpft legte er sich auf die Erde und sagte: „Mein Gott, laß mich doch sterben!“ Da erbarmte sich Gott und erfüllte seinen letzten Wunsch. Choni Hameagel schlief ein, um nie mehr zu erwachen. ] 100 1
Der Fuchs und die Fische Ein Fuchs erging sich am Flußufer. Da sah er, wie ein Schwarm von Fischen erregt hin und her schwamm. „Warum fürchtet ihr euch?“ fragte der Fuchs. Da antworteten die Fische: „Siehst du denn die Netze nicht, die die Menschen ausgclegt haben? Wenn wir ihnen nicht ausweichen, ist cs um uns geschehen.“ Da sagte der listige Fuchs: „Ach, ihr armen Fischlein, ihr kennt nur die Angst und die Gefahr. Kommt doch herauf zu mir, aufs Trockene, und wir wrollen zusammen wohnen, so wie unsere Väter zusammengewohnt haben.“ Die Fische jedoch kannten den Fuchs. „Hältst du uns wirk- lich für so dumm ?“ erwiderten sie. „Wenn uns schon im Wasser, das unser Element ist, Gefahr droht, wie schlecht würde es uns erst auf dem Trockenen ergehen, wo wir nicht zu Hause sind!“ Da ging der Fuchs enttäuscht und mit leerem Magen davon. ö ] 101 (
Der Fuchs im Weinberg Ein hungriger Fuchs stand vor einem Weinberg. Als er an die süßen Trauben dachte, lief ihm das Wasser im Munde zusammen. Der Weinberg aber war von einer Mauer umgeben, die der Fuchs nicht übersteigen konnte, so sehr er sich auch mühte. Ratlos strich er um die Mauer. Als er endlich eine schmale Öffnung erblickte, versuchte er, sich hindurchzuzwängen, aber vergeblich: er war zu dick. Da beschloß der Fuchs zu fasten, drei Tage fraß er nichts, und er wurde so mager, daß es ihm gelang, durch die schmale Öffnung in der Mauer zu schlüpfen. Die süßen, reifen Trauben dufteten verlockend, und der Fuchs aß sich an ihnen satt - und wurde wieder dick. Als er sich durch die schmale Maueröffhung wieder hinaus- zwängen wollte, war er abermals zu dick, um hindurchzukom- men. Da fastete der Fuchs wieder drei Tage und wurde so mager, daß er hinausschlüpfen konnte. „Ach, Weinberg, Wein- berg!“ seufzte der Fuchs. „Wie schön bist du, wie köstlich schmecken deine Trauben! Aber Nutzen hast du mir nicht ge- bracht. Hungrig tritt man zu dir ein, und hungrig geht man aus dir heraus.“ Erinnert das nicht an alles irdische Streben? Nackt kommt der Mensch auf die Welt, und nackt muß er sie verlassen. J 102 £
FÜNFTES LICHT Von den sephardischen Juden im Orient und in Südeuropa ] 103 (
Der kluge Sohn Vor vielen, vielen Jahren lebte in Jerusa- lem ein reicher Kaufmann. Er war viel unterwegs und lernte fremde Menschen und Länder kennen, aber am liebsten reiste er nach Babylon, weil er in der Stadt stets gute Geschäfte machte und überdies auch sein guter Freund Ramaj dort lebte. Eines Tages entschloß sich der Kaufmann zu einem gewagten, aber - wie er glaubte - rentablen Geschäft. Er legte fast sein ganzes Vermögen in Gold an und reiste zu Ramaj, um in Babylon seinen Besitz zu verdoppeln. Das Schicksal aber wollte es, daß der Kauf- mann unterwegs erkrankte und von Geschäften keine Rede mehr sein konnte. Todkrank lag er in Ramajs Haus, die Ärzte gingen ein und aus, und der Gast fühlte sein Ende her- annahen. Da rief er seinen Freund Ramaj an sein Lager und sagte: „Ich sterbe und muß mein Gold bei dir zurücklassen. Wie du weißt, habe ich einen Sohn, der erst zwanzig Jahre alt ist. Bitte, verwahre das Gold für ihn, aber du sollst es ihm nicht eher geben, bevor er dir nicht dreimal seine Klugheit bewiesen hat. Sollte ihm das nicht gelingen, gib ihm so viel, wie er zum Leben braucht, und behalte den Rest. Ich sehe das Gold lieber in deinen Händen, als im Besitz eines Menschen, dem es durch die Finger rinnt; auch wenn cs mein eigener Sohn ist.“ Ramaj versprach, den Wunsch seines Freundes zu erfüllen, und bald darauf verschied der Kaufmann. Nach dem Begräbnis erhielt der Sohn des Kaufmanns folgenden Brief: „Dein Vater ist in meinem Haus gestorben und hat sein Gold in meiner Obhut hinterlassen. Ich lebe in der Stadt Babylon und heiße Ramaj.“ Ramaj hatte seine Adresse bewußt nicht ange- geben und alle seine Bekannten ersucht, keinem Fremden zu verraten, wo er wohne. Damit wollte er die Klugheit des jungen Mannes erproben. Es dauerte nicht lange, und der Sohn des Kaufmanns aus Jerusalem war in der Stadt eingetroffen. Er fragte überall vergeblich nach Ramajs Haus. Da trat er zu einem Araber, der auf dem Markte Holz verkaufte, bezahlte zwei Bund Holz und befahl dem Mann, es in Ramajs Haus zu bringen. Der Araber lud sich das Holz auf die Schulter und machte sich auf den Weg. Und der Sohn des Kaufmanns folgte ihm. Als sic vor Ramajs Haus 1 104 [
angekommen waren, trat dieser auf den Hof und fragte den Araber: „Was soll das be- deuten? Ich habe doch kein Holz bestellt!“ Da ließ sich der Sohn des Kaufmanns aus Jerusalem vernehmen: „Frage lieber mich. Ich bin den weiten Weg aus Jerusalem ge- kommen, um das Gold, das ich von meinem Vater geerbt habe, abzuholen. Niemand aber wollte mir verraten, wo du wohnst. Deshalb mußte ich mir diese List ausdenken.“ „Dein Vater würde seine helle Freude an dir haben“, sagte Ramaj. „Tritt ein und setze dich mit uns zu Tisch.“ An Ramajs Tafel saßen sieben Leute: Der Sohn des Kaufmanns, Ramaj und seine Frau, ihre beiden Söhne und ihre beiden Töchter. Die Diener aber hatten nur fünf gebratene Hühner gebracht. Da wandte sich der Herr des Hauses an den Gast und sagte: „Ich bitte dich, teile dieser Hühner unter uns auf! Und teile gerecht!“ „Das will ich gerne tun“, sagte der Sohn des Kaufmanns. Das erste Huhn legte er 1 105 [
vor Ramaj und seine Frau, das zweite gab er ihren Söhnen, das dritte den beiden Töchtern, und sich selbst gab er zwei Hühner. „Ist das so Brauch in Jerusalem?“ fragte der Gastgeber. „Nein“, erwiderte der junge Mann, „aber die Sprache der Zahlen gibt mir recht. Ein Huhn gab ich dir und deiner Frau - das macht drei, ein Huhn haben deine Söhne erhalten - macht wieder drei, und ein Huhn deine Töchter - das macht auch drei. Und da ich allein bin, habe ich mir zwei Hühner genommen, das macht auch drei.“ Nach dem Essen ging Ramaj mit dem Sohn des Kaufmanns in die Stadt. Am Abend brachte Ramajs Frau ein gekochtes Huhn in einer Schüssel auf den Tisch. Und Ramaj sagte zu seinem Gast: „Wir sind wieder sieben Personen bei Tisch, aber wir haben nur dieses eine Huhn. Ich bin neugierig, wie du es jetzt teilen wirst!“ Der Sohn des Kaufmanns ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er schnitt dem Huhn den Kopf ab und legte ihn auf Ramajs Teller. „Du bist das Haupt der Familie“, sagte er. „Daher gebührt dir der Kopf. Die Mutter gehört zum Vater wie der Hals zum Kopf. Daher bekommt die Hausfrau den Hals. Die beiden Söhne sind die Stützen der Familie - ihnen gehören die Beine. Die Töchter aber werden bald flügge sein und bekommen daher die Flügel. Übrig bleibt der Rumpf des Huhns, und den esse ich, weil er dem Rumpf des Schiffes ähnelt, das mich auf dem Euphrat hergebracht hat.“ Da stand Ramaj auf und holte das Gold. Er überreichte es dem jungen Sohn seines toten Freundes und sprach: „Dein Vater hat mich gebeten, deine Klugheit dreimal zu erproben, bevor ich dir dein Erbteil aushändige. Du hast diese Bedingung glänzend erfüllt. Nimm, was dir gehört, und sei jedesmal, wenn du nach Babylon kommst, mein lieber Gast!“ ] 106 [
Ein Jerusalemer in Athen Ein jüdischer Jüngling aus Jerusalem, be- wandert in der Thora und den Sitten Israels, ging auf den Rat seiner Lehrer in die Welt, um andere Menschen und Bräuche kennenzulernen. Er hatte schon viele Länder gesehen, aber er vergaß nie, daß er ein Jude war. Wohin er auch kam, überall hielt er die Bräuche seiner Väter ein. So kam er auch in die berühmte Stadt Athen. Der Jüngling betrat eine Herberge, um dort zu speisen und zu übernachten. Nach dem Abendessen sprach er, wie er es gewohnt war, sein Dankgebet. Daran erkannte der Wirt, daß sein Gast ein Jude war. Der Wirt aber mochte die Juden nicht. Er ging in die Küche und kam mit zwei Stück Käse zurück. „Ich sehe“, sprach er, „daß du aus dem Heiligen Land kommst, wo schon die Kinder die Weisheit mit dem Löffel essen. Sag mir, welcher dieser beiden Käse aus der Milch eines weißen Schafes stammt, und welcher aus der eines schwarzen.“ „Ach, lieber Freund“, entgegnete der Jüngling. „Du bist älter und erfahrener als ich. Sage du mir lieber, ob die Eier, die ich verzehrte, von einer weißen oder von einer schwar- zen Henne gelegt wurden!“ Da verfinsterte sich die Miene des Wirtes, der mit dem jungen Juden seinen Schabernack treiben wollte. Aber dann fiel ihm etwas ein. „Ach!“ rief er aus. „Um ein Haar hätte ich ein neues Gesetz übertreten!“ „Was für ein Gesetz ?“ fragte der Jerusalemer. „Es gilt erst seit gestern“, erwiderte der Wirt. „Seit gestern darf ein Fremder nur dann in Athen übernachten, wenn er cs zuwege bringt, die Straße mit drei Sprüngen zu über- queren. Da du deine Zeche und dein Nachtlager schon bezahlt hast, kannst du noch schnell hinaus auf die Straße gehen, und tun, was das Gesetz verlangt.“ Der junge Jude begriff, daß der boshafte Wirt ihn auf diese Weise losw’erden und nicht mehr einlassen wollte, ließ sich indes nichts anmerken und sagte: „Wenn ihr in Athen so ein Gesetz erlassen habt, will ich es natürlich cinhalten, aber ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll. Bitte, zeige mir, wie ihr das macht!“ ] 107 [
Der Wirt, froh den Juden loszuwerden, ging auf die Straße und sprang in drei großen Sprüngen auf die andere Seite. Der Jerusalemer freilich hatte das gar nicht abgewartet, er hatte die Türe schnell zugeschlagen und verriegelt. „Was soll das?“ schrie der Wirt empört. „Du willst mich doch nicht aus meinem eigenen Haus aussperren?“ „Ich habe nur das Gleiche getan, was du tun wolltest“, entgegnete der Jude ruhig. „Bei uns Juden gilt das Sprichwort: ,Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu.* “ Und der Gast aus Jerusalem legte sich hin und schlief bis zum Morgen. Dann verließ er guten Mutes das ungastliche Wirtshaus und die berühmte Stadt Athen. ] 108 [
Die Leuchtkäfer von der Feigenquelle Es gibt viele Völker auf der Welt, manche sind stolz auf ihre Soldaten, andere auf ihre Handwerker. Und es gibt auch Völ- ker, deren Stolz ihre Bildhauer und Maler sind. Dem Volk Israel aber hatte Gott die Thora geschenkt, das heilige Buch der Gesetze, und ihm befohlen, danach zu leben. Daher tragen die Juden seit Menschengedenken die Worte der Heiligen Schrift im Herzen und ihr Buch, dessen sie nie müde werden, ist die Thora, das Gesetz Gottes. In der Stadt Safed im Heiligen Land war eine Schule der Frommen. Ihr Lchrhaus war nie leer. Von den Schriftkundigen aus Safed sprach man im ganzen Land, und überall begegnete man ihnen mit Achtung. Deshalb strömten auch die Schüler von nah und fern in die berühmte Thoraschulc von Safed. Viele Jahre war dem so. Dann aber bekam Safed einen neuen Wesir, der ein bekannter Judenhasser war. Er ertrug es nicht, daß die jüdischen Männer von Safed Schriftgelehrte waren. Ganz Safed hallte vom Singsang der Gebete der Frommen wider, und der Wesir begann, sich alle möglichen Schikanen auszudenken, um das Leben der jüdischen Be- völkerung zu beeinträchtigen. „Wenn die Juden heiraten wollen, sollen sie zahlen, und wenn ihnen ein Kind geboren wird, sollen sie auch zahlen“, beschloß der Wesir. Und er führte eine Begräbnissteuer ein und noch andere Steuern und Geldstrafen für die lächerlichsten Vergehen. Was einen Tag erlaubt war, wurde am anderen untersagt. Den Juden ging es immer schlechter, aber sic ließen sich nichts anmerken. Und der Singsang ihrer Gebete beleidigte weiter die Ohren des Wesirs. Da überlegte der Wesir, womit er sic am empfindlichsten treffen könnte. „Verbiete den Juden, die Heilige Schrift zu studieren“, meinte einer seiner Ratgeber. „Aber du mußt cs geschickt anstellen, damit sie sich nicht beim Sultan beschweren können. Es genügt, ihnen zu verbieten, Licht zu brennen. Gib ein Dekret heraus, das den Juden verbietet, Lampen oder Kerzen anzuzünden, und sie werden nachts nicht mehr unter- richten können.“ 1 109 [
Dieser Rat gefiel dem Wesir. Kaum aber hatte sich das neue Dekret hcrumgesprochen, als unter den Juden ein großes Wehklagen anhob. „Man kann doch die Thora nicht nur am Tage studieren“, klagten sie. „Wie werden wir leben, ohne das Wort der heiligen Lehre ?“ Die allgemeine Trauer war groß. Alle Juden, ob groß oder klein, überlegten, wie man das Dekret des Wesirs umgehen könnte, aber niemand fand einen Ausweg. Der Mittag des Tages, an dem es in Kraft treten sollte, war schon gekommen, die Schatten wurden immer länger, und die Juden warteten bedrückt auf den Eintritt der Dunkelheit. Am traurigsten war der kleine Chanan. ,Die Erwachsenen haben es gut*, dachte er bitter. ,Was sie schon gelernt haben, kann ihnen niemand mehr nehmen. Aber wenn ich nachts kein Buch mehr lesen kann, werde ich niemals so viel wissen, wie meine Lehrer!* Auf einmal kam ihm ein Gedanke. Er erinnerte sich an die Leuchtkäfer im Mühlcntal bei der Fcigcnquclle. ,W’enn ich die Funken des Waldes sammle, werden sie mir leuchten!* So dachte er. Und Chanan machte sich auf den Weg zur Feigenquelle. Die Dämmerung hatte sich schon auf die Erde gesenkt und das Bethaus, dessen Fenster sonst hell erleuchtet waren, blieben dunkel. Chanan eilte durch die engen Gäßchen und gelangte bald hinter die Stadt. Es war ein warmer Sommerabend, vom Berge Atzmon wehte ein leichter Wind, die Sonne war schon untergegangen und der erste Stern stand am Himmel. Chanan stieg hinab ins Mühlental und bald stand er vor der Feigenquellc. Er sah unzählige winzige Sternchen aufblitzen und verlöschen, sie huschten nach allen Seiten - kleine, fliegende Latcmchen. „Die Leuchtkäfer!“ rief Chanan freudig aus. Er fand einen Stock und begann Leucht- käfer zu fangen, die er vorsichtig auf den Stock setzte. Chanan lief hin und her, bückte sich und reckte sich und fing ein Glühwürmchen nach dem anderen. Aber die Leucht- käfer gaben nur ein schwaches Licht. Der Knabe sammelte weiter, jedoch der Schein war viel zu schwach, bei diesem Licht konnte man nicht lesen. Chanan sank erschöpft zu Boden. Er mußte erkennen, daß der Einfall mit den Leucht- käfern sich nicht gelohnt hatte. Da kamen auf einmal ganze Schwärme von Leucht- käfern geflogen. Tausende winziger Laternchen leuchteten, und mitten in der Nacht umgab ihn am Grunde des Mühlentals strahlende Helle. Ungläubig blickte Chanan um sich. Da hörte er eine feine Stimme. „Chanan“, flüsterte sie. „Ich bin die Königin der Leuchtkäfer. Meine Kinder flüchte- ten vor dir, weil sie dich für einen jener bösen Knaben hielten, die hilflose Glühwürmchen fangen und töten. Wenn du aber wünschst, daß wir die Buchstaben der heiligen Thora beleuchten, wollen wir dich nach Safed begleiten. Denn dein Gott ist auch unser Gott, unser Herr und Schöpfer.“ Da machte sich Chanan zuversichtlich auf den Heimweg und alle Leuchtkäfer be- 1 HOI
gleiteten ihn ins Lehrhaus. Dort saßen die Schriftgelehrten von Safed in der Dunkel- heit und murmelten Gebete. Als Chanan die Lehrstube betrat, sahen die Rabbiner, daß die Leuchtkäfer von der Feigenquelle ihnen zu Hilfe gekommen waren, und alle An- wesenden begannen zu singen und zu tanzen wie bei Simchat Thora, dem Thorafreuden- fest. Als der Wesir erfuhr, daß die Juden trotz des Verbotes im Lehrhaus Licht brannten, wollte er an der Spitze seiner Soldaten dort eindringen, um die ungehorsamen Juden zu bestrafen. An der Schwelle aber blieb er stehen. Ja, die Juden studierten wieder die Thora, aber keineswegs beim Licht der verbotenen Lampen oder Kerzen, sondern beim Licht der Leuchtkäfer. Da staunte der Wesir, diese Beleuchtung hatte er in seinem Dekret nicht erwähnt. Glühender Zorn stieg in ihm auf, bis er ihm das Herz verbrannte und er tot zu Boden sank. Seither hat keiner seiner Nachfolger den Juden von Safed verboten, ihre heiligen Bücher auch bei Nacht zu lesen. $ 1111 [
Der Wundersamen Im Lande eines Sultans lebte ein Häuflein Juden, die Nachkommen derer, die einst in Jerusalem zu Hause gewesen waren. Der Sultan versäumte keine Gelegenheit, um die Juden zu erniedrigen. Sie mußten in elen- den Hütten am Rande der Stadt wohnen und durften nur schlecht bezahlte Arbeiten verrichten. Kein Wunder, daß sie meist vor leeren Schüsseln saßen. Einer dieser Juden war ein Wasserträger. Von Tagesanbruch bis zum späten Abend schleppte er seine schwere Last, aber sein Lohn langte nur für ein kleines Stück Brot. Gott hatte ihn reich mit Kindern gesegnet, und die wenigen Bissen, die er an sie ver- teilte, konnten ihren Hunger nicht stillen. Der unglückliche Vater wußte sich keinen Rat. Er arbeitete noch mehr, aber der Hunger war und blieb ein ständiger Gast in seiner Hütte. In seiner Verzweiflung ging der Wasserträger auf den Markt und mischte sich vor dem Stand eines Bäckers unter die Kauflustigen. Als der Bäcker nicht hinsah, entwendete er schnell ein Brot. Aber noch bevor der arme Teufel sich in Sicherheit bringen konnte, haue der Bäcker den Diebstahl bemerkt und rief die Wache des Sultans herbei. Ehe er sich’s versah, war der Mann verurteilt und wurde nach den damals geltenden Gesetzen zum Galgen geführt. „Hast du noch einen letzten Wunsch?“ fragten ihn die Soldaten. „Was könnte ich mir schon wünschen“, sagte der arme Jude traurig. „Bald ist es um mich geschehen. Nur schade, daß ich auch mein Geheimnis mit ins Grab nehmen muß. Wenn der Sultan wüßte, was ich weiß, würde er mich sicher anhören.“ Die Soldaten blieben stehen und führten ihn dann zum Sultan. „Der Galgen läuft dir nicht weg, und vielleicht kennst du wirklich ein nützliches Geheimnis.“ Als der Sultan erfuhr, daß der Mann, der auf dem Markt ein Brot gestohlen hatte, ein großes Geheimnis besitzen sollte, winkte er den Höflingen, sie allein zu lassen. „Nun ?“ sagte er zu dem verurteilten Juden, „wir sind allein. Sprich!“ „Mächtiger Sultan“, sagte der Jude. „Ich kenne das Geheimnis des Granatapfelbaumes. Ich weiß, wie man seinen Samen pflanzt, damit er über Nacht zu einem Baum heran- 1 H2 [
wächst. Mein Vater hat mich dieses Geheimnis gelehrt, und er hat es von seinen Vor- vätern geerbt. Wenn du willst, kann ich dir meine Kunst vorführen.“ Das gefiel dem Sultan. Er besaß zwar viele Schätze, aber so ein Wunder hätte er gern zu seiner Verfügung gehabt. Er befahl, alles vorzubereiten. Zur bestimmten Stunde versammelte sich dann der ganze Hof im Garten. Der W’asserträger hob eine Grube aus, nahm einen Samenkern in die Hand und sprach: „Großer Sultan! Über Nacht wird aus diesem Samen ein Granatapfelbaum wachsen. Jedoch nur ein Mensch, der nie ctw'as gestohlen hat, darf den Samen in die Erde legen. Da ich selbst ein Dieb bin, darf ich es nicht tun. Großer Sultan, bestimme jemand, der an meiner Stelle den Samen in die Erde legt, und schon morgen sollst du reife Granatäpfel pflücken!“ Da wandte sich der Sultan an seinen ersten Ratgeber: „Pflanze du den Samen“, befahl er ihm. „Und morgen soll wieder der ganze Hof in den Garten kommen, damit wir uns überzeugen, ob der Granatapfelbaum auch wirklich ge- wachsen ist. Bis dahin soll der Jude am Leben bleiben!“ Am nächsten Tag begab sich der Sultan mit seinem ganzen Hof schon am frühen Morgen in den Garten. Aber als er zu dem Platz kam, w’O sein Ratgeber den Samen in die Erde gelegt hatte, w ar nichts von einem Granatapfclbaum zu sehen. Da ließ der Sultan den Juden vorführen und herrschte ihn an: „Wenn du geglaubt hast, du könntest so der Strafe entkommen, hast du dich geirrt! Jetzt sollst du einen grau- samen Tod sterben, weil du nicht nur ein Dieb, sondern auch ein Lügner bist!“ Der verurteilte Jude aber blickte den Sultan fest an. „Für das Wunder übernehme ich ] H3 [
die Gewähr. Ich bin sicher“, sagte er ruhig, „daß der Granatapfelbaum nur deshalb nicht gewachsen ist, weil dein erster Ratgeber die Bedingung nicht erfüllt hat. Sicher hat er einmal etwas gestohlen, und daher konnte der Baum nicht wachsen!“ „Was sagst du dazu ?“ fragte der Sultan seinen Ratgeber. Der errötete und stotterte: „Mein Gebieter, der Jude hat recht. Vor vielen Jahren habe ich einen Ring genommen, der vom Tisch gefallen und unter den Teppich gerollt war. Hab Erbarmen mit mir, Sultan! Ich werde zurückerstatten, was mir nicht gehört!“ Der Sultan runzelte die Stirn und befahl seinem Schatzmeister, den Samen zu pflanzen. Nach der peinlichen Erfahrung des ersten Ratgebers hatte indes der Schatzmeister keine Lust, sich zu blamieren. Daher sprach er leise: „Du weißt, großer Sultan, welche Schätze täglich durch meine Hände gehen. Alles wird sorgfältig in ein Buch eingetragen. Einmal aber konnte ich nicht widerstehen und habe eine seltene Perle an mich genommen, die ich nicht eingetragen habe. Ich schwöre, Sultan, daß ich sie noch heute zurückbringen werde, und flehe dich an, mir meine Unehrlichkeit zu verzeihen.“ Der Sultan blickte zornig um sich, um einen anderen Mann auszusuchen, als der ver- urteilte Jude sprach: „Mächtiger Sultan, ich rate dir, von niemand mehr zu verlangen, den Samen in die Erde zu pflanzen. Der Mensch kann nur sich selbst vertrauen, daher ist es besser, wenn du selbst es tust.“ Da breitete sich eine seltsame Stille aus. Der Sultan schwieg, und auch die Höflinge schwiegen. Schließlich sagte der Sultan: „Ich gestehe, daß auch ich nicht ohne Schuld bin. Als Knabe habe ich meiner Mutter eine kostbare Nadel gestohlen.“ Dann lächelte er und fuhr fort: „Ich sehe, daß dein größtes Geheimnis deine Schlauheit ist. Deine Schuld sei dir verziehen. Gehe in Frieden!“ Und der Sultan gab dem armen Mann noch einen goldenen Ring, damit dieser und seine zahlreiche Familie nie mehr Hunger leiden mußten. A ) IM I
Der kluge Maimonides Viele Jahre nachdem die Juden aus ihrer Heimat vertrieben worden waren und sich über die Welt verstreut hatten, lebte in der spanischen Stadt Cordoba ein geachteter Jude namens Maimon, Er zählte schon an die dreißig Jahre, hatte aber noch keine Frau gefunden. Da erschien ihm im Traum ein alter Mann mit einem Vollbart, der ihm befahl: „Maimon, gehe an die Ufer des Guadalquivir und heirate die Tochter des dortigen Metzgers. Euch wird ein Sohn geboren werden, dem es beschieden ist, der Stolz der Juden zu sein.“ Maimon ging in die Stadt, fand dort den Metzger und hielt um die Hand seiner einzi- gen Tochter an. Ein Jahr nachdem Bräutigam und Braut den Wein aus dem Hochzeitsbecher getrunken hatten, wurde ihnen ein Sohn geboren, den sie Moses nannten. Als Moses ben Maimon herangewachsen war, konnte sich kein Jude mit seinem Wissen messen. Auch die Nicht- juden schätzten ihn und nannten ihn den gelehrten Maimonides. Er war nicht nur ein berühmter Philosoph, sondern auch einer der besten Ärzte jener Zeit. Er hatte viele einflußreiche Herrscher behandelt und geheilt und fand daher stets offene Türen, wenn seine Glaubensbrüder Hilfe brauchten. Daher liebten die Juden Moses ben Maimon. Auch der mächtige ägyptische Kalif hatte von der ärztlichen Kunst Maimonides’ gehört, und da sein Leibarzt gestorben war, bot er ihm das Amt an. Maimonides nahm den ehrenvollen Posten an. Die besten ägyptischen Ärzte hatten sich um diesen Posten beworben, und nun hatte ihn ein Fremder, ein Jude, bekommen. Alle Ärzte im Reiche des mächtigen Kalifen beneideten ihn und wollten ihn daher zu Fall bringen. Eines Tages kam cs zu einer gelehrten Disputation zwischen ihm und den ägyptischen Ärzten. „Wir“, behaupteten jene, „können durch unsere Kunst auch einen Blindge- borenen sehend machen.“ „Das ist nicht möglich“, entgegnete Maimonides. „Man kann einen Blinden nur heilen, wenn er früher sehend war.“ ] H51

Da eilten die ägyptischen Ärzte zum Kalifen und sagten: „Bald werden wir dir beweisen, großer Kalif, daß dieser Maimonidcs nichts von der ärztlichen Kunst versteht.“ Am nächsten Tag brachten sie einen Blinden vor den Thron des Kalifen. „Dieser Unglückliche ist von Geburt an blind“, behaupteten die ägyptischen Ärzte. Dann be- strichen sie seine Lider mit Salbe, und der Mann öffnete die Augen, lachte und rief: „Ich kann sehen! Ich kann sehen!“ Der Kalif blickte Maimonidcs erstaunt an und wollte schon dessen Fähigkeit bezweifeln, als Maimonides zu dem von seiner Blindheit geheilten Mann trat. Er hielt ihm ein Tuch vor die Augen und fragte: „Welche Farbe hat dieses Tuch?“ „Es ist rot“, antwortete der Mann. Da lachte Maimonidcs und sprach zum Kalifen: „Mächtiger Herrscher, wie ist es möglich, daß einer, der zum ersten Mal seine Umgebung erblickt, Farben unterscheiden kann ?“ Da begriff der Kalif, daß die ägyptischen Ärzte nur den Ruf seines Leibarztes unter- graben wollten, und jagte die Schuldigen davon. Zu Maimonides aber sagte der Kalif: „Jetzt weiß ich, daß du der beste aller Ärzte bist, denn du verstehst nicht nur den Körper der Menschen zu heilen - du verstehst auch ihre Seele. Ich bitte dich, mein Leibarzt zu bleiben, und verspreche dir, daß cs dir und deinem Volk Wohlergehen soll in diesem Land.“ ] H7 [
Traum und Wirklichkeit In der ruhmreichen Stadt Kairo standen mehrere Synagogen. Sie waren groß oder klein, hatten Säulen aus Marmor oder aus Holz, aber so verschieden sie auch waren, eines hatten sie miteinander gemein: Während der Gebetszeit war kein Plätzchen frei und die Juden hatten kaum genug Raum, um sich vor ihrem Gott zu verneigen. Ein Mann namens Isaak Luria war besonders fromm. Nie versäumte er auch nur ein einziges Gebet, und obgleich so wenig Platz war in der Synagoge, wagte niemand, seinen Sitz cinzunehmen. Eines Pages jedoch saß auf Isaak Lurias Platz ein Fremder. Isaak Luria setzte sich erstaunt an seine Seite und schlug sein Gebetbuch auf. Da sah er, daß das Gebetbuch des Fremden voll seltsamer, unverständlicher Zeichen war. Isaak konnte die Augen nicht von dem Buch lassen und versuchte, die unbekannten Symbole zu entziffern. Er vergaß Zeit und Raum und bemerkte nicht, daß der Gottesdienst längst zu Ende war. Alle Gläubigen hatten die Synagoge schon verlassen, nur auf dem Platz, wo der Fremde gesessen hatte, lag das geöffnete, geheimnisvolle Buch. Seit diesem Page ging mit Isaak Luria eine Veränderung vor. Er verließ die Stadt und siedelte sich in einem Häuschen am Ufer des Nils an. Dort studierte er Tag und Nacht das Buch der Geheimnisse, er glaubte, daß es ihm ein Sendbote Gottes gebracht hatte. Niemand wußte, daß die Seele des Isaak Luria des Nachts hinaufstieg zum Himmel, um dort die Weisheit längst verstorbener Rabbiner zu empfangen. Am Morgen aber kehrte die Seele wieder in den Körper Isaak Lurias zurück und eröffnete ihm geheimes Wissen. Und bald kamen Pilger von nah und fern, um bei ihm Rat zu suchen. Isaak Luria konnte im Antlitz seiner Besucher lesen wie in einer Pcrgamcntrolle; er wußte um ihre Vergangenheit und um ihre Zukunft, und er wußte, ob sie gut oder böse w'aren. Einmal, es war kurz bevor der erste Stern den Sabbat ankündigte, erblickte er zwei Männer, die sich seinem Haus näherten. Sie wirkten erschöpft, und ihre Gesichter waren von schwerer Sorge gezeichnet. Luria trat aus dem Haus, er trug sein w’eißes Sabbat- 1 H8 |
gewand und ein Leuchten ging von ihm aus. Die Männer blieben unsicher stehen, Isaak Luria aber lächelte ermunternd und sprach: „Was führt euch zu mir? Vertraut mir eure Sorgen an, bevor der Sabbat beginnt, damit ihr ihn in Frieden und Freude begehen könnt.“ „Frieden und Freude kennen wir nicht mehr“, entgegneten die Männer verzagt. „Unsere Herzen sind voll Trauer.“ „Sagt mir, was euch bedrücktl“ forderte sie Isaak Luria auf. Da erzählten die Männer vom bösen König, der beschlossen hatte, die Juden in seinem Lande auszurotten. Falls sie binnen drei Monaten nicht das geforderte Lösegeld aufbrachten, sollte die Hälfte der jüdischen Bevölkerung hingerichtet und der Rest als Sklaven verkauft werden. Freilich war die geforderte Summe so hoch, daß es unmöglich war, sie zu bezahlen. „Und wären alle Tränen, die wir schon vergossen haben aus Gold, ] U9 [
dem König wäre es zu wenig“, schlossen die Boten ihre Erzählung. „Deshalb sind wir von weither zu dir gekommen, weiser Rabbi, denn man sagt, daß du ein Wundertäter bist. Vielleicht gelingt es dir, die Gefahr abzuwenden, die uns droht!“ „Verzweifelt nicht, meine Brüder“, beruhigte sie Isaak Luria. „Den Sabbat, den wir gemeinsam begehen wollen, kleidet die Freude! Bald werdet ihr sehen, daß euer be- schwerlicher Weg sich gelohnt hat.“ Am Morgen forderte Luria die Boten auf, mit ihm aufs Feld zu gehen und ein starkes Seil mitzunehmen. Er blieb vor einem tiefen Ziehbrunnen stehen. „Laßt die Enden des Seils hinunter!“ befahl Luria. „Und wartet, bis ich euch auffordere zu ziehen!“ Die Männer gehorchten und begannen mit der Arbeit. Sie hatten erwartet, sie würde leicht von der Hand gehen, aber zu ihrer Verwunderung mußten sie ihre ^Muskeln kräftig an- spannen. Und als sie das Seil hochgezogen hatten, sahen sie, daß ein Bett aus purem Gold daran hing. Darin lag schlafend der König aus dem fernen Land. „Das ist er!“ riefen die Boten. „Das ist der König, der die Juden ausrotten will!“ Isaak Luria gebot den /Männern zu schweigen und rüttelte den König wach. Dieser blickte verständnislos um sich, aber Luria ließ ihm keine Zeit zur Besinnung. Er drückte dem König einen Eimer ohne Boden in die Hand und sprach: „Es wurde mir berichtet, daß du von meinen Brüdern etwas verlangst, was sie nicht erfüllen können. Dafür sollst du bis zum Morgen das Wasser aus dem Brunnen schöpfen.“ „Das kann ich nicht!“ rief der König entsetzt. „Der Eimer hat doch keinen Boden!“ „Aber die Juden in deinem Land sollen bezahlen, was du verlangst, obwohl du weißt, daß sic diese Summe niemals aufbringen können. Überlege gut, König: Entweder wirst du bis an dein Lebensende mit diesem Eimer ohne Boden den Brunnen ausschöpfen, oder du unterschreibst, daß die Juden dir das Löscgeld bezahlt haben. Und vergiß nicht, das Pergament mit deinem Siegel zu versehen!“ „Ich will ja alles tun, was du verlangst“, stotterte der entsetzte König. „Nur bitte, laß mich zurückkehren in meinen Palast.“ „Zuerst mußt du unterschreiben!“ befahl Luria. Er unterbreitete dem König ein Pergament, das besagte, daß die Juden ihm nichts mehr schuldeten, und wartete, bis der König das Dokument unterschrieben und mit seinem Siegel versehen hatte. „So“, sagte Luria. „Du bist frei, König. Willst du zu Fuß zurück in dein Reich wandern oder im Bett durch den Brunnen fahren ?“ „Laß mich gehen, wie ich gekommen bin!“ bat der verwirrte König. „Gut“, sagte Luria, „dann lege dich wieder in dein Bett.“ Und er wies die Boten an, das Bett in den Brunnen hinunterzulassen. Luria verabschiedete sich von den Männern und überreichte ihnen das Schriftstück, das ihnen und ihren Brüdern im fernen Land das Leben retten sollte. Der König indes hatte eine schlechte Nacht verbracht. In Schwreiß gebadet erwachte er in seinem Palast, ] 120 [
und obgleich er die nächtlichen Ereignisse für einen bösen Traum hielt, verschwieg er ihn seinen Traum dcutem. An seiner Einstellung zu den Juden aber hatte sich nichts geändert. Voll Ungeduld erwartete er den Tag, an dem das Lösegeld fällig war. Zur vereinbarten Zeit erschien eine Abordnung der Juden vor dem König. „Nun ?“ herrschte er sie an, „wo ist das Geld ?“ „Wir haben schon gezahlt“, entgegneten die Juden und zeigten dem König das Per- gament. „Sicher erkennst du deine Unterschrift und dein Siegel.“ Als der König das Schriftstück erblickte, erschrak er so sehr, daß er bewußtlos zu Boden sank. Nach den Bemühungen seiner Leibärzte kam er wieder zu sich und begriff, daß die Ereignisse jener Nacht Wirklichkeit gewesen waren. Jetzt verstand er ihren Sinn und sprach: „Von nun an sollen die Juden unbehelligt in meinem Land leben.“ Die Juden aber priesen Isaak Lurias Weisheit und die geheimnisvollen Kräfte seiner Seele. $ 1 121 [
Der Rat des Vaters In einer großen Stadt mit vielen Moscheen und Synagogen lebte ein alter Jude, der einen einzigen Sohn besaß. Er hatte ihn zu einem frommen Mann erzogen, und weil der Jüngling geschickt und von angenehmen Aussehen war, wurde er Kammerherr im Palast des Sultans. Er brachte dem Sultan die Speisen, deren Zubereitung er überwachte, und schenkte die Getränke ein. Schnell hatte der junge Mann die Gunst des Sultans gewonnen, und der Vater freute sich über das Glück seines Sohnes. Dann aber erkrankte der Vater so schwer, daß er sein Ende hcrannahen fühlte. Da rief er seinen Sohn zu sich und sprach: „Du wirst bald allein sein. Ich mache mir keine Sorgen um dein Wohlergehen, aber wenn du lange leben wällst, darfst du zwei Dinge nicht vergessen: Wenn du an einer Synagoge vorbeigehst und hörst die Frommen beten, tritt ein und bete auch. Und warte immer das Ende des Gottesdienstes ab.“ Nach diesen Worten umarmte der Vater den Sohn und verschied. Als Zeichen seiner Trauer zerriß der Jüngling seinen Gebctsmantel, und nachdem er seinen Vater bestattet hatte, verließ er sieben Tage nicht sein Haus, wie es das Gesetz befahl. Nach Ablauf dieser Frist kehrte er zu seinem Dienst in den Palast zurück, jedoch ein einziger Blick des Sultans genügte, um ihm zu sagen, daß etwas Ungutes geschehen war. Der junge Mann versuchte vergeblich, die Ursache der Verstimmung zu ergründen. Er konnte nicht ahnen, daß der neidische Wesir dem Sultan eingeredet hatte, der Jude wTolle ihn vergiften. Von nun an mußte der Kammerherr bei Tisch alle Speisen und Ge- tränke vorkosten, und der Sultan ließ ihn heimlich beobachten. Einmal ritt der Sultan aus und kam an den Kalkgruben vorbei, die seine Vorfahren errichtet hatten. Der Sultan beobachtete die Arbeit der Kalkbrcnncr und das brachte ihn auf einen bösen Gedanken. Er rief den ältesten Kalkbrenner zu sich und sagte: „Morgen früh schicke ich dir jemanden. Es ist mein ausdrücklicher Wunsch, daß du ihn sofort in den glühenden Kalkofen stößt.“ Der Kalkbrenner gelobte, den Befehl des Sultans auszuführen, und der Sultan kehrte beruhigt in seinen Palast zurück. Als der Kammerherr ihn bei Tisch bediente, sagte der Sultan: „Morgen früh mache 1 122 [
dich auf den Weg zu den Kalkgruben. Dort gehe zum ältesten Kalkbrenner und richte ihm aus: Der König läßt dir sagen, du mögest dein Versprechen nicht vergessen!“ Der Jüngling verneigte sich tief und ging dann zu Bett, um am Morgen frisch zu sein. Aber ihn quälte eine unerklärliche Unruhe und er konnte lange nicht cinschlafcn. Der Wesir hingegen verbrachte eine heitere Nacht. Der Sultan hatte ihm anvertraut, auf welche Weise er den jungen Juden loswerden wollte, und der Wesir feierte schon den Tod des Jünglings. Der W’ein floß in Strömen, und die Frauen aus seinem Harem mußten bis zum Tagesanbruch für ihn tanzen. Zu dieser Zeit sattelte der junge Jude sein Pferd und ritt, tief in Gedanken versunken, bis ihn die Stimme eines Vorbeters, der in der Synagoge am Stadtrand das Morgengebet las, aus seinen Gedanken riß. Da hielt der Jüngling sein Pferd an und dachte: ,Ich werde den Rat meines Vaters befolgen. Ich will mit meinen Glaubensbrüdem beten und dann den Befehl des Sultans erfüllen/ Also betrat der Jüngling die Synagoge und verließ sie nicht eher, bis die Anwesenden das letzte Amen ausgesprochen und ihre Gcbctsmäntcl zusammengefaltet hatten. Während der junge Jude sich in der Synagoge aufhiclt, war der Wesir aus seinem Rausch erwacht und stellte sich den Tod des verhaßten Kammerherren so lebhaft vor, daß er beschloß, sich dieses Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Er ließ sein Pferd satteln und ritt eiligst zum Kalkofen. So geschah cs, daß er früher eintraf als der Jude. Der Wesir fragte den ältesten Kalk- brennen ob er nicht vergessen habe, den Befehl des Sultans auszuführen. Der Wesir hatte kaum zu Ende gesprochen, als die starken Arme des Kalkbrcnners ihn packten, und er im Kalkofen verschwand. Der Kammerherr, der eben eingetroffen war, hatte die Tat mit angesehen und rief: „Was hast du getan ? Weshalb hast du den Wesir getötet ?“ Da antwortete der Kalkbrennen „Ich habe nur den Befehl des Sultans erfüllt. Er befahl mir, den Boten, den er frühmorgens zu mir schickt, sogleich in den Kalkofen zu werfen. Und das habe ich getan.“ Als der Jüngling das vernahm, war er starr vor Entsetzen. ,Wic gut, daß ich meines Vaters Rat befolgt habe und in der Synagoge betete. Ich wäre sonst nicht mehr am Leben‘, dachte er. Zutiefst erschüttert kehrte er in den Palast zurück und trat vor den Sultan. Dieser sah ihn erstaunt an. „W’cshalb hast du meinen Befehl nicht ausgeführt.“ „Ich habe getan, was du mir befohlen hast“, sagte der Jüngling. „Aber der Wesir war vor mir cingctroficn und der Kalkbrenner hat üin in den glühenden Ofen geworfen.“ Der Sultan schwieg betroffen. Nach einer langen Pause sagte er: „Ein böser Geist muß in mich gefahren sein, daß ich dem Wesir glauben konnte, du wolltest mich ver- giften. Ich weiß jetzt, daß er deinen Tod wünschte und seine Tücke ihn selbst das Leben gekostet hat.“ 1 123 [
Des Teufels böses Weib In Smyrna lebte ein Kaufmann, der Baschi hieß. Baschi aber hatte eine böse Frau, die ihm das Leben vergällte. Sie war stolz und ebenso hochmütig wie verschwenderisch. Die Frau liebte kostbare Kleider und haßte die Hausarbeit. Ständig lag sie dem Baschi in den Ohren: „Baschi, kaufe mir eine neue Armspange! Baschi, auf dem Markt habe ich einen seidenen Schal gesehen, den möchte ich haben!“ Der arme Baschi wußte nicht, w*as er zuerst tun sollte, denn so sehr er sich auch mühte, er konnte ihr nichts recht machen. Wenn er weiße Seide brachte, schickte sie ihn zurück auf den Markt, um sie gegen blaue einzutauschen, wenn er mit der blauen Seide ankam, hatte sie es sich überlegt und wollte gelbe. Überdies war sie eine zänkische Person. Wenn er sagte, die Sonne scheine, behauptete sie, die Wolken zögen sich zu- sammen. Wenn Baschi sagte, der Feiertag beginnt am Dienstag, sagte sie: „Nein, erst am Mittwoch!“ Und wenn es am Dienstag kein Feiertagsessen gab - war der Baschi Schuld! So ging es Tag für Tag. Die Frau keifte und schrie, und der arme Mann hatte keine ruhige Minute. Da beschloß er, aus dieser Hölle auszureißen. Nachts schlich er sich auf leisen Sohlen aus dem Haus und lief einfach fort. Baschi lief und lief, und hörte erst auf zu laufen, als er glaubte, schon weit genug entfernt zu sein von seinem bösen Weib. Eine Zeitlang wanderte Baschi ziellos durch die Welt, bis er an einer Wegkreuzung einem Wanderer begegnete. Er erzählte ihm von seinem Schicksal, und der Fremde fiel ihm gerührt um den Hals und schluchzte: „Ich bin genau so übel dran wie du! Obgleich ich ein Teufel bin und ein böser Geist dazu, mußte auch ich vor meiner Alten flüchten. Es ist besser, von wilden Tieren zerrissen, von Schlangen und Skorpionen ge- bissen oder von Geiern zerfleischt zu werden, als mit dieser Hexe zu leben!“ Als der Teufel von den Qualen, die ihm seine Frau bereitete, genug erzählt hatte, sagte er zu Baschi: „Ach, bin ich froh, daß ich dir begegnet bin. Wir beide haben böse Zeiten durchgemacht, aber nun können wir gemeinsam unser Schicksal vergessen und fröhlich sein.“ 1 124 [

„Wie können wir das machen ?“ fragte Baschi. „Ganz einfach!“ schlug der Teufel vor. „Wir wollen gemeinsam durch das Land ziehen und überall das Gerücht verbreiten, daß du ein großer Arzt bist, der jede Krankheit heilen kann. Sobald man deinen Namen kennt, werde ich, der Teufel, in den Körper eines Königs fahren. Da werden seine Verwandten verzweifelt nach Ärzten suchen, um ihn zu heilen. Und du wirst es sein, der ihn heilt. Auf deinen Befehl werde ich den Kör- per der Betroffenen wieder verlassen und man wird dir ungeheuere Summen Geldes zahlen. Das Geld werden wir dann teilen und die reichsten Menschen unter der Sonne sein.“ Da machten sich beide auf den Weg und bald kamen sie in ein großes Königreich. Der Teufel führte Baschi durch die Gassen und rühmte seine Kirnst. Als das Gerücht von dem Wunderarzt bis in den Palast gelangt war, fuhr der Teufel in den Körper des Königs und sogleich wurde der König krank. Seine Krankheit war so geheimnisvoll, daß die Leibärzte sich keinen Rat wußten. Bald ließ die Königin Baschi holen und bat ihn, den König zu heilen. „Wenn du mir tausend Gulden gibst, werde ich binnen drei Tagen den Teufel aus des Königs Leib vertreiben“, sagte Baschi. „Es soll geschehen, wie du sagst“, erwiderte darauf die Königin. Als Baschi mit dem König allein war, sagte Baschi zum Teufel: „He, Kamerad, ich bin es! Kriech heraus. Wir bekommen tausend Gulden von der Königin.“ Der Teufel aber lachte böse. „Warum sollte ich das tun? Ich brauche kein Geld. Ich habe nur alles deshalb getan, damit man dich tötet!“ Traurig verließ Baschi den König. Er hoffte, den Teufel vielleicht doch noch erweichen zu können, aber der böse Geist hatte nur seine Freude an Baschis Sorgen. Er dachte auch am zweiten und am dritten Tag nicht daran, den Körper des Königs zu verlassen. ,Ich will Baschi sterben sehen*, sagte er sich, ,und dieses Vergnügen will ich mir nicht ent* gehen lassen, so wahr ich ein Teufel bin.* Als Baschi sah, daß er den Teufel nicht austreiben konnte, ging er zur Königin und fiel vor ihr auf die Knie. „Ich weiß, daß die Frist abgelaufcn ist und ich den König nicht geheilt habe. Aber ich flehe dich an, gewähre mir noch drei Tage. Dem König nützt es nichts, wenn du mich hinrichten läßt.“ „Gut“, sagte die Königin nach kurzer Überlegung. „Ich will dir noch drei l äge geben. Wenn du mich aber betrügen willst, ist dir dein Tod gewiß!“ Baschi unterdrückte seine Angst und sprach: „Ich werde zu meinem Gott beten und alles tun, um den König zu heilen. Aber ich brauche dazu Hilfe. Alle Musikanten aus dem ganzen Reich sollen an den Hof kommen und ihre Pauken und Trompeten, Zim- beln und Pfeifen mitbringen.“ Die Königin tat, was Baschi von ihr verlangt hatte. Die Sonne war zweimal aufgegangen ] 126 [
und wieder untergegangen, und als sie zum dritten Male aufging, drängten sich im Palast die Musikanten aus dem ganzen Königreich. Es waren ihrer fünftausendfünfhundert- fünfundfünfzig. „Wenn ich an die Tür des Saales klopfe, in dem der König liegt“, sprach nun Baschi zu ihnen, „müßt ihr nüt der Musik beginnen.“ Nach diesen Worten ging Baschi zu dem kranken König. Als er an die Türe klopfte, begannen die fünftausendfünfhundertfünfundfünfzig Musikanten einen ohrenbetäu- benden Lärm anzustimmen. „Was ist los?“ entsetzte sich der Teufel im Körper des Königs. „Was bedeutet dieser schreckliche Lärm?“ Da trat Baschi ganz nahe an den König heran und sprach: „Teufel in des Königs Körper, du hast mich betrogen. Ich muß sterben, aber ich bin glücklicher als du. Deine Frau hat erfahren, wo du dich aufhältst, und sie ist mit einem großen Gefolge gekommen, dich zu holen!“ In Windeseile fuhr da der Teufel aus dem Körper des Königs und suchte das Weite, um seinem bösen Weib zu entkommen. Der König aber richtete sich in seinem Bett auf und war gesund und stark wie zuvor. Da umarmte die Königin ihren Gemahl und zahlte dann Baschi die versprochenen tausend Gulden. 1 127 (
Samar, der Sängerberg Im Jemen lebten einst zwei jüdische Kna- ben, die Beinusch und Elkana hießen. Von klein auf waren sie unzertrennlich, sie spielten auf dem Hof oder saßen unter einem Baum. Und als sie heranwuchsen, lernten sie gemeinsam, wie man die Thorarolle richtig liest. Beinusch und Elkana hatten keine Geheimnisse voreinander, denn einer kannte die Gedanken des anderen, als wären es seine eigenen. Die Knaben hatten auch einen ge- meinsamen Kummer: Sie hatten kein musikalisches Gehör und konnten keine Musik- instrumente spielen, und wenn sic versuchten zu singen, klang ihr Gesang wie das Blöken der Lämmer. Wären Beinusch und Elkana keine jemenitischen Juden gewesen, wäre das wohl nicht so schlimm gewesen. Bei den jemenitischen Juden wurde nämlich derjenige, der ein Instrument spielen und auch schön singen konnte, wie ein Rabbiner geachtet. Die Musikanten fanden überall offene Türen und waren berühmt im ganzen Land. Sie kannten Lieder für den Alltag und Lieder für alle Festtage. Und wenn sie in die Saiten griffen, die Flöten bliesen oder die Zimbeln und Pauken schlugen, verstumm- ten sogar die Chöre der Engel im Paradies, um der wunderbaren Musik zu lauschen. Je älter Beinusch und Elkana wurden, um so schmerzlicher empfanden sie ihren Man- gel. Der More des Dorfes, der Weise, der Ahuvia hieß und die Kinder unterrichtete, wußte, was ihnen fehlte. Eines Tages, als er mit ihnen die Thora studierte, sagte er: „Ich weiß, was euch bedrückt. Hört auf meinen Rat. Hinter der Großen Wüste, der Felsenwelt und zwei Flüssen, erhebt sich der Samar, der Sängerberg. Der ganze Berg ist von Felsen in der Form von Musikinstrumenten bedeckt. Wer sich auf einen solchen Fels setzt, wird auf dem Instrument spielen können, das er darstellt. Und er wird jede Melodie, die in seinem Herzen erklingt, auch singen können. Aber Samar, der Sänger- berg, kann nicht jedem helfen. Wer das Geschenk der Musik erhalten will, muß sünden- frei sein, und auch seine Eltern müssen dieser Bedingung entsprechen. Wer sich dennoch sündig dem Samar nähen, den bestraft der Berg.“ ] 128[
Beinusch und Elkana stellten sich die wunderschönen Felsen vor und wären am liebsten gleich zum Sängerberg gezogen. Doch erst am nächsten Tag verabschiedeten sie sich von ihren Eltern und machten sich auf den Weg. Wochen und Monate waren Beinusch und Elkana unterwegs. Glücklich durchquerten sie die Große Wüste, überwanden Felsschluchten und zwei Flüsse. Und je näher sie dem Samar kamen, um so weniger Menschen begegneten ihnen. Eines Morgens, als die Knaben aus einem Wäldchen hinaustraten, erblickten sie einen riesigen Berg, dessen Gipfel sich in den Wolken verlor. Und der ganze Berg war übersät mit steinernen Musikinstrumenten. „Wir sind am Ziel!** riefen die Knaben und liefen zum Berg und begannen ihn zu erklimmen. Nachdem Beinusch den ganzen 'l ag auf den steinernen Instrumenten gesessen hatte, ging er wieder bergab und lauschte wunderbaren Melodien, die ihm durch den Kopf gingen. Ein Ton folgte dem anderen und auf einmal sang er mit klarer Stimme Lieder, die er noch nie vernommen hatte. Da erblickte er Elkana, der sich auf dem Berg von ihm getrennt hatte. Bleich und mit zitternden Lippen war er zurückgekehrt. „Elkana, was ist dir zugestoßen ?“ fragte er. „Hörst du denn keine Musik ?“ Aber Elkana schwieg und schüttelte nur verneinend den Kopf, legte den Finger auf den Mund, wie es jene tun, die nicht sprechen können, und stieß nur einige unverständli- che Laute hervor. Da erinnerte sich Beinusch an die Warnung des More Ahuvia. „Der Sängerberg hat dich bestraft, Elkana“, seufzte Beinusch. „Du bist stumm geworden. Komm schnell nach Hause, vielleicht weiß der weise Ahuvia einen Rat!“ Die Knaben gingen zurück, aber der Heimweg war voll Trauer. Wie konnte Beinusch sich freuen, wenn seinem Freund so ein großes Unglück zugestoßen war. Endlich waren 1 129 [
sie in ihrem Dorf angelangt und begaben sich sofort zum More. Ahuvia wußte gleich, was geschehen war. „Habe ich euch nicht gesagt“, wandte er sich an Elkana, „daß der Sängerberg nur den beschenkt, der ohne Sünde ist? Er und seine Eltern müssen sündenfrei sein. Aber ich weiß, wie du die Sprache wiedergewinnen kannst“, beruhigte er den verzweifelten Elkana. „Komm morgen früh mit deinen Eltern und neun Männern zu mir. Nach dem Morgen- gebet wollen wir zum Dibur, dem Berg der Sprache, gehen.“ Elkana tat, was Ahuvia ihm geraten hatte, und am nächsten Tag machte sich die Gruppe - der More, neun Männer, Elkana und seine Eltern - auf den Weg zum Berg der Sprache. Bald änderte sich die Landschaft und hohe Felsen zeichneten sich am Horizont ab. Zuerst führte Ahuvia die Gruppe bergauf, dann aber mußten sie hinunter in ein Tal, bis sie den Fuß des Berges Dibur erreichten. Und der More sprach: „Dibur, der Berg der Sprache, steht in enger Verbindung mit Samar, dem Sängerberg. Beide besitzen Zaubermacht über die Menschen. Der eine kann die Sprache nehmen, der andere kann sie schenken. W’enn Elkana eine Sünde begangen hat, so soll er sie vor den neun Zeugen dem Berg Dibur gestehen. Der Dibur läßt ihn sprechen und Elkana ist nicht mehr stumm. Wenn aber Elkana nichts zu gestehen hat, haben sein Vater oder seine Mutter gesündigt. Wenn der Sünder gesteht, wird der Fluch von seinem Sohn genommen.“ Dann stieg die Gruppe hinauf zum Gipfel des Dibur. More Ahuvia, umgeben von den neun Zeugen, stand vor Elkana und seinen Eltern und forderte den Knaben auf zu spre- chen. Elkana aber schüttelte nur verneinend den Kopf und seine Mutter tat das gleiche. Nach kurzem Zögern sprach Elkanas Vater: „Ich gestehe, daß ich vor Jahren meinen Nachbarn des Diebstahls bezichtigt habe, weil ich ihm die bessere Ernte neidete. Ich habe falsche Zeugen gedungen und der Nachbar wurde zu einer Geldstrafe verurteilt.“ Kaum hatte der Vater zu Ende gesprochen, als Elkana wieder sprechen konnte wie vorher. Elkanas Vater aber stand beschämt und mit gesenktem Kopf da. Da sprach der More: „Du wirst dem Nachbarn zurückerstatten, was er zahlen mußte. Die Strafe, die du auf das Haupt deines unschuldigen Sohnes beschworen hast, sei dir eine Lehre für die Zu- kunft!“ Nach einer Pause ergriff Ahuvia wieder das W’ort: „Es steht geschrieben, daß der Funke, der das ausgedörrte Bund Stroh entzündet, auch das nasse Bund in Flammen aufgehen läßt. So lastet auch die Sünde des Schuldigen auf dem Haupt des Gerechten. Auch die Menschen sind verbunden wie die Berge Samar und Dibur. Einer ist ver- antwortlich für den anderen, damit der Gerechte nicht Sühne tun muß für den Sünder.“ J 130 [
Das Lösegeld des Abraham ibn Esra Vor vielen Jahren lebte in Toledo der Dich- ter Abraham ibn Esra. Er war ein gelehrter Mann und hinter seiner Stirne wohnten große Gedanken. Wenn er von der heiligen Thora sprach, öffnete er auch jenen die Türe zu Gottes Lehre, die sie nie gelesen hatten. Wenn er mit seinen Schülern nachts unter freiem Himmel saß, konnte er jeden Stern sicher beim Namen nennen. Abraham ibn Esra beherrschte fremde Sprachen und übersetzte die Bücher anderer Völker, vor allem aber schrieb er nieder, was er in seinem Herzen trug: seine eigenen Gedichte, Lieder, Märchen und Rätsel. Aber was nützte ihm das, wenn er nicht fähig war, seinen Lebensunterhalt zu verdienen ? Abraham ibn Esra war arm wie ein Bettler. So bestieg er eines Tages ein Schiff, das ihn in ein fernes Land tragen sollte. Die Reise aber fiel anders aus, als Abraham ibn Esra cs sich vorgcstellt hatte. Am vierten Tag wurde das Schiff von Seeräubern überfallen. Alle Passagiere mußten ihr Hab und Gut als Lösegeld geben. Bald türmten sich auf dem Deck Goldstücke und kostbarer Schmuck, edle Hölzer und Spezereien, womit die Unglücklichen sich los- kaufen wollten. Abraham ibn Esra blickte traurig auf die Schätze, die sein Mitreisender, ein reicher Kaufmann, anbieten konnte. Dessen Diener brachte drei große Truhen aufs Deck: die eine voll Perlen, die andere voll Geschmeide und die dritte war bis zum Rand mit Gold- stücken gefüllt. Der Piratenhäuptling nahm alle Schätze als Lösegeld entgegen, bis er zu Abraham ibn Esra kam. „Nun ?“ fragte der Räuberhauptmann, „was bietest du mir an für dein Leben ?“ „Ich bin nicht reich“, erwiderte Abraham ibn Esra leise. „Ich besitze nur meine Ge- dichte, meine Lieder und Märchen, und auch meine Rätsel. Sonst nichts.“ Der Pirat überlegte, dann sprach er: „Wenn es dir gelingt, mir ein Rätsel aufzugeben, das ich nicht errate, sollst du am Leben bleiben.“ ]131[
Da lächelte Abraham ibn Esra und sprach: „Ein Schlachtfeld ohne Erde, ein König ohne Fürsten, eine Königin ohne Gewand, Rosse ohne Reiter, Soldaten ohne Waffen, Läufer ohne Füße, Türme ohne Fenster - Sag mir, was das ist ?“ Der Räuber überlegte, aber es fiel ihm keine Lösung ein. „Auf unseren langen Fahrten“, sagte er, „lösen wir gern Rätsel, um die Langeweile zu vertreiben. Aber so ein schweres Rätsel habe ich noch nie gehört.“ „Ein Schlachtfeld ohne Erde ist das Schachbrett“, sagte Abraham ibn Esra. „Und der König und die Königin, die laufet und die Türme, das sind die Schachfiguren!“ Das Rätsel und seine Lösung gefielen dem Piratenhäuptling so sehr, daß er Abraham ibn Esra am Leben ließ und ihn reich beschenkte. Später vergaß Abraham ibn Esra nie zu betonen: „Ein khiger Kopf ist oft mehr wert als die größten Schätze!“ ❖ J 132 [
Ein Festmahl beim Löwen Der Löwe hatte die Tiere zu einem Festmahl eingeladen. Zur festgelegten Zeit kam ein Tier nach dem anderen in die Behausung des Löwen und dieser wies ihnen freundlich die Plätze an. Schließlich kam auch der Fuchs. Er blickte neugierig um sich und sah mit Entsetzen, daß das Dach der Behausung mit Tierfellen gedeckt war. „O mächtiger König“, verneigte sich der Fuchs. „Erlaubst du, daß ich als Tafelmusik ein Lied anstimme?“ „Aber bitte“, antwortete der Löwe geschmeichelt. „Ich will es mir gern anhören.“ „Und ihr“, wandte sich der Fuchs an die Tiere, „wollt ihr auch mitsingen?“ „Gewiß, das wollen wir gern tun“, riefen die Tiere. Da stimmte der Fuchs an: „Was oben ich ge- sehen, wird unten bald geschehen!“ Der Löwe blinzelte und schloß vor Behagen die Augen. Die Tiere aber merkten, daß der Fuchs nach oben blickte. Da sahen sic die Felle und be- griffen, daß der Löwe sie eingeladen hatte, um auch ihnen das Fell über die Ohren zu ziehen. Sie sangen weiter und machten sich auf leisen Sohlen davon, während der Löwe mit geschlosse- nen Augen den Takt schlug. Auf einmal merkte er, daß der Gesang verstummt war. Er richtete sich auf und sah, daß die 'Tiere das Weite gesucht halten. Als sie in Sicherheit waren, rief der Fuchs die Tiere zusam- men, damit sic das Lied beendeten, das sie beim Löwrcn begonnen hatten. Und sie sangen: „W’cr den .Mächtigen schenkt Vertrauen, wird nur übers Ohr gehauen!“ Seither aber waren die Tiere immer auf der Hut, wenn der Lowe sich freundlich gebärdete. ] B3 [
Vergebliche Rache Ein kleiner Vogel, der am Meeresufer lebte, beschloß, sich ein Nest zu bauen. Während der Ebbe machte er sich an die Arbeit. Er sammelte fleißig trockene Ästchen, Gräser und Federchen, aber kaum hatte er alles zusammengetragen, als die Flut herankam und alles weg- schwemmtc. Da wurde der kleine Vogel böse und schwur dem Meer Rache. Und er tat, was er sich vorgenommen hatte. In sein Schnäbelchen nahm er einen Tropfen Meerwasser und flog damit zum Festland. Dort ließ er den Tropfen in den Sand fallen und pickte Sand in sein Schnäbelchen. Diesen Sand trug der kleine Vogel ins Meer. Unzählige Male wiederholte er diese vergebliche Mühe, denn er wollte aus Rache das Meer austrocknen. Bald aber war der kleine Vogel so müde, daß er ein wenig ruhen mußte. Da kam ein anderer Vogel herbei, der ihn beobachtet hatte, und sagte: „Ich kann dich verstehen, daß du dem Meer zürnst, aber der Zorn ist ein schlechter Ratgeber. Du bist ein kleiner Vogel und das Meer ist unendlich. Nie kann cs dir gelingen, es auszutrocknen. Wenn du aber deinen Fleiß einem guten Ziel zuwendest, ward es sich lohnen.“ Der kleine Vogel befolgte die klugen Worte und flog aufs Festland. Dort hatte er sich bald ein warmes Nest gebaut. $ ] 134 r
SECHSTES LICHT Von den Aschkenasim in Mittel- und Osteuropa ] 135 [
Der betrogene Betrüger Vor vielen Jahren lebte in Polen ein armer Kaufmann. Er war mit vielen Kindern gesegnet, aber seine Geschäfte gingen schlecht. So entschloß er sich eines Tages, sein Glück anderswo zu versuchen. Er hinterließ seiner Frau das wenige Geld, das er besaß, verabschiedete sich von ihr und den Kin- dern und ging schweren Herzens in die weite Welt. Er wanderte durch viele Länder und überall gelang es ihm, etwas zu verdienen. So, wie sich früher das Pech an seine Fersen geheftet hatte, lachte ihm jetzt das Glück. Er kaufte und verkaufte, und kaum war ein Jahr vergangen, konnte er einen Beutel mit sechshundert klingenden Münzen unter sein Hemd stecken. „Gott hat mich nicht ver- lassen“, freute sich der Kaufmann, „in wenigen Monaten habe ich mehr verdient als alle Jahre vorher.“ Aber die Erinnerung an seine gute Frau und an seine Kinder ließ ihn nicht los und stimmte ihn traurig. Er sehnte sich auf einmal so sehr nach ihnen, daß er schnell alle Waren verkaufte und sich auf den Heimweg machte. Er schritt tüchtig aus, denn die Sehnsucht beflügelte seine Schritte. Gegen Freitag abend war er am Rande einer Stadt angelangt. Der Sabbat, der Ruhetag, an dem jede Tätigkeit untersagt ist, konnte jeden Augenblick beginnen, und der fromme Kaufmann bereitete sich auf den Feiertag vor. Er hob unweit eines Hauses ein Erdloch aus, und nachdem er sich gereinigt und sein Feiertagsgewand angezogen hatte, legte er seinen Geldbeutel hinein, breitete Erde darüber, und ging mit ruhigem Gewissen in die Syna- goge. Das Haus aber, in dessen Nähe der Kaufmann sein Geld vergraben hatte, weil ja ein frommer Jude am Sabbat nichts bei sich tragen darf, gehörte einem alten Mann. Allge- mein hielt man ihn für einen frommen und rechtschaffenen Menschen, im Herzen des Greises aber wohnte die Habgier. Und der hatte den Fremden beobachtet. Kaum hatte der Kaufmann sich entfernt, grub der Alte den Geldbeutel aus, nahm ihn an sich und trug ihn in sein Haus. 1 B6[
Gleich nach Sabbatende kehrte der Kaufmann zurück und fand das Versteck leer. Da traten ihm die Tränen in die Augen. „Nie hatte ich genug Geld, um meiner guten Frau und meinen Kindern ein Geschenk zu kaufen“, klagte er, „und jetzt, wo das Schick- sal mir zum ersten Male wohlgesinnt war, soll ich um die Früchte meiner Arbeit kom- men ?“ Er blickte ratlos um sich und bemerkte erst jetzt das nahe Haus. ,Wcr in diesem Hause wohnt, konnte sehen, wie ich mein Geld vergrub*, dachte er. ,Ja, niemand ande- rer konnte davon wissen und mein Geld stehlen. Wenn ich aber den Hauseigentümer des Diebstahls bezichtige, wird mir niemand glauben. Am Schluß stehe ich noch als Lügner da.‘ Der Kaufmann überlegte, was er tun könnte, bis ihm etwas cinfiel. Dann klopfte er an die Türe des alten Mannes. „Friede sei mit dir!“ begrüßte er den Alten. „Ich bin ein Fremdling und möchte dich um Rat bitten. In der Stadt hat man mir von deiner Weis- heit erzählt, deshalb hab ich mir erlaubt, dich aufzusuchen. Bitte, höre mich an.“ Der geschmeichelte Greis forderte den Kaufmann auf einzutreten. „Was ist dein Begehr ?“ fragte er. „Ich bin gern bereit, dir zu helfen.“ „Ich treibe Handel“, sagte der Kaufmann. „Aber ich bin hier fremd und fürchte, beraubt zu werden. Deshalb habe ich einen Beutel mit sechshundert Goldstücken an einem bestimmten Platz vergraben. Aber überraschenderweise habe ich in dieser Stadt von einem Schuldner noch weitere tausend Goldstücke erhalten. Und nun weiß ich nicht, ob ich sie ebenfalls vergraben oder das Geld einem ehrlichen Mann, wie du einer bist, anvertrauen soll.“ Da lächelte der habgierige Alte und sagte: „Nun, ich würde dir das Geld gern auf- bewahren, damit du aber sicher bist, daß ich dich nicht hintergehen will, rate ich dir, auch den zweiten Geldbeutel zu vergraben. Am besten, du legst ihn in das gleiche Versteck. Es ist besser, alles am gleichen Ort zu haben.“ „Ich werde deinen Rat befolgen“, sagte der Kaufmann und eilte davon. Kaum war die Tür hinter ihm zugefallen, als der unehrliche Greis den Geldbeutel holte. ,Dcr Kaufmann wird seine tausend Goldstücke sicher zu dem Versteck tragen, und wenn er sein Geld nicht findet, wird er sein Gold nicht dort vergraben*, dachte er. ,Ich muß den Geldbeutel schnell zurücklegen. Wenn der Kaufmann die tausend Du- katen auch dort vergräbt, wird alles mir gehören!* Der Alte wartete auf den Einbruch der Dunkelheit und trug die Goldmünzen zurück. Gerade damit hatte der Kaufmann gerechnet. Als der Alte im Hause verschwunden war, kehrte er zu seinem Versteck zurück und nahm das ehrlich verdiente Geld an sich. ,Du wolltest noch mehr, und jetzt hast du gar nichts. Möge es dir eine Lehre sein*, dachte der Kaufmann und steckte den Geldbeutel wieder unter sein Hemd. Er kaufte in der Stadt schöne Geschenke für seine Frau und seine Kinder, und den nächsten Sabbat verlebte er schon zu Hause. 1 137 L
Ein Traum geht in Erfüllung In der Stadt Krakau lebte Rabbi Eisik ben Jekel. Er war ein gelehrter, gottesfürchtiger Mann, bekannt durch seine Herzens- güte, aber die Gemeinde wrar arm, und arme Gemeinden haben arme Rabbiner. Eisik ben Jckcl kam aus den Sorgen nicht heraus: Wo sollte seine Frau das Geld für den Sabbat- fisch hernehmen? Und wo sollte er das Geld für die Instandsetzung der Synagoge und die neue Thorarolle auftreiben? Kaum hatte Eisik eine Schwierigkeit überwunden, war schon eine andere da. Daher pflegte er zu sagen, das einzige, woran cs ihm nicht mangele, seien die Schulden. Eisik ben Jekel bedrückte seine Lage, seine Frau Jenta freilich verlor langsam die Geduld. „Eisik“, sagte sie, „wir haben nichts zu essen, und du wartest fortwährend auf ein Wunder! Tu cs doch selbst! Hat Rabbi Elias Hazoref nicht in der Not sogar den Lauf eines Flusses geändert ? Warum sollte Gott nicht auch dir helfen ?“ Da wurde Rabbi Eisik noch trauriger. Wie könnte er, ein einfacher Rabbiner, sich mit dem Wundcrrabi Hazoref vergleichen? Als vor Jahren die Krakauer Studenten haß- et füllt jüdische Kinder in die Weichsel warfen, hatte Rabbi Elias Hazoref ein Wunder getan. Er hatte sich ans Ufer gestellt und der Weichsel befohlen, die Kinder zu retten. Und der Fluß hatte die Kinder gehorsam ans Ufer getragen und statt ihrer die Studenten in die bluten gerissen. Die Kinder waren gerettet, aber Elias Hazoref wollte sic auf immer in Sicherheit wissen und befahl der Weichsel, ihren Lauf zu ändern. Seither fließt sie durch Stadtteile, wo keine Juden wohnen. In Krakau kannte jeder diese Begebenheit, Eisik ben Jekel jedoch wußte, daß er keine Wunder tun konnte. Er hatte nie in den geheimen Büchern gelesen, so daß er cs hätte erlernen können, und seine Seele war auch nie in die höchsten Sphären der Himmel vorgedrungen, um das Wissen längst verstorbener Rabbiner zu erlangen. Daher schwieg Eisik, wenn seine Frau ihm Vorwürfe machte und hoffte insgeheim, Jenta würde sein Schweigen gut auslegen. 1 138 [
So verging ein Jahr nach dem anderen und Rabbi Eisiks Sorgen wurden nicht kleiner. Eines Nachts hatte Eisik einen Traum, der sich dann noch einige Male wiederholte. Jedesmal erschien ihm ein alter Mann, angetan mit der großen Pelzmütze der Ostjuden, und sprach: „Eisik, geh nach Prag und grabe dort unter der Brücke, die zur Burg führt. Dort wirst du einen großen Schatz finden!“ Eisik machte sich nicht viel aus Träumen, als er aber zum vierten und fünften Mal den gleichen Traum hatte, schnürte er sein Bündel und ging los, bis er endlich die vielen Türme der Hauptstadt Böhmens erblickte. Bald hatte er die steinerne Brücke gefunden, die man überqueren mußte, um zur Burg zu gelangen. Aber er wußte nicht, wo er graben sollte. Als er sich forschend umsah, hielt ihn der Brückenposten an und wollte wissen, was der Jude hier suche. Da blieb Eisik ] 139 [
nichts anderes übrig, als mit der Wahrheit herauszurücken. Er erzählte von dem alten Mann, der ihm so oft im Traum erschienen war. Der Wächter lachte laut und schlug sich dabei auf die Schenkel. „Du bist aber ein komischer Vogel, Jude aus Krakau! Wie kannst du nur solchen Unsinn glauben ? Würde ich an Träume glauben, so wäre ich schon längst in Krakau.“ „Was hast du geträumt ?“ fragte der Rabbi neugierig. „Ich träumte, daß ich in Krakau zu einem armen Juden gehen soll, der Eisik ben Jekel heißt. Unter dem Herd in seiner Küche ist ein großer Schatz verborgen. Dort soll ich graben.“ Der Wachposten lachte wieder und sagte: „Hat man je gehört, daß ein armer Teufel einen großen Schatz unter dem Herd hat? Und wenn es wirklich so wäre, wie kann ich einen Juden namens Eisik in Krakau finden, wo jeder zweite Jude Eisik heißt! Da müßte ich in vielen Küchen graben!“ Als der Brückenposten zu Ende gesprochen hatte, eilte Eisik davon, so schnell ihn seine Füße trugen und kam endlich in Krakau an. Ohne Gruß stürzte er in die Küche und begann, vor den Augen seiner entsetzten Jenta unter dem Herd zu graben. Bald stieß der Spaten auf eine eiserne Truhe. Und als der Rabbi sic öffnete, war sic angcfüllt mit Goldstücken. Seit dieser Zeit litten Rabbi Eisik ben Jekel und seine Gemeinde nie wieder Not. Der Rabbiner ließ eine neue Synagoge bauen, und wer Not litt, konnte zu ihm kommen und cs wurde ihm geholfen. Sogar Jenta, die Frau des Rabbiners, war zufrieden, und es machte ihr nichts mehr aus, daß ihr Mann kein so großer Wundertäter war wie Elias Hazoref. Eisik ben Jekel aber konnte sich endlich ohne Alltagssorgen dem Studium der Thora widmen. Er hatte viele Schüler und sein Unterricht soll der beste in ganz Krakau gewesen sein. „Gott hilft uns immer“, pflegte er zu sagen, „aber nur er weiß, was dem Menschen frommt. Den einen schickt er in die W’clt, um dort sein Glück zu finden, und den anderen führt er in die Fremde, um ihm zu zeigen, daß ihn zu Hause das Glück erwartet.“ ] 140 [
Der kleine Richter In der polnischen Stadt Pintschow lebte Rabbi Efraim, der ein aufgewecktes Söhnchen hatte. Der kleine Jonathan ging jeden Morgen in den Cheder - die jüdische Knabenschule - und kehrte am späten Nachmittag nach Hause zurück. Pintschow war damals eine Kleinstadt mit engen, dunklen Gäßchen, wo einem allerhand Ungemach begegnen konnte. Einmal, als Jonathan in den Cheder eilte, hörte er eine rauhe Stimme: „Wohin so eilig, Judenbengel? Du kannst wohl nicht grüßen?“ Und vor Jonathan stand ein baumlanger Kerl, der polnische Pferdehändler Jacek, den alle jüdischen Kinder fürchteten, weil er sie schlug und seine Freude an ihren Tränen hatte. An diesem Tag hatte es Jacek auf den kleinen Jonathan abgesehen. Er warf die Sachen des Kindes in den Kot und verprügelte ihn. Der Kleine biß die Zähne zusammen, er hatte sich vorgenommen, nicht zu schreien und zu weinen, um dem rohen Gesellen keine Freude zu machen. Als der Pferdehändler von ihm abließ, maß er das Knäblein mit unzufriedenen Blicken und sagte: „Weshalb schreist du denn nicht ? Du hast wohl noch nicht genug ?“ „Weshalb sollte ich schreien ?“ erwiderte der verprügelte Jonathan. „Du weißt wohl nicht, daß heute ein besonderer Tag ist. Wenn ein Goj (ein Nichtjude) heute einen Juden verprügelt, muß der Jude ihm danken und ihm das ganze Geld geben, das er bei sich hat. Ich habe von meiner Mutter zwei Münzen mit auf den Weg bekommen, hier hast du sie.“ Der Pferdehändler Jacek öffnete vor Staunen den Mund, als er aber die Münzen auf der entgegengestreckten Hand des Buben sali, nahm er sie, und ging davon. „Verrücktes Volk, diese Juden!“ sagte er. „Die lassen sich verprügeln und zahlen noch dafür. Besser wäre es gewesen, ich hätte einem reichen Juden eine Tracht Prügel verpaßt. Dann hätte sich die Sache gelohnt.“ Genau das wollte der kluge Jonathan erreichen, daß der rabiate Pferdehändler sich nun einen reichen Juden vornehmen würde, der nicht so hilflos war wie ein kleines Kind. Und wirklich! Jacek stürzte sich auf den geachtetsten Rabbiner der Stadt, einen reichen Mann und Vater des kleinen Jonathan. Als auf sein Rufen die Menschen ihm zu Hilfe kamen, die Wache holten, wurde Jacek in Fesseln abgeführt. Bei Gericht versuchte sich ] 141 [
der Pferdehändler herauszureden, er habe Jonathans Worte ernst genommen; was ihm die Strafe freilich nicht ersparte. Die jüdischen Kinder von Pintschow aber hatten von ihrem Quälgeist fortan Ruhe. Nach der Gerichtsverhandlung sagte Rabbi Efraim seinem kleinen Sohn: „Du hast gerichtet, Jonathan, ohne ein Richter zu sein. Deine Klugheit hat den Stärkeren besiegt. Sei gesegnet, mein Sohn.“ Bald nach diesem Ereignis erregte ein Prozeß ganz Pintschow. Ein christlicher Fleischer hatte seinen jüdischen Nachbarn, einen Gewürzhändler, des Diebstahls bezichtigt. Auf den ersten Blick ließ sich gegen den Rcchtsfall nichts einwenden. Der Fleischer gab an, wieviel Geld ihm fehlte, und beschrieb genau den Beutel, in dem es sich befand. Mehrere Zeugen bestätigten, den Geldbeutel beim Fleischer gesehen zu haben, und kurz nachdem dieser den Verlust gemeldet hatte, fand man das Geld beim Gewürzhändler. Der Jude freilich leugnete die Tat. „Unsere Verkaufsläden stehen dicht nebeneinander“, erklärte er, „sie sind nur durch eine Bretterwand getrennt. Der Fleischer hat mich sicher durch eine Lücke zwischen den Brettern beobachtet, während ich meinen Verdienst zählte und in den Geldbeutel steckte. Daher kennt er die Summe und kann den Beutel genau beschreiben. Jedermann in Pintschow weiß, daß ich gute Geschäfte mache, während den Fleischer mehr Fliegen als Kunden besuchen. Das Geld gehört mir und die Zeugen des Fleischers lügen.“
Da behauptete der Fleischer, es sei alles umgekehrt: „Ich habe mein Geld gezählt und durch die Bretterlücke hat der Gewürzhändlcr mich beobachtet. Er ist nicht nur ein Dieb, er ist auch ein Lügner wie alle Juden!“ Der Richter zögerte mit dem Urteil und zog die Verhandlungen hin, aber die Juden wußten, daß er schließlich dem Fleischer recht geben würde. Dem Gewürzhändlcr drohte eine schwere Gefängnisstrafe und in Pintschow heizten die Feinde der Juden eine ge- fährliche Atmosphäre des Hasses gegen die Juden an. In der ganzen Stadt sprach man von dem Prozeß. Auch im Hause des Rabbiners Efraim erörterte man den Fall. Efraim war zwar von der Unschuld des Gewürzhändlers überzeugt, wußte jedoch nicht, wie man sie beweisen könnte. Wenn aber der Gewürz- händlcr schuldig erkannt wurde, müßten die Juden in Pintschow mit bösen Ausschrei- tungen rechnen. Da beschloß der Rabbiner, mit seiner Familie die Stadt zu verlassen, bevor es zu spät war. Da der kleine Jonathan nicht zu Hause war, eilte der Rabbiner auf den Hof, wo die Kinder spielten. Da wurde er Zeuge eines Kindertheaters. Einer der Knaben stellte den angcklagten Gewürzhändlcr dar, ein anderer den Fleischer. Der kleine Jonathan hatte die Rolle des Richters übernommen. Der Fleischer und der Gewürzhändler beschuldigten sich gegenseitig wie im wirklichen Prozeß, aber der kleine Jonathan sprach in der Rolle des Richters auch das Urteil, das noch nicht gefällt war. Das Kind sagte mit klarer Stim- me: „Höret das Urteil! Die gefundenen Münzen werfe man in einen Kessel mit kochen- dem Wasser. Wenn beim Erkalten Fettaugen auf der Oberfläche schwimmen, ist der Jude der Dieb und der rechtmäßige Besitzer des Geldes der Fleischer. Da die Finger des Fleischers durch seinen Beruf immer fettig sind, muß auch sein Geld fettig sein. Wenn aber das Wasser klar und ohne Fettaugen bleibt, gehört das Geld dem Gewürz- händler und der Eleischer soll wegen Verleumdung bestraft werden.“ Da staunte der Rabbi über die Weisheit seines kleinen Sohnes, der auf diese Idee ge- kommen war, und eilte zum Richter, um ihn dazu zu bewegen, diese Probe zu veranlassen. Der Richter, der wohl wußte, was für die ganze jüdische Gemeinde auf dem Spiel stand, willigte ein und ließ die Münzen tatsächlich in einen Kessel mit kochendem Wasser werfen. Als das Wasser sich abkühltc, war seine Oberfläche klar und durchsichtig, von Fettaugen keine Spur. Jetzt zweifelte niemand mehr an der Unschuld des Juden, und der habgierige Fleischer wurde verurteilt. Am Abend dieses denkwürdigen Tages sagte Rabbi Efraim zu seinem Sohn: „Du hast gerichtet, Jonathan, ohne ein Richter zu sein, und deine Weisheit hat ein Verbrechen verhindert. Möge auch auf deinen künftigen Handlungen der Segen Gottes ruhen!“ Der Wunsch des Rabbiners sollte sich erfüllen. Als der kleine Jonathan hcrangewachscn war, wurde er ein berühmter Rechtsgelehrter. 1 1«[
Ein Festmahl bei Rabbi Löw In Prag, der Hauptstadt Böhmens, lebten vor fast einem halben Jahrtausend viele Juden. Sie bewohnten ein besonderes Stadt- viertel, das man Judenstadt nannte. Diese Prager Judenstadt war eng und stark bevölkert, aber es gab hier viele Schulen und Bethäuser und am berühmtesten war die steinerne Synagoge in der Nähe des Moldauflusses, die Altneuschul. Es war die herrlichste Synagoge weit und breit, denn die Engel hatten sie gebaut. Man erzählte, sie hätten die Überreste von Salomons zerstörtem Tempel aus Jerusalem nach Prag gebracht, um die Grundmauern der Altneuschul durch die heiligen Steine zu festi- gen. Die Prager Tempel und Lchrhäuser waren berühmt, weil sic große Schriftgelehrtc hervorgebracht hatten. Und Prag besaß Rabbiner, deren Namen in die Geschichte ein- gingen. Der größte von allen aber war der Prediger der Altneuschul, Rabbi Jehuda Löw ben Bezalel. Seiner großen Gelehrsamkeit wegen nannte man ihn den Hohen Rabbi. Er wohnte am Moldauufer in einem Haus, über dessen Eingang eine Weinrebe in Stein gehauen war, das Symbol für die Nachkommen des Hohen Priesters Aaron. Tatsächlich glich das Verhalten des Hohen Rabbi der Weinrebe, deren süßesten Früchte in der Nähe des Erd- bodens reifen, denn jeder Hochmut lag ihm fern. Er wußte um die Geheimnisse der Natur und verstand sich auf die große Magie, aber niemals rühmte er sich seiner außer- gewöhnlichen Fähigkeiten. Er half allen, die bei ihm Rat suchten, und auch der Kaiser Rudolf II. schätzte den Rabbiner, wras oftmals der jüdischen Gemeinde zugute kam. Des Kaisers Gunst aber war ein Dorn im Auge seines ersten Ratgebers. Dieser neidete Rabbi Löw sein Wissen und ertrug es schwer, daß der Kaiser sich gern mit dem jüdischen Gelehrten unterhielt. Der Ratgeber zerbrach sich den Kopf, wie er es anstellcn könnte, daß der Jude beim Kaiser in Ungnade fiel. Daher trat er eines Tages vor den Kaiser und sprach: „Majestät, es ist Brauch, daß deine Würdenträger, Heerführer und Fürsten dir zu Ehren Festgelage veranstalten. Alle haben dir schon auf diese Weise ihre Ergeben- 1 144 [
heit bezeigt, nur Jehuda Löw ben Bezalel, dein geheimer Ratgeber, hat dich noch nie eingeladen.“ Der neidische Ratgeber wußte sehr wohl, daß Rabbi Löw weder in einem vornehmen Haus wohnte noch Dienerschaft besaß, um einen so hohen Gast, wie den Kaiser, ein- laden zu können. Der Kaiser aber fiel auf die List seines ersten Ratgebers herein. Er ließ den Rabbiner rufen, und befahl ihm, ein Fest zu veranstalten. Als der Ratgeber dies erfuhr, rieb er sich die Hände und zählte ungeduldig die Tage, die ihn von seinem vermeintlichen Nebenbuhler befreien sollten. Am fcstgclcgtcn Tag hatte sich eine Menschenmenge vor dem Haus des Prager Hohen Rabbiners versammelt. Die meisten wollten den Kaiser und sein Gefolge sehen, aber unter ihnen waren auch Leute, die der mißgünstige Ratgeber geschickt hatte. Sie wollten dabei sein, wTenn der Zorn des Kaisers sich über das Haupt des Hohen Rabbis ergoß, und hofften, in der Judenstadt plündern zu können. Endlich war der Wagen des Kaisers vorgefahren und dieser stand nun, gefolgt von seinem Hofstaat, vor des Rabbis bescheidenem Haus. „Ich bitte dich“, sagte der Rabbi mit einer tiefen Verbeugung, „mir zu folgen“. Und der Rabbi ging die wenigen Schritte zum Moldauufer. Da erblickte der Kaiser und sein Gefolge ein Schloß, daß er noch nie gesehen hatte. „Ich bitte euch einzutreten“, lud der Rabbi seine Gäste ein. „Ich hoffe, daß noch niemand unseren verehrten Herrscher mit so erlesenen Speisen und Ge- tränken geehrt hat.“ Das Schloß, welches die staunenden Gäste mit dem Kaiser an der Spitze betraten, war von nie dagewesener Pracht. Aus weißem Marmor gebaut, die Möbel waren aus seltenen Hölzern gefertigt, den Fußboden bedeckten kostbare orientalische Teppiche und überall leuchteten goldene und silberne Geräte. Der Spciscsaal aber W’ar größer als der größte Saal der Prager Burg. Schneeweißes Linnen bedeckte die lange Tafel, die Griffe der goldenen Bestecke waren mit Edelsteinen verziert. Hinter jedem Stuhl stand ein Diener in goldbestickter Livree. Der Kaiser war begeistert von diesem wahrhaft fürstlichen Empfang und seine Stim- mung wuchs noch, als er die erlesenen Speisen und Getränke kostete. Alle Anwesenden waren zufrieden, nur dem neidischen Ratgeber wollte es nicht recht munden und das Lob des Kaisers stach ihn wie ein Homisscnschw’arm. Als das Festmahl in den frühen Morgenstunden seinem Ende zuging und der Kaiser und sein Gefolge sich von ihren Sitzen erhoben, bemerkte er, daß sein Ratgeber noch immer an seinem Platz saß. „Worauf wartest du noch ?“ fragte der Kaiser. „Das Festmahl ist zu Ende, und du, der du immer etwas an Rabbi Löw auszusetzen hast, kannst nicht genug bekommen von seiner Gast- freundschaft ?“ Der Ratgeber krümmte sich auf seinem Stuhl und stieß schließlich her- vor: „Majestät, ich kann nicht aufstchcn! Eine unsichtbare Kraft hält mich am Stuhle fest!“ Da wunderten sich die Höflinge und der Kaiser forderte von Rabbi Löw eine Er- klärung. „Die Erklärung ist ganz einfach, Majestät“, sagte Rabbi Löw. „Dieser Mann ] 145 [
hat den goldenen Becher gestohlen, aus dem er seinen Wein trank. So lange er ihn nicht zurückerstattet, kann er das Schloß nicht verlassen.“ Der Ratgeber versuchte nun mit aller Kraft, sich vom Stuhl zu erheben, aber ohne Erfolg. Da mußte er den Becher, den er unter seinem Gewand verborgen hatte, vor den Augen aller wieder auf die Tafel stellen. Augenblicklich war der Zauber gebrochen und der erste Ratgeber des Kaisers konnte sich, rot vor Scham, erheben. Mit zitternder Stimme bat er den Kaiser um Vergebung, aber der Herrscher unterbrach ihn ungeduldig: „Daß du ein Verleumder bist, davon habe ich mich heute überzeugt. Jetzt sehe ich, daß du auch ein Dieb bist!“ Da entfernte sich der Ratgeber mit gesenktem Haupt, um sich nie wieder bei Hofe blicken zu lassen. Dem Kaiser aber ging das prunkvolle, orientalisch anmutende Schloß am Moldauufcr nicht aus dem Kopf. Es war bald nach dem Festmahl als sich ein Bote aus einem fernen orientalischen Reich beim Kaiser meldete, der dieses Rätsel lösen sollte. Der Bote nämlich erzählte eine unwahrscheinlich anmutende Begebenheit. Sein König, berichtete er, habe zur Feier des höchsten Festes seines Landes einen prächtigen Marmorpalast errichten lassen. Dem Brauch entsprechend habe er die Herrscher vieler Länder zu einem erlesenen Gastmahl cingeladen. Aber als sie eben das Schloß betreten wollten, habe sich der Palast von der Erde gelöst und sei hinaufgeschwebt in die Wolken, die ihn in die Ferne trugen, wie eine Flaumfeder. Am nächsten Tag sei der Palast wieder auf die gleiche Weise zu- rückgekehrt. Alles sei an seinem Platz gewesen, die ganze kostbare Einrichtung. Nur das Festmahl, all die erlesenen Speisen und Getränke, wraren verschwunden. Da begriff Kaiser Rudolf, daß Rabbi Löw dank seiner übernatürlichen Kräfte das Schloß nach Prag gebracht hatte. Seit dieser Zeit achtete der Kaiser den Hohen Rabbi noch mehr, und in vielen wichtigen Dingen war er sein Ratgeber. ❖ 1 >46 [
Wie Rabbi Löw den Golem schuf Zur Zeit des Rabbi Löw lebten in Prag nicht nur viele Juden, sondern auch solche, die Feinde der Juden waren und sie be- kämpften, und daher kam cs zu schweren Ausschreitungen. Den Juden wurde vorgeworfen, daß sie das Blut christlicher Kinder zum Zubereiten des Passahbrotes verwendeten, und so fürchtete der Rabbi Löw, daß neue Progrome bevorstünden, und er wollte Abhilfe schaffen. „Großer Gott!“ wehklagten die Juden in Prag. „Sollen wir der Willkür hilflos preis- gegeben sein ? Findet sich denn niemand, der uns beschützt ?“ Der Rabbi Löw hörte diese Klagen, und als die Wellen des Hasses wieder einmal die Judenstadt zu ersticken drohten, beschloß er, Abhilfe zu schaffen. Im Traum fragte er Gott, wie er das der Judenstadt drohende Verderben abwenden könnte, und Gott sprach: „Erschaffe den Golem, einen Lchmklumpen in der Form eines Menschen, und hauche ihm Leben ein! Der Golem von Prag wird die Juden vor den Ausschreitungen ihrer Feinde beschützen!“ Am nächsten lag rief der Hohe Rabbi seinen Schwiegersohn Isaak ben Simson und seinen Schüler Jakob ben Chaim Sason zu sich. „Es ist schon zuviel Unrecht geschehen“, sagte Rabbi Löw. „Deshalb will ich den Golem erschaffen, ein mächtiges Wesen, das weder gut noch böse ist und gehorsam alle meine Befehle ausführt. Uralte Überlieferungen und geheime Schriften besagen, daß bei der Erschaffung des Golem die vier Elemente vertreten sein müssen: Feuer, Wasser, Luft und F.rde. Daher sollst du, Isaak, das Feuer darstcllen, du Jakob, das Wasser, und ich die Luft. Die Erde werden wir dort finden, wo Gott uns ein Zeichen gibt.“ Dann verbrachten die drei weisen Männer sieben Tage in Meditationen und Gebeten. Der Hohe Rabbi studierte das Buch der Frommen, das nur Auserw’ählte lesen konnten. Der Erzvater Abraham selbst hatte es verfaßt. Das Buch enthielt geheime Zeichen und 1 147 [
Symbole. Als die sieben Tage um waren, erblickte der Rabbi im Traum das Moldauufer. Die Stelle, die er sah, war mit feiner, angeschwemmter Lehmerde bedeckt, auf der sich die Umrisse einer riesigen menschlichen Gestalt abzeichneten. Da weckte Rabbi Löw seine Gehilfen. Es war Mitternacht des zweiten Tages des Monats Adar. Zuerst reinigten sich die drei Männer in der Mikwe, im Tauchbad, und legten ihre weißen Feiertagsgewänder an. Es war eine dunkle Nacht und sie zündeten Kerzen an und schritten zum Moldauufer. Dort formte Rabbi Löw die Gestalt eines drei Ellen großen menschlichen Körpers aus dem Lehm, gab ihm Nase, Mund und Ohren, die Finger an den Händen und die Zehen an den Füßen; der Körper lag auf dem Rücken wie ein schlafender Mensch. Da wandte sich Rabbi Löw an Isaak ben Simson: „Jetzt bist du ,,csch“ - das Feuer. Gehe siebenmal von rechts nach links um den Golem herum.“ Dann flüsterte der Hohe Rabbi seinem Schwiegersohn die Zauberformel ins Ohr, die nur Eingeweihte verstehen, und Isaak begann, den Golem zu umschreiten und murmelte mit zitternder Stimme die magische Formel. Als er zum ersten Mal am Haupt der Tonligur vorbeikam, begann sie zu trocknen, als er zum dritten Mal vorbeikam, strahlte der Golem Wärme aus, beim fünften Mal wurde er heiß und als Isaak zum siebenten Mal vorbeischritt, glühte er wie ein Backofen. Da wandte sich Rabbi Löw an Jakob Chaim ben Sason vom Stamme der Leviten. „Du bist jetzt „majim“ - das Wasser. Du sollst sieben Mal von links nach rechts um den Golem herumgehen.“ Dann flüsterte der Hohe Rabbi auch ihm die geheimen Worte ins Ohr und Jakob murmelte die Beschwörungsformel. Als er zum ersten Mal am Haupt des Golem vorbeikam, verlor der Koloß seinen roten Schein, beim dritten Mal stieg Dampf aus dem Körper und sein Rumpf wurde feucht. Beim fünften Mal wuchsen die Haare auf dem Kopf des Golem und die Nägel an seinen Fingern und Zehen. Beim sieben- ten Mal spannte sich Haut über den Körper aus Lehm. Dann war cs an Rabbi Löw, als Element Luft den Golem abwechselnd in beiden Richtungen zu umkreisen. Und zuletzt legte er ihm einen Zettel mit dem unaussprechlichen Namen Gottes unter die Zunge. Dann verneigten sich die drei Weisen gegen Osten, Westen, Süden und Norden und sprachen feierlich die Worte der Heiligen Schrift: „Dann bildete Gott Jahwe den Men- schen aus Staub von dem Erdboden und blies in seine Nase einen Lebenshauch.“ Kaum hatten sie das Wort „Lebenshauch“ ausgesprochen, als sich der liegende Go- lem aufsetzte, Feuer, VTasser, Luft und Erde hatten seinen Körper erweckt. „Steh auf!“ befahl ihm Rabbi Low. „Wisse, du heißt Joseph, und ich habe dich er- schaffen, damit du die Juden vor Gefahren bewahrst. Du wirst nur meinen Befehlen gehorchen. Wenn ich dir befehle, durchs Feuer zu gehen, gehst du durchs Feuer, wenn ich dir befehle, dich von einem Felsen hinabzustürzen oder ins Wasser zu springen, wirst du cs tun!“ 1 148 (

Der Golem nickte, als Zeichen, daß er den Rabbi verstanden hatte, sprechen aber konnte er nicht, denn ein Mensch hatte ihn erschaffen und nicht Gott. Daher war Gottes Funke nicht in ihm. Sonst freilich unterschied sich der Golem nicht von den Menschen. Als er die Kleider anzog, die der Rabbi Löw ihm mitgebracht hatte, sah er aus wie ein Schammes, ein Synagogcndicner. So stellte ihn Rabbi Löw auch seiner Frau Perl vor. Der Golem bekam im Hause des Rabbiners eine Kammer und er führte alle Befehle seines Herrn gehorsam aus. Er wanderte Tag und Nacht durch die Straßen der Judenstadt und wachte über die Sicherheit ihrer Bewohner. Wer mit bösen Absichten ins Judenviertel kam, lernte den Golem kennen und vergaß zeitlebens nicht dessen übermenschliche Kräfte. Auch war er unverletzbar und niemand konnte ihn töten. Er sah, wie die Dämonen und die Geister, was menschlichen Augen verborgen blieb. Manchmal gab ihm Rabbi Löw auch ein Amulett, das ihn unsichtbar machte. Da konnte der Golem ungesehen in die Häuser der Feinde gehen und Beweise für die Verbrechen erbringen, die sie den Juden in die Schuhe schieben wollten. Oder er hörte zu, wenn sie Pläne schmiedeten, um in der Judenstadt zu plündern und zu morden. Und Rabbi Löw fand dann stets eine Möglichkeit, um die Gefahr von den unglücklichen Kindern Israels abzuwenden. So hatten die Juden endlich einen Beschützer gefunden. % ) 150[
Golem, der gehorsame Knecht öeitdem cs in Prag den Golem gab, der Tag und Nacht über dem Judenviertel wachte, lebten die Juden in Sicherheit. Die Feinde der Kinder Israels hatten begriffen, daß sic gegen einen so mächtigen und mit übernatürlichen Kräften ausgerüsteten Gegner nichts ausrichten konnten. Bald hatte der Golem immer weniger zu tun. Nur noch nachts lief er durch die engen Gäßchen, am Tage aber versah er das Amt eines Synagogendieners, des Schammes, und er hatte genug Zeit, auf einer Bank vor dem Haus des Rabbi Löw zu sitzen. Perl, die Frau des Hohen Rabbiners sah das nicht gern. Sie harte sieben Kinder und ihr oblag die ganze Sorge um das Haus. Sic wusch und kochte, ging auf den Markt und kümmerte sich um die Kinder, während der Golem in der Sonne saß und sich ausruhte. Rabbi Löw aber hatte seiner Frau verboten, den Golem als Knecht im Haushalt zu be- schäftigen. Und so mußte die Frau alle Arbeit allein schaffen, und sie zerbrach sich oft den Kopf, was für eine Bewandtnis es wohl mit diesem großen starken Kerl hatte. Vor dem Passahfest hatte Perl besonders viel zu tun. Zu Passah dürfen die Juden zur Erinnerung an die Flucht aus Ägypten nur ungesäuerte Brote essen, die Matzen. Perl kehrte und scheuerte den Fußboden und dachte daran, daß sie noch das für das Fest be- stimmte Geschirr vorbereiten mußte, und den Fisch und... Da fiel ihr Blick auf den Golem, wie er da so gemütlich auf seiner Bank vor dem Hause saß. Da sagte sich Perl: ,Gott weiß, daß ich nie etwas von diesem Joseph verlangt habe, aber heute brauche ich seine Hilfe/ Und Perl rief den Golem und sagte ihm: „Joseph, ich gehe jetzt auf den Markt und du könntest unterdessen Wasser holen. Hier hast du zwei Eimer, der Brunnen ist auf dem Hof.“ Der Golem nickte, und kaum hatte sich die Türe hinter der Frau geschlossen, als er mit den Eimern auf den I lof lief. Aber als Perl vom Einkauf zurückkam, schlug sie entsetzt die Hände zusammen. Eine Menschenmenge hatte sich auf dem Hof versammelt und blickte auf das Wasser, das aus dem Hause floß, als wäre dort eine Quelle entsprungen. ] 151 [
Da erblickte Perl den Golem. Vollständig durchnäßt lief er mit den vollen Eimern ins Haus, schüttete das Wasser in den Gang, und lief hurtig zum Brunnen zurück, um neues zu holen. Da gebot ihm die Stimme des Rabbi Löw Einhalt: „Joseph, bringe kein Wasser mehr!“ Augenblicklich hielt der Golem inne, stellte die Eimer auf den Boden als wäre nichts geschehen, und setzte sich wieder auf seine Bank in die Sonne. Die Leute gingen auseinan- der und Rabbi Löw und Perl waren allein. Der Rabbi blickte seine Frau ernst an und sprach: „Es steht geschrieben, daß ein zu heiligen Zwecken bestimmtes Gefäß nicht zu alltäglichem Dienst verwendet werden darf. Auch mit dem Golem hat es diese Be- wandtnis.“ Seit diesem Tage hütete sich Perl, vom Golem etwas zu verlangen. Sie verrichtete allein die Hausarbeit und ihre hcrangewachsenen Töchter halfen ihr dabei. Im Hause war noch ein Mädchen aufgewachsen, ein armes Waisenkind, das der Rabbi vor Jahren aufgenommen hatte. Nun aber sollte das Mädchen verheiratet werden. Perl bereitete das Hochzeitsmahl vor, und dabei wußte sie nicht, wo sie mit der Arbeit anfangen sollte, denn im Hause des Rabbiners war es Brauch, viele Gäste einzuladcn. Aber Joseph, der Golem, saß auf seiner Bank vor dem Hause. Da dachte Perl: ,Ein armes Mädchen, dar- über hinaus eine Waise, aufzuziehen und zu verheiraten, ist gewiß eine gottgefällige Tat. Ich werde den Golem einkaufen schicken/ Perl sagte: „Joseph, am Moldauufer wohnt ein alter Fischer. Kaufe von ihm einen großen Fisch und bringe ihn mir. Nachher gehst du noch auf den Markt und kaufst Äpfel.“ Perl gab dem Golem, der nicht sprechen konnte, zwei Zettel mit, auf denen geschrieben stand, was er einkaufen sollte. Also machte sich Joseph auf den Weg. Der alte Fischer hatte gerade einen großen Karpfen gefangen und war froh, ihn gleich verkaufen zu können. Der Golem hatte aber weder Korb noch Tasche mitgenommen und wußte nicht, was er mit dem großen, zappelnden Fisch anfangen sollte. Schließlich steckte er ihn unter sein Hemd, wo der Fisch freilich alles tat, um wieder herauszukommen. Als er dem Golem mit der Schwanzflosse einen kräftigen Schlag versetzt hatte, geriet dieser in Zorn. Er zog ihn hinaus, schüttelte ihn wie ein unartiges Kind, und warf den Karpfen zurück in den Fluß. „War der Fischer nicht zu Hause ?“ fragte Perl, als Joseph mit leeren Händen zurück- kam. Aber der Golem, noch rot vor Zorn, erklärte in seiner Zeichensprache, was der Fisch ihm angetan hatte. Deshalb habe er ihn in die Moldau geworfen. Perl wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte und eilte zum Moldauufer, um einen anderen Fisch zu kaufen. Der Golem aber hatte seine zweite Aufgabe nicht vergessen. Er eilte auf den Markt und blieb vor einem Obststand stehen, gab dem Marktweib Perls Zettel und wartete, bis sie einen Sack mit Äpfeln gefüllt hatte. Aber der Sack schien ihm zu klein, und so rührte 1 152 [
er sich nicht von der Stelle. „Worauf wartest du noch ?“ fragte das Weib. „Willst du viel- leicht die ganze Bude mitnehmen?“ Da hob der Golem den Stand mitsamt dem schreien- den Marktweib hoch, schulterte die Last, und schritt zum Hause des Rabbi Löw zurück. Das Marktweib schrie und zeterte und herabfallende Äpfel säumten den Weg. Als der seltsame Zug ankam, war Perl schon zu Hause, und der Golem stellte die Bude samt Marktweib vor sie hin und blickte seine Herrin stolz an, als erwartete er eine Belohnung. Die Nachbarn hatten ihre Freude an dem Schauspiel und das Marktweib ließ sich erst versöhnen, als Perl ihr eine angemessene Entschädigung gab. Seither mußte der Rabbi nicht mehr befürchten, daß seine Frau die Dienste des Golem in Anspruch nehmen würde. Der Golem wohnte und aß im Haus des Hohen Rabbiners, aber Perl hütete sich, auch nur das Geringste von ihm zu verlangen. Bald war das Leben in der Judenstadt so ruhig und sicher geworden, daß der Golem nicht einmal mehr bei Nacht Wache halten mußte. Man brauchte ihn nicht mehr. Da rief der „Maharal von Prag“ die iMänncr, die geholfen hatten, den Golem zum Leben zu erwecken, zu sich, um das Wesen aus Ton wieder der Erde zurückzugeben. Die kab- balistische Zeremonie auf dem Dachboden der Altncuschul sollte die gleiche sein, wie bei der Erschaffung des Golem, nur in umgekehrter Reihenfolge. 1 153 [
Zuerst sprachen Isaak ben Simson und Jakob Chaim ben Sason den Satz aus der Schöpfungsgeschichte von rückwärts nach vom. Dann nahm der Hohe Rabbi den Zettel mit dem unaussprechlichen Namen Gottes aus dem Mund des Golem, und jeder der weisen Männer schritt siebenmal um die Tonfigur herum, aber so, daß der, der von rechts nach links gegangen war, den Golem nun von links nach rechts umkreiste. Auch die Silben der magischen Beschwörungen wurden in umgekehrter Reihenfolge gesprochen. Somit konnten die Elemente Wasser, Feuer und Luft den Golem verlassen, und als die drei Männer nach Mitternacht aus der Altneuschul in die engen Gäßchen der Juden- stadt hinaustraten, war nur noch ein Tonklumpen von dem Golem übrig geblieben. Rabbi Löw aber verkündete der Gemeinde, daß der Synagogendiener Joseph Prag auf immer verlassen habe. <• ) 1541
Pinkas und der Graf Vor vielen Jahren lebte in der Prager Ju- denstadt der Trödler Pinkas. Er handelte mit allem, was ihm unter die Hände kam, verdiente aber nur gerade so viel, um sich und seine Familie so recht und schlecht zu ernähren. Einmal in der Woche aber war er der Sorge um seine Familie enthoben. Pinkas nämlich war trotz seines Gewerbes ein kluger und belesener Mann, und ein Graf hatte Gefallen daran gefunden, sich mit ihm zu unterhalten. Dieser Graf pflegte Pinkas allwöchentlich für den Sabbat Geld zu geben, damit er den Feiertag in Würde begehen konnte. Auch vor den anderen jüdischen Feiertagen vergaß der Graf den gelehrten Altwarenhändler und seine zahlreiche Familie nie. Pinkas war ein sehr frommer Mann. Er ließ kein Gebet aus und richtete sich in allem, was er tat nach der Thora. Wenn er Hunger litt, sagte er: „Ich danke dir, mein Gott, daß du mich prüfst, wie du die Gerechten prüfst.“ Wenn er vom Grafen ein Almosen erhielt, pflegte er die Worte des Psalms zu zitieren: „Es ruht auf den Frommen das Auge Jahwes, auf denen, die seiner Gnade vertrauen.“ Den Grafen aber störte cs, daß der Jude ihm nie für seine Gaben dankte. ,Ohne meine Unterstützung*, dachte der Graf, ,würde Pinkas die vielen jüdischen Feiertage nicht so angenehm verleben. Sicher wäre der Hunger sein ständiger Gast. Und trotzdem dankt er nur seinem Schöpfer, als hätte Gott allein ihm geholfen.* Nachdem Pinkas auch weiter- hin nach jedem Geldgeschenk des Grafen seinen Gott pries, verlor der Graf die Geduld. Und als Pinkas wieder einmal eine Gabe für das Passahfest erhalten sollte, sagte der Graf: „Der vergangene Sabbat war das letzte Fest, das du auf meine Kosten gefeiert hast. Für meine Wohltaten hast du dich immer bei deinem Gott bedankt, daher glaube ich, daß du mich gar nicht brauchst. Dein guter Gott wird dir sicher helfen.“ Als Pinkas Frau die schlechte Nachricht erfuhr, begann sie laut zu jammern. Des Nachts fand Pinkas keinen Schlaf, der Mond schien hell, wie das vor Passah der Fall J 155 [
ist, und Pinkas wußte noch immer nicht, wie er mit seiner Familie das Passahfest ver- bringen würde. Seufzend setzte er sich zu seinen Büchern, um im Talmud Trost zu su- chen. Plötzlich zerriß Lärm von splitterndem Glas die Stille und ein schwerer Gegen- stand flog durchs Fenster und schlug am Boden auf. Von draußen erklang höhnisches Gelächter und davoneilende Schritte. Pinkas blickte auf den Gegenstand zu seinen Füßen: es war ein toter Affe. I Als sich Pinkas ein wenig von seinem Schrecken erholt hatte, weckte er seine Frau. Sie untersuchten das tote Tier, das ein kostbares Halsband trug, und bebten vor Angst. ,Wer auch immer den Affen hineingeworfen hat*, dachten sie, ,kann auch die Wache ru- fen. Niemand wird uns glauben, daß wir das Tier nicht gestohlen und getötet haben. Und vielleicht wird es die ganze Judenstadt büßen müssen!* Aber bald siegte bei Pinkas die ruhige Überlegung. „Wir müssen den Affen so schnell wie möglich verschwinden lassen“, sagte er. „Am besten wir verbrennen ihn gleich.** Er befahl seiner Frau, Feuer im Ofen zu machen und hob den Affen am Schwanz in die Höhe, um ihn zum Herd zu tragen. Aber das Tier war schwerer, als er vermutet hatte. „Komisch, so ein kleiner Affe“, murmelte Pinkas, „und er wiegt mehr als ein Sack voll Steine.“ Er schleppte das tote Tier zum Ofen und hörte, das etwas klingend zu Boden fiel. Pinkas hielt erstaunt inne und schaute zur Erde. Da sah er, daß aus dem Maul des Alien Dukaten fielen und sich auf der Erde häuften. „Frau!“ rief Pinkas, „komm schnell! Schau nur was liier liegt! Der liebe Gott hat uns nicht verlassen. Wir sind reich!“ Da nahmen der Trödler und seine Frau die Dukaten, reinigten eine Münze nach der anderen, und taten sie in einen Beutel. Den Allen aber verbrannten sie so sorgfältig, daß kein Härchen übrigblicb. Am nächsten Morgen kaufte die Frau des Trödlers gleich neue Kleider für sich und ihre Kinder. Und neues Feiertagsgeschirr und all die Zutaten für die Speisen, so, wie es die Thora verschreibt. Der nächste Tag war wohl der glücklichste im Leben des Pinkas. Sein Haus war nicht wiederzuerkennen. Für einen kleinen Teil der Dukaten hatte er neue Möbel gekauft, und alles strahlte in festlichem Glanz. Während Pinkas in der Synagoge war, bereitete seine Frau das Feiertagsessen vor, und als der Hausherr nach Hause kam, setzte er sich an die festlich gedeckte T'afel und sprach den Segen. In der Mitte der Tafel stand eine große Schüssel. Darauf lagen Matzen und viele Schüssclchcn verschiedenen Inhalts - ein in der Asche gebratener Knochen, ein gekochtes Ei, eine Mischung aus Äpfeln, Mandeln und Nüssen, Kresse, Meerrettich und gesalzenes Wasser. Jede dieser Speisen sollte symbolisch an die Entbehrungen der Juden während des Auszugs aus Ägypten erinnern. Dann begann Pinkas aus der Haggada - der Passaherzählung - zu lesen. Das Buch war uralt, er hatte cs von seinem Vater geerbt und dieser wieder von seinem Vater. Und seine Kinder hörten zu und stellten die bei diesem Fest vorgeschriebenen Fragen. ] 156 [

Auf einmal wurden sic durch ein Klopfen unterbrochen. Der Graf, den niemand er- wartet hat, betrat die Stube. Er blickte sich erstaunt um. „Ich wollte sehen“, sagte er, „wie du dieses Jahr Passah feierst, aber einen solchen Überfluß habe ich nicht erwartet.“ Da sagte Pinkas: „Der Himmel selbst hat mir geholfen. Der Name des Herrn sei gepriesen!“ Und er erzählte dem Grafen, was sich zugetragen hatte. Der Graf hörte staunend die Geschichte vom toten Affen und den Dukaten und fragte: „Hatte der Affe ein Halsband?“ Pinkas nickte und beschrieb cs. Da lachte der Graf und sagte: „Das ist die unglaublichste Geschichte, die ich je gehört habe. Und sie ist wahr! Lieber Pinkas, der Affe, der dir zu deinem Reichtum verhelfen hat, hat noch vor wenigen Tagen auf meiner Schulter gesessen. Das arme Tier hatte scheinbar zugesehen, wie ich, um Dukaten auf ihre Echtheit zu prüfen, hineinbiß. Es muß wohl geglaubt haben, ich verzehre einen besonderen Leckerbissen. Und er hat es dann selbst versucht, der arme Kerl. Ich wundere mich nicht, daß er daran eingegangen ist. Und wenn mein Diener dir nicht diesen Schel- menstreich gespielt hätte, wärst du nicht zu deinem Schatz gekommen!“ Der ehrliche Pinkas war außer sich und holte gleich den Beutel mit den Dukaten, aber der Graf schüttelte ablehnend den Kopf. „Nein, lieber Pinkas, ich will das Gold nicht zurück. Gewiß, ich war oft verstimmt, weil du immer nur Gott gedankt hast, w'enn ich dir ein Geschenk gab. Aber - du hattest recht. Mein Geld läuft auch ohne mein Zutun zu dir, es ist wohl der Wille Gottes.“ Der mit Dukaten gefüllte Affe brachte dem Trödler in der Prager Judenstadt auch weiterhin Glück. Bald wurde er ein geachteter Geschäftsmann. Er mußte den Grafen nie wieder um ein Almosen bitten, und sie trafen einander nur dann, wenn er Lust ver- spürte, sich mit dem schriftkundigen Juden zu unterhalten. Aber seine einstige Not vergaß Pinkas nie. Er kümmerte sich um das Wohl der Bedürftigen und blieb so fromm und rechtschaffen wie vorher. Nach einiger Zeit wurde er zum Vorsteher der Prager jüdischen Gemeinde gewählt. Er versah dieses Amt mit Umsicht und Gerechtigkeit, und an seinem Lebensabend ließ er eine Synagoge bauen. Die berühmte Prager Pinkas- synagoge steht noch heute. 1 158 [
Hütet euch vor dem Wolf Die Tiere führten Klage ge- gen den Wolf. „König“, sprachen sie zum Löwen, „mit dem Wolf kann man nicht leben. Überall hinterläßt er Verderben, Tod und Tränen. Hilf uns, großer Herrscher!“ König Löwe wurde zornig und blickte den Wolf strafend an. Er sprach: „Zwei Jahre lang wirst du kein lebendes Geschöpf mehr tö- ten, sondern dich nur von Tieren ernähren, die du tot auf- findest.“ Da schwur der Wolf feierlich, zwei Jahre lang kein Lebe- wesen zu töten, und verließ sichtlich zerknirscht das Gericht. Es dauerte indes nicht lange und der Wolf begegnete einem friedlich weidenden Lämmchen. Da bekam er solchen Appetit auf frisches Blut, daß ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Der Wolf zerbrach sich den Kopf, wie er den Eid umgehen könnte und hatte einen Einfall. Was ist eigentlich ein Jahr? dachte er. Ein Jahr, das sind dreihundertfünfundsechzig Tage. Und was ist ein Tag? Nun, es ist Tag, wenn es hell ist, wenn ich sehe. Wenn ich nichts sehen kann, ist es Nacht. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich nichts, daher ist es Nacht. Und wenn ich sic wieder öffne und sehe - ist es Tag. Da begann der Wolf die Augen schnell auf- und zuzumachen und zählte dabei: „Aufmachen, zumachen - ein Tag. Aufmachen, zu- machen - zwei Tage.“ Und er fuhr in dieser Tätigkeit fort, bis er sicbcnhundcrtdreißig Tage gezählt hatte, also volle zwei Jahre. „König Löwe, ich habe meinen Eid gehalten!" rief der Wolf fröhlich aus. „Zwei Jahre sind vergangen und ich habe kein einziges Lebewesen getötet!“ Dann stürzte sich der Wolf auf das sorglos weidende Lamm und fraß es auf. 1 159 [
Der Streit der Bäume Die Bäume des Waldes lachten ihre Verwandten, die Obstbäume aus. „Ihr seid so klein“, sagten sie. „Ihr duckt euch in der Ebene, und wenn der Wind weht, hört man euch nicht rauschen. Schaut nur, wie stark und hochgewachsen wir sind, und wie schön unsere Zweige rau- schen!“ „Das ist kein Grund zum Prahlen“, entgegneten die Obst- bäume. „Wir wachsen zwar bescheiden in der Ebene und unsere Kronen lassen sich mit den euren nicht vergleichen, aber die Menschen schätzen uns mehr als euch. Sie hegen und pflegen uns, weil wir ihnen wohlschmeckendes Obst schenken. Ihr aber macht nichts anderes, als euch zu bewundern, sonst nichts. Was nützt euch eure Schönheit, wenn niemand eure Früchte begehrt ?“ ] 160 [
SIEBTES LICHT Von den Chassidim -Besondere Juden unter allen anderen - ] 161 [
Das Chanukkalicht In Mcsibosch lebte vor vielen Jahren ein frommer Mann, Rabbi Baruch. Er war der Enkel des Beseht, wie man den ruhm- reichen Baal Schern Tov nannte. Auch Rabbi Baruch war ein Zaddik wie es sein Groß- vater gewesen war. Ein Zaddik, das ist ein wahrhaft Frommer und ein Wundertäter. Die Worte Baruchs stiegen hinauf bis zu Gottes Thron, denn Baruch führte Zwiege- spräche mit Gott und diente seinem Schöpfer mit Gesang und Tanz. Wenn Baruch be- tete, erzitterten alle sieben Himmel, und wenn er frohlockte, frohlockten die Engel. Menschen von nah und fern strömten zu Rabbi Baruch, und jene, die sich um ihren Zaddik scharten, nannte man seit den Tagen des Beseht Chassidim. Rabbi Baruch aber war sei- nen Chassidim ein treuer Helfer und Ratgeber. Er verstand es, so fesselnd von den Geheimnissen der Thora, dem heiligen Gesetz- buch der Juden, zu erzählen, daß die Knaben atemlos an seinen Lippen hingen, um ja nichts zu versäumen. In Rabbi Baruch glühte ein göttlicher Funke, der seine Seele und die seiner Schüler zu einer hellen Flamme entzündete. Rabbi Baruch liebte seine kleinen Schüler, aber Jisruel, den Sohn eines armen Schmiedes, liebte er am meisten. Es gab keinen aufgeweckteren Schüler als den kleinen Jisruel, ihn erfüllte Begeisterung für die heilige Sache, und seine Augen leuchteten wie die eines Sendboten Gottes. Einmal, es war im Herbst, wollte Jisruel seinen Vater besuchen. Rabbi Baruch trennte sich nur ungern von seinem Lieblingsschüler, aber der Knabe versprach, zu Chanukka, dem Lichterfest, zurück zu sein. Da segnete ihn der Zaddik und Jisruel machte sich auf den Weg. Die drei Monate, die Jisruel bei seinem Vater verbrachte, waren schnell vorbei, und der Winter war gekommen. Es war viel Schnee gefallen, und Jisruel spannte die Pferde vor den Schlitten, um zu seinem Zaddik zurückzukehren. Es war zwei Tage vor Chanukka und der Knabe freute sich schon auf den festlich gedeckten Tisch, wo er an der Seite Rabbi Baruchs zu sitzen pflegte. Der Schlitten flog über die Schneedecke dahin, und Jisruel hielt erst in der Dämmerung vor einem großen Gasthof an. ] 162 [
Aber bevor er die Pferde ausspanntc, fiel ihm ein, daß er die Nacht durchfahren könnte, um schon zum Morgengebet bei Rabbi Baruch zu sein. Jisruel war müde und die Kälte drang in seine Knochen, er sehnte sich nach einem warmen Bett, aber die Vorstellung, den geliebten Lehrer schon am Morgen wiederzuschcn, gab ihm Kraft. Jisruel ließ daher die Peitsche knallen und fuhr weiter, während die Lichter des Gasthofs hinter ihm ver- schwanden. Unterdessen war es Nacht geworden. Jisruel sah weder nach rechts noch nach links und trieb die Pferde zur Eile an. Ein Sturm brach los, und die Laterne, die ihm leuchten sollte, erlosch. Da wußte Jisruel nicht mehr, wohin ihn die Pferde trugen. Auf einmal wieherten sie laut auf, und der Schlitten stand still. Bevor Jisruel begriff, was geschehen war, packten ihn rauhe Fäuste. Räuber, die in diesem Teil des Waldes hausten, hatten ihn überfallen. Sie hielten Jisruel für den Sohn eines reichen Kaufmanns und begannen, den Schlitten und den Knaben zu durchsuchen. Aber zu ihrer Enttäuschung fanden sie nichts - kein Geld, keine Ware. Als sic das Kind umbringen wollten, meinte der äl- teste Räuber: „Laßt ihn leben, vielleicht sollte er einen Schatz ausgraben. Bringen wir ihn lieber zu unserem Hauptmann, der wird seine Zunge lösen!“ Die Räuber lachten, und nachdem sic ihm die Augen verbunden hatten, setzten sie Jisruel auf den Schlitten. Der Knabe bedauerte nun, die Nacht nicht im sicheren Gasthof verbracht zu haben. Die Räuber trieben die Pferde immer tiefer in den Wald hinein, und an eine Flucht war nicht zu denken. Endlich hielt der Schlitten. Jemand nahm Jisruel die Binde von den Augen und er erblickte eine große, von Bäumen umstandene Hütte. Nach einer Weile trat ein in Pelze gehüllter Mann aus der Hütte. Ihm fehlten vier Finger an der linken Hand und über seine Stirne zog sich eine tiefe Narbe. „Ich bin der Hauptmann“, sagte er mit rauher Stimme. „Und ich will wissen, wohin du fährst und was du hier tust." Da erzählte Jisruel, daß er kein Kaufmannssohn, sondern Schüler des Zaddik von Mcsibosch sei. „Ich wollte die Nacht durchfahren, um schon am Morgen bei ihm zu sein. Ich habe ihm versprochen, zu Chanukka zurückzukommen.“ Der Haupt- mann aber herrschte den Knaben an: „Mitten in der Nacht fährt man nicht einmal im Sommer, geschweige mitten im Schneesturm. Heraus mit der Wahrheit! Wo ist der Schatz vergraben?“ Da erwiderte Jisruel: „Für mich gibt es keinen größeren Schatz als den Reichtum, den Rabbi Baruch in seinem Herzen trägt. So glaubt mir doch, ich sehne mich nach seiner Nähe, deshalb bin ich in der Nacht gefahren. Wer den Zaddik einmal gesehen hat, sieht die Welt mit anderen Augen. Wer seine Stimme nicht gehört hat, ist taub.“ Diese unverständlichen Reden verwirrten den Hauptmann und er wurde zornig. Er züchtigte den Knaben mit der Peitsche und versuchte vergebens herauszubringen, wo der angebliche Schatz vergraben war. Jisruel aber sprach nur von der Kraft der Ge- danken seines Rabbiners und von den Wundern, die dieser getan hatte. Da wurde der ] 163 [
Räuberhauptmann cs müde, ihn zu schlagen. „Wahrscheinlich bist du verrückt“, sagte er. „Mit solchen Leuten gebe ich mich nicht ab. Ich lasse dich laufen, aber überall lauem hungrige Wölfe. Lebend kommst du aus diesem Wald nicht heraus!“ Die Räuber setzten Jisruel wieder auf seinen Schlitten und fuhren ein Stück Wegs mit ihm. Dann verschwanden sic so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren. Jisruel war allein. Ringsum standen hohe Bäume und überall lag Schnee. In der tiefen Stille des Waldes hörte er das Heulen der Wölfe. Die Dunkelheit fiel herein, und mit ihr rückte der Beginn des Chanukkafestes näher. Jisruel stiegen die Tränen in die Augen. „Was wird jetzt aus mir? Wie komme ich nur aus diesem schrecklichen Wald hinaus?“ schluchzte er. Während Jisruel verzweifelt an seinen geliebten Lehrer dachte, hatte der Rabbi schon 1 164 [
seine Schüler zum Chanukkafest um sich geschart. Ein Platz an der Tafel aber war leer. Jisruel ist nicht gekommen4, dachte der Rabbi traurig. ,Hat er sein Versprechen ver- gessen oder ist ihm etwas zugestoßen?4 Nachdenklich trat der Zaddik zu dem achtar- migen Chanukkaleuchtcr, und zündete die erste Kerze an, die Jisruel hätte anzünden sollen. In diesem Augenblick begann das Licht zu flackern und verlosch. Die Schüler sprangen erschrocken auf, einer von ihnen versuchte, die Kerze wieder anzuzünden, aber Rabbi Baruch gebot ihm Einhalt. Der Zaddik stand hochaufgerichtet an seinem Platz an der Tafel, bleich und gesammelt, mit abwesendem Blick. Plötzlich erhellte sich sein Antlitz. Er lächelte und sagte: „Kommt, wir wollen feiern und nicht traurig sein. Ich weiß, daß das Licht zurückkehrt.“ Zu dieser Zeit stand Jisrucls Schlitten noch immer am gleichen Platz, wo ihn die Räuber verlassen hatten. Zusammengekauert saß er auf dem Bock und lauschte dem Heulen der Wölfe, das immer näher zu kommen schien. Die Pferde zitterten und bäumten sich auf, aber der Knabe betete mit geschlossenen Augen. Auf einmal fühlte er eine zarte, warme Berührung. Er richtete sich auf und öffnete die Augen. Da sah er ein Flämmchen. Es sah aus, als hielte eine unsichtbare Hand eine unsichtbare Kerze. Das Flämmchen begann vor dem Schlitten hin- und herzuranzen und cs verlosch nicht, obgleich ein starker Wind blies. Da beruhigten sich die Pferde, sie setzten sich in Bewegung und folgten dem Licht. So klein cs auch war, leuchtete es heller als eine Fackel, und die Wölfe, die schon nah an den Schlitten herangekommen waren, ergriffen die Flucht. Endlich öffnete sich der Wald ins flache Land, und der Schlitten glitt leicht über die Schneedecke. Er flog nur so dahin, und das Licht schwebte vor ihm her wie ein leuchtender Stern. Bald waren sie vor dem Haus des Zaddik angelangt. Jisruel sprang vom Schlitten, und in dem Augenblick, als er die Stube betrat, begann die erloschene Kerze am Leuchter wieder zu brennen. Die Schüler waren vor Staunen verstummt, aber Rabbi Baruch zeigte keine Verwunde- rung. Er umarmte Jisruel und der Knabe mußte erzählen, was ihm widerfahren war. Jetzt erst begriffen die Schüler, was es für eine Bewandtnis mit dem Chanukkalicht gehabt hatte. Sic dankten Gott für Jisruels Rettung und priesen die Weisheit Rabbi Ba- ruchs, der ihr Zaddik war. Und immer, w*enn Jisruel in späteren Jahren die Chanukkalichtcr anzündete, vermeinte er den warmen Hauch des Flämmchens zu spüren, das ihn gerettet hatte. ] 165 [
Der Bock mit den Menschenaugen Unweit der Stadt Kotsk lebte einst ein Strumpfstricker namens Leib. Täglich stand er beim Morgengrauen auf, um bis Mittag drei Paar Strümpfe zu stricken, die er dann auf dem Markt verkaufte. Danach kaufte er Wolle, um bei Tagesanbruch wieder mit dem Stricken zu beginnen. So ging es Tag für Tag, Jahr für Jahr, Leib hatte für nichts anderes Zeit, und so war er voll- kommen unwissend, er konnte weder lesen noch schreiben und die Thora kannte er nur vom Hörensagen. Ixib war das nicht gleichgültig, er grämte sich darüber: „Ich bin schon alt“, sagte er sich. „Bald werde ich vor Gottes Thron stehen und am 'l ag des Gerichts nicht einmal mein Urteil lesen können.“ Eine Freude jedoch hatte der arme alte Leib - seine Tabakdose, angefüllt mit gutem Tabak. Wenn er während der Arbeit Tabak in sein Pfeifchen stopfte und zu schmauchen begann, sah die Welt gleich rosiger aus, und die Arbeit ging ihm dann flott von der Hand. Jede W’oche kaufte Leib von seinem kärglichen Verdienst frischen Tabak. Einmal kehrte er des Abends wieder mit seiner vollen Tabakdose heim, und es war ihm wohl ums Herz. Er freute sich, daß er seine Strümpfe gut verkauft hatte, und er freute sich schon auf sein Pfeifchen, das er gemütlich zu rauchen gedachte. Unterwegs lächelte Leib dem Mond freundlich zu, und sogar seine Unwissenheit quälte ihn nicht so sehr wie sonst. Bald aber sollte diese zufriedene Stimmung in tiefste Verzweiflung Umschlägen. Kaum war Leib nach Hause gekommen, als er in seine Rocktasche griff, um die Tabakdosc herauszuholen. Aber sie war verschwunden. Leib lief gleich auf die Straße und suchte mit der Laterne jeden Fußbreit ab, den er gegangen war, aber alles war vergeblich: Die Tabakdose war fort. Da brach der alte Strumpfstricker in Tränen aus. „Mein Gott“, schluchzte er, „was haben wir Juden für ein schweres Leben! Den Tempel in Jerusalem hat man uns zerstört, aus dem Heiligen Land haben wir uns in die Fremde zerstreut, und hier müssen wir Leid und Erniedrigung ertragen. Nur eine einzige Freude ist uns geblieben: die heilige Thora. Aber ich kann sie nicht lesen! Mein Leben lang habe ich nur gestrickt und meine 1 166 [
Strickware verkauft. Für nichts anderes langte meine Zeit. Meine einzige Freude war das Rauchen. Was habe ich getan, daß du sie mir genommen hast? Mein Gott, warum hast du mir das angetan?“ Leib weinte und klagte, er wanderte ziellos hin und her. Er stolperte über Ackerland und Waldwege, bis er auf einer Lichtung zu Boden sank. Seine Füße trugen ihn nicht mehr, und sein Herz wollte brechen. Auf einmal hörte er ein lautes Stampfen. Die Erde wankte und schwankte wie ein Schiff auf hoher See, Leib fiel auf den Rücken und verlor das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, wußte er nicht, ob er wachte oder träumte. Über ihm stand ein riesiger Bock. Seine Beine waren länger als die höchsten Bäume, sein Körper ragte empor wie ein Wall. Die riesigen Hörner berührten das Himmelszelt. Sie berührten die Sterne, die Gott und seine Gnade priesen. Am auffallendsten aber waren die grünen Augen des Bocks. Sie blickten Leib so freundlich und tröstend an, als wären es nicht die Augen eines Tieres, sondern die eines mitfühlenden Menschen. „Was fehlt dir ?“ fragte der Bock den unglücklichen Strumpfstricker. „Was ist dir wider- fahren?“ Da faßte sich Leib ein Herz und erzählte von seinem schweren Verlust. Der Bock wiegte bedächtig den Kopf. „Nichts Ärgeres als das?“ sagte er. „Da kann man leicht Abhilfe schaffen. Ich neige den Kopf zu dir hinab und du kannst von meinen Hörnern so viel abschneiden, wie du für eine neue Tabakdose brauchst.“ Da nahm Leib sein Messer, der Bock neigte das Haupt, und Leib säbelte von einem Hom so viel ab, wie er brauchte. Die Spitze paßte genau in seine Rocktasche. Am nächsten Tag stopfte Leib sein Pfeifchen mit frischem Tabak aus der neuen Dose. Er machte einen tiefen Zug, dann noch einen, er rauchte ein Pfeifchen und noch ein zweites, aber der Tabak wurde nicht weniger. Das war eine wunderbare Sache, noch wun- derbarer freilich war der Duft des Tabaks. In der neuen Dose hatte er sich verändert. Leib hatte das Gefühl, den Weihrauch aus Salomons 'Tempel einzuatmen - noch nie hatte er solche Wohlgerüche verspürt. Das größte Wunder jedoch war die Veränderung, die mit Leib selbst vor sich ging. Sein Geist öffnete sich. Je mehr er rauchte, desto mehr Wissen wurde ihm eröffnet. Und Leib nahm alles begierig auf, die Tabakdose war sein Lehrer, der sein Wissen in den Duft des Tabaks kleidete. Und jeder Zug war eine Lehre, ein Fenster in die Geistcswelt der heiligen Schrift. Die Kunde von der wundertätigen Tabakdosc des Strumpfstrickers Leib hatte sich bald herumgesprochen. Jeder wollte wissen, wie und wo er sie gefunden hatte, Arme und Reiche wollten gleichfalls so eine Dose besitzen. Tag und Nacht hämmerten die Nach- barn an das Fenster des Strumpfstrickers, und Leib konnte nicht aus dem Hause gehen, ohne daß die Leute ihm folgten. Eines Tages hielt er das Schweigen nicht mehr aus. Er verriet sein Geheimnis und beschrieb den Ort, wo er den Bock mit den Menschenaugen getroffen hatte. Als Leib am nächsten Tag auf den Markt ging, um seine Strümpfe zu verkaufen, cr- 1 167 [
wartete ihn eine Überraschung. An der Schwelle seines Hauses saß der Gerber Jäkel und schmauchte zufrieden sein Pfeifchen. Und er winkte ihm mit der gleichen Tabak- dose, wie sie Leib besaß. Am nächsten Tag war es der Böttcher Pinchesl, dem der Zauber- bock ein Stückchen von seinen Hörnern geschenkt hatte, und schließlich konnte auch der Schneider Dow seine Pfeife mit Tabak aus einer solchen Dose stopfen. Jeden Morgen freute sich ein anderer am paradiesischen Duft des Tabaks, und mit dem Duft, der die ganze Umgebung Kotsk erfüllte, wuchs auch die Weisheit der dort lebenden Juden. Leib lebte wie bisher, aber etwas hatte sich geändert. Man besuchte ihn, wie man einen weisen .Mann besucht. Leib strickte seine Strümpfe und unterhielt sich dabei mit den Chassidim über wichtige Fragen der Lehre. Denn Leib wußte schon mehr als so mancher Rabbiner und löste schwierige, spitzfindige Fragen. Jedoch auf eine Frage hatte er noch keine Antwort gefunden. „Was hatte es mit dem Bock für eine Bewandtnis ? Wieso ström- te die Tabakdose aus seinem Horn soviel Weisheit aus, daß die Raucher zu Schriftge- lehrten wurden ? Und was bedeutete der Ausdruck tiefster Menschlichkeit in den grünen Augen des Bocks?“ Leib mußte immer an das Wundertier denken, und allen anderen, die es erblickt hatten, ging es ebenso. Der Bock hatte ihr Leben von grundauf verändert. Auch in ihren Tabakdosen wohnte die Zaubermacht des geheimnisvollen Lehrers, so daß sie alle Gottes Gebote verstanden. Einige Monate waren vergangen, und Jom Kippur, der Versöhnungstag, der heiligste Tag des Jahres, stand vor der Tür. Da verbreitete sich die Kunde, daß der Bock mit den grünen Augen verschwunden sei. Schon seit einigen Tagen war er an der gewohnten Stelle nicht mehr erschienen, und jene, die Hom für eine Tabakdose wollten, mußten enttäuscht nach Hause gehen. „Wo ist der Bock?“ fragten sie den Strumpfstricker. „Dir ist er zuerst erschienen. Weißt du nicht wo er ist ?“ Aber Leib schüttelte nur den Kopf. Lange konnte er keinen Schlaf finden, und als er endlich die Augen schloß, hatte er einen Traum. Er erblickte einen kleinen Raum, fast wie die Klause eines Einsiedlers, in dem ein alter Mann stand. „Leib“, sprach der alte Mann, „morgen in aller Frühe mache dich auf den Weg und suche Rabbi Menachem Mendel auf. Der wird dir sagen, wo der Bock ist.“ Am nächsten Morgen strickte Leib zum ersten Mal keine Strümpfe. Er war bei Tages- anbruch aufgestanden und wanderte nach Kotsk. Unterwegs machte er sich Sorgen: ,Rabbi Menachem Mendel ist ein Wunderrabbi, ein Zaddik, ein Heiliger*, überlegte er. ,Was, wenn er mich nicht empfängt ? Ich kann ihm doch nicht sagen, daß ich nur deshalb gekommen bin, weil ich einen seltsamen Traum hatte?* Am späten Nachmittag klopfte Leib an Rabbi Menachems Tür. Der Zaddik selbst öfihcte und Leib erstarrte vor Staunen, denn vor ihm stand der alte Mann, den er im Traum gesehen hatte. Er trug den gleichen Kaftan und das gleiche Samtkäppchen, sogar seine Stimme war die gleiche! „Du bist der letzte**, sagte Rabbi Mendel, als ob Leib ein J168[

alter Bekannter wäre, der seinen Besuch angesagt hatte. „Tritt ein!“ Verwirrt betrat Leib die dunkle Stube. Dort erkannte er lauter bekannte Gesichter: den Gerber Jäkel, den Böttcher Pinchesl und den Schneider Dow. Alle, die vom Bock mit den Menschen- augen Horn für eine Tabakdose bekommen hatten! Leib nahm Platz. ,Was soll das bedeuten?* überlegte er. ,Haben wir alle vielleicht den gleichen Traum gehabt?* Er wollte schon fragen, traute sich aber nicht, die Stille zu unterbrechen. JEs schickt sich nicht, seine Neugier zu zeigen*, dachte er. Dann griff er in die Rocktasche, zog die Tabakdose heraus und stopfte sein Pfeifchen. Er machte einen Zug, und da zündete auch Jäkel seine Pfeife an, und nach ihm Pinchesl und Dow. Rauch- schwaden, die dufteten wie Weihrauch aus Salomons Tempel, durchzogen den kleinen Raum. In diesem Augenblick vermittelte ihnen der unsichtbare Lehrer mehr als talmu- disches Wissen, er begleitete ihre Seelen zum Himmel, damit sic dort in der himmlischen Akademie lernen konnten. Leib vergaß Zeit und Raum. Er hatte vergessen, weshalb er zu Rabbi Menachem Mendel gekommen war, er wußte nicht mehr, ob es Tag war oder Nacht. Stunden vergingen und niemand sprach ein Wort. Auf einmal verflogen die Rauchschwaden, der Zauber schwand, und der Zaddik sagte: „Die Leute wollen von euch wissen, wo der Bock ist. Sie hoffen, daß er auch ihnen ein Stück von seinen Hörnern gibt. Ihr aber, die ihr nun mehr wißt als gewöhnliche Sterbliche, sollt die Wahrheit erfahren. Der Bock kann nichts mehr geben. Seine Hörner berühren das Himmelszelt nicht mehr. Er hat sie bis zum letzten Stückchen verschenkt.“ Leib blickte auf und sah, daß der Zaddik die gleichen grünen Augen besaß wie der Bock: Der Zaddik selbst war der Bock, der unsichtbare Lehrer, der die Gebeugten auf- richtete und die Unwissenden belehrte! „Rabbi!“ rief Leib aus und auch die anderen Beschenkten hatten den Bock erkannt. Sie sprangen auf und eilten zum wundertätigen Zaddik. Dieser aber wich mit abwehrender Geste zurück. „Was ich geben konnte, habe ich gegeben, was ich euch lehren konnte, habe ich euch gelehrt“, sagte er mit müder Stimme. „Jetzt ist es an euch weiterzugeben, was ihr empfangen habt!“ Dann reichte er jedem der Männer schweigend die Hand, und als seine Besucher fortgegangen waren, schloß er sich ein. Seit dieser Zeit soll Rabbi Menachem Mendel mit niemandem mehr gesprochen haben. Er lebte und starb in selbstgewählter Einsamkeit. ] DO [
Wie Feiwel auszog, um sich selbst zu suchen Feiwcl, der Chassid, lebte einst im pol- nischen Städtchen Piysha. Er trug einen zerrissenen, nach Tabak und Zwiebel duften- den Kaftan, den Streimel - eine Pelzmütze mit Zobelschwänzen auf dem Kopf - und sorgfältig gerollte Schläfenlocken. Es waren die schönsten Schläfenlocken in Piysha und Feiwel war sehr stolz darauf. Sein größter Stolz aber war sein Wissen. Im Lehrhaus von Pzysha saß er oft Tag und Nacht. Die anderen Chassidim kamen erst nach getaner Arbeit. Der Trödler, der Schuster und der Fuhrmann harten harte, von der Arbeit geschwärzte Finger, Feiwcls Hände aber waren zart und weich. Nie hatten sie etwas anderes berührt als seine Schläfenlocken und die Seiten der gelehrten Bücher. Oftmals tat Feiwel so, als hätte er sie selbst ge- schrieben. Feiwel war eingebildet auf sein Wissen, in Wirklichkeit aber war er ein Wirrkopf. Was er am Morgen gelesen hatte, hatte er am Abend schon wieder vergessen. Beim Tal- mudstudium brachte er alles durcheinander und über einem Lehrbuch vergaß er das andere. Wenn Feiwel an den gelehrten Gesprächen der anderen Chassidim tcilgenommen hätte, wäre ihm vielleicht klar geworden, wie leer sein Kopf war. Feiwel aber w’ar am liebsten allein. Auch im Lehrhaus rückte er von den anderen ab und sprach kein Wort. Er war fest überzeugt, daß er die Thora, das heilige Gesetzbuch der Juden, am besten von allen verstand. So vergingen Wochen, Monate und Jahre, und der Chassid Feiwel freute sich, was für ein weiser Mann er war. Etwas aber beunruhigte ihn. Wenn er morgens erwachte und sich anzichen wollte, konnte er seine Kleider nicht finden. Er wußte einfach nicht mehr, w’ohin er den Kaftan und den Streimel gelegt harte, und wenn er schon den rechten Schuh gefunden hatte, hatte sich der linke versteckt, und hatte er glücklich beide Schulte, waren die Schnürsenkel fort. „Nun“, tröstete sich Feiwel „große Gelehrte pflegen eben zerstreut zu sein. Ihr Geist weilt oft im Himmel und alltägliche Dinge sind ihnen fremd.“ 1 171 [
Einmal aber hatte sich alles gegen Feiwel verschworen. Zuerst war seine Brille ver- schwunden, und als er sie endlich gefunden hatte, kannte er sich nicht mehr aus, was oben und was unten war. Federbett, Bücher, Kleider und Schuhe, alles lag auf einem Haufen. Als Feiwel seine Kleider hcrausgesucht hatte, war es schon Mittag, und das Herz tat ihm weh, wenn er an die versäumten Stunden dachte. „Nein“, beschloß Feiwel, „so geht das nicht mehr weiter. Heute abend schreibe ich auf einen Zettel, wohin ich meine Sachen gelegt habe, schiebe den Zettel unter das Kissen, und am Morgen werde ich nichts mehr suchen müssen.“ Kaum war Feiwel des Abends heimgekehrt, tat er, was er sich vorgenommen hatte. Er kleidete sich aus und schrieb mit großen Buchstaben auf einen Zettel: Der Kaftan ist auf dem Sessel, der Streimel ist auf dem Tisch, die Schuhe sind unter dem Bett, und ich bin im Bett. Dann schob er das Papier unter das Kissen und schlief beruhigt ein. Bei Tagesanbruch erwachte Feiwel frohen Mutes. Er fand den Zettel unter dem Kissen und sprang aus dem Bett. „Der Kaftan ist auf dem Sessel“, las er. Er nahm den Kaftan, zog ihn an und las weiter: „Der Streimel ist auf dem Tisch.“ Auch der Streimel lag dort, wo er sein sollte, und die Schuhe waren wirklich unterm Bett. „Ich bin im Bett“, las Feiwel die letzte Zeile und schaute auf das ungemachte Bett. Feiwel erbleichte: nie- mand lag darin. ,Kcin Chassid studiert fleißiger als ich*, dachte Feiwel entsetzt. ,Ich bin der gelehrteste von allen. Wenn ich mit eigener Hand aufgeschrieben habe, wo meine Kleider sind, und sie waren wirklich dort, ist das in Ordnung. Denn die Worte eines Schriftgelchrten sind Gesetz. Aber mich selbst habe ich im Bett nicht gefunden, und das bedeutet../. Feiwel erfaßte solches Grauen, daß er nicht zu Ende zu denken wagte,,... das bedeutet, daß ich über Nacht verloren gegangen bin!* An diesem iMorgcn kam Feiwel nicht in die Talmudschule und auch am Abend saßen die anderen Chassidim allein. In den nächsten Tagen blieb er verschwunden, und nie- mand wußte, daß Feiwel ausgezogen war, um sich selbst zu suchen. Feiwel wanderte durch Felder, Wälder und unbekannte Dörfer, er ging, wohin ihn seine Füße trugen. Bald knurrte sein Magen vor Hunger und Feiwel machte sich Sorgen: ,Was soll ich nur tun, wenn mich niemand zum Essen einlädt ? Zu Hause hat sich meine Frau um meinen Magen gekümmert, aber unter freiem Himmel werde ich bald Hungers sterben. Und wenn ich sterbe, kann ich mich nicht finden! Wie soll ich dann vor den himmlischen Richter treten ? Ein Mensch, der sich selbst verloren hat, ist im Himmel unerwünscht!* Da riß ihn der Anblick eines schönen Hauses mit einem großen Garten aus seinen trü- ben Gedanken. ,Da wohnt sicher ein Reicher*, dachte er. »Hoffentlich nimmt er sich meiner an.* Feiwel klopfte an die Tür und bat um Speise und Nachtlager. „Du hast Glück“, sagte der reiche Mann, „du kommst wie gerufen. Wenn du willst, kannst du bei mir Speise und Nachtlager verdienen.“ 1 U2 [
„Womit?“ fragte Fciwel mißtrauisch. Da führte ihn der Mann in den Stall. An der Krippe stand ein prächtiger Schimmel. „Dieses kostbare Pferd habe ich heute gekauft“, sagte der Mann. „Ich habe ihm einen neuen Stall mit einer festen Türe bauen lassen und brauche einen Wächter, damit man cs nicht stiehlt. Willst du diese Arbeit versehen ?“ Fciwel nahm nach kurzer Überlegung das Angebot an. ,Es ist nicht schwer, das Pferd zu bewachen*, dachte er. ,Ich kann dabei sitzen und nachdenken, wie ich mich finden könnte, ich bekomme mein Essen und habe ein Nachtlager.* Nach einem ausgiebigen Abendbrot hüllte sich Fciwel in eine warme Decke und setzte sich vor die Stalltüre. Während Feiwcl vor dem Stall saß und sich seinen Gedanken hingab, konnte sein Herr keinen Schlaf finden. Er befürchtete, jemand könnte den kostbaren Schimmel steh- len, und gegen .Morgen hielt er es auf seinem Lager nicht mehr aus. Er stand auf und schlich sich in den Stall. Alles war in Ordnung, das Pferd war da, aber Feiwel hatte nicht bemerkt, daß sein Herr hinein- und hinausgegangen war. „He!“ rüttelte er ihn an der Schulter. „Schläfst du?“ „Keine Spur!“ rief Feiwel. „Ich denke nach, Herr.“ „Worüber?“ fragte der Mann argwöhnisch. „Nun“, erwiderte Feiwel bedächtig, als lege er jedes Wort auf die Goldwaage. „Wenn man einen Nagel ins Holz schlägt, wohin kommt wohl das Holz, das vor dem Loch da ] 173 [
war ?“ Da wunderte sich der reiche Mann, denn über solche Dinge hatte er noch nie nachgedacht. „Das sind närrische Sachen“, sagte er, „aber ich habe dich nicht zum Grü- beln angestellt, sondern damit du mein Pferd bewachst. Nimm dir das zu Herzen!“ Feiwel nickte, und am nächsten Tag nahm er sich vor, den kostbaren Schimmel gut zu bewachen. Aber des Nachts machte sich der Reiche wieder Sorgen um sein Pferd, und er schlüpfte unbemerkt in den Stall. Als er sah, daß Feiwel sich nicht rührte, sagte er barsch: „Gestern habe ich dir befohlen, besser aufzupassen, und heute hast du mich nicht einmal angchaltcn.“ „Ich kann wirklich nichts dafür“, redete sich Feiwel heraus. „Ich bin ein Mensch, der dauernd über etwas nachgrübeln muß. Gerade zerbreche ich mir den Kopf darüber, wo das Wachs hinkommt, wenn die Kerze abbrennt.“ „Zerbrich dir lieber den Kopf über mein Pferd“, sagte der reiche Mann. „Ich brauche keinen Klugschwätzer, sondern einen Wächter. Wenn ich dich noch einmal ertappe, kannst du gehen!“ Aber dritten Abend hatte Feiwel wieder gut gegessen und getrunken, und er begab sich auf seinen Platz vor dem Stall. Wieder hüllte er sich in die warme Decke und versank in Gedanken. Alles mögliche schoß ihm durch den Kopf, und ehe er sich’s versah, graute der Morgen. Da spürte er die starken Fäuste seines Herrn, der ihn wütend schüttelte. „Du verrückter Kerl!“ schrie er. „Das Pferd ist weg!“ Feiwel wiegte besonnen das Haupt. „Ich weiß, daß es fort ist. Eben denke ich darüber nach, wieso es nicht da ist, wenn der Stall da ist, die Türe da ist, und ich vor der Türe sitze!“ Da stürzte sich der Reiche in einem Anfall von blindem Zorn auf Feiwel. Er riß ihn an seinen Schläfenlocken und trommelte mit den Fäusten auf Feiwcls Rücken herum. Dabei verfluchte er alle Chassidim, diese Haarspalter, Neunmalklugen und Taugenichtse! Die Schläge prasselten nur so auf Feiwel hinunter, sein Körper brannte wie Feuer, und auf einmal schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf: Wenn mich mein Rücken schmerzt, dann muß es doch mein Rücken sein! Und wo mein Rücken ist, da bin auch ich. „Hurra! Ich habe mich gefunden!“ rief Feiwel überglücklich aus, nahm die Berne unter den Arm und lief nach Hause. Seit dieser Zeit war Feiwel ein anderer Mensch. Bevor er in die weite Welt gezogen war, um sich selbst zu suchen, hatte er die anderen Chassidim nicht beachtet. Aber die tüchtige Tracht Prügel hatte ihn aufgerüttelt. Feiwel war erwacht, er sah, daß es auch eine andere Welt gab als die, die er in seinem Kopf trug. Und auf einmal kam er sich gar nicht mehr so gescheit vor. Er begann auch zu arbeiten, wie alle anderen Chassidim in Päysha, und er studierte nicht mehr allein, sondern mit allen zusammen. Sein Gedächtnis war nun nicht mehr so löcherig, die Weisheit der Bücher eröffnete sich ihm. Feiwel begann zu verstehen, was er las, und sein Wissen wuchs. Und nie wieder mußte er ausziehen, um sich selbst zu suchen. 1 174 [
Der Zaddik von Lisensk Wie so viele Städte in Polen hatte auch Lisensk einen Zaddik, den weisen Rabbi Elimelech. Schon zu seinen Lebzeiten pflegte seine Seele in den Himmel zu steigen, um dort gelehrte Gespräche zu führen. Seine Seele war so rein und durchsichtig, daß alle Ereignisse seit der Erschaffung der Welt sich in ihr spiegelten. Rabbi Elimelech wußte, wie Erzvater Abraham ausgesehen hatte, er erinner- te sich an Moses und seinen Stab und an den großen König Salomon. Es gibt Gelehrte, die sich in ihr Wissen hüllen, wie in einen warmen Pelz. Sie schweigen und wärmen sich, und es macht ihnen nichts aus, daß die anderen frieren. Rabbi Eli- melech aber war kein Rabbi im warmen Pelz. Die Wärme seines Herzens war für alle da, die ihrer bedurften. Daher scharten sich die Chassidim von Lisensk um ihren Zaddik wie um einen Ofen im Winter. Seine Schüler waren oft bei ihm zu Gast und verbrachten den Sabbat in seinem Haus. Am wohlsten fühlten sie sich nach dem guten Sabbatessen, da lauschten sic Rabbi Elimelechs weisen Worten und freuten sich, wie nur Chassidim sich zu freuen verstehen. So lebten sie zufrieden und viele Jahre, bis sich eines Tages eine traurige Nachricht in Lisensk verbreitete. Der Minister in der Hauptstadt des großen Reiches hatte beschlos- sen, auch die Juden zum Militär einzuziehen. Er formulierte daher ein Gesetz, das er dem Kaiser zur Unterschrift verlegen wollte. Unter den Juden des großen Reiches begann ein lautes Wehklagen. „Wenn unsere Söhne Soldaten werden, wer soll dann die heilige Thora studieren klagten die Väter. „Anstatt der Gebete werden sie exerzieren, und am Sabbat und an den höchsten Feier- tagen müssen sie tun, was sie nicht tun dürfen. Sie werden unsere Gesetze vergessen und die Sitten und Bräuche ihrer Vorfahren nicht mehr einhalten. Die Juden werden ver- schwinden wie ein Tropfen im Meer.“ Und den Nachkommen Abrahams kam ihr trau- riges Los in der Zerstreuung schmerzlich zu Bewußtsein. Am Tage, als das Gesetz unterzeichnet werden sollte, hatten die Juden Boten zum Kaiser geschickt, um ihn von seinem Vorhaben abzuhaltcn. Der Minister aber verhinderte 1 U5 [
die Audienz, lehnte das angebotene Löscgcld ab, und teilte den Unterhändlern mit, daß der Kaiser das Gesetz über die Wehrpflicht der Juden am Samstag unterzeichnen werde. An diesem Sabbat sah es in der Synagoge von Lisensk aus, als wäre der Tempel zu Jerusalem erst gestern zerstört worden. Die Juden trugen weiße Gewänder, sie beteten und weinten. Nach dem Gottesdienst versammelten sich die Schüler Rabbi Elimclcchs wie üblich zum Sabbatmahl. Sic waren alle anwesend: Jakob Jitzchak, der den alles durchdringenden Blick Elimelechs besaß, Abraham Josua, der von ihm gelernt hatte, gerecht zu urteilen, und Israel aus Kösnitz, der so innig beten konnte wie sein Lehrer. Auf dem Ehrenplatz zur Rechten des Rabbi aber saß sein Lieblingsschüler Mendel. Auf Mendel hatte Rabbi Elimelech die Kraft seines Geistes übertragen, denn ihn hatte er zu seinem Nachfolger bestimmt. ] 176 [
Gitl, die Frau Rabbi Elimelcchs, begann, wie an jedem Sabbat, die Suppe in die Teller zu verteilen. Sie war eine hervorragende Köchin, jede ihrer Suppen strömte paradiesische Düfte aus, und man sagte, die Engel hätten Gitl Gewürz aus dem Paradicsgärtlcin ge- schenkt. Rabbi Elimelcch pflegte Gitls Speisen mit einer Würde zu verzehren, als säße er schon an der Tafel der Gei echten im Paradies. An diesem Sabbat aber rührte er die Suppe nicht an. Er schaute schweigend in den vollen Teller, und auf einmal kehrte er ihn mit einer schnellen Bewegung um, so daß die Suppe auf das Tischtuch floß. Die Schiller erschraken und blickten einander verständnislos an, nur Mendel, der den Rabbi nicht aus den Augen gelassen hatte, flüsterte: „Rabbi, genügt es denn nicht, daß wir zum Militär müssen ? Sollen sie uns auch noch einsperren ?“ Der Rabbi ater schüttelte beruhigend den Kopf . „Keine Angst, Mendel“, sagte er. „Ich hoffe nur, daß genug Suppe da ist.“ Jetzt wurden auch Jakob Jitzchak, Abraham Josua und Israel Kosnitzer un- ruhig. „Worüber spricht nur der Rabbi mit Mendel ?“ fragten sie sich. „Sind alle beide verrückt geworden ?“ Da goß Gitl ihrem Mann einen zweiten Teller Suppe ein, als wäre nichts geschehen. Aber der Rabbi blickte wieder schweigend in die Suppe, als ob er darin etwas suchte. Und dann, als folgte er einem Befehl, kehrte er blitzschnell den Teller um. Da wurde es so still, daß man die Suppe vom Tisch auf den Boden tropfen hörte. Aus Mendels Gesicht wich das Blut, und die anderen Schüler senkten die Köpfe- Sic beteten um den Verstand ihres geliebten Lehrers. Der Rabbi aber tat, als wäre nichts geschehen. Ruhig gebot er seiner Frau, ihm zum dritten Mal Suppe zu geben. Es war nicht mehr viel da, und als Gitl den Teller knapp bis zum Rand gefüllt hatte, blickte der Rabbi schwer at- mend in die Suppe. Er umschloß krampfhaft den Rand des Tellers, aber plötzlich ließ er ihn los. Sein Antlitz heiterte sich auf und Mendel umarmte freudig den Rabbiner. Da rannten die anderen Schüler fort. Sic flohen, als hätte sich die Hölle geöffnet. „Der Zaddik ist verrückt geworden!“ riefen sie. Und in ganz Lisensk wußte man bald, daß zu dem einen Unglück noch ein zweites gekommen war: Rabbi Elimelcch, ihr Zaddik, hatte den Verstand verloren! Indes - Entsetzen herrschte nicht nur in Lisensk, auch im Schloß des Kaisers ging cs zu, als wäre ein Brand ausgebrochen. In dem Augenblick nämlich, als Gitl dem Rabbi den ersten Teller gefüllt hatte, w’ollte der Monarch die Militärpflicht der Juden mit sei- ner Unterschrift bekräftigen. Der Minister hatte die Urkunde aus der ledernen Mappe genommen und vor den Kaiser hingelegt. Der Kaiser tauchte die Feder in das Tinten- faß und - niemand hatte gesehen wie cs geschah - das Tintenfaß kippte um und die Tinte ergoß sich über das Rapier. Der Minister winkte dem Schreiber, der sofort eine zweite Urkunde gleichen Inhalts bereit hatte. Wieder tauchte der Kaiser die Feder in das Tin- tenfaß, und wieder kippte dieses um und ergoß sich über das Papier. Da wurde der Kaiser böse und ungehalten. Der Minister schaffte noch eine dritte Urkunde herbei, aber der I 177 [
Monarch zerriß sie in kleine Stückchen und erklärte, so etwas nicht unterschreiben zu wollen. Schließlich mußte der Minister froh sein, daß die Sache keine üblen Folgen für ihn selbst hatte. Nach einigen Tagen kam ein Bote aus der Hauptstadt nach Lisensk. Er brachte die Nachricht, daß die Juden nicht einrücken mußten und daß sich seltsame Dinge zugetra- gen hätten, als der Kaiser das Gesetz unterschreiben wollte. Unter den Juden herrschte begreiflicher Jubel und die Schüler Rabbi Elimelechs begriffen, weshalb der Kaiser die Urkunde nicht hatte unterzeichnen können. Die ganze Gemeinde versammelte sich vor dem Haus des Rabbiners und seine Schüler baten ihn um Verzeihung. Der Zaddik aber lächelte: „Das tut nichts“, sagte er, „wenigstens Mendel war im Geiste bei mir, und da hatte ich keine Angst mehr vor dem Kaiser.“ Seit dieser Zeit feierte man Rabbi Elimelech als Wunderrabbi. 1 U8 [
Das Suppenhuhn Tn der ukrainischen Stadt Berditschew, dem Sitz des ruhmreichen Rabbi Levi Jitzchak, lebte der zu den Chassidim gehörende Herschl. Er war arm und verlassen, sein einziger Begleiter war die Not, aber Herschi machte sich nichts daraus. „Wozu braucht der Mensch Geld ?“ wiederholte er die Worte seines Rabbiners. „Dazu, damit der Reiche geben und der Arme nehmen kann.“ Und weil dieser Herschl wirklich nichts besaß, ging er von Ort zu Ort, und bat die guten Leute um ein Stück Brot und ein Nachtlager im Stroh. Einmal kam Herschl gegen Mittag zu einem Gasthaus, das einer geizigen Wirtin ge- hörte. Am liebsten hätte sie ihren Gästen die Luft berechnet und die Suppe nur aus Wasser gekocht. Wenn sie ihnen Speisen auf den Teller tat, nahm sie immer noch ein bißchen weg, weil es ihr zuviel erschien. Sie wußte, daß cs weit und breit kein anderes Wirtshaus gab, und daß die Gäste auf sie angewiesen waren. Als Herschl die Türe öfihete, machte die Wirtin ein böses Gesicht. Sie hatte den reichen Kaufmann erwartet, der an diesem Tag vorbeikommen wollte, und nun stand Herschl vor ihr. Draußen goß es in Strömen, und der arme Teufel sah noch armseliger aus, als er es ohnehin war. Die abgeschabte Pelzjacke war ihm zu eng, so daß er sie nicht zuknöpfen konnte, die geflickten Hosen waren mit einem Strick gegürtet, und aus seinen Schuhen guckten die nackten Zehen heraus. „Was willst du?“ fragte die Wirtin mürrisch. „Nu, was kann ich schon wollen“, entgegnete Herschl. „Meine Frau ist tot, meine Kinder sind gestorben, ich habe niemand auf der Welt. Gib mir etwas zu essen und lasse mich unter deinem Dach, damit meine Kleider trocknen.“ Die Wirtin überlegte: ,Wenn ich dem Bettler Essen gebe, kostet das Geld. Wenn er aber nur beim Ofen sitzt, kostet das nichts, und man kann nicht sagen, daß ich kein Herz für die Armen habe/ Also sagte sie: „Ich kann dir nichts zu essen geben, weil nichts Eßbares im Hause ist. Aber du kannst dich zum Ofen setzen und deine Kleider trocknen. Wenn es aufhört zu regnen, mußt du fort.“ Da zog Herschl die abgeschabte Pelzjackc und die löchrigen Schuhe aus und setzte sich 1 179 [
auf die Ofenbank. Er streckte die Beine und reckte sich wohlig - und auf einmal stieg ihm der Duft eines Suppenhuhns in die Nase. ,Nanu?‘ dachte Herschi, ,täuschen mich meine Sinne?' Er blickte sich suchend um und sah sofort, daß es keine Sinnestäuschung war: Auf dem Herd stand ein großer Topf. Sein Deckel tanzte und die Wirtin hob ihn von Zeit zu Zeit hoch und bückte zufrieden hinein. „Was kochst du?“ fragte Herschi. „Das riecht ja wie Suppenhuhn!“ „Unsinn“, unterbrach ihn die Wirtin. „In diesem Topf koche ich immer die schmutzige Wäsche, und die riecht so ähnlich wie Hühnerfleisch.“ Die geizige Wirtin aber konnte Herschi nicht hinters Licht führen. Den Geruch eines Suppenhuhns erkannte er auf viele Meilen. Das Wasser lief dem armen Schlucker im Mund zusammen, wenn er sich die Hühnerschenkel, das weiße Brustfleisch und die zarten Flügelchen verstellte. Sein Hunger war so groß, daß er wie ein eiserner Reifen seinen leeren Magen umklammerte, Herschi ertrug den Anblick des Topfes mit dem lustig tanzenden Deckel nicht mehr und schloß die Augen. Der Duft der Speise verur- sachte ihm solche Qualen, daß er kaum zu atmen wagte. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, dachte er, im Regen weiterzuwandern. Wie sie ihn so dasitzen sah, meinte die Wirtin, Herschi sei eingeschlafcn, und beschloß, sich auch eine Weile aufs Ohr zu legen. So lange es so stark regnete, würde der Kaufmann wohl nicht kommen. Sie stach mit der Gabel in das Suppenhuhn, und als sie sah, daß es gar war, nahm sic den Topf von der Herdplatte und ging in ihre Kammer. Kaum war die Türe hinter der Wirtin zugefallen, als Herschi die Augen öflhete. Er sah, daß er in der Küche allein war und sprang auf. Blitzschnell zog er das Huhn aus der Suppe und begann es gierig zu verzehren. Die Schenkel und die Brust, die Flügel, den Hals mitsamt der Haut, alles verschlang der hungrige Herschi mit unaussprechlicher Wonne. Bald schwammen nur noch die abgenagten Knochen in der fetten Brühe. Da zog Herschi ein schmutziges Hemd aus seinem Sack und warf cs in die Suppe. „Damit du auch recht behältst, Täubchen“, murmelte er. Dann schob er den Deckel wieder auf den Topf und rückte ihn an seinen Platz. Nach einer Stunde war die Wirtin von ihrem Schläfchen erwacht und kam in die Kü- che. Es hatte aufgehört zu regnen und sie beeilte sich, Herschi loszuwerden. Aber nach dem ausgiebigen Mahl schlief Herschi den Schlaf des Gerechten und war nicht wach- zurütteln. Unterdessen war auch der erwartete Gast, der reiche Kaufmann mit Kutscher und Diener angekommen, und die Männer hatten sich gleich an den Tisch gesetzt. „Was kannst du uns Gutes vorsetzen?“ fragte der Kaufmann. „Ich habe ein Huhn gekocht“, antwortete die Wirtin. „So etwas Zartes habt Ihr noch nicht gegessen!“ Sic nahm den Topf vom Herd und stellte ihn auf den Tisch. „Greift nur zu!“ forderte sie den Kauf- mann auf. Dieser ließ sich das nicht zweimal sagen. Er nahm eine Gabel, stach in den Topf und - zog ein schmutziges Hemd heraus aus dem abgenagte Knochen fielen. 1 ISO [

Die Wirtin wurde fast ohnmächtig vor Entsetzen. „Das war er!“ kreischte sie und wies auf Herschl, der eben in aller Gemütsruhe seine Schuhe zuband. Herschl aber tat so, als hätte er nichts gehört und wandte sich an den Kaufmann. „Sagt doch selbst, wohl- geborener Herr, ob mich eine Schuld trifft. Ich habe diese Frau um Essen gebeten, aber sie hat mich abgewiesen. Sie sagte, im ganzen Gasthof habe sie nichts Eßbares und in diesem Topf koche sic immer schmutzige Wäsche. Ist etwas Schlechtes daran, wenn ich mein Hemd dazugegeben habe?“ Der Kaufmann aber war nicht nur reich, sondern auch gottesfürchtig. Er hielt das Gebot, die Armen zu unterstützen, stets ein. Und es freute ihn, daß Herschl der geizigen Wirtin eine Lehre erteilt hatte. Er erhob sich und sagte: „Ein Geizhals wie diese Wirtin verdient keinen Segen. Es soll ihr eine Lehre sein.“ Und der Kaufmann und Herschl, der wohlgemut hinter ihm ging, verließen das ungastliche Haus. Als er sein Abendgebet sprach, war der arme alte Herschl in bester Stimmung und dankte seinem Schöpfer. Er hatte gut gegessen, der Kaufmann hatte ihn ein Stück Wegs in seinem Wagen mitgenommen und ihm zum Abschied noch etwas Geld gegeben. .Der Rabbi hat recht*, dachte Herschl. ,Wozu braucht der Mensch Geld? Dazu, damit der Reiche geben und der Arme nehmen kann!1 1 182 [
Die Bäume und das Eisen Ais Gott das Eisen schuf, trauerten die Bäume. „Ach, was wir nicht alles erleben müssen!“ seufzten sie, und die Wälder und Gärten seufzten mit ihnen. „Gott hat einen grausamen Feind über uns geschickt. Es kommt der Tag, an dem der Mensch aus dem Eisen Äxte schmieden und uns fällen wird.“ Das Eisen hörte die Klage der Bäume und sprach: „Euer Schicksal ist in eurer Hand. So lange kein Baum sein Holz dafür hergibt, eine Axt zu stielen, kann euch nichts geschehen. Wenn ihr aber uneinig seid und euch mit mir verbindet, bringt die Axt euch den Tod.“ J 183 (
Gold und Eisen Das Gold wollte die Welt kennenlernen. Es ging und ging, bis es lautes Jammern und Wehklagen hörte. Da blieb das Gold stehen und erblickte eine Schmiede, in der ein Schmied mit seinem schweren Hammer auf das glühende Eisen einschlug. Bei jedem Schlag stöhnte das Eisen auf. „Was soll dieses Gejammer?“ fragte das Gold das Eisen. „Alle Metalle werden gehämmert und getrieben. Auch ich, das edle Gold, bin getrieben. Unser Schicksal ist das gleiche. Die Menschen schätzen mich und streben nach mir, aber ich werde genauso gehämmert wie du.“ „Wie kannst du nur unsere Schicksale vergleichen?“ rief das Eisen bitter aus. „Der Hammer ist doch aus Eisen und nicht aus Gold! Das Leid, das uns Fremde zufügen, läßt sich er- tragen. Mich aber schlägt der eigene Bruder - und kein Schmerz läßt sich mit diesem vergleichen!“ ] 184 (
ACHTES LICHT Chelm, das jüdische Schilda ]185[
Wie man in Chelm baute blachdem Gott die Erde geschaffen hatte, schuf er die Seelen der Menschen. Die Seelen der Weisen tat er in einen Sack, und die der Einfältigen in einen anderen. Dann befahl er einem Engel, die Seelen über die Erde zu verteilen. Der Engel nahm die Säcke und flog in die Welt. Er flog über alle Länder der Erde und warf aus beiden Säcken je eine Handvoll hinunter, so daß überall weise und einfältige Menschen geboren werden konnten. Einmal jedoch hatte er sich an der Spitze eines hohen Berges an einen Flügel gestoßen, dabei verfing sich der eine Sack in der Krone des Baumes, und als er ihn freimachen wollte, riß er ein Loch in den Sack. Und der Engel mußte zusehen, wie alle Seelen aus diesem Sack auf einen einzigen Platz fielen. Der Engel aber wußte nicht mehr, ob es nun der Sack mit den Wei- sen oder der mit den Einfältigen gewesen war. Doch überall sprach man von ihnen und der Stadt, die sic später gebaut hatten. Sie trug den Namen Chelm. Einmal hatten die Chelmer beschlossen, neue, feste Häuser zu bauen. An Holz mangelte es ihnen nicht, den hohen Berg, auf dem der Engel die Seelen ihrer Vorfahren verloren hatte, bedeckte ein hoher Wald. Die Stämme waren so schwer, daß die Männer unter ihrer Last stöhnten und sic mühevoll bergab schleppten, ohne mit der Arbeit zu Rande zu kommen. Eines Tages, als die Männer gerade wieder einen Baumstamm herabschlcpptcn, begegneten sie einem Juden aus Litauen. „Warum schindet ihr euch so, Brüder?“ fragte er. „Es genügt doch, oben am Berg die Baumstämme anzustoßen, und sic rollen von allein hinunter!“ Da griffen sich die Chelmer an die Stirn und liefen zu ihren Ältesten, die im Gemein- derat saßen. „Wir wollen den Rat des Fremden erwägen“, sagten diese und wiegten be- dächtig die Köpfe. „So eine Sache darf man nicht übereilen.“ .Also berieten die Chelmer sieben Tage und sieben Nächte: Am Morgen überlegten sic reiflich, am Mittag durchdachten sie die Sache, und am Abend wogen sie das Für und Wider ab. Am achten Tag gab der Ältestenrat dem Juden aus Litauen recht und 1 186 l
beschloß: ,»Baumstämme rollen von allein bergab. iMan muß sie nur anstoßen.“ Und in der Stadtchronik lindct man bis heute eine Eintragung, die sich auf diese historische Ratssitzung bezieht. Man kann dort lesen: „Nicht nur die Juden von Chelm, auch die litauischen Juden sind mit Klugheit gesegnet.“ Am nächsten Tag zogen die Chelmer fröhlich zum Berg. Eine Kapelle spielte als feierte der Sohn des Rabbiners Hochzeit. Dann packten die stärksten Männer die Stämme, die sie mit so viel Mühe hinuntergeschafft hatten, schulterten sic, und schleppten sic bergauf. Als sie am Gipfel des Berges angekommen waren, legten sie die Stämme auf den Boden, atmeten tief ein, und versetzten ihnen einen kleinen Schubs mit der Fußspitze. Da setzten sich die Stämme tatsächlich in Bewegung, sie kollerten den Abhang hinunter und blieben am Fuße des Berges liegen. Als die Chelmer auf diese Weise genügend Holz für den Bau ihrer Häuser gewonnen hatten, nahmen sie Äxte, Sägen, Hämmer und Hobel zur Hand und ganz Chelm wurde ] 187 [
ein Bauplatz. Die Häuser schossen wie Pilze aus der Erde und bedeckten das ganze Tal am Fuße des Berges. Die neuen Häuser waren genau so klug durchdacht wie alles, was die Chelmer taten. Sie waren nämlich nach Maß gebaut, nach der Größe des jeweiligen Besitzers. Ja, sic paßten den Bürgern der Stadt Chelm wie gut geschneiderte Kleider! Eines 'Pages war es dann soweit, daß alle Chelmer ihr eigenes Dach über dem Kopf hatten. Sie beglückwünschten einander, wie viel Holz sic durch die Häuser nach Maß gespart hatten, und spazierten stolz durch die Gassen, auf denen auch die Enten wat- schelten. Gewiß, die Bürger von Chelm konnten stolz sein auf ihr Werk, aber plötzlich fiel ihnen etwas ein: Sie hatten vergessen, die Synagoge zu bauen! Wäre Chelm in diesem Augenblick in Schutt und Asche gelegt worden, der Schreck hätte nicht größer sein können. Die Ältesten traten sofort zu einer Beratung zusammen und gaben noch vor dem ersten Hahnenschrei ihren Beschluß bekannt: „Die Synagoge soll in der Mitte der Stadt stehen. Auf dem großen Platz.“ Da machten sich die fleißigen Chelmer sofort an die Arbeit. Auf dem großen Platz legten sie die Grundsteine, oben auf dem Berg fällten sie hohe Stämme, die sie bergab kollern ließen. Am Fuße des Berges warteten schon andere emsige Chelmer, die die Bohlen schulterten, und wie ein Fähnlein Soldaten zum großen Platz marschierten, wo die Synagoge stehen sollte. Da stießen sie auf ein unerwartetes Hindernis: Die Chelmer Gassen waren so eng, daß sic mit ihrer Last nicht durchkommen konnten. Was nun? Der Ältestenrat beriet volle sieben Tage und sieben Nächte. Man erwog, überlegte, zog in Betracht und legte dann alles auf die Waagschale, um folgende Entscheidung zu fällen: „Häuser, die dem Bau einer Synagoge im Wege stehen, müssen weg!“ Da jubelten die Chelmer, wie klug ihr Ältestenrat die heikle Frage gelöst hatte. Sie rissen die halbe Stadt nieder und schafften die Stämme dorthin, wo die Synagoge stehen sollte. Und dann bauten sic ihre Häuser wieder auf. Und wieder nach Maß. Als nun jeder Chelmer sein Dach über dem Kopf und alle Chelmer ihre Synagoge hatten, mußte man noch ein Bad, die Mikwe errichten, wo die frommen Chelmer sich vor dem Sabbat und vor den Feiertagen reinigen konnten. Der Platz war schnell gefun- den - am Stadtrand floß ein Bach - und der Bau ging schnell von der Hand. Bald hatte Chelm eine Mikwe wie sich’s gehört. Alles war da: die Wände, das Dach und die Fenster. Nur die Bänke im Bad selbst fehlten noch. Das hatte seinen Grund. „Die Bänke dürfen nicht gehobelt sein“, sagten die einen, „man könnte doch auf dem glatten Holz ausglcitcn und sich ein Bein brechen!“ „Wenn die Bretter nicht gehobelt sind, sind sie voller Späne. Und wie kann man auf solchen Bänken sitzen?“ meinten die Anhänger von gehobelten Brettern. Und wieder mußten die Ältesten den Streit entscheiden. Man beriet sieben Tage und sieben Nächte, man erwog, überlegte, zog in Betracht und fällte folgende Entscheidung: „Beide Seiten haben recht. Deshalb sollen die Bretter für die Bänke auf der einen Seite gehobelt und auf der ] 188 (
anderen ungehobelt sein. Damit aber - Gott behüte! - niemand ausgleitet, sollen die Bänke mit der glatten Seite nach unten gezimmert werden.“ Seit dieser Zeit war in Chelm alles in bester Ordnung. Die Juden fühlten sich wohl und freuten sich, wie klug und weise sie mit Hilfe ihrer Ältesten alles gelöst hatten. Sie arbeiteten und sie mehrten sich, und nach einiger Zeit wurde ihnen die Stadt zu eng. Aber was kann man tun, wenn die Stadt am Fuße eines Berges liegt, und im Tal schon jedes Plätzchen verbaut ist ? Über dieses Problem berieten die Ältesten der Stadt Chelm sieben Tage und sieben Nächte. Sie erwogen, überlegten, zogen in Betracht und legten auf die Waagschale. Dann beschlossen sic: „Um Platz zu schaffen, muß man den Berg von der Stelle rücken!“ Am Tage nach diesem denkwürdigen Beschluß zog die ganze Stadt zum Berg. Der Vorsitzende des Ältestenrates gab ein vereinbartes Zeichen, und wie ein Mann stemmten sich alle Chelmer gegen den Berg und versuchten, ihn von der Stelle zu rücken. Bald begannen sie so sehr zu schwitzen, daß sie ihre Röcke auszogen und in das Gras warfen. Dann stemmten sie sich wieder gegen den Berg. Während die Chelmer ihre Muskeln anspannten, gingen zwei Landstreicher vorbei; sic sahen die Kleider im Gras, nahmen sie an sich, und suchten gemächlich das Weite. Die Chelmer aber hatten nichts bemerkt. Als sie eine Ruhepause machen mußten und sich ins Gras setzten, sahen sic die von den Kleidern niedergedrückten Stellen. Sie hielten sie für die Spuren des Berges und riefen freudig aus: „Seht nur, wie groß das Stück ist, um das wir den Berg fortgeschoben haben. Unsere Kleider sind schon so weit weg, daß wir sic gar nicht mehr sehen!“ Dann versuchten sic mit frischen Kräften, den Berg von der Stelle zu rücken. Sic stellten sich dabei vor, wie Chelm, die „Stadt der Weisen“, immer größer und größer wird, bis sic so groß ist wie die ganze Welt. ] 189[
Vom neugierigen Gejzel Weit ist die Welt, aber solche Schlauköpfe, wie in Chelm, muß man lange suchen. Im Städtchen Chelm wohnte auch der Schuster Gejzel mit seiner Frau Fradl und seinen sechs Kindern. Man nannte ihn den neugierigen Gejzel, und das mit Recht. Ob er nun Leder holte oder die fertigen Stiefel ablieferte, er mußte einfach alles sehen, was es auf der Straße zu sehen gab. Er reckte den Kopf nach allen Seiten und hatte Ohren für jedes, auch das kleinste Geräusch. Einmal war er hier, ein andermal dort, und man konnte sich nur wundem, daß er noch Zeit fand, einen Stiefel anzufertigen. Einmal, am Vorabend des Sabbat, ging Gejzel in die Mikwe, um zu baden und sich auf den Feiertag vorzubereiten, wie es Brauch war. Unterwegs traf er zwei fremde Kauf- leute. Sie waren guter Laune und erzählten einander allerhand Neuigkeiten. Da spitzte Gejzel die Ohren und hörte, daß die beiden Kaufleute von Warschau erzählten, und was für eine prächtige, große Stadt das sei, und die hohen Häuser, und die vielen Men- schen auf den Straßen. Als Gejzel abends aus der Synagoge nach Hause kam, war ihm seltsam zumute, weder der Fisch noch die knusprigen Barche freuten ihn. Gejzel ging wie im Traum umher, er sprach kein Wort und sang keine Sabbatlicdcr. Kaum waren die Kinder eingeschlafen, trat er zu seiner Frau und sagte: „Fradl, ich habe mich entschlossen fortzugehen. Gleich morgen gehe ich nach Warschau.“ Hätte jemand der guten Fradl das Dach überm Kopf angezündet, wäre das für sie kein größeres Unglück gewesen. „Ach Gejzel, was willst du in Warschau? Gefällt cs dir in Chelm nicht mehr?“ Fradl versuchte ihn zu überreden, sie bat und weinte, aber Gejzel gab nicht nach. Er erklärte ihr, daß er Warschau unbedingt sehen müßte und versprach, ihr und den Kindern Geschenke mitzubringen. Er schwor Fradl bei allen guten und bösen Engeln, bald zurückzukommen. Schließlich mußte Fradl schweren Herzens nachgeben. Und kaum daß sich die ersten Sterne am Himmel zeigten, die den Sabbat beendeten, bereitete sie ihrem Gejzel die ] 190 [
Wegzehrung. Gejzel tat die Speisen in sein Bündel, wie es sich für einen Juden schickt und tat dann noch die Gcbctsricmen und sein Gebetbuch hinzu. Frühmorgens, als alle noch schliefen, verließ Gcjzcl Chelm, um die wunderbare Stadt Warschau kennen- zulernen. Er ging und ging, aber erst um die Mittagszeit verspürte er Hunger und Müdigkeit. Da setzte er sich an den Waldrand, der die Landstraße säumte, entnahm seinem Bündel den Fladen und die Zwiebeln, aß mit Appetit, und stillte seinen Durst mit Wasser aus der nahen Quelle. Er lockerte seinen Gürtel, zog die Schuhe aus und fühlte, wie ihm die Augen zufielen. „Ach was“, sagte er zu sich, „Warschau fliegt mir nicht davon, eine Stadt ist doch kein Vogel. Ich will mein Schläfchen machen und komme eben eine Stunde später hin.“ Gejzel rollte sein Bündel zusammen und schob es unter den Kopf, dann streckte er sich bequem hin und - da riß ihn ein (Tcdankc hoch: „Was, wenn ich im Schlaf die Rich- tung verwechsle und zurück nach Chelm marschiere anstatt nach Warschau?“ Gcjzcl überlegte hin und her, bis ihm ein rettender Gedanke kam. Er stellte seine Stiefel so auf den Weg, daß ihre Spitzen nach Warschau wiesen und ihre Fersen nach Chelm. „So, jetzt kann ich mich nicht mehr irren“, frohlockte Gcjzcl und legte sich, erfreut über seine Schlauheit, schlafen. Aber während Gejzel den Schlaf des Gerechten schlief, holperte ein mit Reisig be- ladener Wagen vorbei. So geschah cs, daß ein Ästchen sich in Gejzels Stiefel verfing, und als der Wagen vorbei war, zeigten ihre Spitzen nach Chelm und ihre Fersen nach Warschau! Gejzel aber schlief und träumte einen herrlichen Traum. Er befand sich auf einer Hochzeit und die Tafel bog sich unter der Last der Speisen und Getränke. Kein Wunder, daß er vor lauter Appetit erwachte. Verwirrt blickte er um sich und suchte die Leckerbissen. Er konnte sich nicht entsinnen, w ie er hierher gekommen war, denn weder der Wald noch die Straße kamen ihm bekannt vor. Da erinnerte er sich, daß er sich ja auf dem Weg nach Warschau befand, und als er seine Stiefel erblickte, jauchzte er vor lauter Freude über seine Klugheit. Ja, ihre Spitzen wiesen nach Warschau und ihre Fersen nach Chelm! Er zog die Stiefel an, schulterte sein Bündel, und schritt in der ver- meintlichen Richtung nach Warschau w’aeker aus. Gejzel w-ar w’ohl ums Herz! Er lächelte den Menschen, denen er begegnete, freundlich zu und summte ein Liedchen. Müdigkeit verspürte er nicht, aber seine Neugier w'uehs, und auch sein Hunger. Er wunderte sich nicht, daß er schon gegen Abend am Rande einer Stadt angekommen war. ,Sieh da!* freute er sich,,Warschau ist gar nicht so weit!' Und voll Erwartung betrat Gejzel die erste Gasse. Er spazierte kreuz und quer durch die Stadt, reckte den Kopf nach allen Seiten und schaute sich fast die Augen aus. Da passierte ihm eine seltsame Sache. Warschau kam ihm so bekannt vor! Es ähnelte Chelm wie ein Ei dem anderen. Da waren die gleichen aus- ] 191 [

gefahrenen Straßen, wo man bis zu den Knöcheln in Kot versank, der gleiche Stallgeruch und das Gegacker der Hühner ... ,Wic gut doch mein Einfall war*, freute sich Gejzel, ,Gott weiß in welches Nest ich gekommen wäre, wenn die Stiefclspitzen mir nicht den richtigen Weg gewiesen hätten. Und Warschau ist wirklich eine besondere Stadt. Man kommt sich gleich wie zu Hause vor!* Erfreut von diesem Empfang ging Gejzel auf den Marktplatz. Gewichtig besichtigte er die Buden und prüfte die Waren. Ja, er guckte sogar unter die Planen und freute sich, daß alles so war wie in Chelm. „Jetzt weiß ich, weshalb die Leute so begeistert von Warschau sprechen“, meinte er. „Wer hierherkommt, muß nicht erst herumfragen und kennt sich gleich aus. So eine Hauptstadt findet man in keinem anderen Land!“ Gejzel hatte schon fast alle Straßen durchquert, er dachte an Chelm, und fand nichts, was in Warschau anders gewesen wäre. Schließlich trieb ihn seine Neugier zur Synagoge. Er fand sie mühelos, und sic stand genau an der gleichen Stelle wie in Chelm, genauso an das Haus des Rabbiners geschmiegt. Erwartungsvoll betrat Gejzel das Gotteshaus und schrie fast auf vor Verwunderung. Nicht nur, daß die Häuser in Warschau die glei- chen waren wie in Chelm, auch die Menschen sahen seinen Landsleuten zum Verwechseln ähnlich! Der Warschauer Synagogendiener war dem Chelmer wie aus dem Gesicht ge- schnitten. So wie dieser ordnete er die Gebetsmäntel und fegte seufzend den Boden, er polierte die Sabbatleuchter und stellte sich auf die Fußspitzen, um öl ins Ewige Licht zu gießen. Unbemerkt verließ Gejzel die Synagoge und seine Schritte führten ihn ganz von selbst zu der Stelle, wo in Chelm sein Häuschen stand. Ja, es stand da, wie erwartet, und sogar sechs Kinder spielten auf dem Hof. Hätte Gejzel nicht gewußt, daß er sich in Warschau befand, er hätte alle sechs gleich in seine Arme geschlossen: Seine Pcsa, die Gitta und den Uri, die so vertieft waren ins Blindekuhspielen. Das Chancle und den Motl mit dem holzgeschnitztcn Zicklein, und seinen Jüngsten, den kleinen Chaim, der auf unsicheren Beinchen über die Schwelle tappte ...,Fürwahr*, sagte sich Gejzel, ,die Kaufleute haben nicht umsonst behauptet, Warschau sei eine Stadt voller Wunder.* Auf einmal öflhete sich die Tür und Gejzel erstarrte. Auf der Schwelle stand eine Frau und gab den Kindern Brot. W’ar das nun seine Fradl oder war sie es nicht? „Ich bin doch in Warschau und nicht in Chelm“, brummte er vor sich hin. „Meine Fradl kann das nicht sein!“ Aber da hatte ihn die Frau schon bemerkt. „Kinder“, rief sie, „der Gejzel ist wieder da! Na, worauf w’artest du denn? Das Essen steht schon auf dem Tisch!“ Das aber war zuviel. Das Warschau so war wie Chelm, daran hatte er sich schnell ge- wöhnt. Auch daran, daß dort die gleichen Leute lebten. Aber daß es in Warschau auch einen zweiten Gejzel geben sollte? Eine Weile zögerte er noch an der Schwelle, dann aber trieb ihn der Hunger ins Haus. Und auch seine Neugier. ,Was ward w'ohl der War- schauer Gejzel sagen, bis er mich sieht, seinen Doppelgänger aus Chelm? He?‘ Also 1 193 [
betrat Gejzel das Haus und wartete auf den Warschauer Gcjzcl. Er verzehrte das Abend- brot, und die Frau harte Schalet aus Bohnen und Graupen genau so schmackhaft zu- bercitet wie seine Fradl. Die Kinder gingen schlafen und der Warschauer Gejzel war noch immer nicht da. ,Gut‘, sagte sich Gejzel, ,da geh ich eben schlafen. Morgen wird er schon kommen/ Der Warschauer Gejzel kam aber weder am Morgen noch in einer Woche oder in einem Monat. Der Warschauer Gejzel ließ sich Zeit... Ein volles Jahr wTar verflossen und noch eines, und Gcjzcl hatte Warschau noch immer nicht verlassen. Die Neugier hielt ihn hier fest. Aber manchmal bekam er cs auch mit der Angst zu tun: ,Was, wenn jemand erkennt, daß ich ein Fremder bin, wenn man mich mit Schimpf und Schande wegjagt und ich nie erfahre, ob ich wirklich einen Doppel- gänger habe?* dachte er. Aber Gejzel fürchtete sich auch davor, nach Chelm zurück- zukehren. Er war doch schon so lange fort, und die versprochenen Geschenke hatte er nicht gekauft. Gott weiß, wie ihn Fradl empfangen würde! „Ja, das Leben ist kein Federchcn“, meinte er. 1 194 [
des Lehrers I n Chelm wohnte ein Lehrer. Er lehne die Kinder das Lesen und sprach ihnen die Gebete in seinem heiseren Singsang vor. In der Schule, im Chedcr, war er der Herr und Meister, aber zu Hause regierte seine Frau Wenn sic ihm befohlen hätte, die Kinder von links nach rechts hebräisch lesen zu lehren, anstatt von rechts nach links, um des lieben Friedens willen hätte er auch das getan. Eines Tages wachte die Frau des Lehrers mit groben Schmerzen auf, der Rücken tat ihr weh, die Kehle war wie zugesdinürt, und die Füße waren angeschwollen. „Mann“, sagte sie mit heiserer Stimme, „ich bin krank.“ Der Lehrer sah, daß sie wirklich krank war, und sagte: „Oje oje, was seilen wir tun?“ „Was wir tun sollen?“ entgegnete seine Frau. „Du gehst eine Ziege kaufen. Ich habe gehört, daß Ziegenmilch jede Krankheit heilt. Beeile dich und laß dich nicht betrügen!“ Der Lehrer war es gewöhnt, seiner Ehehälfte aufs Wort zu gehorchen, und machte sich gleich auf den Weg. Glücklicherweise wmßte er, wo er die Ziege kaufen konnte. Die Nachbarstadt nämlich war berühmt für ihre prächtigen Milchzicgcn. Der Lehrer wählte beim Händler ein starkes, gesundes Tier aus, und machte sich zufrieden auf den Heim- weg. Er trieb die Ziege vor sich her und jubelte im Geiste: ,Meine Frau wird mich lo- ben, sie wird Ziegenmilch trinken und gesund werden.* Wie nun der gute Lehrer wohlgclaunt nach Chelm zurückw’anderte, erblickte er am Wegrand ein Gasthaus. Die Sonne stand hoch, und der Lehrer dachte:,Gott weiß, ob ich wieder einen so guten Tag erlebe. Warum sollte ich mir nicht etwas gönnen?* Also band er die Ziege vor dem Gasthof an den Zaun und betrat die Wirtsstube. Er bestellte und aß mir gutem Appetit. Bald kam er mit dem freundlichen Wirt ins Gespräch. Er verriet ihm, daß er ein geachteter Bürger aus Chelm sei, und erzählte ihm von der kranken Frau und der Ziege, die er gekauft hatte. „Meine Frau hat mir ans Herz gelegt“, lächelte der Lehrer, „ich solle mich nicht betrügen lassen. Aber ich verstehe etwas von Ziegen, cs gibt keine bessere als die, die ich gekauft habe. Sie ist zwei Jahre alt, sie hat ein weißes Fell und einen langen Bart, und macht: mäh, mäh!“ 1 195 [
„Was hat sic für einen Schwanz ?“ fragte der Wirt. Der Lehrer wollte zeigen, was für ein Ziegenkenner er war, und sagte: „Nun, etwas länger könnte er schon sein, aber sol- che Ziegen werden nur in einem Regen jahr geboren.“ Kaum harte der Wirt das gehört, war ihm klar, daß er es mit einem waschechten Chelmer zu tun hatte. Er ging hinaus, tauschte die Ziege des Lehrers gegen einen Ziegenbock aus, und kehrte in die Wirts- stube zurück. Der Lehrer war gerade im Begriff zu zahlen, er verabschiedete sich herzlich vom freundlichen Wirt, und vor Sonnenuntergang war er wieder in Chelm. „Frau!“ rief er schon am Hoftor. „Ich habe die Ziege gebracht. Komm sie melken!“ Die Frau kam mit einem Milcheimer auf den Hof gehinkt. Kaum hatte sie das Tier erblickt, rief sie zornig aus: „Du Dummkopf! Das ist doch ein Ziegenbock! Du mußt ihn gleich morgen beim Händler umtauschen!“ Der Lehrer w’ar froh, daß die Sache nicht ärger ausgefallen war, und stellte sich die ganze Nacht vor, mit welchen Worten er dem Händler seine Meinung sagen würde. Bei Tagesanbruch w’anderte er in die Nach- barstadt, bis er wieder vor dem Gasthaus stand, wo er am Tage zuvor eingckchrt war. ,Ich habe mich hier so wohlgefühlt, als ich glaubte, meine Geschäfte gut erledigt zu haben1, dachte der Lehrer aus Chelm. ,Abcr jetzt, wo ich weiß, daß der Händler mich betrogen hat, wird es mir sicher guttun, etwas zu mir zu nehmen.* Also band der Lehrer den Bock an den Zaun und betrat die Gaststube. Der Wirt begrüßte ihn wie einen alten Bekannten, trug schmackhafte Speisen auf und fragte nach der Krankheit seiner Frau und dem Ziel seines Wegs. Als der Lehrer von seinem Mißgeschick erzählt hatte, ging der Wirt unbemerkt vor das Wirtshaus und tausch- te den Bock gegen die Ziege aus. Der Lehrer freilich merkte nichts. Er löste den Strick, an dem das Tier angebunden war, und ging zum Händler. „Du Betrüger!“ schrie der Lehrer, wie er cs sich nachts vorgenommen hatte, „anstatt einer Ziege verkaufst du mir einen Bock! Meine kranke Frau konnte keinen Tropfen Milch melken!“ Der Händler blickte den aufgebrachten Lehrer verständnislos an. „Du wolltest eine Ziege und ich habe dir eine Ziege verkauft. Eine gute Milchziege. Was willst du noch ?“ „Ich möchte einen Beweis, daß die Ziege wirklich eine Ziege ist“, sagte der verwirrte Lehrer. Da rief der Händler kopfschüttelnd seine Frau, die vor den Augen des Kunden die Ziege molk. „Na, da hast du deinen Beweis!“ sagte der Händler und reichte dem Lehrer den vollen Krug. „Auf meine Ziegen ist Verlaß!“ fügte er noch hinzu. Der Lehrer war zufrieden und dachte:,Alles in Ordnung. Ich bringe meiner Frau den Krug Milch und einen zwei- ten kann sie selbst melken.* Guten Mutes trieb er die Ziege vor sich her und wanderte nach Chelm zurück. Auf dem Weg winkte wieder das Gasthaus. Der Wirt stand vor der Tür und wartete schon auf den Lehrer. Er lud ihn so freundlich ein, daß der Lehrer nicht widerstehen konnte. Er band die Ziege an den Zaun und der Wirt führte ihn zum gedeckten Tisch. Ein Wort gab das andere und der Wirt erfuhr, was er wissen wollte. Wieder verließ er unbemerkt J 196 [
die Stube, um draußen die Ziege gegen den Ziegenbock auszulauschen. Und wieder merkte der Lehrer nichts und kehrte in gehobener Stimmung nach Chelm zurück. Stolz überreichte er seiner Frau den vollen Krug Milch und sagte: „Hier hast du den Beweis, daß die Ziege eine Ziege ist. Geh nur in den Hof und melke sic selbst.“ Die Frau des Lehrers lief auf den Hof, war jedoch gleich wieder zurück. „Du Dumm- kopf! Du Einfaltspinsel!“ rief sie außer sich. „Seit wann gibt denn ein Ziegenbock Milch ?“ Der Händler hat dich wieder betrogen!“ Die Frau des Lehrers schrie und zeterte und warf dem armen Mann alle erdenklichen Schimpfworte an den Kopf, bis dieser sich in eine dunkle Ecke verkroch, um Ruhe zu haben. In der Nacht aber dachte er rachsüchtig. »Diesem Lumpen von einem Viehhändler werde ich cinheizen. Ich werde ihn in der ganzen Stadt so schlecht machen, daß kein Hund mehr einen Bissen von ihm nimmt!' Bei Tagesanbruch machte sich der Lehrer zum dritten Mal auf, eine Milchziege zu holen. Auch dieses Mal kehrte er im Gasthaus am Weg ein, und so geschah es, daß der Wirt, dem der Schalk im Nacken saß, wieder den Bock gegen die Ziege austauschen konn- te. Als der zornige Lehrer zum Händler kam, blickte ihn dieser erstaunt an. „Bist du nicht zufrieden mit deiner Ziege ?“ fragte er. „Wie kannst du nur so fragen ?“ schrie der Lehrer gereizt. „Du hast mir doch wieder einen Ziegenbock statt der Ziege gegeben!“ Der Händler versuchte den aufgebrachten Kunden zu beruhigen. „Wenn du willst, können wir die Ziege melken“, schlug er vor. Damit aber hatte er öl ins Feuer gegossen. „Nicht nötig“, stieß der Lehrer hervor. „Gestern habe ich die Milch genommen, aber das 'Fier, das ich nach Chelm brachte, war ein Bock! Ich wünsche, daß der Rabbiner mir bestätigt, daß die Ziege eine Ziege ist und kein Ziegenbock!“ Da ging der Händler mit dem Lehrer zum Rabbi, der schriftlich bestätigte, daß die Ziege eine Ziege sei und kein Ziegenbock. Der Lehrer drückte den versiegelten Brief an seine Brust und dachte glücklich: Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr. Ich habe eine Ziege gekauft! Meine Frau wird sie melken, sie wird Ziegenmilch trinken und gesund werden.' Fröhlich vor sich hin pfeifend machte sich der Lehrer mit der amtlich bestätigten Ziege auf den Weg nach Chelm. Als er am Gasthof vorbeikam, zögerte er. ,Ich werde hier lange nicht mehr vorbeikommen. Soll ich nicht doch einkchren?' Schließlich ent- schloß er sich einzutreten und alles war wie vorher. Der Scherz wiederholte sich: Der Lehrer hatte eine Ziege an den Zaun gebunden, und das Tier, das er nach Chelm brachte, war ein Ziegenbock! Die Frau des Lehrers indes war nach drei l agen genesen - auch ohne Ziegenmilch. Ungeduldig wartete sie auf ihren Mann, und kaum hatte sie ihn mit dem Bock am Strick erblickt, als sic ilun kreischend in den Bart fuhr und ihn zu zausen begann. Der Lehrer war durch diesen rauhen Empfang so überrascht, daß er erst nach einer Weile mit dem versiegelten Brief hcrausrücktc. „Hier habe ich die Bestätigung des Rabbiners, daß 1 197 [
die Ziege eine Ziege und kein Ziegenbock ist", sprach er würdig und strich seinen Bart. „Und wenn das Tier nicht sein will, was es ist, wrerde ich es verklagen!“ Am nächsten Tag ging der Lehrer tatsächlich zu Gericht. Er verklagte das Tier, weil cs nicht sein wollte, was es sein sollte. Und die Ältesten der Stadt Chelm berieten sieben Tage und sieben Nächte und fällten schließlich das weise Urteil: „Der Lehrer ist im Recht, weil er eine Ziege und keinen Ziegenbock gekauft hat. Aber auch den Bock trifft keine Schuld. Es scheint nämlich, daß jede Ziege, die nach Chelm kommt, sich in einen Bock verwandelt!“ ] 198 [
Wie man in Chelm Geschäfte machte In einem Dorf unweit von Chelm lebte der * Fuhrmann Simcha. Er besaß drei Pferde und einen großen Leiterwagen, und immer wenn man ihn brauchte, hatte er Zeit. Simcha fuhr das Heu von der Wiese und die Äpfel auf den Markt, die Brautleute zur Hochzeit und die Toten auf den Friedhof. Man zahlte ihm gern und Simcha und seiner zahlreichen Familie ging cs gut. Einmal aber brach sich das eine Pferd das Bein und gleich darauf erkrankte das andere. Da mußte Simcha zweimal hintereinander den Schochet, den jüdischen Metzger, holen. Nur ein einziges Pferd war ihm übriggeblieben, und dieses war so alt und schwach, daß er es nicht mehr cinspannen konnte. Da jammerte Hendl, die Frau des Fuhrmanns: „Mein Gott, wovon werden wir leben? Unsere Ersparnisse sind bald verbraucht, und dann können wir betteln gehen!“ Aber Simcha lachte nur: „Keine Angst, Hendl! Ich gehe nach Chelm und werde mit seinen gescheiten Juden Geschäfte machen.“ Simcha kannte seine Chelmer. Er striegelte den armen alten Gaul, bis sein Fell glänzte und führte ihn am Morgen nach Chelm. Am Marktplatz, unweit der Synagoge, band er ihn an einen Pfahl. Dann streute Simcha ein paar Silbermünzen auf den Boden unter das Pferd, und als er die Chelmer zum Morgengebet gehen sah, begann er die Münzen einzusammcln. Wie erwartet, blieben die Chelmer neugierig stehen. „Was machst du? Ist dir das Geld aus dem Beutel gefallen ?“ fragten sie. „Keineswegs“, erwiderte Simcha. „Mein Pferd hat mir die Münzen geschenkt. Wenn es nießt, fallen immer ein paar Groschen aus ihm heraus.“ Da machten die Chelmer große Augen. Ihre Stadtkasse war leer, und ein Pferd, das Münzen nießt, konnten sie gut brauchen. Also begannen sie Simcha zu überreden, ihnen das Pferd zu verkaufen. Sie baten und bettelten, sie suchten Simcha zu überzeugen, daß cs auch für ihn ein gutes Geschäft sei, und schließlich, nach langem hin und her, kam man überein. Simcha nahm die hundert Gulden, die der Gemeindevorsteher cingcsammelt hatte, und eilte zufrieden nach Hause. Als die Chelmer vom Morgengebet aus der Synagoge kamen, gaben sie dem W’under- ] 199 [
pferd Futter, um es zu stärken. Der Gaul fraß den ganzen Hafer, trank zwei Eimer Wasser, wieherte zufrieden und begann zu meßen. Er nießte zum ersten, zum zweiten und zum dritten Mal, aber Münzen fielen nicht heraus Der Gaul nießte oft und gern, aber der erwartete Geldsegen wollte sich nicht einstellen. Zu dieser Zeit stopfte sich Simcha gerade den Wanst voll. Für einen Teil der Kauf- summe tafelte die ganze Familie wie zu Purim. Auf einmal sah er durchs Fenster einen Wagen aus Chelm kommen. Er konnte den Rabbi und den Vorsteher erkennen und wußte, was die Glocke geschlagen hatte. „Gib gut acht“, sagte Simcha zu seiner Frau. „Ich gehe jetzt in den Hof, Hendl, nehme eine schwarze Katze mit, und gehe in den Wald. Wenn die Leute aus Chelm mich suchen, sage ihnen, ich sei im Wald. Dann nimm die andere schwarze Katze, befiehl ihr laut, mich zu rufen, und laß sie laufen.“ Simcha verließ eilig den Hof mit der Katze unterm Arm und gleich darauf klopften J 200 [
der Rabbi und der Gabbai, der Gemeindevorsteher aus Chelm, an die Haustüre. Sie machten böse Gesichter und fragten Hendl: „Wo ist dein Mann? Er hat uns betrogen!“ „Mein Mann ist Holz holen gegangen“, sagte Hendl, wie Simcha cs ihr befohlen hatte. „Wenn ihr mit ihm reden wollt, schicke ich die Katze, damit sie ihn hole.“ Hendl hob die zweite Katze auf, befahl ihr laut, Simcha aus dem Wald zu holen, und ließ sie los. Da schoß die Katze, die Hendl insgeheim gekniffen hatte, davon. Es dauerte nicht lange, und Simcha war mit der anderen Katze im Arm aus dem Wald zurückgckchrt. Da ver- gaßen der Vorsteher und der Rabbi ihren Zorn und konnten die Augen nicht von der Katze lassen, der man Botengänge anvertrauen konnte. Sie bedauerten, in Chelm kein solches Tier zu besitzen. So eine Katze war doch billiger und schneller als der schnellste Bote! Sie versuchten Simcha zu überreden, ihnen die Katze zu überlassen. „Fuhrmann“, sagten sie, „wir wollen dir die Sache mit dem Pferd nicht nachtragen, und wir geben dir noch klingende Münzen dazu, wenn du uns deine Katze überläßt.“ „Kommt nicht in Frage“, wehrte Simcha ab. „Habt ihr eine Ahnung, wie lange es dauert, bis man so eine Katze abrichtet ?“ Aber der Rabbiner und der Vorsteher ließen nicht locker, sie beschworen Simcha im Namen dieser und jener Welt, und schließlich trugen sie die für zweihundert Gulden erstandene Katze glücklich nach Chelm. Kaum angekommen, befahlen sic der Katze, den Ältestenrat zusammenzurufen. Der Rabbi und der Vorsteher wollten sich beraten, ob man die Katze morgens oder abends füttern sollte. Sie schickten also die Katze, die erleichtert davonlief, fort, und warteten auf die Ältesten. Sie warteten viele Stunden, aber die Ältesten kamen nicht, und auch die Katze war verschwunden. Am nächsten Morgen gingen der Rabbi und der Vorsteher die Katze, die Botengänge machen konnte, suchen. Sie fanden sie schließlich bei Simcha, wo sie schnurrend in der Sonne lag. Da wurden die klugen Juden von Chelm böse. Sic beschlossen, daß der Fuhrmann das Geld für das Pferd und für die Katze zurückerstatten sollte, und sandten fünf starke Männer aus, um Simcha vor den Ältestenrat zu zitieren. Simcha saß wie üblich zu Hause, er aß und trank und ließ es sich wohlergehen, als er durchs Fenster den Wagen mit den fünf Männern aus Chelm kommen sah. „Hendl“, sagte er zu seiner Frau. „Leg dich auf die Erde und stelle dich tot. Erst wenn ich mit einem Ei dreimal auf deine Stirne klopfe, steh auf und sei wieder lebendig.“ Kaum hatte sich Hendl auf den Boden gelegt, waren auch schon die fünf starken Männer aus Chelm da. Sic waren rot vor Zorn, als sie aber den Fuhrmann schluchzend neben der Leiche seiner Frau sitzen sahen, blieben sie unentschlossen stehen. „Ach, meine teure Hendl ist mir gestorben!“ klagte Simcha. „Was soll ich nur anfangen ohne meine gute Frau ?“ Plötzlich umarmte er Hendl leidenschaftlich und rief: „Meine Einzige! Ich werde dich wieder zum Leben erwecken!“ Er nahm ein Ei, klopfte damit dreimal auf Hendls Stirn und sprach: „Steh auf von den Toten!“ ]201[
Und die gute Hendl erhob sich, als wären die Zeiten des Messias, der die Toten er- weckt, schon gekommen. Als die Chelmer die Frau so frisch und gesund vor sich sahen, erstarrten sie verwundert. Sie vergaßen, daß sic vom Fuhrmann das Geld für das Pferd und für die Katze hatten zurückholen sollen, und dachten nur an das wundertätige Ei. „Simcha, lieber Simcha“, baten sie. „Verkaufe uns doch deine Wundermedizin. Für das Ei geben wir dir gerne dreihundert Gulden.“ „O nein“, weigerte sich Simcha zum Schein, „das kann ich wirklich nicht tun. Weit und breit ist kein Arzt, was soll ich ohne das Zauberei anfangen, wenn wieder etwas passiert ?“ „Wir geben dir vierhundert Gulden“, drängten die Chelmer. „Die Frau des Rabbiners ist krank und wir möchten ihr helfen.“ Simcha ließ sich noch eine hübsche Weile bitten, aber für fünfhundert Gulden über- ließ er ihnen dann doch das Ei. Die Chelmer tanzten vor Freude, da sie nun den Todesen- gel nicht mehr fürchten mußten, und am meisten freuten sich der Rabbiner und seine kranke Frau. Am nächsten Tag war sie noch kränker, der Rabbiner jedoch holte keinen Arzt. ,Sollte das Ärgste geschehen, so haben wir doch das Ei‘, dachte er. Aber die Frau des Rabbiners starb, und auch das Ei konnte daran nichts ändern. Nach dem Begräbnis versammelten sich die Chelmer und schworen, daß dieser Simcha seiner gerechten Strafe nicht entgehen sollte. Nachts schlichen sie sich in sein Haus und steckten ihn in einen Sack, den sie fest zuschnürten. Dann sprachen sie das Urteil: „Dafür, daß du uns mit dem Pferd, der Katze und dem Ei betrogen hast, werden wir dich ertränken.“ Dann luden sie den Sack auf einen Wagen und fuhren zum Fluß, um das Urteil zu vollstrecken. Damals aber herrschte große Kälte und der Fluß war zugefroren. Die Chelmer mußten ihre Äxte holen gehen, um ein großes Loch ins Eis zu hacken. Sie ließen bei Simcha einen Mann als Wache und gingen fort. Als Simcha hörte, daß sie fort waren, begann er zu schreien: „Hilfe! Ich will nicht!“ „Was willst du nicht?“ fragte ihn der Wächter neu- gierig. „Ich will nicht der reichste Mann in Chelm sein“, murmelte Simcha aus dem Sack. „Der Gabbai will mich zwingen, von jedem Bürger Geld zu nehmen, aber ich will es nicht, ich verzichte gern aufs Geld. Deswegen hat er mich in den Sack stecken lassen, und wenn ich das Geld nicht annehme, läßt er mich in den Fluß werfen!“ Der Wächter aus Chelm begann gleich den Sack aufzubinden. „Wenn dem so ist“, sagte er, „will ich gern mit dir tauschen.“ Da steckte Simcha den Wächter in den Sack und band ihn sorgfältig zu. Die weitere Entwicklung wartete er jedoch nicht ab und lief so schnell ihn seine Beine trugen nach Hause. Dann fuhr er mit Frau und Kindern in ein entferntes Dorf, wo er sich niederließ. Mit dem Geld der Chelmer baute er sich ein Haus, kaufte neue Pferde und einen neuen Leiterwagen und war wieder der gefällige Fuhrmann, dem man so gern für seine Bereitwilligkeit bezahlte. Nach vielen Jahren kam Simcha wieder einmal nach Chelm. Er glaubte, niemand würde ] 202 [
ihn erkennen, aber die Chelmer hatten ein gutes Gedächtnis. Sie packten ihn am Kragen und schleppten ihn vor den Ältestenrat.. „Wie konntest du nur aus dem Sack entkommen?“ fragte man ihn erstaunt. „Wir haben dich doch im Fluß ertränkt!“ „Das stimmt schon“, sagte Simcha. „Aber ihr wißt nicht, was dann geschah. Als ich auf den Grund sank, schwammen Engel zu mir hin und öffneten den Sack. Sie führten mich in ein herrliches Schloß, wo Gold- und Silberstücke hcrumlagen. Sie füllten mei- nen Sack bis zum Rand mit Gold und Silber und legten oben noch Honigkuchen und Wein aus dem Paradies dazu. Ich war den ganzen Tag bei den Engeln zu Gast, und am Abend brachten sie mich ans Ufer. Sie zeigten mir noch den Weg, und seither bin ich ein reicher Mann.“ Die Chelmer hatten die letzten Worte Simchas gar nicht mehr angehört. Der Ältesten- rat war zusammengetreten und beriet, wem von den angesehensten Bürgern Chelms es vergönnt sein sollte, in den Fluß geworfen zu werden. Der Beschluß war eigentlich vor- auszusehen: Es sollten der Rabbi und der Vorsteher sein! Als die Säcke mit den beiden in den Fluß geworfen wurden, jubelte die ganze Stadt. Seit dieser Zeit wartet man in Chelm darauf, daß der Rabbi und der Gemeindevorsteher den Sack mit Gold und Silber, mit den Honigkuchen und dem Wein aus dem Paradies bringen. Die Chelmer warten schon lange. Sehr lange. Und damit sie keine Langeweile haben, erzählen sie Geschichten von der Weisheit ihrer Vorfahren und von der ruhmreichen Stadt Chelm. ] 203 [
Wie der Fuchs den Leviathan überlistete Zlls Gott die Erde schuf, war sein Werk in sieben Tagen vollendet. Zuerst schuf er das Licht, um den Tag von der Nacht zu trennen; am zweiten Tag den Himmel und das Wasser, und am dritten Tag das Festland und die Pflanzen. Am vierten Tag gingen Sonne, Mond und Sterne am Himmel auf, und am fünften erschuf Gott die Tiere. An diesem lag kamen auch zwei Ungeheuer in die Welt: der riesige Behemoth, der einem Elefanten glich und auf dem Fest- land lebte, und das Meeresungeheuer Leviathan. Der Leviathan glich einem riesigen Krokodil mit Schlangcnlcib. Sein Körper war von Schuppen bedeckt, die am Bauch in Stacheln über- gingen. Die Schuppen waren hart wie Schilde und scharf wie eiserne Krallen. Unzählige spitze Zähne saßen in des Leviathans Rachen, und auf seinem Haupt funkelte eine Krone. Der Le- viathan war ein mächtiger König, der über alle Meere herrschte, alle Fische waren ihm untertan. Sogar das Meerwasser mußte ihm gehorchen. Und sollte der Leviathan das Festland betreten, müßten die Meere ihm folgen und die Erde in schrecklichen Überschwemmungen heimsuchen. Deshalb fesselte Gott den Leviathan an eine unsichtbare Kette, die das Ungeheuer in den Tiefen des Meeres festhielt. Der Leviathan war stark und weise und rühmte sich gern seiner Stärke und seiner Weisheit. Verstand er doch siebzig Sprachen und kannte alle Geheimnisse des Lebens unter dem Meeresspiegel. Damit aber wollte sich der Herrscher der Meere nicht zufrieden geben. Da ihm Gottes unsichtbare Kette nicht gestattete, das Festland zu betreten, wollte er wenigstens klüger 1 204 [
sein als alle Tiere, die dort beheimatet waren. Kaum hatte er erfahren, daß am Meeresufer ein Fuchs lebte, der als das schlaueste Tier auf dem Festland galt, schickte er drei Fische als Boten aus, um den Fuchs in seinen Palast am ^Meeresgrund zu holen. „Ich werde den Fuchs fressen“, beschloß der Leviathan, „dann wird seine Klugheit auf mich übergehen und ich werde klüger sein als alle Tiere der Erde!“ Also schwammen des Leviathans Boten zum Ufer. Dort trafen sic den Fuchs. „He, Vierbeiner!“ riefen die drei Fische, „wir brauchen deine Hilfe! Wir suchen den Fuchs, das schlaueste Geschöpf von allen Tieren der Erde.“ „Das bin ich“, erwiderte der Fuchs. „Was begehrt ihr?“ „Wir sind die Boten des großen Königs Leviathan, des Herrschers der Meere. Er lebt in einem herrlichen Palast am Meeresgrund, ißt die besten Speisen und kleidet sich in Samt und Seide. Aber der König Leviathan ist schon sehr alt. Gern würde er sein Reich einem Nachfolger überlassen, der weise genug wäre, die Königskrone zu verdienen. Unser Herrscher hat von dir gehört, von deiner Klugheit und Vor- aussicht, und er hat uns ausgesandt, dich zu ihm zu bringen. Darum wollen wir dich zu dem Leviathan, unserem Herrn und König führen. Er will dir sein Reich zeigen, und wenn er das Zeitliche segnet, sollst du über alle .Meere und alles, was in ihnen lebt, herrschen.“ Als die Fische zu Ende gesprochen hatten, überlegte der Fuchs: Seit dem Morgengrauen bin ich auf der Jagd, die Sonne steht schon hoch und noch immer habe ich keinen Bissen im Magen, Auch wenn es mir gelingen sollte, etwas zu erbeuten, kann jeder Löwe, Bär oder Leopard mir die Beute streitig machen. Im Meer könnte ich im Überfluß leben, ich müßte mich um nichts sorgen, die Diener würden mir Speise und Trank bringen und eine Königskronc wäre mir sicher... Daher sagte der Fuchs: „Wenn der Leviathan wünscht, daß ich sein Nachfolger werde, nehme ich sein Angebot an. Aber... ich kann nicht schwimmen, wie gelange ich in seinen Palast am .Meeres- grund?“ I 205 [
„Nichts einfacher als das“, sagte einer der Fische. „Setze dich auf meinen Rücken und ich trage dich hin.“ Der Fuchs tat, wie ihm der Fisch geheißen. Die Fische schwammen dahin und bald konnte man das Ufer nicht mehr sehen. Hohe Wellen bewegten das Meer, und wohin der Fuchs auch blickte, sah er Wasser, nichts als Wasser... Da wurde ihm bange. Er verspürte Sehnsucht nach den Bäumen und Wiesen des Festlandes und er befürchtete, nie wieder an das Ufer zu- rückzukehren. Und er dachte: Vielleicht wird man mich im Palast am Meeresgrund gefangensetzen, und alle Tiere werden denken, wie dumm doch der Fuchs war! Wie hatte er nur die Farben und den Duft der Erde gegen das Dunkel und die Kälte des Wassers eintauschen können? Der Fuchs bekam es mit der Angst zu tun. Er klammerte sich an die Rückenflosse des Fisches und sagte: „Ich bin in eurer Macht. Ich kann nicht schwimmen und kann daher nicht entkommen. Sag mir doch, Fisch, ob du die Wahrheit gesprochen hast? Will der König Leviathan mir wirklich sein Reich überlassen ?“ Da antwortete der Fisch: „Wir sind mitten im Meer. Nun muß ich nicht mehr lügen. Der große Leviathan hat beschlossen, dich zu fressen, um die Klugheit deines Herzens zu gew'innen.“ Der Fuchs begriff, wie groß die Gefahr w’ar, in der er sich befand, und so ersann er eine List. „Liebe Fische“, sprach er, „ich bedauere keineswegs mit- gekommen zu sein. Wenn der große Leviathan mich zu ver- zehren wünscht, so soll mir das eine Ehre sein. Nur schade, daß ihr mich nicht gleich von seiner Absicht unterrichtet habt. Ich hätte mein Herz natürlich mitgenommen. Ihr sagtet doch, daß cs mein Herz sei, wonach es dem Leviathan gelüstet?“ „Du hast kein Herz im Leib?“ riefen die Fische und sahen sich beunruhigt an. „Wie ist denn das möglich ? Wo ist es denn ?“ „In der Grotte am Meeresufer“, erwiderte der Fuchs. „Wir Füchse pflegen unser Herz immer an einem sicheren Ort auf- zubewahren, bevor w ir auf die Jagd gehen. Sicher erinnert ihr euch, daß ihr mich bei der Jagd angetroffen habt, deshalb habe ich das Herz nicht bei mir.“ ] 206[
Die Fische hielten im Schwimmen inne und überlegten, was zu tun sei. Wenn der Fuchs sein Herz nicht bei sich hatte, war alles vergeblich. „Ich wüßte Rat“, sagte der Fuchs. „Sprich!“ riefen die Fische wie aus einem Munde. „Nun“, sagte der Fuchs, „die Sache ist ganz einfach. Ihr bringt mich ans Ufer zurück und ich hole mein Herz aus der Grotte. Dann bringt ihr mich zu dem Leviathan!“ Den Fischen leuchteten diese Worte ein, sie machten kehrt und schwammen so schnell sie konnten ans Ufer zurück. Dort angekommen, sprang der Fuchs aufs Festland und begann vor lauter Freude Purzelbäume zu schlagen. „He, Fuchs! Beeile dich!“ riefen die Fische. „Wir haben wenig Zeit.“ Der Fuchs aber achtete nicht auf ihre Worte. Er lief hin und her, denn er konnte sich nicht satt sehen an den Bäumen und Sträuchern. Erst nach einer Weile blickte er auf die Wellen, aus denen die Köpfe der drei Fische herausragten. „Ihr dummen Fische“, rief der Fuchs. „Wie konntet ihr nur glauben, daß man zur Jagd kein Herz benötigt? Hättet ihr das euere auf dem rechten Fleck, wäre ich euch nie entkommen. Härte ich nicht mein kluges Herz im Leib, wäre es mir nie gelungen, mich zu retten!" $ 1 207 [

NEUNTES LICHT Der Schammes- das Bedienungslicht 1 209 [
Vom Ende der Welt Am Ende der Welt, hinter allen Meeren und Flüssen, Bergen, Wäldern und Fluren steht ein hoher Berg. Kein sterbliches Auge kann ihn erblicken, weil seine Spitze den Himmel berührt. Der Berg ist härter als das härteste Gestein, seine Hänge sind glatt und ohne Sprünge, sic sind glatt wie Glas. Nur an einer einzigen Stelle, an der Spitze, die den Himmel berührt, hat der Berg einen Sprung: Dort entspringt eine Quelle. Am anderen Ende der Welt, den Augen der .Menschen verborgen, wohnt das Herz der Welt. Auch die Welt hat ein Herz wie jedes Ding und jedes Lebewesen. Dort also schlägt das Herz der Welt und schaut auf die Quelle. Es sicht sic entspringen auf der Spitze des Berges und lechzt nach ihr, aber nähern darf es sich ihr nicht. Bliebe cs nicht bewegungslos an seiner Stelle, könnte es die Quelle nicht mehr sehen und es würde ster- ben vor Trauer, und mit ihm die ganze Welt. Das Herz der Welt und die Quelle verbindet ein geheimnisvoller Zauber. Das Herz der Welt kann ohne den Anblick der Quelle nicht leben, und die Quelle würde versiegen ohne das Herz. Denn jeden Morgen bekommt die Quelle ein Geschenk - das Herz der Welt schenkt ihr den neuen Tag. An der Neige dieses Tages beginnt die Quelle zu singen und das Herz der Welt fällt ein in den Gesang. Sic singen seltsame Weisen, Lieder ohne Melodie, einen Hymnus ohne Töne. Denn die Lieder der Quelle und des Herzens sind aus Lichtfäden gesponnen, die sieben Himmel durchdringen, um sich als leuchtendes Netz über die Erde zu breiten. Tagtäglich webt der Dienstengel Gottes aus diesem Netz den nächsten Tag. Wenn der Tag fertig ist, überreicht ihn der Engel dem Herz der Welt, als Geschenk für die Quelle. So kann die Quelle einen weiteren Tag fließen. Der Engel aber, der himmlische Weber des neuen Tages, muß jedesmal neu erschaffen werden. Sein Haupt, sein Körper, seine Hügel, seine Hände und Füße wachsen aus den guten Taten der .Menschen, Ihre schlechten Taten jedoch vernichten ihn. Wenn die .Menschen in Eintracht, Frieden und Gottesfurcht leben, wird der Engel täglich neu J 210 [
geboren, wenn aber Zwietracht, Mord und Betrug die Welt beherrschen, ist kein Platz mehr da für den Engel. Ohne ihn, den himmlischen Weber, gäbe es keinen neuen Tag, und das Herz der Welt hätte nichts zu verschenken. Da würde die Quelle versiegen, das Herz der Welt würde zu schlagen aufhören, die Vögel, die Hirschkühe und die Menschen würden nicht mehr atmen, Blumen und Bäume würden verdorren, Städte und Dörfer verschwinden, und Berge und Täler zerfallen, als wären sie nie gewesen... # 1 211 [