Author: Dinzelbacher P.  

Tags: literatur im mittelalter  

ISBN: 3-7772-8106-9

Year: 1981

Text
                    MONOGRAPHIEN
ZUR GESCHICHTE DES
MITTELALTERS
IN VERBINDUNG MIT FRIEDRICH PRINZ
HERAUSGEGEBEN VON KARL BOSL
BAND 23
ANTON HIERSEMANN STUTTGART
1981


VISION UND VISIONSLITERATUR IM MITTELALTER VON PETER DINZELBACHER ANTON HIERSEMANN STUTTGART 1981
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Dinzelbacher, Peter: Vision und Visionsliteratur im Mittelalter / von Peter Dinzelbacher. - Stuttgart: Hiersemann, 1981. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters ; Bd. 23) ISBN 3-7772-8106-9 NE: GT Printed in Germany © 1981 Anton Hiersemann, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Obersetzung. Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses urheberrechtlich geschutzte Werk oder Teile daraus in einem photomechanischen, audiovisuellen oder sonstigen Verfahren zu vervielfaltigen und zu verbreiten. Diese Genehmigungspflicht gilt ausdrucklich auch fur die Verarbeitung, Vervielfaltigung oder Verarbeitung mittels Daten- verarbeitungsanlagen. Schrift: Fotosatz Sabon. Satz und Druck: Allgauer Zeitungsverlag, Kempten. Bindearbeit: Grofibuchbinderei Ernst Riethmiiller & Co., Stuttgart. ISBN 3-7772-8106-9
V 1 1 2 5 5 6 11 И 24 25 26 28 28 33 36 39 45 50 53 57 65 75 78 90 90 101 105 107 112 115 117 121 121 131 136 141 146 146 155 165 INHALTSVERZEICHNIS Vorwort Einleitung Historische Methode Psychologische Fragestellung Phanomenologische Methode Theologie Abrifi der Forschungsgeschichte der mittelalterlichen Vision Quellen Chronologische Tabelle der wichtigeren Visionare Chronologische Tabelle literarischer Visionen und Traumdichtungen . . Literarische Visionen und Traumvisionen religidser Thematik Literarische Visionen und Traumvisionen profaner Thematik Definitionen Vision Erscheinung Ubergangsformen Traumvisionen und Traumerscheinungen Der mittelalterliche Wortgebrauch Ekstase Mystik Falschungen Literarische Visionen und Traumvisionen Gefalschte und erdichtete Erscheinungen Die Typisierung der mittelalterlichen Visionen Die visionaren Raume Holle Fegefeuer Paradies Himmel Mischformen Symbolische Raume Irdische Raume Der Visionar und der Raum Plastische und abstrakte Raumerfahrung Ruhe und Bewegung Emotionelle Reaktionen Der Visionar und die Zeit Der Visionar und die Personen der anderen Welt Distanz und Nahe Verbale Kommunikation Gemeinsames Handeln
Fordernde und schenkende Visionen 167 XIIL Allegorie und Allegorese der visionaren Bilder 169 Allegorien und Personifikationen 171 Allegorese 176 XIV. Die Vision im Leben des Visionars 185 Spontanes und erwartetes Auftreten 185 Auswirkungen der Vision im Lebensweg des Sehers 199 XV. Von den Funktionen der Vision 210 Der Einzelne und die Gemeinschaft als Empfanger der Offenbarung . . . 210 «рго-domo»-Visionen 217 XVI. Zur Soziologie der Visionare 223 XVII. Zusammenfassung 229 Ergebnisse 229 Die Visionen in der mittelalterlichen Geistesgeschichte 233 XVIII. Abkurzungen 266 XIX. Bibliographic 267 XX. Register 281
VORWORT Die Visionen des Mittelalters aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten ist das vor- nehmliche Ziel dieser Arbeit. Es ergibt sich daraus, dafi die Vision ein Phanomen ist, welches in verschiedenen Lebensbereichen eine Rolle spielt. Der erste Schritt hierzu konnte kein anderer sein als der, das Material zu erfassen, das heifit die Texte der einzelnen Visionen zu resiimieren und die erreichbaren Informationen iiber die Seher und die Verfas- ser sowie iiber die Uberlieferung und Nachwirkung der Visionen zu sammeln. Dieses Material soil spater in einer umfangreichen Geschichte der mittelalterlichen Visionare handbuchartig vorgelegt werden. Es ware moglich, sich mit einer solchen literaturge- schichtlichen Beschreibung der Phanomene zu begniigen und es bei einer Art «Manitius» der mittelalterlichen Visionsliteratur zu belassen. Man kann sich aber auch dafiir entscheiden, die beschriebenen Phanomene in Zusam- menhange struktureller und kausaler Art zu stellen, also Interpretations- und Erklarungs- versuche vorzulegen. Dies unternimmt das hier vorliegende Buch (die iiberarbeitete und erweiterte Fassung meiner von der Universitat Stuttgart 1978 angenommenen Habilita- tionsschrift). Voll bewufit bin ich mir dabei der Abhangigkeit dieser Darstellungen von Weltbild und Wissensstand der Gegenwart, aus dem das Wissen eines einzelnen, hier des Autors, ein sehr bescheidener Ausschnitt ist, verschieden grofi in den verschiedenen Fach- gebieten, luckenhaft aber jedenfalls uberall. «It surpasses human acuity and mental energy to create work which totally covers the relevant religio-historical facts, moreover such an undertaking would be pretentious: no scholar is all-knowing.»1 Aber er darf immerhin oft an den Kenntnissen anderer partizipieren. So ist es mir eine angenehme Pflicht, alien zu danken, deren Auskiinfte und Hinweise beim Zustandekom- men dieses Buches hilfreich waren. Fur sein stetes Interesse an meiner Arbeit, auch nach meiner Habilitation, danke ich Prof. Dr. August Nitschke; fur die Schaffung der materiel- len Voraussetzungen zu ihrer Vervollstandigung der «Stiftung Volkswagenwerk»; fur die Aufnahme in die «Monographien» sowohl ihren Herausgebern als auch dem Verlag Anton Hiersemann. Prof. Dr. E. Assmann machte mir freundlicherweise den Text seiner Godeschalcus-Edition schon vor dem Druck zuganglich. AnschlieEend noch einige Hinweise zur Beniitzung dieser Arbeit: die Lebensdaten aller im Text genannten Personen finden sich im Register; alle typographischen Hervorhebun- gen im Text und in den Zitaten stammen von mir; in den Anmerkungen verweisen die Zahlen hinter dem Titel einer Quelle stets auf die iibliche Buch- und Kapiteleinteilung, hinter einer Edition oder in Werken der Sekundarliteratur (wenn nicht ausdrticklich an- ders angegeben) stets auf Seiten oder Spalten; die einigen schwierigeren fremdsprachlichen Texten beigegebenen Ubersetzungshilfen sollen in der Tat nicht mehr sein als eben Hilfen zum Original. P. D. Bleeker, Rainbow ix
EINLEITUNG Um moglichst viele Facetten des Phanomens der Vision im Mittelalter zu erfassen, werden wir an die Quellen Fragen religionsphanomenologischer, literarischer, geschichtli- cher und psychologischer Natur stellen, weshalb ein Methodenpluralismus (historische Methode, phanomenologische Methode . . .) anzuwenden ist. Dazu einige Bemerkungen: Die historische Methode ist die von J. G. Droysen in seiner «Historik» (1858) formulierte bekannte Verfahrensweise der Quellenkritik, nach der alle Geisteswissenschaften vorgehen, sobald sie iiber Vergangenes Aussagen machen wollen. Daher subsumieren wir hier auch die von seiten der Litcr&xmgeschichte an die Visionen heranzutragenden Fragen. Das sich nun bei den mittelalterlichen Visionen immer wieder stellende Problem ist natiirlich das, inwieweit dem Aufgezeichneten wirkliches Erleben zugrunde liegt, und inwieweit wir es mit Zusatzen oder sogar Erfindungen der Aufzeichner zu tun haben. Die Frage ist nicht generell zu losen und wird in einem eigenen Abschnitt behandelt2; jedenfalls scheint es alle Moglichkeiten von der unmittelbaren Niederschrift des mystischen Erlebnis- ses nach bestem Wissen und Gewissen bis zur reinen Erfindung unter Verwendung der visionaren Topoi zu geben. Der Visionsbericht wird ja im Schrifttum des Mittelalters ein literarisches Genus und wurde auch als solches empfunden, wie einschlagige Sammelhand- schriften zeigen. Im Spatmittel alter kommen dazu die vielen Dichtungen, die sich formal als Vision oder Traum geben, obwohl ihnen keine solchen Erlebnisse zugrunde liegen. Neben der (literatur-)historischen Kritik an der einzelnen Vision ist dann die Entwick- lungsgeschichte der Visionen als ein Element der allgemeinen Kultur- und Geistes- geschichte des europaischen Mittelalters zu beschreiben. Es wird zu untersuchen sein, ob die Veranderungen, die in der Geschichte der mittelalterlichen Visionen festgestellt werden konnen, an dieses literarische Genre gebunden und damit also eigengesetzlich (von ihrer Zeit isoliert) sind, oder ob sich analoge Tendenzen auch in anderen Gebieten des mittelal¬ terlichen Lebens zeigen. Tatsachlich scheint sich das «mentale Klima» Europas im Hoch- mittelalter sehr wesentlich zu andern, und diese Anderung lafit sich mit besonderer Deut- lichkeit innerhalb der Geschichte der Visionen darstellen. Eine Reihe weiterer Fragen ist historisch zu beantworten. Sozialgeschichtliche: wer sind die Trager der Visionen3, wer die der Uberlieferung, wer das angesprochene «Publikum»? Literaturgeschichtliche: inwieweit ist die Aufzeichnung einer Vision bestimmten gattungs- immanenten Formen unterworfen, inwieweit werden Topoi verwendet? Wie lebt die Vi¬ sion als literarische Form in anderen mittelalterlichen Literaturgenres weiter? (Die Bezie- hungen von Vision und bildender Kunst im Mittelalter sollen einer eigenen Arbeit vorbe- halten bleiben.) Selbstverstandlich konnen an visionaren Texten auch Untersuchungen zu ihrer Asthetik, Stilistik oder Sprachform, Lexikologie und Linguistik gemacht werden, doch ist auf solche Themen hier nicht weiter einzugehen. 2 s. unten S. 57 ss 3 s. unten S. 223 ss
2 Einleitimg Fragen historisch-politischer Relevanz betreffen die Vision als Propagandamittel zur Unterstiitzung von Anspriichen, zur Herrscher- und Kirchenkritik u.s.f.4 Auch die Frage nach der Funktion der miindlichen und handschriftlichen Tradition der Vision ist eine vorwiegend kirchengeschichtliche. Die psychologische Fragestellung ist die nach der Vergleichbarkeit der mittelalterlichen Visionen mit rezenten Erscheinungen; anders formuliert: gibt es im Leben der Gegenwart psychische Erfahrungen, die denen der Visionare des Mittelalters ahneln - beziehungswei- se: inwieweit ist jene Erfahrungswelt der Vergangenheit heutigen Menschen noch zugang- lich? Dabei zeigt es sich, daE gegenwartige Erfahrungen und Verhaltensweisen, die denen der mittelalterlichen Visionare ahneln, in unserer Kultur vielfach als dem pathologischen Bereich zugehorig beschrieben werden. Um die Frage nach der Psychologie der mittelalterlichen Vision tiberhaupt stellen zu konnen, mehr noch: um von diesem Thema iiberhaupt sprechen zu konnen, muE allerdings eine Hypothese zugrunde gelegt werden (die iibrigens in den meisten histori- schen Werken unreflektiert a priori unterstellt wird), namlich, dal? die Psyche der Men¬ schen vergangener Epochen in wenigstens einigen hauptsachlichen Ziigen der der rezenten Menschen ahnlich sei, daE es also so etwas wie eine anthropologische Vergleichbarkeit gibt. Wir wissen dagegen, daE fur uns das Denken und Fiihlen vergangener Generationen in manchen Punkten einfach nicht mehr nachvollziehbar ist: mittelalterliche Berichte spre¬ chen davon, daE uns nicht mehr zugangliche Erscheinungen wie der «honor», der «splen¬ dor», die «laudes» Handlungsmotive sein konnten.5 Wir wissen jedoch auch, dafi wir viele AuEerungen mittelalterlicher Menschen durchaus nachvollziehen konnen (oder vorsichti- ger: glauben, nachvollziehen zu konnen). Das trifft etwa fur manche Liebesgedichte der Vagantenlyrik zu (weniger aber fur die hohe Minnelyrik), oder z.B. fur die padagogischen Einsichten, wie wir sie bei Anselm von Canterbury finden.6 Die Hypothese der moglichen Vergleichbarkeit wird gestutzt durch die Tatsache, daE vom anthropologischen Standpunkt aus der Korper des Homo sapiens sich prinzipiell in den historischen Epochen nicht unterscheidet, daE also ein gleicher Knochenbau (wie an Ausgrabungsfunden7 und Bildquellen nachprufbar) vorliegt, der auf gleiche gehirnphysio- logische Gegebenheiten schlieEen lafit. Nachdem aber die Bedeutung psychosomatischer Wechselwirkungen aufier Zweifel steht, wird man nicht umhin konnen, doch eine teilweise andere Mentalitat auch auf Grund materieller Gegebenheiten, wie anderer Nahrung, ande- ren Bewegungsweisen (das Mittelalter fascht seine Kinder; eine Eisenrustung erzwingt andere Bewegungen als ein Stoffanzug) anzunehmen. Sicherlich also ist die mittelalterliche Art und Weise, die Dinge zu erleben, von der unseren wenigstens zum Teil verschieden gewesen. Dies gilt grundsatzlich fur die Erkenntnisweise jeder Epoche. «Die intersub jekti- ven Strukturen der Erkenntnis . .. stellen anscheinend eine Sinnbeziehung eigener Art dar, 4 s. unten S. 58ss, 216 s 5 cf. z. B. August Nitschke, Zur Italienpolitik Ottos d. Gr., Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 26, 1975, 155-169, 161 ss 6 Eadmer, Vita 30 s 7 cf. etwa Michel de Bouard, Manuel d’archeologie medievale, Paris 1975, 298 ss
Psychologic 3 die sich geschichtlich wandelt und jeweils einen Horizont von Gegebenheit oder Verdeckt- heit von Sinn festlegt. Wie Subjekte hoherer Ordnung iiberlagern Strukturen des Vorver- standnisses die Erkenntnisbeziehung des Verstehens und bilden an ihm eine besondere Erkenntnisgrenze heraus, die sich in der Diskontinuitat der Geschichte des Verstehens anzeigt.»8 Es sei aber betont, dafi jedweder Aussage iiber die Menschen friiherer Epochen diese Hypothese von der wenigstens teilweisen Verstandlichkeit zugrunde liegt (bewufit oder unbewufit), denn anders ware schon vom rein Sprachlichen her eine Aussage in der Gegenwartssprache iiber die Vergangenheit sinnleer: wenn sich die Wortfelder anima-See- le oder riche-Reich nicht mindestens partiell deckten, miilSten alle Arbeiten iiber das Mittelalter in Mittellatein oder Mittelhochdeutsch u.s.w. erscheinen, und selbst dann wufiten wir meistenteils die Bedeutung der mittelalterlichen Worte nicht aus dem Ge- brauch dieser Sprachen, sondern aus der erneuten Ubersetzung des Lexikons. Und wenn sich uns das Vorhandensein dieser zitierten anthropologischen Konstante nicht immer wieder bei der Beschaftigung mit der Vergangenheit aufdrangen wiirde, sttinde das Interes- se an jeder historischen Forschung auf einer Stufe, die in bezug auf den Primat der Gegen- wart vielleicht der der Palaozoologie entsprache. Wenn wir auch in der Geschichte immer wieder (neben dem Andem) «von Harz bis Hellas lauter Vettem» entdecken, so scheint allerdings keine Methode bekannt zu sein, nach der zu entscheiden ware, ob wir das vor allem tun, weil es sich tatsachlich um «Vettern» handelt (Betonung auf dem Kantischen a posteriori), oder weil wir diese Menschen vor allem so sehert (Betonung auf dem a prio¬ ri). Das bekannte erkenntnistheoretische Problem also, wie in der synthetischen Apperzep- tion die «Aktivitat» von Subjekt respektive Objekt zu gewichten sei. Im iibrigen argumen- tiert der historisch arbeitende Geisteswissenschaftler immer psychologisch (auch wenn er sich das nicht bewuflt macht), sobald er iiber reine Ereignisgeschichte oder Textparaphrase hinausgeht und Kausalzusammenhange herstellt, iiberhaupt, sobald er irgendein menschli- ches Verhalten oder Empfinden «erklart». Wir begegnen bei der psychologischen Beschaftigung mit Visionen allerdings einem ernstzunehmenden Em wand. Der Indologe Frits Staal hat in seinem Buch «Exploring Mysticism»9, in dem er zwar vorwiegend asiatisches Material verwendet, aber trotzdem iiber die mystischen Erfahrungen iiberhaupt spricht, gefordert: «If mysticism is to be studied seriously, it should not merely be studied indirectly and from without, but also directly and from within ... it is therefore quite unreasonable to expert that it could be fruitfully studied by confining oneself to literature about or contributed by mystics, or to the behaviour and physiological characteristics of mystics and their bodies. No one would willingly impose upon himself such artificial constraints when studying other phenome¬ na ... e.g. study percepting only by analysing reports of those who describe what they perceive, and by looking at what happens to people and their bodies when they are engaged in perceiving.» Ein Wissenschaftler, der mystische Phanomene ohne eigene ein- schlagige Erfahrungen studiert «is like a blind man studying vision».10 Konsequenterweise 8 Wilfried Stache, Erkenntnistheorie, in: Alwin Diemer, Ivo Frenzel edd., Philosophie (Fischer Lexikon 11), Frankfurt/M. 1958 u. 6., 51-71, 65 9 Harmondsworth 1975 10 ibid. 125. In der alteren Literatur taucht eine ahnliche Einstellung, soweit ich sehe, hochstens
4 Einleitung erscheinen die hier von uns in dieser Arbeit angewandten Methoden bei Staal unter der Uberschrift: «How not to Study Mysticism: Dogmatic Approaches, Philological and His¬ torical Approaches, Phenomenological Approaches, Physiological and Psychological Ap¬ proaches.»11 Die Richtigkeit dieses bei Staal allerdings teilweise mit ungestiimer Scharfe formulierten Verdikts prinzipiell anerkennend, gibt der Autor dieses Buches zu, selbst iiber keinerlei visionare Erfahrung, nicht einmal drogeninduzierte, zu verfiigen und bekennt, dal? eine solche Erfahrung gewil? der Darstellung zugute gekommen ware (falls sie ihm dann iiber- haupt noch schreibenswert erschienen ware). Hier an der Adaquatheit von Methode und Gegenstand zu zweifeln, scheint in der Tat verniinftig. Den Versuch, trotzdem iiber visionare Erfahrungen - auch ohne angemessene Intro- spektion - zu berichten, kann man dagegen mit zwei Argumenten verteidigen: einerseits sind vergleichbare Visionen nicht herbeifiihrbar (wie man sich anders um das Erlernen einer Sprache bemuhen kann) ohne den entsprechenden religiosen und oft asketischen Hintergrund, auf dem sie im Mittelalter fufiten (durch Drogen verursachte Visionen sind aus jener Epoche nicht bekannt, es sei denn, moglicherweise, im Hexenkult); ein «medie¬ val mind» ist nicht wiederherstellbar, - und andererseits setzt die Aufgabe des Wissen- schaftlers, fur seine Zeitgenossen fremde Erfahrungen - auch auf emotionellem Gebiet — intellektuell zu vermitteln, nicht unbedingt eine solche Intemalisierung seines Themas voraus: wenige Kunsthistoriker dtirften sich finden, die, iiber Giotto schreibend, Fresken von seiner Qualitat zu malen vermochten, wenige Literaturwissenschaftler, die, iiber Chre¬ tien publizierend, dessen Verskunst erreichten, (hoffentlich) wenige Historiker, die, Fried¬ rich II. beurteilend, dessen Charakter besafien. Und fur die Leserschaft gilt ein Gleiches. So ist das, was Staal so abschatzig wie treffend «the armchair approach» nennt12, wahrscheinlich nicht die ideale, aber doch eine sinnvollerweise praktizierbare und prakti- zierte Methodik.13 Freilich gelten hier die schonen Worte Heinrich Seuses noch um vieles mehr: «ungelich sint du wort, du .. . usser einem lebenden herzen dur einen lebenden munt us fliezend ansatzweise auf: iiber das Gnadenleben spatmittelalterlicher Mystikerinnen schreibt Weinhandl, Nonnenleben 78: «Ihr Leben fatft nur, wer selbst - und sei es nur einmal - im gleichen Strahle gespielt.» Cf. Michel de Certeau, Histoire et Mystique, Rev. d’histoire de la spiritualite = Rev. d’ascetique et de mystique 48, 1972, 69-82, 69: «l’histoire ne cesse de creer par ses operations propres une intelligibilite du maferiau ...; la spiritualite ... reconnait un articulation du langage sur Г impossible a dire.» 11 Staal, Mysticism 5 12 ibid. 136 13 Methoden psychologischer Interpretation an mittelalterliche Quellen heranzutragen, wird vor- sichtig bejaht von einem hervorragenden Kenner der mittelalterlichen Spiritualitat, Jean Leclercq, Modeme" Psychologie und die Interpretation mittelalterlicher Texte, Erbe und Auftrag 51, 1975, 409-426 (Modem Psychology an the Interpretation of Medieval Texts, Speculum 48, 1973, 476-490); id., Modem Psychology and the Understanding of Medieval People, Cistercian Studies 11, 1976, 269-289. Ober grundsatzliche Schwierigkeiten cf. Eliane Amado L£vy-Valensi, Histoire et Psychologie?, Annales 20, 1965, 923-938
Phanomenologie 5 gegen den selben worten, so su an daz tot bermint [Pergament] koment... so erkaltent su... und verblichent als die abgebrochenen rosen.»14 Die phanomenologische Methode zielt auf die Beschreibung des Wesens der Erschei- nung, von deren historisch-geographisch-sozialer Gebundenheit dabei abstrahiert wird. Die Religionsphanomenologie15 - in deren Bereich die Erforschung der mittelalterlichen Visionen fallt, da sie geradezu ausschliefilich religiosen Inhalts sind - bemiiht sich, durch Trennung der Erscheinungen von ihrem akzidentiellen Kontext (Ort, Zeit, Klasse ...) die Bedeutung der einzelnen Erscheinungen klar werden zu lassen. So geht es ihr nicht um das Beten der Mystiker oder die Spezifika des priesterlichen Gebets in der Liturgie, sondem um «das Gebet» schlechthin, nicht um die Besonderheiten von westlicher Basilika oder ost- licher Kreuzkuppelkirche, sondem um «den heiligen Raum» an sich. Spezifiziert man diese allgemeine Frage nach den Formen und Inhalten der Begegnung der Menschen mit dem Numinosen auf unser Untersuchungsgebiet, so wird sie zur Frage nach Erlebnis- und Vorstellungswelt des Visionars. So lafit sich einmal idealtypisch eine Definition der mittel¬ alterlichen Vision16 bilden sowie ihr Verlauf als Idealmodell konstruieren, von Predisposi¬ tion fiber Veranlassung, Ekstase, Schau, Rfickkehr ins BewuStsein bis zu den Auswirkun- gen im weiteren Leben. Andererseits kann eine Typologie der Visionen im Mittelalter gebildet werden, ffir die etwa Bildinhalt, visionares Verhalten, geffihlsmafiige Konnotation u.a. konstruierend sind. Aber nach der Erarbeitung dieser Typen ist fiber die phanomeno¬ logische Betrachtungsweise hinauszugehen, indem diese Typen der Visionen je nach der Verteilung in Raum und Zeit wieder an die historische Wirklichkeit zu binden sind. Es ergeben sich dabei Regionen, die zu bestimmten Epochen von ganz verschiedener Frucht- barkeit im Hervorbringen von visionar begabten Religiosen waren, und es ergeben sich zwei Gruppen von Visionaren, die in verschiedenen Perioden mit verschiedener Haufigkeit vertreten waren. Zu einer theologischen Untersuchung fiber mittelalterliche Visionen ffihlt sich der Autor nicht befahigt; es kann daher wohl beschrieben werden, was mittelalterliche Theologen fiber dieses Phanomen aussagten, nicht aber, welche der Offenbarungen ffir den heutigen Glaubigen als wahr oder falsch, verbindlich oder unverbindlich anzusehen seien. Wir dfirfen uns hier vielleicht der Worte bedienen, die ein gelehrter Kapuzinerpater an den Beginn seiner «these ... de theologie ... admise avec grands eloges» setzte: «Faut-il ajou¬ ter foi a leurs conceptions simples et realistes? - Question hors de notre sujetl Qu’il nous suffise d’exposer ce qu’ils ont considere comme vrai.»17 14 Exemplar 1, 2 Prol., Bihlmeyer, Seuse 199 15 cf. Bleeker, Rainbow 1-66; Heiler, Religionen pass., bes. llss, 18ss (Literatur) 16 Religionsphanomenologische Arbeiten nehmen als Quellenbasis meist Zeugnisse aus alien Reli¬ gionen der Erde ohne Zeitbegrenzung. Man kann aber auch eine Phanomenologie einer einzigen Religion versuchen (z. B. Benz, Beschreibung), also auch die einer Phase dieser Religion, wie des Mittelalters. 17 Ayer, Paradis 117s
ABRISS DER FORSCHUNGSGESCHICHTE DER MITTELALTERLICHEN VISION Man konnte die Anfange einer wissenschafdichen Behandlung der Visionen ohne weite- res im Mittelalter ansetzen, denn die Wissenschaft des Mittelalters war die Theologie, und naturlich haben sich Theologen wie Augustinus, Thomas und Gerson Theorien fiber dieses Phanomen gebildet, namentlich was die Einteilung in «species visionum» und ihren Offen- barungscharakter betrifft. Aber die mittelalterlichen Meinungen fiber die Visionen sollen einer eigenen, spateren Arbeit vorbehalten bleiben. Auch in der Neuzeit erfolgte die Beschaftigung mit diesem Thema bis in die Ara nach der Aufklarung und der Franzosischen Revolution, wie zu erwarten, auf Grund von theo- logischen Interessen. Dem Humanismus verpflichtet sammelte man zunachst Stellen aus den Texten der griechisch-romischen Klassik, der Bibel und den Kirchenvatern; als Beispiel sei der «De visionibus et revelationibus naturalibus et diuinis libellus ... »18 des Sorbonne-Theologen Ioannis Benedictus (f 1573) genannt. Damit ist prinzipiell der Materialrahmen auch ffir die barocken Werke vorgezeichnet, die aber in Kombination zur theologischen auch eine rationale Erklarungsweise versuchen, wie der respektable «Discours, et histoires des spectres, visions et apparitions» des «Con- seiller du Roy» Pierre le Loyer (1540-1634)19, der neben ausffihrlichen Doxographien namentlich der antiken Autoren zu den Themen in dem circa 1000 Seiten umfassenden Quart-Band nun auch das Mittelalter berficksichtigt und als erster nachmittelalterlicher Wissenschaftler so etwas wie eine Geschichte der Visionen dieser Epoche in nuce bietet; immerhin kennt er die Visionen des Furseus, Drycthelm, Tundal und der Hildegard von Bingen.20 Vereinzelt richtet man auch in Monographien sein Augenmerk auf diese fibersinnlichen Erscheinungen: Henricus Dodwellus (1641-1711), Geschichtsprofessor in Oxford und «inter Protestantes non infimi subsellii Theologus», wie ihn ein katholischer Kollege wohl lobend, aber nicht ohne Anflug von Ironie nennt21, widmet die vierte seiner «Dissertationes Cyprianicae»22 den «visiones». Dafi das Interesse am Studium der Visionen aber stets ein vorwiegend theologisches war, sei an dem immer noch sehr brauchbaren Werk des Augustiner-Chorherren Eusebius Amort (1692-1775) «De Revelationibus, Visionibus et Apparitionibus privatis Regulae tutae»23 illustriert, das er der «Sanctae Matri Romanae Ecclesiae» gewidmet hat. Im ersten Band bringt Amort eine grundlegende Stellensammlung aus Heiliger Schrift, Kirchen- 18 Moguntiae 1550 19 Paris 1605 20 ibid. 445 ss 21 Kardinal Jos. Augustinus Orsi (1692-1761), zitiert bei Amort, Revelationibus 1, 235 ss 22 Oxford 1684 23 Augustae Vindelicorum 1744. Cf. H. Lais, Eusebius Amort und seine Lehre fiber die Privatof- fenbarungen, Freiburg 1941
16. bis 19. Jahrhundert 7 vatern und Theologen zum Thema «Vision», worauf im zweiten Band die Anwendung der aus diesen ausgezogenen Regeln an konkreten Beispielen erfolgt. Sein in der Praefatio selbst erklartes Ziel ist es, «ut in praesenti materia revelationum facilius discernantur dubia a certis, falsa a veris . . . ». Veranlassung, sich dieser Arbeit zu unterziehen, war ihm, dafi er feststellen mufite, sogar in kirchengeschichtlichen Werken wtirden Visionen zitiert, die von der katholischen Kirche gar keine Approbation erhalten batten. Es paSt zu dieser seiner Intention, dafi Amort, Verfechter einer historisch-kritischen Methode, die damals noch aktuellen Visionen der Maria de Agreda (1602-1665), die abwechselnd indiziert und approbiert wurden, als Weibermarchen und Traumereien verurteilte. Genauso hatte er auch die Unrichtigkeit der die heilige Ursula und ihre Gefahrtinnen betreffenden beriihm- ten Schauungen der als Heilige verehrten Benediktinernonne Elisabeth von Schonau be- wiesen.24 Zweier gleichzeitiger «Visionsforscher» sei noch gedacht: Johannes Jacobus Zimmer- mannus (1695-1750) legte eine fur die Bedeutung der Vision innerhalb der Alten Kirche wichtige Stellensammlung, die «Disquisitio historica et theologica de visionibus quae qua- tuor primis post excessum Christi et Apostolorum Seculis, Christianis quibusdam contigis- se dicuntur», vor, die dieser Theologe wiederum mit rationaler Kritik betrachtete25, wie es ihm als Ziiricher Vertreter der religiosen Aufklarung entsprach. Gleichzeitig arbeitete Nicolas Lenglet Dufresnoy (1674-1755), ein gelehrter Abenteurer und Vielschreiber, an seinem «Recueil de Dissertations Anciennes et Nouvelles, Sur les Apparitions, les Visions et les Songes».26 Obwohl er vor allem die Neuzeit berucksichtigte, brachte er doch auch einige Visionen aus mittelalterlichen Handschriften zum Abdruck. Den auf die Aufklarung und Revolution folgenden Sakularisierungstendenzen gemaS hat man sich im 19. Jahrhundert den iibersinnlichen Phanomenen weniger unter theologi- schen, sondern mehr unter profanwissenschaftlichen Gesichtspunkten genahert. Fragte man im Barock nach wahr oder falsch, nach der Ubereinstimmung mit der sonstigen Lehre der Kirche oder versuchte man, vom Rationalismus der Aufklarung her das Visionare abzuqualifizieren, so stehen nun zumeist an Stelle dieser theologischen Fragen solche der Literaturgeschichte oder der Psychologie. Kam man vorher von dem Problem der unmittel- baren Verwertbarkeit fur das eigene Weltbild, fur die Einordnung in die «fides, quae creditur» her, so befafite man sich nun aus der Distanz mit einer Erf ah rungs welt, die man nicht mehr als fiir sich selbst verbindlich sehen konnte. Besonders seit dieser Zeit werden die Visionen kaum mehr als gottliche Offenbarung - wenigstens der Moglichkeit nach - emst genommen und (wie oft im Mittelalter) auch nicht mehr als Argumentationsgrund- lage verwendet. Ist die politische Geschichte des 19. Jahrhunderts durch die voile Ausformung des Na- tionalismus im Nationalstaat gekennzeichnet, so die Geschichte der Literaturwissenschaft durch die entsprechende «Ideologie», namlich die der Nationalliteraturen. Dementspre- chend beginnt die literaturhistorische Erforschung der Visionen mit einem Text, den man keineswegs seiner selbst wegen, sondern in Bezug zu dem nationalen Dichter Italiens, 24 Amort, Revelationibus 2, 180ss 25 in seinen Opuscula ... 1/2, 646-761 26 2 Bdd. in vier Teilen, Avignon, Paris 1751
8 Forschungsgeschichte Dante, («L’italiano piu italiano che sia mai stato»27), beachtete. Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die Vision des Alberich von Settefrati bekannt28, und seitdem waren namentlich die italienischen Dantisten sehr intensiv mit der Frage beschaftigt, inwieweit «il Poeta» sich durch sie habe inspirieren lassen. 1814 erschienen in Rom Francesco Cancellieri’s beruhm- te «Osservazioni intomo alia Questione ... sopra la Originalita del Poema di Dante», und das 19. und friihe 20. Jahrhundert ist erfiillt mit einer «lettura delle piccole commedie de’ visionisti»29, die aber nie um ihrer selbst willen betrachtet wurden, sondern immer als «precursor! di Dante».30 Das ewige Leitmotiv war die Apologie Dantes — der Gedanke, dieses Genie habe iiberhaupt «precursori» haben konnen, war offensichtlich unertraglich31 —, oder man umschrieb ihr Verhaltnis zu Dante in einem plastischen Vergleich: «Anche il Creatore per trarne il mondo, ebbe bisogno del caos.»32 Immerhin verdanken wir den italienischen Danteforschem dieser Tradition Editionen von Visionstexten innerhalb der «Antiche Leggende e Tradizioni che illustrano la Divina Commedia»33 und auch eine, allerdings noch ziemlich ungenaue Zusammenfassung der mittelalterlichen Visionslitera- tur.34 Ihr vorausgegangen war eine fur ihre Zeit (1842) erstaunlich gut unterrichtete fran- zosische Arbeit gleichen Charakters.35 Ahnliches hat die deutschsprachige Danteforschung erst 1945 hervorgebracht, August Riieggs «Die Jenseitsvorstellungen vor Dante und die iibrigen literarischen Voraussetzungen der Divina Commedia»36, ein Buch, das jedoch im Vergleich zu D’Anconas Arbeit kaum Neues in bezug auf die mittelalterlichen Visionen bringt. Was den Italienern die «Commedia», war der skandinavischen Forschung das «Draumkvaede», jene bis heute mit Eifer studierte Umsetzung einer Jenseitsvision in ein Volkslied.369 Aus der Beschaftigung mit dieser Dichtung ist die der Sprache wegen (norwe- gisch) zu wenig beachtete Studie Moltke Moe’s «Middelalderens Visionsdigtning»37 her- vorgegangen. Eine Fulle von Einzeluntersuchungen gerade auch der letzten Jahre hat «Draumkvaede» zu einer der am intensivsten analysierten Visionen gemacht. Speziell den irischen Visionen hat sich in den zwanziger Jahren wiederholt St. John D. Seymour gewidmet.38 Vereinzelt sind dann Romanisten auf die mittelalterlichen Visionen eingegangen, so u.a. 27 Cesare Balbo 28 Vim, Origini 39; Smith, Apocalypse 15 s 29 Guericio, Rapporti 12 30 so zum Beispiel die Titel der Arbeiten bei D’Ancona, Scrim 3-108, Torraca, Studi 269ss 31 cf. zum Beispiel Torraca, Studi 303 32 D’Ancona, Scritti 103 33 so der Titel des Buches von P. Villari, Pisa 1865 34 D’Ancona, Scritti 3-108; zur Geschichte des Studiums der «precursori» cf. Smith, Apocalypse 15 ss 35 Labitte, Dante 36 Einsiedeln, Koln 1945 ш cf. Dinzelbacher, Draumkvsede 37 Мое, Skrifer 209-247 38 siehe Literatur-Verzeichnis
19. und 20. Jahrhundert 9 C. Fritzsche in seiner Dissertation «Die lateinischen Visionen des Mittelalters»39, die allerdings nur Nacherzahlungen bietet40, Howard Rollin Patch, der in dem sehr material- reichen Band «The Other World, according to descriptions in medieval literature»41 auch ein wichtiges Kapitel den Jenseitsvisionen widmet, oder D. D. R. Owen mit seiner Arbeit «The Vision of Hell»42, worm allerdings blofl die franzosischen Hollenvisionen untersucht werden. Natiirlich konnte man hier eine Vielzahl von aus verschiedenen Bereichen kom- menden Wissenschaftlem aufzahlen, die sich mit einzelnen Visionen beschaftigt haben; ich nenne stellvertretend nur zwei: F. W. E. Roth, der «die Visionen der heiligen Elisabeth» kritisch edierte43, und Theodore Silverstein, der sich seit 1932 immer wieder mit der dem Apostel Paulus zugeschriebenen apokryphen Vision befafite.44 Soweit der literaturwissenschaftliche Zweig der Visionsforschung, der vor allem die Visionen des Typs I als sein Arbeitsgebiet betrachtete, und hier wiederum namentlich die dichterisch bearbeiteten.45 Bleiben die Mystikforschung46 und die Religionspsychologie. Am Anfang steht hier ein Werk, das diese beiden Forschungsrichtungen vereint, «Die christliche Mystik» des Joseph von Gorres (1776-1848).47 Das Prinzip dieses Autors lafit sich vielleicht mit seinen eigenen Worten wiedergeben: er wahlt «aus vielem Merkwurdi- gen, was uns als das Merkwiirdigste erschienen».48 Kritik und Differenzierung fehlen weitgehend, Zeugnisse aus verschiedenen Epochen werden ohne Unterschied verwendet. Einiges findet sich zwar uber die Visionen des Mittelalters, aber durchaus keine systemati- sche Geschichte ihrer Entwicklung. Wenn auch seine naturwissenschaftlich-philosophisch- theologischen Spekuiationen heute kaum mehr emst zu nehmen sind49, so scheinen doch viele spatere Arbeiten auf seinen ausfuhrlichen Quellenausziigen, namentlich auf den Viten der ekstatischen Heiligen, zu basieren. Fiir die weitere Mystikforschung — soweit ihr Thema uberhaupt die Erlebnismystik und nicht die spekulative Mystik bildet — ist es 39 Romanische Forschungen 2, 1886, 247-279; 3, 1887, 337-369 40 wie vor ihm schon Octave Delepierre in mehreren, teilweise in sehr limitierter Zahl gedruckten Biichem, siehe Literatur-Verzeichnis; in Amerika Ernest J. Becker, A Contribution to the compara¬ tive Study of the Medieval Visions ... Diss. Baltimore 1899; in Schottland Marcus Dods, Forerun¬ ners of Dante, Edinburgh 1903 u. a. 41 Cambridge, Mass. 1950 42 Edinburgh 1970 43 Briinn 21886 44 siehe Literatur-Verzeichnis. Seine erste Arbeit war: Dante and the Visio Pauli, Modern Language Notes 47, 1932, 387-399 45 z. B. Francis X. Newman, Somnium: Medieval Theories of Dreaming and the Form of Vision Poetry, Diss. Princeton 1962; Hans Joachim Kamphausen, Traum und Vision in der lateinischen Poesie der Karolingerzeit, Bern, Frankfurt 1975. Was ich hier vorwegnehmend als Тур I bzw. II bezeichne, wird im Verlauf der Arbeit deutlich werden; cf. unten S. 229 ss 46 Einen knappen Uberblick uber ihre Geschichte findet man bei Alois Mager, Mystik als seelische Wirklichkeit, Graz 1945, 398 ss 47 zuerst Regensburg 1836-42, Neuauflage 1879 48 ibid. 1, 327 49 was auch, mit Ausnahme von Larcher, Aspekte pass., in der heutigen Literatur nicht mehr getan wird
10 Forschungsgeschichte charakteristisch, dafl die bildhaften Visionen von ihr nur am Rande behandelt werden; die Betonung liegt auf den Phanomenen der Ekstase und der «unio mystica», die ohne be- schreibbare Bilderwelt sind. Hervorzuheben ist immerhin die ausfuhriiche Behandlung der Visionen durch M. J. Ribet in seiner umfangreichen «mystique divine» (1879-1883), wo man auch einen Motiv-Index ihrer Inhalte findet.50 Freilich ist hier iiber die einzelnen Personlichkeiten eine uniiberschaubare Sekundarlite- ratur entstanden — die Biographien und Schriften einer Gertrud der Grofien oder Kathari- na von Siena bieten Philologen, Geistesgeschichtlem und Theologen ausreichenden Stoff-; die Visionen dieser Personlichkeiten werden aber nicht als Teile einer geschichtli- chen Entwicklung von Sehweise und literarischem Genre begriffen. Am eingehendsten untersucht - da ein Glanzstiick der altflamischen Literatur - sind hier wohl die Visionen der Hadewijch von Antwerpen.50® Auch die Religionspsychologie hat den Visionen keine eigenen Untersuchungen gewid- met, sondern erwahnt sie nur im Zusammenhang mit den anderen einschlagigen «iiber- sinnhchen» Phanomenen. Den grofiten Teil dieser Arbeiten hat Ernst Arbmann in seiner dreibandigen Studie «Ecstasy or religious trance»51 zusammengefafit. Von seiten der Volks- kunde ist die kurze Geschichte der Jenseitsvisionen von P. Saintyves zu erwahnen.51* Haben die visionaren Phanomene im 18. Jahrhundert in Amort und im 19. in Gorres Wissenschaftler von iiberdurchschnittlichen Namen angezogen, so ist auch in dieser Zeit eine entsprechende Arbeit von einem uberdurchschnittlich profilierten Gelehrten vorgelegt worden: «Die Vision, Erfahrungsformen und Bilderwelt» von Ernst Benz.52 Er bringt eine ausfuhriiche und vielseitige Phanomenologie der Vision, wobei auch er sich aber, wie die ganze religionswissenschaftliche und psychologische Forschung, auf Visionare des zweiten Typs beschrankt. 50 Ribet, mystique 2,2ss 50e Dazu zuletzt Dinzelbacher, Hadewijchs pass. 51 Uppsala 1963/70 518 En Marge de la LSgende Doree, Paris 1930,123-158 52 Stuttgart 1969
QUELLEN Chronologische Tabelle der wichtigeren Visionare Da es einerseits ermfidend ware, im Text bei jeder Nennung eines Visionars immer seine Lebensdaten hinzugefiigt zu finden, andererseits eine schnelle Ubersichtsmoglichkeit zum Beispiel fiber Gleichzeitigkeit einer Person mit anderen erwfinscht sein konnte, diirften die folgenden Tabellen von Nutzen sein. Sie steilen nicht den Anspruch, in jedem Fall vollig exakte Angaben zu vermitteln, da dies in Kurzform oft nicht moglich ist: fur manche Visionen gibt es verschiedene chronologische Ansatze, manchesmal ist es unsicher, ob eine Vision zu Recht unter dem Namen geht, unter dem sie iiberliefert ist. Dies alles im Detail zu diskutieren, wird Aufgabe der spateren historischen Darstellung sein. Die hier folgen¬ den vier Spalten geben Auskunft fiber Entstehungszeit der Visionen, Namen der Visionare, Titel und Verfasser der Quelle, in der die Vision am frfihesten bzw. am ausffihr- lichsten geschildert wird, und Kurztitel des von uns verwendeten Druckes, wobei auch unsichere und gefalschte Texte berficksichtigt sind. 1. Zeit: Drei Moglichkeiten standen hier zur Auswahl: man konnte angeben entweder den Zeitpunkt, zu dem die jeweilige Vision laut Bericht erlebt wurde; oder den, zu dem sie aufgezeichnet wurde, oder, so bekannt, die Lebensdaten des Visionars. Alle drei Moglich¬ keiten muSten ausgeschopft werden: das Datum des Erlebtwerdens - wo moglich, ist dieses genannt - kann namlich nicht angegeben werden ffir Visionen, die erst viel spater aufgezeichnet wurden, wie «Ffs Adamnain» oder das «Draumkvsede», hier muSte ob der unsicheren Authentizitat die vermutliche Entstehungszeit des Textes angegeben werden. Immer nur die Zeit der Aufzeichnung zu nehmen, hatte das Bild gleicherweise verzerrt: Owen hatte seine Jenseitsreise Mitte des 12. Jahrhunderts angetreten, niedergeschrieben wurde sie jedoch erst Ende jenes Jahrhunderts wohl aus mtindlicher Tradition; die Haide- rin lebte im 15. Jahrhundert, die Berichte fiber sie entstammen aber in der Form, wie sie heute vorliegen, erst den Jahren 1637/38. Von den Lebensdaten der Visionare wurde, so bekannt, das Sterbedatum nach dem Namen angegeben; in vielen Fallen haben wir aber nicht einmal das: bei Laisren etwa wissen wir nicht, welchem Heiligen dieses Namens die Vision zuzuschreiben ist; bei Tundal ist uns weder Geburts- noch Todesjahr bekannt, die Vision selbst ist dagegen ziemlich genau datiert. Wenn, wie im Spatmittelalter fast regel- mafiig der Fall, ein Visionar mehrere Visionen oft im Zeitraum von vielen Jahren erlebte, konnte nur eine ungefahre Angabe gemacht werden, auch wenn die einzelnen Visionen (wie zum Beispiel bei Elisabeth von Schonau) exakt datiert sind. Bei vielen Charismatike- rinnen sind ihre Schauungen auch nicht in chronologischer Reihenfolge aufgezeichnet, sondem nach thematischen Gesichtspunkten. 2. Name: Der Name des Visionars wurde moglicht vollstandig, auch unter Hinzuffigung wichtiger Varianten, angegeben, wobei auch fibliche Herkunftsbezeichnungen mitaufge- nommen wurden. Ein Sammelausdruck statt der vielen Einzelnamen muSte gegeben wer¬ den, wenn eine Quelle viele kleine Visionsberichte enthalt, wie zum Beispiel das Exempel- werk des Caesarius von Heisterbach, die «Fioretti» oder die Klosterchroniken des 14. Jahrhunderts. Ein Fragezeichen muSte bei all den anonym fiberlieferten Visionen ge-
12 Quellen setzt werden, auch dann, wenn sie andere Namensangaben enthalten: Formulierungen wie «XY an Heito von Basel» etwa waren zu verwirrend. 3. Quelle: Diese Spake zeigt, ob eine Vision als separater Text tradiert wurde oder innerhalb eines Werkes eines anderen Genres erhalten ist. Im ersten Fall bedeutet «Visio» die jeweils entsprechende Vision, also bei Barontus etwa: «Visio Baronti» u.s.f. Sonst ist die Angabe der Quelle fur den Leser dann wichtig, wenn ihm eine andere Ausgabe vorliegt, als die von uns verwendete. Eine Quelle bleibt in den wenigen Fallen ungenannt, wo die Vision ohne eigene Oberschrift vom Herausgeber einem Manuskript entnommen wurde. Sie wird zwischen Anfuhrungszeichen gestellt, so sie unter einem zwar nicht handschrifdi- chen, aber in der Literatur ublich gewordenen Namen bekannt ist, wie die «Vision of William concerning Piers the Plowman». Durch Fufinoten wird auf die Visionen aufmerksam gemacht, die sehr wahrscheinlich keinem ubernatiirlichen Erleben entsprungen sind, sondem gewollter Fiktion. Als «unecht» werden dabei die Visionen bezeichnet, die offensichtlich zu ihrer Zeit fiir echt gehalten werden sollten, wie manche der politischen Visionen der Karolingerzeit. Ausge- schieden und in einer eigenen Tabelie verzeichnet sind die literarischen Texte, die sich der Visions- bzw. Traumform bedienen, ohne so erlebt worden zu sein. 4. Edition: Genannt wird hier derjenige Druck, nach dem innerhalb der Arbeit die Zitate gegeben werden; es ist, unnotig zu sagen, die jeweils beste Ausgabe, soweit erreich- bar. In einigen Fallen standen aber trotz aller Bemiihungen nur minder kritische Editionen zur Verfugung, doch wurden die neueren moglichst aufgefiihrt. Einige Visionarinnen (Ger¬ trud die Grofie, Birgit von Schweden) mufiten nach verschiedenen Ausgaben zitiert wer¬ den, da die mafigebenden zur Zeit noch nicht komplett erschienen sind. Wie vollstandig ist die folgende Tabelie? Hier sind vorab zwei Einschrankungen zu machen: 1. wurden sinnvollerweise nur die Visionen erfafit, deren Inhalte einigermafien ausfuhrlich erhalten sind; das heifit, nicht beachtet wurden all diejenigen Visionen, von deren Existenz wir zwar wissen, deren Inhalt aber verloren ist, wie zum Beispiel die des Niccolo de* Guidoni (1300)5\ oder diejenigen, deren Bilder nur sehr kurz geschildert wurden, wie die beriihmte Welt-Vision des heiligen Benedikt.53 54 2. wurde ausgeschieden das im Mittelalter bekannte, abgeschriebene und teilweise neu formulierte «visionare» Mate¬ rial der Antike heidnischer («Somnium Scipionis» via Macrobius) oder christlich-apokry- pher Pragung (die sehr weit verbreitete «Visio S. Pauli» zum Beispiel). 3. konnten nur gedruckt vorliegende Visionen beriicksichtigt werden. Bei dem gegenwartigen Forschungs- stand diirfte es gerechtfertigt sein, als erstes eine Ubersicht iiber das im Druck zugangliche Material zu versuchen, das zerstreut genug ist, ehe man sich den nur handschriftlich vorliegenden Texten widmet. Das ergibt fiir den Augenblick doch ca. 170 Lemmata, eine Zahl, die sich im Verlauf der Fortsetzung dieser Arbeit wohl vergrofiern wird, wenn auch nicht mehr sehr wesentlich. Dies vorausgesetzt, mufi man die Frage nach der Vollstandigkeit wie folgt beantworten: die erhaltenen Visionen des friihen Mittelalters diirften annahemd erschopfend aufgefiihrt 53 cf. unten S. 187 54 Gregor d. Gr., Dial. 2,35
Erlebte Visionen: 6. bis 7. Jahrhundert 13 sein; von denen des hohen Mittelalters sind wahrscheinlich wenigstens die umfangreiche- ren einigermafien vollstandig registriert (wenn hier auch noch speziell viele Heiligenviten auf Visionen hin zu durchforschen sind), wogegen die spatmittelalterlichen Visionare wohl am liickenhaftesten erfafit sind. Der Grund fur diese ungleiche Gewichtung wird darin zu suchen sein, dafi die Literatur des Friih- und Hochmittelalters generell um einiges besser erforscht ist, als die des Spatmittelalters - charakteristischerweise reichen die bekannten lateinischen Literaturgeschichten von Manitius und Ghellink nur bis ins 12. Jahrhundert, die von Grober und Alfonsi nur bis in die erste Halite des 14. Jahrhunderts, was doch wohl eine Funktion der gegen das spate Mittelalter ins Uniibersichtiiche anwachsenden Zahl der Quellen ist. Das Namliche gilt von den Editionen: die «Patrologia Latina», nicht anders das «Corpus Christianorum», endigen mit dem 12. Jahrhundet, wahrend ahnliche umfassende Sammlungen fur die Folgezeit fehlen. Abkurzungen: A. = Anfang; D. = Drittel; E. = Ende; H. = Halfte; M. = Mitte; id. = selbe Quelle beziehungsweise selbe Edition wie in der vorhergehenden Zeile. Die in der letzten Spalte abgekiirzt zitierten Ausgaben sind in der Bibliographie unter dem Namen des Herausgebers vollstandig angefiihrt, beziehungsweise bei Serien im Abkiirzungsregi- ster entschlusselt. ZEIT VISIONAR QUELLE EDITION A. 6. Jh. Eugendus f 516/7 Vita* MG SS rer. Merov. 3,154ss 2. H. 6. Jh. Salvius (Salvy, Sauve) v. Albi t 584 Gregor v. Tours, Hist. Franc. 7,1 AQ 3,90ss 2. H. 6. Jh.? Sunniulf v. Randan id., id. 4,33 AQ 2,240 vor 588 Nonne aus dem HI. Kreuz- Kloster zu Poitiers id., id. 6,29 AQ 3,48ss vor 594 Mehrere Visionare Gregor d. Gr., Dialogi de vit. et mir. patr. It. 4 Morricca, Dialogi A. 7. Jh. Agustus Paulus v. Merida (?), De vitis patr. Emerit. 1,1, lss Garvin, Vitas 138ss 633? Furseus (Fursa) t ca. 649 Vita 4ss Heist, Vitae 38ss ca. 660 Waningus v. Fecamp t 686/8 Fragm. 2,4* AA SS Jan. 1,1643,592 ca. 692/6 Dry(c)thelm v. Melrose Beda Venerabilis, Hist. eccl. 5,12 Plummer, Baedae 303ss 678/9 Barontus v. Longorus Visio MG SS rer. Merov. 5,368ss * Authentizitat zweifelhaft ** unecht
14 Quellen ZEIT VISIONAR QUELLE EDITION bis 684 Aldegunde (Adelgunde) v. Maubeuge f 684 Vitae AA SS Jan. 2,1643, 1034ss vor 695 Maximus Valerius v. Bierzo, Opuscula (Dicta) PL 87,451ss; Ramon Fernandez Pousa ed., San Valerio, Obras, Madrid 1942,1 lOss vor 695 Bonellus id., id. id. vor 695 Baldarius id., id. id. A. 8. Jh. Monch v. Wenlock Bonifatius, ep. 10 MG Epist. sel. l,8ss M 8. Jh. Englische Visionarin id., id. 115 id., 247ss 803/21 Aethelwulf Carmen 22 MG Poet. lat. 1,60lss 1. V. 9. Jh. Merchdeof id. 11 id. 591ss A. 9. Jh.?/858? Eucherius v. Orleans f 738 Additam. ad Capit. 297** MG Cap. 2,432s 824 Wetti v. Reichenau f 824 Heito v. Basel, Visio MG Poet. lat. 2,267ss vor 836 anonymer Kleriker Brief an Heito Hampe, Reise ca. 839 Englischer Priester Prudentius v. Troyes, Ann. a. a. 839 MG SS 1,433s 818/40 Armes Weib (paupercula) aus dem Gau von Laon Visio Houben, Visio M. 9. Jh. Audradus Modicus v. Sens f nach 853 Liber Revelationum* ed. Ludwig Traube, 0 Roma nobilis IX, Abhandlungen der philosophisch-philo- logischen Classe der koniglich bayrischen Akademie der Wissen- schaften 19,2, Miin- chen 1892,374-391 bis 865 Anskar v. Bremen f 865 Rimbert, Vita MG SS 2,690ss vor 872 Seneca Alcuin, Vers, de sanct, Eub. ecd. 1596ss MG Poet. lat. 1,205s 874 Hathumoda f 874 Agius, Vita MG SS 4,165ss ca. 878 Bemold* Hincmar v. Reims, Opera PL 125,1115ss * moglicherweise unecht * * unecht
Erlebte Visionen: 7. bis 11. Jahrhundert 15 ZEIT VISIONAR QUELLE EDITION 9.Jh. Rotcharius Visio Wattenbach, Petersburg E. 9. Jh.? Laisren* Meyer, Stories 888/ca. 900 Karl Ш. f 888*'* Hariulf v. Ouden- burgh, Chron. Cent. 3,21 PL 174,1287ss 9 ./10. Jh. Adamnan v. Hy (v. Iona) f 704 Fis Adamnain* Boswell, Precursor 10. Jh. Dunstan f 988 Vita 1,3 PL 139,1427 ca. 940 Flothilda v. Lavenna (v. Avenay) Anhang zu Flodoard v. Reims a. a. 940 Duchesne, SS 2,624ss M. 10. Jh. Ulrich v. Augsburg t 973 Gerhard, Vita 2s MG SS 4,388s M. 10. Jh. Robert v. Mozat Visio Rigodon, Mozat vor 984? Bischof* Brun v. Querfurt, Vita S. Adalberti 12 MG SS 4,596ss 2. H. 10. Jh. Poppo Thietmar v. Merse¬ burg, Chron. 2,16 AQ 9,50s ca. 1000 Nial Wulfstan v. York, Homil. 43 (37) Napier, Wulfstan 205ss 11. Jh.? Ansellus Visio* Leclercq, Anselli 1011/12 Zwei Monche von St. Vaast in Arras Hugo v. Flavigny, Chron. 2 MG SS 8,381ss M. 11. Jh.? Leofric v. Mercia f 1057 Visio Napier, Leofric M. 11. Jh.? Mehrere Visionare Petrus Damiani, De abdic. ep. 6/De var. mirac. narrat. PL 145,433s,573ss 1066? Adalbert v. Bremen f Ю72 Adam v. Bremen, Gesta 3,69* AQ 11,420 1069 od. spater Earnan Simeon v. Durham, Hist. Dun. eccl. 3,16 RS 75/l,102ss vor 1070 mehrere Visionare Otloh v. S. Emmeran, Liber visionum PL 146,341ss 1075 Huzmann Lampert v. Hersfeld, Ann. a.a. 1075 AQ 13,302ss 1075 Anno v. Koln 11075 id.* id. 338ss moglicherweise unecht unecht
16 Quellen ZEIT visionAr QUELLE EDITION 1075/80 Eadulf Simeon v. Durham, Hist. Dun. eccl. 3,23 RS 75/1,114ss 1093/96 Boso id. 4,9 id., 130ss 1098 Petrus Bartholomaus t 1098 cf. Steven Runciman, The Holy Lance found at Antioch, Analecta Bollandiana 68,1950, 197-209 11. Jh. Anselm v. Canterbury t 1109 Eadmer, Vita RS 81 11. Jh. Guiberts Mutter Guibert (Wibert) v. Nogent, de vita sua PL 156,834ss E. 11. Jh. Bernhard v. Petershausen Casus Mon. Petrihus. 3,18 Mone, Quellen- sammlung l,142ss 1100 Monch v. St. Peter4** Ordericus Vitalis Hist. eccl. 10,14 ed. August Le Prevost, Paris 1852 (New York, London 1965) 4,83s$ 1102 Praemonstratenser v. U. L. Frau** Gesta archiep. Magd. a.a. 1102 MG SS 14,405 ca. 1117 Alberich v. Settefrati Visio Inguanez, Cod. nach 1119 Wernhar v. Petershausen Casus Mon. Petrihus. 4,18s Mone, Quellen- sammlung 1,156 ca. 1120 Rahere t 1144 Liber fundationis eccl. S. Barth. Lond. William Dugdale u.a. edd., Monasticon Angli- canum VI/1, London 1830,292-295 1125 Ormt П26 Siagrius, Vita et Visio Farmer, Orm 1130 Heinrich v. Ahorn DOnninger, Elemente 80ss 1. D. 12. Jh. Rupert v. Deutz Commentarii PL 168ss vor1139 Zwei Monche aus Vita S. Joannis AASS Juni 4,1707, Pulsano Pulsanen. 5,39ss 51F ss 1141 Heinrich v. Tournai* Chron. Tomac., 1,2 MG SS 14,328s 1. H. 12. Jh. Ailsi Peter v. Cornwall, cf. COULTON, Liber Revelationum Britain 221ss 1143/7 William Helinand v. Froidmont, Chron. a.a. 1146 PL 212,1036s ** moglicherweise unecht unecht
Erlebte Visionen: lLbis 12. Jahrhundert 17 ZEIT visionAr QUELLE EDITION 1147 Johann v. Liittich Visio* PL 180,177ss 1149 Tundal (Tnugdal) Marcus, Visio Wagner, Tnugdal Schade, Tnugdal ca. 1153 Owen H. v. Saltrey, Tractatus de Purgatorio S. Patricii Jenkins, Espurgatoire ca. 2. D. 12. Jh. Christina v. Markyate t nach 1154 Vita Talbot, Christina 1152/64 Elisabeth v. Schonau t И64 Visiones; Lib. viar. Dei; Revel. Roth, Visionen 1161 Gunthelm (Gundelin) Visio Constable, Gunthelm bis 1170 Goderich v. Finchale t 1170 Reginald v. Durham, Lib. de vit et mir. Stevenson, Goderici ca. 1170 (1182?) Christina Mirabilis v. St- Trond (v. Belgien) f 1224 Thomas v. Chantimpre, Vita AASS Juli 5,1727,637ss bis 1179 Hildegard v. Bingen f 1179 Opera PL 197; CCCM 43 1179 Sinuinus Epist. Walleui Farmer, letter 12. Jh. Rainer v. Liittich t nach 1182 Lacrymarum lib. Ill PL 204,153ss 1189 Gottschalk Visio Assmann, Godeschalcus 1196 Edmund v. Eynsham Visio monachi Thurston, Visio; H. E. Salter ed., The Cartulary of the Abbey of Eynsham II, Oxford 1908,257—371 1197 Rannveig «Rannveigar Leizla» Gudbrandur VigfCsson, Jon Sigurdsson edd., Biskupa sogur, K0ben~ havn 1858/78, 1,451-454; 2,9-11 2. H. 12. Jh. Joachim v. Fiore f 1202 De gloria paradisi BdHMER, Gedichte 12. Jh. Zisterziensemovize De Nouicio ... Constable, Novice ca. 1200? Zisterzienser v. Peter v. Cornwall, Holdsworth, Stratford Langthorne Lib. revel. monastery um 1200 Odilia v. Liittich t 1220 Vita Analecta Bollandiana 13,1894,197-287 * moglicherweise unecht ** unecht
18 Quellen ZEIT visionAr QUELLE EDITION 1206 Thurkill Visio Ward, Thurkill; ed. Paul Gerhard Schmidt, Leipzig 1978 12./13. Jh. Zisterzienser-Visionare Herbert v. Sassari (v. Clairvaux), Mirac. S. Bernh./Konrad v. Eberbach, Magn. Exord. Cisterc. PL 185,1273ss Griesser, Exordium 12./A. 13. Jh. Gerald v. Wales (Giraldus Cambrensis v. Barri) f 1223 De invectionibus RS 21/1 12./A. 13. Jh. Ivetta (Jutta) v. Hoy t 1228 Hugo v. Floreffe, Vita AASS Jan. l,1643,863ss E. 12./ A. 13. Jh. mehrere Visionare Caesarius v. Heister- bach, Dial. mir. Strange, Dialogus 1223 Adam v. Kendal t 1223 Bow[mak]er’s Cont. zu Johan v. Fordun, Scotichron. 9,9ss Goodall, Fordun 2,12ss 1. D. 13. Jh. Ida Theutonica v. Nijfel f 1231 Vita 1,12ss Henriquez, Virgines 199ss; Dinzelbacher, Ida 1. H. 13. Jh. Margarete v. Ypres t 1237 Thomas v. Chantimpre, Vita Meersseman, Flandre 1. H. 13. Jh. mehrere Visionare Stephan v. Bourbon, De div. mat. praed. (De VII donis Spir. S.) A. Lecoy de la Marche ed., Etienne de Bourbon, Anecdotes Historiques, Legendes et Apologues ... Paris 1877 1. H. 13. Jh. Hadewijch v. Antwerpen Visioenen Mierlo, Visioenen; ed. Paul Mommaers, Spiritualiteit 15, Suppl., Nijmegen, Brugge 1979; ed. H. W. J. Vekeman, Het Visionenboek van Hadewijch, Nijmegen, Brugge 1980 1254 Kardinal** Matthaus Paris, Chron. maj. a.a. 1254 RS 57/5,471s * unecht ** moglicherweise unecht *** Datum der Obersetzung ins Franzosische und Lateinische
Erlebte Visionen: 13. Jahrhundert 19 ZEIT VISIONAR QUELLE EDITION 13. Jh. Salimbene v. Parma (Ognibene degli Adami) t 1287/8 Chronica ed. Giuseppe Scalia, Scrittori d’ltalia 232/3, Bari 1966 13. Jh. mehrere Franziskaner Actus b. Francisci/ Fioretti/Liber Exem- plorum Fratrum Minorum Sabatier, Actus; Alatri, Fioretti; Oliger, Liber 1265*** Mohammed f 632 Halmaereig*/Livre de PEschiele Mahomed Cerulli, scala bis 1268 Beatrix v. Nazareth t 1268 Willhelm v. Mechlin? (v. Afligheim?) Vita Henriquez, Virgines lss; ed. L. Reypens, Antwerpen 1964 vor 1270 Gerardesca v. Pisa t ca. 1269 Vita AASS Mai 8, 1688,164ss 13. Jh. Doucelina f 1274 Philippinev.Porcellet,Vie ed. R. Gout, Paris 1927 ca. 1275 Elisabeth v. Spaelbeck Philipp v. Clairvaux, Vita BOLLANDINI, Catalogue l,362ss 13. Jh. Mechthild v. Magdeburg t 1282/97 Vliessendes lieht der got- heit = Lux Divinitatis Morel, Offenbarungen/ Monachi, Revelationes 2 13. Jh. mehrere Visionare Thomas v. Chantimpre, Mirac. et exempl. lib. II Duaci 1597 13. Jh.? Olav Asteson (Akneson) Draumkvaede Мое, Skrifter; Michael Barnes ed., Draum¬ kvaede (Studia Norvegica 16), Oslo usw. 1974 2. H. 13. Jh. Roger v. d. Provence t 1287? Vita 18 BOLLANDINI, Catalogus l,346ss bis 1288 Christine d. Kolnische (v. Stommeln) f 1312 Vita I. CollIjn ed., Vita B. Christinae Stumb- elensis, Uppsala 1936 bis 1289 Wilbirgis v. St. Florian f 1289 Einwik, Vita Bernardus Pez, Triumphus castitatis, Augsburg 1715 2. H. 13. Jh. Benevenuta de Bojanis (d’Austria) t 1292 Vita AASS Oct. 13, 1883,145ss ca. 1290/6 Robert v. Uzes t 1296 Liber visionum Bignami, Robert vor 1297 Angela v. Foligno t 1309 Amaldus v. Foligno, Memoriale (Liber de vera fid. exper.) Doncoeur, Angele * unecht ** moglicherweise unecht *** Datum der Obersetzung ins Franzosische und Lateinische
20 Quellen ZEIT visionAr QUELLE EDITION bis 1297 Margherita v. Cortona Giunta de Bevagna, ed. E. Crtvelli, t 1297 Vita Siena 1897 2. H. 13. Jh. Mechthild v. Hackebom (v. Helfta) f 1299 Liber spec. grat. Monachi, Revelationes 2; ed. R. L. J. Bromberg, Het boek der bijzondere genade, Zwolle 1965 2. H. 13. Jh. Gertrud d. Gr. f 1302 Legatus div. pietatis id. 1; SC 139; 143; 255 E. 13. Jh. Ida v. Lowen t ca» 1300 Hugo, Vita Henriquez, Virgines 298ss 13./A. 14. Jh. Johanna (Vanna) v. Orvieto f 1306 Leggenda ed. L. Fumi, Citta di Castello 1885 13./A. 14. Jh. Visionarinnen in Adelhausen Anna v. Munzingen, Chron, K6nig, Chronik ША. 14. Jh. Visionarinnen in Unterlinden Katharina v. Gebwiler, Vitae Ancelet, Unterlinden ca. 1302 Sibyllina Biscossi v. Pavia f 1367 Vita AASS Mart. 3,1668,68ss bis 1309 Lukardis v. Ober- weimar f 1309 Vita Analecta Bollandiana 18, 1899,305—367 bis 1315 Agnes Blannbekin f 1315(?) Revelationes Bemardus Pez ed., ven. Agnetis Blanbekin ... Vita et Revelationes..., Viennae 1731; Peter Dinzelbacher ed. (in Vorbereitung) 1321 Gottfried f 1333 Johannes Trithemius, Ann. Hirsaug. a.a. 1321 Trithemius, Annales 2,149ss bis ca. 1330 Margareta v. Faenza t ca. 1330 Petrus v. Florenz, Vita/ Johannes, Revelationes AASS Aug. 5,1741,845ss bis ca. 1330 Visionarinnen in Otenbach Klosterchronik BXchtold, Otenbach 1331 Anonymus Frati, Patrizio 13./1. H. 14. Jh. Visionarinnen in Engelthal Christine Ebner(in), Buchlein v. d. Genaden Oberlast Schrader, Engelthal 13./1. H. 14. Jh. Visionarinnen in Tofi Elsbet Stagel, « Sch westernbuch» Vetter, Т6В 1333 Kaiser Karl FV. (v. Luxemburg) Vita 7 Pfisterer, Vita bis 1347 Flora (Flour) v. Beaulien f 1347 Vida ed. C. Brunel, Analecta Bollandiana 64,1946,5-49
Erlebte Visionen: 14. Jahrhundert 21 ZEIT visionAr QUELLE EDITION bis 1348 Luitgard v. Wittichen t 1348 Berthold v. Bombach, Leben Mone, Quellen- sammlung 3,438ss ca. l.H. 14. Jh. Visionarinnen in Katharinental Adelheid Pfef- ferharrinf?), Nonnenviten A. Birunger ed., Leben heiliger alemannischer Frauen des Mittelalters V, Alemannia 15,1887, 150-184 13Л4. Jh. Visionarinnen in Weiler «Nonnenviten» Bihlmeyer, Weiler 1312/48 Margareta Ebner(in) t 1351 «Offenbarungen» Strauch, Ebner M. 14. Jh. Petrus Petroni f 1361 Bartholomaeus Scala, Vita 7,67ss AASS Mai 7,1688, 215Bss 1353 Georg v. Ungam Visiones Hammerich, Visiones bis 1356 Christine Ebner(in) t 1356 «Leben und Offenbarungen» G. W. K. Lochner, Leben und Gesichte der Christine Ebner, Niirnberg 1872 1358 Ludwig v. Sur (v. Frankr./ v. Auxerre) Voigt, Beitrage 226ss 2. D. 14. Jh. Heinrich Seuse (Suso) f 1366 Exemplar l Bihlmeyer, Seuse bis 1373 Birgitta v. Schweden t 1373 Revelationes Turrecremata, Revelationes; HOLLMANN, Extravagantes 1373 Juliana v. Norwich f nach 1415 Revelations Walsh, Love; Edmund COLLDEGE, James Walsh edd., A Book of Showings to the Anchoress Julian of Norwich, Toronto 1978 vor 1377 Tommasuccio v. Foligno t 1377 Giusto della Rosa, Vita D. M. Faloci Pulignani ed., La Visione del Beato Tommasuccio, Miscellanea Francescana di storia 8,1893,148-158 bis 1375 Adelheid Langmann f 1375 «Offenbarungen» Strauch, Langmann
22 Quellen ZEIT visionAr QUELLE EDITION bis 1380 Katharina v. Siena t 1380 11 Libro, Epistolario Meattini, libro; ed. Umberto Meattini, s.l. 1966 2. H. 14. Jh. Dorothea v. Montow t 1394 Johannes v. Marienwerder, Viten ed. Hans Westpfahl, Forschungen und Quellen zur Kirchen- u. Kulturgeschichte Ostdeutschlands 1, Koln, Graz 1964 1398 Ramon de Perelhos f nach 1404 Viatge del Vesconte Ramon... Miquel, Llegendas 133ss 1406/09 William Staunton Krapp, Legend 1412 Laurentius Ratholdus v. Pasztho Jacobus Yonge, Memoriale Delehaye, Pёlerinage 2. H. 14 7 A. 15. Jh. } «Christi Leiden» ed. F. P. Pickering, Manchester 1952 14715. Jh. Visionarinnen in Kirchberg ed. F. W. E. Roth, Aufzeichnungen fiber das mystische Leben der Nonnen von Kirchberg . . Alemannia 21,1893, 103-148 14715. Jh. Johanna Maria v. Maille t 1414 Processus Informativus pro can. 5 AASS Marz 3,1668,735ss E. 14./A. 15. Jh. Elisabeth Achler v. Reute f 1420 Konrad Kfigelin v. Waldsee, Vita Bihlmeyer, Achler; Werner Кбск ed., Vita der seligen Elisabeth von Reute, Diss. Innsbruck 1972 E. 147A. 15. Jh. Hendrik Mande(?) f 1431 Tekst 14 Mertens, Mande E. 147A. 15. Jh. Maria (Caterina) Mancini f 1431 Vita G. Sainati, Vita della beata Maria Mancini, Bologna 21890 bis 1431 Margery Kempe «Book» EETS OS 212 1. D. 15. Jh. Lidwina v. Schiedam t 1433 Viten AASS April 2,1675,267ss bis 1440 Francesca v. Rom t 1440 Giovanni Mattiotti, Vita/Tractati Armellini, Vita; Pelaez, Visioni
Erlebte Visionen: IS. Jahrhundert 23 ZEIT visionAr QUELLE EDITION bis 1447 Coletta Boillet v. Corbie t 1447 Viten ed. Ubald d’ALEN^ON, Archives Franciscaines 4,1911 ca. 1450 Blasius Vita S. Bemhardini [Appendix] 36ss AASS Mai 7,1688,823s bis 1458 Magdalena Beutler v. Frei¬ burg (v. Kenzingen) f 1458 MS Stadtbibliothek Mainz Ы, 16; MS Univ. Bibl. Freiburg 185 2. D. 15. Jh. Katharina Vigri v. Bologna f 1463 Opere, Vite cf. M. Muccioli, Santa Caterina da Bologna, Bologna 1963 1467 Isabetta di Luigi Simone di S. Piero, lettera cf. Zabughin, oltretomba 219ss bis 1471 Dionysius (Denis) d. Kartauser v. Rijkel t 1471 Opera Montreuil 1896ss bis 1475 Alanus de Rupe f 1475 Opera Coppenstein, Alanus 3. D. 15. Jh. Nikolaus (Klaus) Heinrich Wolflin, Robert Durrer ed., Lowenburger v. Flue f 1487 [Leben] Bruder Klaus, Sarnen 1917/21,1,535ss 2. H. 15. Jh. Veronika Negroni v. Binasco f 1497 Isidoro Isolani, Vita AASS Jan. l,1643,887ss 2. H. 15. Jh. Girolamo Savonarola Compendium re¬ ed. Angela Crucitti, t 1498 vel ationum’1' Roma 1974 15. Jh. Ursula Haiderin v. Villingen f 1498 Juliana Ernestin, Chron. Glatz, Villingen 3. D. 15. Jh. Columba v. Reate Sebastian v. Perugia, AASS Mai 5, (Rieti) f 1501 Vita *319-*398 2. H. 15. Jh. Osanna Andreasi v. Francisus Silverster, AASS Juni 3, Mantua f 1505 Vita/Hieronymus Mond- olivetanus, Vita 1701,667-800 15716. Jh. Chiara Bugni t 1514 Franciscus Georgius Venetus, De Harmonia Mundi, Venezia 1525 15./16. Jh. Camilla Battista v. Varano f 1527 Opere spirituali ed. G. Boccanera, Iesi 1958 moglicherweise unecht
24 Quellen Chronologische Tabelle literarischer Visionen und Traumdichtungen Im Anschlufi an dieses Verzeichnis erlebter Visionen gebe ich zwei Listen von literari- schen Werken, die in Visions- oder Traumform geschrieben sind.55 Prinzipiell gilt fur diese das zu Beginn der vorgehenden Tabelle Gesagte, mit einer wesentlichen Einschrankung, auf die mit Nachdruck hingewiesen sei: wahrenddem obiges Verzeichnis tendenziell im genannten Rahmen Vollstandigkeit anstrebt, ist hier nur eine Auswahl aus dem viel umfangreicheren Material aufgenommen. Auch sind nicht notwen- digerweise alle in Frage kommenden Werke eines Autors genannt. Da zu diesem Thema m. W. keine vergleichende Obersicht existiert, schien es wichtig, auf die Verbreitung des Visions- und Traummotivs in der gesamteuropaischen Dichtung des Spatmittelalters auf- merksam zu machen. Auch in der Auswahl wird deutlich, daf? sich dieses erst im 12. Jahrf undert richtdggehend zu einem eigenen literarischen Genus zu entwickeln beginnt und im 14. Jahrhundert klar einen Kulminationspunkt erreicht. Es fallt auf, dafi der Anteil vulgarsprachlicher Werke hier viel hoher ist, als in der gleichzeitigen «echten» Visionslite- ratur, die meist von klerikalen Amanuenses aufgezeichnet wird, nicht von Dichtem. Gleichzeitig zeigt sich, dafi die Werke profanen Inhalts (Laudatio, Liebesdichtung, philo- sophische Reflexion, Kritik, politische Konzepdonen ...) das Obergewicht fiber die reli- gioser Thematik gewinnen (Jenseitsreisen, Schicksal der Kirche, Erdenpilgerschaft, Ster- ben ...). Freilich ist die Scheidung von religios und profan, namentlich ffir das frtihe und hohe Mittelalter, problematisch. Auch war es unumganglich, manche Werke arbitrar in die eine oder andere Kategorie einzureihen, da sie eben Elemente beider enthalten; Alanus v. Lille etwa ordnet seine Natura selbstverstandlich der gottlichen Leitung unter56, tragt aber doch in der Hauptsache eine nicht notgedrungen christliche Anthropologie (um nicht zu sagen: Sexologie) vor. Mit «profanen» Texten sind in diesem Zusammenhang also solche gemeint, in denen der Dichter sich nicht primar mit Fragen der Heilslehre beschaf- tigt, wenn diese auch durchaus mitanklingen konnen. Stucke, wie Walahfrieds Fakalien- traum aber darf man getrost, trotz der aus dieser Sphare genommenen Sprache, als religios indifferent bezeichnen. Diese literarischen Visions- und Traumdichtungen sind zwar ursprfinglich nach den ekstatisch-visionaren Jenseitsreisen gestaltet, konnen aber in der Darstellung nur in einzel- nen Beispielen und am Rande erwahnt werden. Das Hauptgewicht der vorliegenden Unter- suchungen liegt ausdrucklich auf den religiosen, in Ekstase und Traum geschauten Vi¬ sionen. 55 zur Unterscheidungj erlebt - gefalscht - literarisch, cf. unten S. 57ss 56 cf. Spearing, Poetry 22 s
Literarische Visionen 25 Literarische Visionen und Traumvisionen religioser Thematik ZEIT AUTOR TITEL EDmON ca. Anf. 8. Jh. ? «Dream of the Rood» Breuer, Lyrik 155ss 8/9. Jh.» ? «Barlaam und Josaphat» (Josaphats Vision) cf. KLL s.v. «Barlaam» 912/13 p Heriger, urbis Maguntiacensis antistes ... = Carm. Cantabrig. 24 Wright, Purgatory 183ss; Horst Kusch, Einfuhrung in das lateinische Mittelalter I, Berlin 1957,220. ? V p Vglospi»* **cf. KLL s.v. «Vglospa» A. 12. Jh.» ? Royal Debate = Visio Philiberti u.a. cf. Ferguson, Debate pass. 1164/5 Archipoeta Nocte quadam Watenphul, Archipoeta 62ss ca. 1170 Walther v. Chatillon f ca. 1200 Dum contemplor animo Dunninger, Elemente 86ss 1174? p Vision zum Tode Thomas Beckets Schmidt, Becket E. 12. Jh. p Apocalypsis Goliae cf. KLL s.v, «Apocalypsis Goliae» 1. D. 13. Jh. Raoul de Houdenc t ca. 1230 Songe d’Enfer/ Songe de Paradis ed. P. Lebesgue, La Rochelle, Paris 1908 ca. 1234 Houon de Mery Toumoiement Antecrist ed. Wimmer, Marburg 1888 2. D. 13. Jh. Bauduin de Conde Voye du Paradis August Scheler ed., Dits et Contes de Bauduin ... I., Bruxelles 1866,205ss vor ca. 1285 Rutebeuf t ca. 1285 Voie de Paradis E. Faral, J. Bastin edd., CEuvres completes de Rutebeuf I, Paris 1959,341ss 1319 Albertino Mussato t 1329 Somnium in Aegritudine Albertinus Mussatus, Historia Augusta Henrici VII. Caesaris ... Venezia 1636, Opp. poet. 83ss * Zeitpunkt des Auftauchens in der europaischen Literatur ** Heidnisch (unter christlichem Einflufi?)
26 Quellen ZEIT AUTOR TITEL EDITION 1340 Jehan de le Mote Voie d’enfer et de paradis ed. M. A. Pety, Washington 1940 1330/58 Guillaume de Digulleville f 1380 Pelerinages ed. J. J. StOrzinger, London 1893/7 2. H. 14. Jh. p Pearl cf. KLL s.v. «Pearl» 2. H. 14. Jh. Rulman Merswin t 1382 Buch von den neun Felsen ed. Philipp Strauch, Altdeutsche Text- bibliothek 27, 1929 p > Voye de Infer cf. Owen, Hell 164s ca. 1369/85 William Langland «The Vision of William Concerning Piers the Plowman» cf. KLL s.v. «Vision of William» 1389 Philippe de Mezieres (Maziere) f 1405? Songe du Vieil Pelerin ed. G.W. Coopland, London 1969 A. 15. Jh. > Death and Life ed. Israel Gollancz, London 1930 ca. 1480 Ramon de Llavia Coronation Nuestra Senora Rafael Benitez Claros ed., Cancionero de Ramon de Llavia, Madrid 1945,299ss 2. H. 15. Jh. Simon Bougouin L’Homme Juste et PHomme Mondain ed. P. J. Houle, Aevum 53,1979,356-369 ca. 1500 William Dunbar f 1525 Poem 57-59; 80 ed. W. Mackay Mackenzie, London 1932 Literarische Visionen und Traumvisionen profaner Thematik ZEIT AUTOR TITEL EDITION 1. H. 9. Jh. Walahfrid Strabo t 849 De quodam somnio ad Erluinum = Carmen 19 MG Poet. lat. 2,364s 1046/8 Anselm Peripateticus v. Besate Rhetorimachia 2,1 MG QG 2,128ss A. 12. Jh. Mac Conglinne Aislinge Meic Conglinne Meyer, Conglinne ca. 1170 Alanus v. Lille (ab Insulis) f 1202 De Planctu Naturae cf. KLL s.v. «De planctu naturae» 3. D. 12. Jh. ? Breudwyt Ronabwy cf. KLL s.v. «Mabinogion»
Literarische Visionen 27 ZEIT AUTOR TITEL EDmON 1230/80 Guillaume de Lorris t ca. 1240 Jean de Meun Q. Clopinel) t A. 14. Jh. Roman de la Rose cf. KLL s.v. «Roman de la Rose»; ed. Daniel Porion, Paris 1974 nach 1277 } Somnium Clerici ed. W. Wattenbach, Be- schreibung einer Hand- schrift der Stadtbiblio- thek zu Reims, Neues Archiv der Gesellschaft fur altere deutsche Geschichtskunde 18, 1893,493-526,496ss ca. 1293 Dante Alighieri f 1321 Vita Nova 3,9,12,23s cf. KLL s.v. «Vita Nova» A. 14. Jh. Mac Cearbhaill Bhuidhe Aisling ad-chonnairc Cormac ed. P. O’Dwyer, A Vision concerning Hugh O’Connor, Eigse 5,1945/47,79-91 1342 Giovanni Boccaccio t 1375 Amorosa Visione cf. KLL s.v. «Amorosa Visione» 1354 id. Corbaccio cf. KLL s.v. «Corbaccio» 1352/74 Francesco Petrarca t 1374 Trionfi cf. KLL s.v. «Trionfi» 1352/53 } Wynnere and Wast- oure ed. Israel Gollancz, London 1920 2. H. 14. Jh. } Parlement of the Tre Ages EETS OS 246 1369/70 Geoffrey Chaucer t 1400 Boke of the Duchesse Fred N. Robinson ed., The Works of Geoffrey Chaucer, Boston 21957 1374 Zenone da Pistoia Pietosa Fonte ed. F. Zambrini, Bologna 1874 = 1968 1376 Philippe de Mezieres (Maziere) f 1405? Somnium Viridarii ed. Melchior Goldast, Revue du Moyen Age Latin 22,1966 pass. ca. 1379 Geoffrey Chaucer t 1400 Hous of Fame cf. KLL s.v. «House of Fame» 1379/82? id. Parlement of Foules cf. KLL s.v. «Parlement of Fouls» ca. 1386 id. Legend of Goode Wimmen, Prol. cf. KLL s.v. «Legende of Good Women»
28 Quellen ZEIT ca. 1382 ca. 1400? 1399/1400 1405 A. 15. Jh. ca. nach 1435 2. D. 15. Jh. E. 15. Jh. 1498 AUTOR TITEL EDITION John Gower f 1408 Vox Clamantis G. C. Macaulay ed., The Complete Works of John Gower IV, Oxford 1902 Jean Froissart f ca. 1410 Paradys d’Araours ed. J.-A.-H. Scheler, Jean Froissart, Poesies, Bruxelles 1870/2 } «Mum and the Sothsegger» EETS OS 199 Christine de Pisan t nach 1429 Avision ed. Mary Louise Towner, Washington 1932 John Lydgate f 1449? The Temple of Glass John Norton-Smith ed., John Lydgate, Poems, Oxford 1966 Alfonso de la Torre Vision delectable ed. Casper Josef Morsello, Diss. Wisconsin 1965 L6pez de Mendoza Inigo Santillana t 1458 Planto de la Reina Margarida/ Coronation de Mossen Jordi de Sant J ordi/Sueno/Vision Jose Amador de los Rios ed., Obras, Madrid 1852 } Assembly of Ladies D. A. Pearsall ed., The Floure ... London 1962 John Skelton f 1529 The Bowge of Court Robert S. Kinsman ed., John Skelton, Poems, Oxford 1969
DEFINITIONEN Vision Was im folgenden mit dem Wort «Vision» bezeichnet werden soli, sei zum einen in einer implizierten Definition, zum anderen durch ein axiomatisches System festgelegt.57 Von einer Vision sprechen wir dann, wenn ein Mensch das Erlebnis hat, aus seiner Umwelt auf aufiematiirliche Weise58 in einen anderen Raum versetzt zu werden, er diesen Raum beziehungsweise dessen Inhalte als beschreibbares Bild schaut, diese Versetzung in Ekstase (oder im Schlaf) geschieht, und ihm dadurch bisher Verborgenes offenbar wird. Die Elemente, die dafiir konstituierend sind, dafi wir von einer «Vision» sprechen werden, sind also die Eindriicke des Raumwechsels, des Wakens einer Ubennenschlichen Macht, der bildhaften Beschreibbarkeit, der Ekstase (oder des Traumes) sowie der Offen- barung. Die Visionen zerfallen dem Inhalt nach in solche religiosen und solche nichtreligiosen Gehaltes. Aus dem Mittelalter sind fast ausschliefilich religiose Visionen bekannt, allein diese bilden die Thematik unserer Darstellung. Nur die Berichte von Phanomenen, fur die alle genannten Definitionspunkte nachweis- bar sind, werden die Quellen fur die folgenden Untersuchungen bilden. Die Zahl der iiberlieferten ekstatischen Phanomene, die in unserem Sinne als «Visionen» anzusprechen sind, ist grofi genug, dafi es keine Schwierigkeiten macht, eine Reihe verschiedener Frage- stellungen nicht immer wieder an denselben Texten erortem zu mussen, sondern jeweils andere Visionen zugrunde zu legen. Dadurch kann dem Leser sowohl einerseits ein gewis- ser Eindruck von der rein quantitativen Bedeutung dieses wenig beachteten Teils des mittelalterlichen Seelenlebens gegeben werden, als auch andererseits eine gewisse Anzahl von Stellen aus einer mittelalterlichen Literaturgattung wenigstens im Auszug zitiert wer¬ den, die im allgemeinen nicht besonders leicht zuganglich ist. Obgleich, wie gesagt, durchaus geniigend Aufzeichnungen vorliegen, die die Konstitu- ierung der «Vision» als einer besonderen Art iibersinnlichen Erlebens neben anderen erforderlich gemacht haben, u. zw. gemafi jener funf Merkmale, - unsere Begriffsbestim- mung also nicht etwa einen (per definitionem gar nicht existierenden) «Idealtypus» be- schreibt ist anzumerken, dafi in den Quellen auch nicht ganz selten von solchen mysti- schen Erlebnissen berichtet wird, die nirgends anders als in der Nahe unserer «Visionen» angesiedelt werden konnen, die man aber als solche, streng genommen, nicht bezeichnen darf. Ihnen namlich fehlt vielleicht das eine oder andere der geforderten Charakteristika; oder es taucht in ihnen ein Element auf, das definitorisch anderen Phanomenen, nament- lich der «Erscheinung», vorbehalten ist. Es gibt also Obergangsformen und Varianten; die Moglichkeiten - Beispiele werden es zeigen - sind erstaunlich grofi. 57 Zur Terminologie cf. I. M. BocHEtfsKi, Die zeitgenossischen Denkmethoden (Uni-TB 6), Miin- chen 1975, 90ss 58 d. h., durch den Eingriff einer tibermenschlichen Gewalt; Gott, die Engel und Heiligen waren dem mittelalterlichen Menschen freilich nicht unbedingt aufiematurlich
30 Definitionen Hier liegt aber auch die Begrundung dafur, dal? einige «Visionen», deren Anfiihrung von manchem Leser wohl erwartet werden diirfte, nicht in die Reihe der zitierten Belege aufgenommen worden sind. Dies betrifft zum einen die sicher oder wahrscheinlich rein literarischen Texte, wie die Apokryphen «Visio Pauli» und «Visio Esdrae»59, die Visionen oder ofter Traumvisionen eines Archipoeta, Guillaume de Digulleville, Rutebeuf, Santilla- na, Langland usf.60 Zum anderen bleiben jene «Visionen» aul?er Betracht, die die Defini¬ tion nicht zur Ganze erfiillen. Hierher gehoren namentlich die Gesichte der Hildegard von Bingen, die sie - so ihre eigene Aussage - mit offenen Augen, ohne jemals dabei eine Ekstase erlitten zu haben, sondem wachend61 schaute. Auch inhaltlich nehmen die Revela- tionen der Meisterin vom Bingener Rupertsberg eine Sonderstellung ein. Weiters die aus- fuhrlichen Jenseitsvisionen, die eine Reihe ritterlicher Besucher des irischen «Purgatorium S. Patricii» berichtet haben: Georg von Ungam, Ludwig de Sur, Ramon de Perelhos, William Staunton und andere, sie alle in der Nachfolge des Owen, dessen Schilderungen von der anderen Welt sie sich in so grofiem Ausmafie zum Vorbild genommen haben, dal? Selbsterlebtes und Literarisches schwer unterscheidbar sind. Sie geben sich teilweise aus- drucklich nicht als «extra corpus», das heifit in Ekstase, sondem als «in corpore», als leiblich erlebt, wiewohl sie doch nicht anders als in Traum oder Ekstase erfahren worden sein konnen, wenigstens was die Fegfeuer- und Paradiesesschilderungen anbelangt.62 Die hier genannten und bei der Untersuchung der Phanomenologie der erlebten Visionen ausgesonderten Texte werden aber in der (in Vorbereitung befindlichen) «Geschichte der Visionen» behandelt werden, da sie in der Entwicklung der visionaren Literature mit Ausnahme vielleicht der Werke Hildegards, eine bedeutende Rolle spielen, vor allem bei der Vermittlung von Vorstellungen tiber die Beschaffenheit der jenseitigen Welt. Inwiefern unterscheidet sich nun unsere Begriffsdefinition von den sonst in der Literatur gebrauchlichen? Sehr haufig wird stillschweigend vorausgesetzt, dal? der Leser ohnehin ein ihm bekanntes Phanomen mit dem Wort verkniipfe und daher wird auf eine Definition von vielen Autoren iiberhaupt verzichtet. Oft auch werden unscharfe Umschreibungen verwendet, oder es wird nur apodeiktisch, also durch Beispiele, definiert. So bezeichnet Osterreich die Visionen als «Sinneserfahrungen vom Transzendenten», als «Offenba- rungsphanomene» und verwendet zur Illustration eine Stelle aus dem «Poimen» des Her- mas, in der der Visionar im Schlaf in eine andere Landschaft versetzt wird, sowie eine Passage aus der Autobiographic Seuses, in der der Diener Gottes von einem tiberirdischen Wesen besucht wird.63 Fiir uns sind diese Kategorisierungen zu grob - auch ein erhortes Gebet kann «Sinneserfahrung vom Transzendenten» sein, auch ein Blitz gottliches Offen- barungsphanomen (wie zum Beispiel fiir Norbert von Xanten!64). 59 wobei freilich nicht prinzipiell ausgeschlossen werden kann, dal? von diesen Personlichkeiten tatsachlich erlebte Visionen gleichsam der Kristallisationskem der heute vorliegenden Oberlieferun- gen waren; in diesem Sinne argumentaert auch Stone, Apocalyptic 55 s v 60 wobei auch hier ekstatisches oder traumerisches Erleben als Anregung - wie bekanntlich bei Dante - nicht prinzipiell als unmoglich zu betrachten ist. Cf. unten S. 65 ss 61 Pitra, Analecta 33 62 cf. meinen Aufsatz «Kunstliche Hollen» (in Vorbereitung) 63 Oesterreich, Religionspsychologie 25 ss 64 cf. Vita 1, MG SS 12, 671
Vision 31 Weiter als die unserige ist die Definition von Farges: eine Vision ist «La perception surnaturelle, exterieure ou interieure, de tout objet naturellement [das heifit nach den Naturgesetzen] invisible pour rhomme.» Damit werden auch die von uns als «Erschei- nung» bezeichneten Phanomene umfafit. Die «vision exterieure» ist nach diesem Theoio- gen eine mit den Augen aufgenommene «apparition», die «interieure» dagegen vom Ge- hirn produziert.65 Geht man jedoch von einem nichttheologischen Standpunkt aus, wird man die erste Art genauso als innerpsychisches Phanomen sehen miissen. Arbman’s Erklarung der Vision, sie «opens the inner, spiritual eyes and ears of the believer in a way that permits him to look into another world, enter into a direct personal contact with its various divine representatives, listen to the messages they have to convey to him, etc.»66, liegt ein Wortgebrauch zugrunde, der sich sehr von dem unseren unter- scheidet: tiblicherweise sieht der Visionar nicht nur den Himmel offen, sondem wird auch dorthin versetzt, sind bestimmte Modalitaten Bedingung (zum Beispiel Traum) usw. Auch Arbmann fafit den Begriff also viel weiter und undifferenzierter. Erscheinungen und Audi- tionen wurden damit genauso getroffen sein, wie die Vision im eigentlichen Sinn des Wortes, die schon von der Etymologie her nicht ohne «optische» Komponente (wie zum Beispiel die Audition) gedacht werden kann. Am ehesten trifft sich unser Terminus «Vision» mit dem von Lindblom an Hand der neutestamentlichen Texte entwickelten. Zwar macht auch er keinen Unterschied zur «Er- scheinung» und zur «Audition» (die ja in der Tat je und je zur Schauung hinzukommt), sieht aber auch die den normalen Bewufitseinsstrom unterbrechende Ekstase als notwendi- ge Voraussetzung an und stellt einige «Kennzeichen der erlebnisechten Visionen» fest, die sich weitgehend durch das mittelalterliche Material bestatigen lassen. So die «Spontanei¬ ty» (die Visionen kommen «als Gabe von oben»), die «Traumhaftigkeit» (ihr Inhalt ist dem Wissen des Sehers entnommen, in Einzelheiten klar, doch in der Komposition wirk- lichkeitsfremd), der «Impressionismus» («Das Geschaute hat den Charakter unmittelba- rer, frischer, lebendiger Wahmehmung; alles ... Durchreflektierte ist zu einem Minimum reduziert»); die «Ubematurlichkeit» (in der Welt der Visionen sind ganz andere Dinge moglich, als auf Erden), die «Unaussprechlichkeit» (ein selten fehlender Topos); die «Ge- fuhlsmafiigkeit» («Die Visionen sind von emotionellen Folgewirkungen begleitet»).67 Der von uns hier verwendete Visionsbegriff ist nun im Sinne einer deiktischen Definition an Beispielen zu erlautern; ich wahle beliebig je eine friih-, hoch- und spatmittelalterliche Vision. Bonifatius (8. Jahrhundert) berichtet der Abtissin Eadburg von Thanet von einer Vision, die er selbst aus dem Munde des Visionars erfahren hat: «Dicebat quippe se per violentis egritudinis dolorem corporis gravidine subito exutum fuisse. Et simillimum esse conlatione veluti si videntis et vigilantis hominis oculi densissimo tegmine velentur; et subito aufera- tur velamen.» Dies ist eine klare Beschreibung der Ekstase: die Seele ist von der Schwere des Korpers befreit, «extra corpus suum raptus», wie Bonifatius im vorhergehenden Satz sagte. Der Visionar «mortuus est et revixit»: der (Schein-)Tod beginnt in Dunkelheit, dann 65 Phenomes 289 66 Ecstasy 1,1 67 Lindblom, Gesichte 32s, 218s
32 Definitional tritt die Seele in die andere Welt, «et tunc perspicua sint omnia, quae antea non visa et velata et ignota fuerunt.» Hier wird schon auf den Offenbarungscharakter der Vision angespielt, die immer eine Onto- bzw. Hierophanie ist, wobei es sich um aufier der jeweili- gen «normalen» Zeit und dem jeweiligen «normalen» Raum liegende geschaute Wirklich- keit handelt. Was hier geoffenbart wird, sind unter anderem: «omnia flagitiorum suorum propria peccamina, quae fecit a iuventute sua et ad confitendum aut neglexit aut oblivioni tradidit vel ad peccatum pertinere omnino nesciebat» (!). Auch erhielt er die Fahigkeit, «diversorum merita hominum in hac vita commorantium ... speculari». Der andere Raum: er sieht zuerst «cunctas terrarum partes et populos et maria», dann «in inferioribus in hoc mundo ... igneos puteos», «mire amoenitatis locum», «igneum piceumque flumen» usf. Das Walten Vberirdischer ist in seinem Bericht beschlossen, «magne claritatis et splendoris angelos eum egressum de corpore [!] suscepisse», wie ja die Einschatzung dieser Vision als gottliche Gnadengabe auch daraus hervorgeht, dafi durch sie der Visionar und andere die Moglichkeit bekommen «omnipotentem Deum ... per satisfactionem repropitiari sibi...» Dafi eine Beschreibung des Geschauten vorliegt, geht aus diesen wenigen zitierten Stellen hervor; dargestellt werden die Jenseitslandschaften und ihre Bewohner.68 Ein Exempel aus der Zisterzienseriiberlieferung soli als Beispiel fur eine im 12. und 13. Jahrhundert erzahlte Vision dienen: ein gleicherweise vom (Schein-)Tod erwachter Bruder berichtet: «Ego cum in morte camis oculos clauderem et carnis sensibus exemptus in vita animae spiritales oculos aperirem [Ekstasemox a sanctis angelis benigne susceptus [Uberirdische] ... usque ad portas paradisi perductus sum [anderer Raum].» Dort wird er jedoch nicht eingelassen, da er ohne seine Kutte starb; er mufi erfahren, dafi «aeterna lege sancitum esse monachum sine habitu monachi, id est cuculla, per portas illas nequaquam intrare». Damit wird ihm also ein vorher nicht bewufiter Usus der anderen Welt offenbar gemacht. Dafi ein schaubarer Inhalt vorliegt, der geschildert werden kann, ist evident (verschiedene Engel, Paradiesespforten .. .).69 Aus dem Ende des Mittelalters sei schliefilich eine der Visionen Veronica Negronis von Binasco (15. Jahrhundert) zitiert, wie sie in ihrer Lebensbeschreibung durch den zeitgenos- sischen Dominikanertheologen Isidoro Isolani mitgeteilt wird. Veronica erlebt den ganzen irdischen Wandel des Herm visionar mit, darunter auch die Beschneidung:70 «Inter Mis- sarum solemnia Circumcisionis Dominicae Veronica sensibus egressa, omatissimum tern- plum adiit: ignara vero cuius regionis foret, affuit illico Angelus Domini, loca quaeque templi Veronicam edocens.» - «Den Sinnen entschritten»: eine treffende Formulierung fur die Abschliefiung von der sinnlich vermittelten Aufienwelt, die ein Kennzeichen der Eksta¬ se ist. Veronica betritt in der Vision einen Kirchenraum, der ihr so unbekannt ist, dafi ihr ein Engel eine ausfiihrliche Beschreibung dieser anderen Umwelt geben mufi, womit das Wirken einer UbematUrlichen Macht ganz konkret eingefiihrt ist. Es ist der Tempel, in dem die Beschneidungszeremonie stattfinden soil; kein Raum der anderen Welt also, sondem 'ein irdischer Bau in Jerusalem, nur - circa 1500 Jahre vor Veronicas Zeit. Der Wechsel des 68 Bonifatius, ep. 10, MG Epist. sel. 1, 8ss 69 Konrad von Eberbach, Magn. Exord. Cist. 5, 3, Griesser, Exordium 276$ 70 Vita 4,3, AASS Jan. 1, 1643, 906
Erscheinung 33 Umraumes ist ein Konstituens des visionaren Erlebens, aber der neue Raum mufi durchaus nicht ein eschatologischer (Himmel, Hdlle, Fegefeuer) sein. «Erat in templo altare praecla- ra magnificentia decorum nimis, ante quod stabat senex ...» Die Beschreibung des Tern- pels, in dem der Charismatikerin alles gezeigt wird, die des reichgeschmiickten Altars und der Personen beweisen, wie greifbar bildlich dieses Gesicht erfahren wird. «Enimvero Mater Maria et Ioseph, quasi tristes, Iesum procul aspiciebant. Denique senex ... pellicu- lam circumcidens pauxillium carnis exemit. At infantulus eiulans et damans vehementer .dolore matrem affecit, qua itidem flebili voce territa Veronica ad sensus regreditur tristis et lacrymis perfusa. Tota quoque die tristior perseuerauit...» Zu den Sixmen «zuriickschrei- ten» ist der entsprechende Ausdruck fiir die Wiederkehr ins Tagesbewufitsein, die hier durch eine «Storung» innerhalb der Vision selbst veranlafit wird. «Condolebat enim infan- tulo Iesu, ac Beatissimae Matri, quam ingenti affectam dolore dignouerat in circumcisione filij.» Hier ist die Offenbarung an Veronica: «dignouerat» — es war ihr vordem gar nicht so bewufit gewesen, dafi auch dies eine Station im Leben des Heilands und seiner schmer- zenreichen Mutter war, die fur den Christen eine mitzuleidende ist. Von den «Visionen» abzugrenzen ist nun ein Phanomen, das zwar seit dem Mittelalter ununterschiedlich ebenso als «visio» bezeichnet wurde, sich aber teilweise durch andere Merkmaie auszeichnet: die «Erscheinung». Erscheinung Mit diesem Terminus soli eine tibersinnliche eidetische Wahmehmung bezeichnet wer- den, die einem Menschen ohne Verlust der gleichzeitigen Wahmehmung seiner naturlichen Umwelt widerfahrt, das heifit also ohne Verlust des Tagesbewufitseins, ohne Ekstase oder Traum.71 Bei einer Erscheinung erscheint also in eben dem Raum, in dem sich der Charismatiker befindet, eine natiirlicherweise nicht sichtbare bzw. dort nicht vorhandene (meist himmli- sche oder hollische72) Person oder Sache, ohne dafi die Kontinuitat der Perzeption des gegebenen Umraumes gestort wurde. Die fur Erscheinungen charakteristischen Merkmaie sind demnach: Einbruch eines Aufierweltlichen, Bewahrung von Tagesbewufitsein und Umraum, bildhafte Beschreibbarkeit und, meist, Offenbarungen oder Befehle beziehungs- 71 Nur in sehr seltenen Fallen ist eine Erscheinung von ekstaseahnlichen korperlichen Phanomen begleitet, weniger ungewohnlich sind Traumerscheinungen, cf. unten S. 44 s 72 Auf die im Mittelalter so ungemein haufigen Teufelserscheinungen nehme ich im folgenden nicht mehr Bezug, da die Damonen, wenigstens im Volksglauben, durchwegs als mit einem real sichtbaren, beriihrbaren, riechbaren Leib vorgestellt werden (wie allein die «incubi» und «succubi» bezeugen), mehr als die «vergeistigteren» Engel. Auf vier Teufelslegenden kommt kaum eine von den Engeln (Tubach, Index 412ss, 437ss). Der viel grofiere Realitatscharakter des Teufels ergibt sich auch aus der Art seines Auftretens in den Volksmarchen und -sagen, wo ja von unublichen psychischen Wahr- nehmungen keine Rede ist. - Als Beispiele fur Darstellungen von Erscheinungen nenne ich: Mario Martins, Narrativas de Apari^oes de Nossa Senhora, Salmanticensis 5, 1958, 703-722; Johann Amos KoMEtfsxf (gen. Comenius), Historia revelationum, s. 1. 1759; Paul Gerhard Schmidt, Die Erscheinung der toten Geliebten, Zs. f. deutsches Altertum 105, 1976, 99-111
34 Definitionen weise Bitten als Inhalt der Kommunikation mit dem Erscheinenden. Die solchermafien als Erscheinungen definierten Phanomene werden in der nachmittelalterlichen Literatur ub- licherweise unterschiedslos zu den Visionen gezahlt; beziehungsweise es wird keine Tren- nung zwischen «Erscheinung» und «Vision» gemacht. So mischt z. B. Osterreich die Termini durcheinander: «Die Erscheinungen haben dann also die Qualitat echter Sinnes- wahmehmungen, sie unterscheiden sich, sobald sie ausgebildet sind, von ihnen, wie die kritische Auffassung meint, nur dadurch, dafi hinter ihnen keine objektive Realitat steht... Die visiondr gesehene Gestalt verdeckt zum Beispiel die hinter ihr befindlichen Gegenstan- de. In anderen Fallen, wo die Vision nicht voll ausgebildet ist, scheinen die gesehenen Gestalten schleierhaft durchsichtig zu sein ...»73 Polls «korperliche Erscheinungsoffenbarungen» (mit den Sinnen des Korpers erfafit) beziehungsweise seine «aufieren Visionen» (im Aufienraum des Erlebenden) decken sich in etwa mit unserem Erscheinungsbegriff74, auch Arbmans «waking visions», bei denen die normalen psychosomatischen Funktionen erhalten bleiben.75 Erscheinungen sind vergleichsweise noch ofter festzustellen, als die ohnehin schon so oft auftretenden Visionen. Wiederum drei Beispiele: aus dem friihen Mittelalter ist ein in- struktiver Text die Schilderung, die Adamnan, dem selbst eine wichtige Jenseitsvision zugeschrieben wird, von der Erscheinung gibt, die das Lebensende des heiligen Columba von Hy (597) vorausgedeutet haben soil. Adamnan schreibt im letzten Dezennium des siebten Jahrhunderts: «... subito, sursum elevatis oculis, facies venerabilis viri florido respersa rubore videtur: quia, sicut scriptum est, Corde laetante vultus floret.76 Eadem namque hora angelum Domini supra volitantem solus vidit infra ipsius oratorii parietes ... De qua scilicet causa inspiratae laetationis, cum qui inerant ibidem praesentes inquirerent, hoc eis Sanctus responsum, sursum respiciens, dedit, Mira et incomparabilis angelicae subtilitas naturae. Ecce enim angelus Domini, ad repetendum aliquod Deo carum missus depositum, nos desuper intra ecclesiam aspiciens et benedicens, rursum per parasticiam ecclesiae reversus, nulla talis vestigia exitus reliquit.»77 Columba befindet sich in der Kirche seines Klosters, um die Sonntagsmesse zu feiern. In diese Kirche hinein fliegt der Bote Gottes um anzudeuten, da£ Gott ein ihm liebes Pfand, namlich Columbas Seele, zuriickholen wird. Der Heilige sieht den Engel eben «innerhalb der Mauem dieser Kirche», der Engel «blickt von oben in die Kirche hinein» und fliegt «durch ein Fensterchen78 der Kirche» wieder hinweg. Der irdische Umraum wird hier also ganz genauso exakt perzipiert, wie sonst auch, von einer Ekstase ist keine Rede, vielmehr bleibt Columba bei vollem Bewufitsein und kann sofort seinen Mitbriidem auf ihre Fragen antworten. Wie bei einer Vision wirkt auch hier eine ubermenschliche Macht, in diesem 73 Oesterreich, Religionspsychologie 28 74 POLL, Religionspsychologie 441 s 75 Arbmann, Ecstasy 1,225; er verwendet in seinem ganzen umfangreichen Werk, wie die meisten andefen Autoren auch, nie das Wort «apparition» 76 Prov. 15,13 77 Vita 3,23, Reeves, Columba 229 s 78 so ubersetzt Bieler, Irland 76; das Wort ist hapax legdmenon unklarer Bedeutung, cf. Reeves, Columba 229*
Erscheinungen 35 Fall fur Columba alleine erfafibar (es gibt auch Erscheinungen, die gleichzeitig von mehre- ren Betrachtern wahrgenommen werden). Der Inhalt ist eine Offenbarung iiber den baldi- gen Hingang des Abtes von Iona. Von diesem Engel wird zwar nicht eine Beschreibung seines Aussehens gegeben, wohl aber seiner Bewegung im Raum. In seinem Buch iiber die Wunder erzahlt Petrus Venerabilis von Cluny (12. Jahrhundert) die «mira», die einem Kartauserbruder widerfuhren. Diesem war ein Knabe zur Erziehung anvertraut worden, dessen friiher Tod ihn zutiefst erschiitterte. Aber der Herr «dignum fecit eum visione coelesti, qua et ipse consolaretur, et quid de ipso, vel puero sentiendum esset, legentibus, sive audientibus proderetur». Als er einmal unter freiem Himmel iiber- nachtete, «defixis non solum mentis, sed corporis oculis in coelum», im Gebet begriffen, «ecce subito per medium, velut per medium discissi aeris lux longe omni corporea luce clarior ei de supernis infulsit, eumque ac loca sibi circumposita splendore immenso perfu- dit». Dal? sich die Erscheinung im naturlichen Umraum, den «umliegenden Gegenden» abspielt, kann klarer nicht gesagt werden; dieser natiirliche Umraum wird sogar von dem himmlischen Licht erhellt, wie durch einen naturlichen Blitz, nur viel intensiver. «... conspicit et dilectum puerum ... de coelis cum eadem luce descendere, atque usque ad se laetum et radiantem venire ...» Nachdem ihn der Knabe getrostet hat, «statim unde venerat paulatim eo conspiciente regredi coepit. Referebat autem ille hujus visionis inspec¬ tor, quod ... ad se converso vultu ... tandiu permansit, quousque — ut de Martino jam dicto legitur — patente coelo receptus videri ultra non potuit.»79 Denselben Gesetzen der Optik gehorchend wie Lebende wird der so wunderbar erschienene Knabe mit wachsender Entfemung immer kleiner. Der Charismatiker hat weder eine psychische noch eine raumli- che Veranderung erfahren, der Selige hat sich ihm genahert und wieder von ihm zuriickge- zogen. Und gerade, dal? es sich hier um eine Erscheinung und nicht um eine Traumvision (in unserer Terminologie gesprochen) handelt, fallt Petrus auf, der sich der Parallele und des Unterschieds zu einem von dem Autor der Vita des heiligen Martin beschriebenen Ereignis sehr wohl bewufit ist: «Quae visio, in hoc forte visioni illi praeponderat, quod Severus Sulpicius illam sicut ipse perhibet, licet matutinis horis leviter dormiens, tamen dormiens vidit, hanc autem iste non dormiens, sed vigilans, sub divo positus atque orationi toto corde intentus conspexit.» Sulpicius namlich hatte im Schlaf, und zwar — ein haufi- ges Motiv — genau zur Todesstunde des verehrten Bischofs, ein Gesicht, dal? Martin ihm erschienen sei und ihm nach liebevoller Benediktion wieder «in sublime sublatus eripitur ... patenti coelo receptus», ohne dal? er ihm hatte folgen konnen.80 Gehen wir in das spate Mittelalter. Das bekannteste Beispiel des 15. Jahrhunderts fur Erscheinungen — und nicht Visionen — sind die «revelationes», die Jeanne d’Arc zuteil wurden. Obwohl in dem Prozel? ihrer Verurteilung zunachst zumeist von Stimmen die Rede ist, die sie leiteten, steht es fest, dal? die Jungfrau die Heiligen sparer auch gesehen hat: «Interrogata quae fuit prima vox veniens ad earn, dum esset aetatis XIII annorum vel circiter: respondit quod fuit sanctus Michael81, quern vidit ante oculos suos; et non erat 79 De miraculis 2,29, PL 189, 948 s, Interpunktion korrigiert; PL: illi 80 Sulpicius Severus, ep. 2, CSEL 1,143; diese «visio» wurden wir als «Traumerscheinung», eine Nebenform der iiblichen Erscheinung, betrachten; cf. unten S. 44 s 81 cf. Delaruelle, piete 389 ss: L’archange Saint Michel dans la spiritualite de Jeanne d’Arc
36 Definidonen solus, sed erat bene associatus angelis de coelo. Dixit etiam quod non venit in Franciam, nisi ex praecepto Dei.» Jeanne wird also keineswegs in irgendeinen heiligen Raum versetzt, sondem die Engel kommen dorthin, wo sie sich befindet, nach Frankreich, und wo sie sie «ante oculos», mit ihren leiblichen Augen, und nicht mit denen der Seele, wahmimmt: «Ego vidi eos oculis meis corporalibus, aeque bene sicut ego video vos», sagt sie zu ihren Richtem, «et quando recedebant a me, plorabam ...»82 Die Realitat der Erscheinungen war so groS, dafi sie sie umarmte, kul?te - so auch den Boden, tiber den sie geschritten waren — und beschreiben konnte, dafi Katharina und Margaretha «multum opulenter et multum pretdose» gekront waren und gut dufteten.83 Diese Heiligen vermitteln der Jung¬ frau Offenbarungen, namlich dariiber, wie sie sich nach gottlichem Ratschlufi zu verhalten habe. Von irgendwelchen Entraffungen ist kerne Rede.84 Obergangsformen Es sind nun noch ein paar Beispiele von mystischen Phanomenen zu erwahnen, die man als den Visionen nahestehend oder einen Zwischentyp zwischen «Vision» und «Erschei- nung» bildend bezeichnen kann. Dies soil dazu beitragen, den Eindruck zu relativieren, alle Arten ubersinnlicher visueller Erfahrungen seien schon durch die beiden beschriebenen Phanomene abgedeckt. Es gibt tatsachlich viele solche Erscheinungen, fur die die Defini- tionen nicht in alien Punkten gelten wiirden. Diese haben jedoch nichtsdestoweniger ihre Berechtigung, da «Vision» und «Erscheinung» zahlenmaffig sicher die haufigsten mysti¬ schen Erfahrungen im Mittelalter sind. Man konnte vielleicht sagen, dafi es sich dabei um verschiedene Stufen desselben Grundphanomens «unubliche Wahmehmung» handelt.85 Zuerst ein Text aus dem Ende der ausgehenden christlichen Antike, aus einem Bereich, der auch die abendlandische Erzahl- und Erlebenstradition tief gepragt haben mufi, dem der «Wiistenvater» Agyptens. Auch im Westen viel gelesen war die Lebensbeschreibung des Einsiedlers Antonius von Athanasius (4. Jahrhundert). Sie enthalt folgende Episode86: «Aliquando enim ... sensit se raptum esse mente. Et, quod erat ammirabile, stans videbat se stare extra, et quasi deduci in aerem ab aliquibus.» «Raptus» ist ein im Mittelalter oft wiederkehrender Terminus fur einen in Ekstase Gefallenen, hier durch «mente» (man 82 Pierre Champion ed., Proces de Condamnation de Jeanne d’Arc I, Paris 1920, 54 83 ibid. 221s, 53; tiber ihr sonstiges Aussehen weifi sie nichts auszusagen 84 Cf. Alexandre Brierre de Boismont, Des hallucinations ou histoire raisonnee des apparitions, des visions, des songes ... Paris 1845, 427ss; Jacques Cordier, Jeanne d’Arc, Wiesbaden 1966, 73 ss; J. Zurcher, Johanna von Arc vom psychologischen und psychopathologischen Standpunkt, Diss. Leizig 1895; A. Lang, The voices of Jeanne d’Arc, Proceedings of the Society for Psychological Research 11, 1895, 189-212; H. Chassagnon, Les voix de Jeanne d’Arc, Lyon 1896; Philippe Hector Dunand, Les visions et les voix de Jeanne d’Arc, Toulouse 1903; Weidel, Ekstase, pass.; Hecker, Visionen 17-35 85 Soweit ich nachtraglich sehe, wird eine Unterscheidung zwischen diesen beiden Phanomenen nur von Gad, Legenden 97, 117 und auch nur andeutungsweise gemacht 86 Pseudo-Hieronymus, Vita Antonii 65, Christine Mohrmann, G. J. M. Barteunk edd., Vita di Antonio, s. 1. 1974, 126 s
Obergangsforraen 37 mochte fast (ibersetzen: «TagesbewuStsein») verdeutlicht. Das «stare extra» ist genau die Bedeutung yon Extase (ёк-отаоид); die nicht naher Bezeichneten, die seine Seek entfuhren (denn der Korper bleibt ja stehen), miissen Engel sein. Das Ungewohnliche an dieser Schilderung ist, dal? eben dieser noch auf Erden verbliebene Antonius das erblickt, und nicht der entraffte Teil seines Ichs. Ublich ist sonst, dal? der Visionar von aul?en seinen Korper sieht, und nicht umgekehrt. Es wird nun die Disputation der Engel mit den Teufeln, die den Aufstieg versperren wollen, erzahlt, die damit endet, dal? ihnen der Weg freigegeben wird. Dies ist ein spater aufierst oft auftretendes.Motiv, der Krieger in Gregors Dialogen, Furseus, Barontus, Tun- dal und viele andere berichten davon. «Et continuo vidit se venientem, ad se stantem, et iterum erat Antonius totus.» Wiederum die Schilderung vom Ruhenden her, und nicht von der entfuhrten Seele. Abschliefiend wird der Monch dem Apostel Paulus gegenubergestellt, der bis zum dritten Himmel entrafft worden war. Die Elemente einer Vision sind durchge- hend gegeben: Ekstase, ubematurliche Machte, Offenbarung, (Antonius lernt, «per quan- tos labores transire habemus aerem» [um in den Himmel zu kommen]), schwacher die Beschreibbarkeit (die Damonen als «amari et pessimi»). Auch der Raumwechsel ist vor- handen, indem der Heilige visionar in die Luft («extra») erhoben wird - aber die Beobach- tung wird als vom Korper aus erfolgend geschildert. Ein gutes Beispiel fiir eine Mischform von Erscheinung und Vision findet sich unter den mystischen Erlebnissen der Elisabeth von Schonau87: «In vigilia sancti Jacobi apostoli post prandium languere cepi graviter, nec tamen usque ad extasim infirmata sum», das heil?t, sie verblieb im normalen, alltaglichen BewuEtseinszustand. «Et vidi lucem, quam videre soleo, quasi super ecclesiam bead Florini, ubi domini fratres nostri manent.» Die Lichter- scheinung, die, wie so oft, den Einbruch des Himmlischen auf Erden signalisiert, wird also, so scheint es zunachst, uber der ganz konkret sichtbaren Kirche geschaut, hie et nunc. «Et vidi quasi scalam in modum radiantis auri splendidam de luce ilia descendentem usque ad altare maius, quod est in sanctuario. Cumque aspicerem, vidi adolescentes duos per earn descendentes usque ad altare... Erantque ita ascendentes et descendentes a Nona prioris diei usque ad Nonam sequentis diei. Tamdiu enim continue in hac visione permansi.» Das Bild der Jakobsleiter (Gen. 28,10ss) wird auf die eigene Kirche ubertragen, zur Bekrafti- gung dessen, dal? auch ihr Hauptaltar (so wie der Stein im Alten Testament) ein Platz ist, an dem Gott wahrhaftig anwesend ist. Elisabeth sieht die Florinus-Kirche offenbar sowohl von auEen (das Licht dariiber) als auch von innen (der Altar), und zwar aus der Nahe: sie mul? erst vom Altar aufschauen, um die Engel zu erblicken. Diese Schau dauert, obschon nicht in einer Ekstase, einen vollen Tag an. Elisabeth sieht auch, wie Maria, Jakob und die Ы. Christina herabsteigen. «Vidi autem eo die claritatem magnam circa prefatum altare, et omnia, que gerebantur illic. Nam et operimentum altaris, quale esset cognovi, et magistre nostre indicavi. Ipsa autem directo illuc nuntio, comperit ita esse, ut dixi.» Diese Fernsicht ist ganz dem «zweiten Gesicht» vergleichbar - nur dal? Elisabeth neben der irdischen Realitat (dem geschmiickten Altar) auch gleichzeitig eine andere, iiberirdische mitsieht. Einerseits wird ihr offenbar, was sich im Raum zwischen Himmel und Erde abspielt, wobei 87 Vis. 1,18. Roth, Visionen 10
38 Definitional sie das Gebaude der Florinus-Kirche von aufien betrachtet, andererseits auch, wie die Kirche von innen aussieht. Es handelt sich hier also um den Fall der Schau eines visionaren Bildinhaltes, ohne dafi jedoch die Visionarin das Gefuhl, eine Ortsveranderung selbst mitzumachen, erlebt. Offensichtlich, da sie ja den Zustand als nicht an eine Ekstase heranreichend beschreibt, bleibt sie sich bewufit, auf ihrem Krankenlager zu liegen. Das visionare Element ist die Schau der Kirche von innen und aufien; das der Erscheinung zuzurechnende das Auftauchen der Himmelsleiter iiber diesem Bauwerk. Bei ekstatischen Visionen, die den Charismatiker in irdische Gegenden versetzen (namentlich ins Heilige Land), wie sie Elisabeth auch selbst gehabt hat, geht dann wahrend der Vision iiblicher- weise alles «normal» zu, ohne Erscheinungen innerhalb des visionaren Raumes. Hatten wir nur den Bericht von der plotzlich iiber der Kirche erstrahlenden Leiter, so ware dies (sehen wir von der Innenraumschau ab) eine einfache Erscheinung; da aber dieser Platz offensichtlich nicht etwa durch ein Fenster vom Kloster aus gesehen wird {«quasi super ecclesiam»; Elisabeth ist schwer krank «languere cepi graviter» und liegt daher wohl in einem Bett des Infirmitoriums), existiert das ganze Bild nur vor ihrem geistigen Auge - also sozusagen eine Television plus Erscheinung. Wie schwer bisweilen die Zuordnung zu einer der beiden Gattungen speziell bei den Schauungen der spatmittelalterlichen Mystikerinnen fallt, sei schliefilich an einer ihrer wichtigsten Vertreterinnen illustriert. Es handelt sich um ein Gesprach, das Mechthild von Magdeburg mit der abgeschiedenen Seele eines Laienbruders fiihrt. Ob es sich hier um eine der nach den mittelalterlichen Berichten so ungemein haufigen Totenerscheinungen™ han¬ delt, also hier auf Erden spielt, oder ob Mechthild visionar in diesen Vorhimmel versetzt wird, in dem der Konverse offensichtlich seine Ruhestatte hat, bleibt vollig offen. Es heifit nur: «Do wart sin sele demselben menschen bewiset, der vur in bat [= sc. Mechthild], do was er schone in himelischer wuiie...» «Die sele», also Mechthild, fragt dann nach seinen «Lebensumstanden»: «Warumbe v8re du nit zehant zu dem himelriche: Do sprach er: Ich mus allererst hie enphahen gotliche bekantnisse und himelsch mine, der hette ich in ertri- che nit.» Dann kommt das bekannte Motiv88a, dafi die Seele noch Flecken hat, die ihr wegen einer Siinde noch anhaften, bis sie durch Bul?e, Almosen oder Gebet gereinigt erscheint. Die Nonne fragt weiter: <«Wavon tragest du dise cronen? Nu bistu noch zu dem himelrich nit komen.> - Do sprach er: <Ich hatte einen sunderlichen tot...>»88 89 Sucht man nach Anhaltspunkten, wo diese Szene sich abspielen konnte, da es ausdriicklich nicht der Himmel ist, so ist die Evidenz geteilt: auf eine Vision weist einmal moglicherweise der Ausdruck «in himmlischer Wonne» - was aber auch auf den Zustand, nicht den Ort gemiinzt sein kann, und andererseits die Uberschrift «Die Seele» vor Mechthilds erster Frage, was aber auch bedeuten kann, dafi das Gesprach in spiritu, ohne mundliches Reden, telepathisch erfolgt. Der Schauplatz konnte zum Beispiel das irdische Paradies sein. Gegen die Vermutung, dafi eine Vision vorliegt, spricht aber das Wort des Laienbruders, er miisse 88 Tubach, Index 435 kennt ca. 240 diesbezugliche Exempla! Ein bes. ausfiihrliches findet sich z.B. bei Gervasius v. Tilbury, Otia imp. 103; cf. auch Saintyves, Marge 36ss ш cf. Leopold Kretzenbacher, Aus Schwarz wird Weifi: Zu einem Gnadensinnzeichen als Legen- dentopos, in: Volkskultur, FS Franz C. Lipp, Wien 1978, 227-237; Becker, Contribution 32 89 Vliess. liecht 7, 49, Morel, Offenbarungen 264
Traumvisionen 39 erst «Ыег» Gotteserkenntnis und Himmelsliebe empfangen; dieses «Ыег» kann dem «auf Erden» entsprechen, so dafi wir es also mit einer Erscheinung zu tun batten, die sich in Mechthilds Zelle ereignete. An der lateinischen Version, in der Mechthilds Buch ja auch vorliegt, finden wir hier keine Hilfe, da diese das 7. Buch weglafit. Traumvisionen und Traumerscheinungen89fl Die Visionen, aus denen wir oben zitiert haben, sind in einem besonderen korperlichen Zustand erfahren worden, der nicht der normalen somatischen Verfassung entspricht, unabhangig davon, ob wahrend einer Krankheit - scharfer: der Krisis einer Krankheit - oder in einem wenigstens fur die Aufienwelt krankheitsahnlichen Zustand wahrend einer Lebensphase, in der der Visionar sich sonst wohl befindet. Ob man aber den schwerkran- ken Edmund v. Eynsham betrachtet, oder die zwischen wenig Gesundheit und viel Krank¬ heit schwankende Elisabeth v. Schonau, oder die recht riistige Margery Kempe: ihre Ekstasen - die sie aus einem Wachzustand, nicht einem Schlaf herausreifien - manifestie- ren sich immer dadurch, dal? die sensuelle Verbindung zur Aufienwelt abgeschnitten ist und der Leib in einem scheintodahnlichen Zustand liegt, wobei er meist von einer Starre ergriffen wird. Die Umstehenden sind regelmafiig der Meinung, der Visionar stehe an der Grenze zum Sterben oder erleide einen schweren Krankheitsanfall, es sei denn, dafi man es mit einer Person zu tun hat, bei der solche Erscheinungen in so haufiger Wiederholung auftreten, dafi man sich schon daran gewohnt hat und sie mit Interesse erwartet. Dabei gibt es in der Intensitat dieser Entriickungen alle Abstufungen. Viele Visionare konnen auf keine Art, weder durch Nadeln, Feuer, Larm, Schlage usw. aus ihrer Ekstase gerissen werden (Edmund, Osanna); bei einigen beenden Manipulationen an ihrem Korper (Thur- kill) die Entriickung, manche werden durch die befehlende Stimme ihres Seelenfiihrers ins irdische Leben zuriickgeholt. Diese Charismatiker sind zutiefst uberzeugt, auf ganz aufier- gewohnliche Weise Empfanger einer gottlichen Revelation geworden zu sein. Dies alles unterscheidet die Ekstase vom Traumzustand, fur den es - anders als fur die Vision - Vorbedingung ist, eingeschlafen zu sein. Aus dem Traum kann man normal geweckt werden, man ist sich der Gewohnlichkeit der Form, in der hierbei Offenbarungen empfangen wurden, bewufit; der Form - der Inhalt dagegen wird wie bei den ekstatischen Visionen als iiberirdische Enthiillung erlebt und letztlich als Offenbarung der Gottheit. Und hier haben wir auch eine Abgrenzung zu den normalen Traumen: diese beanspruchen nicht, Wahrheiten im religiosen Sinne zu vermitteln. Die Traum vision dagegen will emst genommen werden und wird es auch (wenngleich dazu manchmal einige Wiederholungen erforderlich sind). Keineswegs hat man im Mittelalter jeden Traum eo ipso als bedeutungs- voll angesehen. Man wufite aus der Traumtheorie der Antike von der somatischen Genese mancher Traume («ventris plenitudine vel inanitate»90) und man kannte durchaus auch 89a Zu diesem Thema cf. vor allem Kamphausen, Traum pass.; zu der dort zitierten Literatur: Benz, Vision 104-130; Chadwick, Dreams pass.; Spearing, Poetry pass.; Newman, Somnium pass. 90 Gregor d. Gr., Dial. 4,50, cf. Kamphausen, Traum 22,36,46; Newman, Somnium 42 ss; Hieatt, Realism 25 s; generell Saintyves, Marge 3ss
40 Definitionen das Phanomen des «Tagesrest», mit dem gar nicht so selten ein Traum erklart wird, wenn auch ein entsprechendes Wort fehlte. «Quae enim vigilando cogitamus... sive bona sint sive mala, eadem nobis saepe per somnia occurrunt.»91 Aber freilich ist die Bedeutung der Traume fur das Mitteialter eine andere als for die Gegenwart: die cartesianische Trennung von Traum- und Wachwelt ist noch nicht gene- rell in der Scharfe vollzogen, wie heute; die Traumtheorie laSt bedeutungsvolle Traume («oracula», «visiones», «somnia» im Unterschied zu den «insomnia» und «visa» in der verbreiteten Terminologie des Macrobius92) zu. Es exisderten Traumbiicher, wenn auch ihre Bedeutung nicht mit der ihrer orientalischen Quellen zu vergleichen ist93, und es gab Weise, die sich auf die Deutung von Traumen verstanden. Der vielleicht bekannteste unter ihnen war wohl der des Arabischen kundige Amald v. Villanova, der die Traume der Konige von Aragon, als deren Leibarzt und Ratgeber er fungierte, mit kirchenkritischer Tendenz auslegte («Interpretatio... de visionibus in somnis dominorum Jacobi secundi regis Aragonum et Friderici tertii regis Siciliae», 1308).94 Wahrenddem man von der gegenwartigen Kommunikation zwischen Wach- und Traumwelt sagen kann, sie sei «limited to a one-way street going from outside to inside»95, konnte der Traum in Gesellschaften altertiimlicherer Pragung auch das Handeln beeinflus- sen. Hat er heute heuristischen Wert nur for die Welt unserer Seele (Psychoanalyse), so hatte er damals heuristischen Wert for die Erkenntnis einer realen, sonst aber nicht zu- ganglichen Welt aufier uns, wie der von Himmel und Holle.96 Und wenn sich auch mittelal- terliche Traumer nach dem Erwachen dessen bewufit gewesen sein mogen, nur in einer irrealen Welt agiert zu haben (wahrend der Ekstatiker in einer zwar aufierirdischen aber sehr realen Welt war)y war er doch eher bereit, das Schlafgesicht als Schickung einer aufier ihm liegenden Macht anzusehen, als ein Abbild eschatologischer Raume. Freilich wurde eine Distinktion zwischen Traum und Wachen gemacht97, aber der Realitatshintergrund vieler Traume wurde hoher gewertet, als wir dies tun wtirden. Eine besondere, nicht als Traumvisionen anzusprechende Gruppe ist die der in der damaligen Literatur oft bezeugten prophetischen Traume, deren allgemein sicherlich be- kanntester aus dem «Nibelungenlied» die Ermordung Siegfrieds durch Hagen und Gun¬ ther vorausdeutet: «In disen hohen eren troumte Kriemhilde,/ wie si ziige einen valken, stare sccen’ und wilde,/ den ir zwen$ am erkrummen ...»98 Dies ist allerdings keine 91 Caesarius v. Heisterbach, Dial. mir. 7,14, Strange, Dialogue 2,17; cf. Chaucer, Parliament of Fowls 99 ss 92 Kamphausen, Traum 22 und pass.; Newman, Somnium 70 ss; Speckenbach, Traum 172 93 Andre Paradis, Les oniromanciens et leur traites des reves, in: Allard, marginalite 119-128; Gerhart Hoffmeister, Rasis* Traumlehre, Traumbucher des Spatmittelalters, Archiv for Kulturge- schichte 51, 1969, 137-159 94 Pou, Visionarios 44 95 Roger Bastide, The Sociology of the Dreams, in: Grunebaum, Dream 199-211, 208, 201 96 cf. Grunebaum, Dream 21 97 Eine kritische Gegenstromung gegen den Traumglauben setzt u. a. in der hofischen Dichtung ein, cf. Schmitz, Traum 62,64,90 98 1,13х ss, Karl Bartsch, Helmut de Boor, edd., Das Nibelxmgenlied, Wiesbaden 191967,6; cf. F.
Funktion der Traume 41 gottliche Offenbarang, sondern «es dokumentiert sich vielmehr eine im Menschen inne- wohnende magische Kraft, die eine richtige Deutung der Traumbilder bewirken kann»99, was hier auf die Mutter Ute zutrifft. In der erzahlenden Literatur sind hierbei folgende Typen nach den Funktionen zu unterscheiden, die die Traumszenen (in den alteren Texten ohne Beteiligung des Traumers selbst) erfullen100: Wamtraume101, Verheifiungstraume102, Befehle103 und Problemlosun- gen.104 105 106 Ob ihrer Kiirze und ihrer erst zu deutenden Symbolik erlaubten diese Traume dem Autor «de suggerer les peripeties futures sans les definir».103 Obwohl man hier zuerst an die bekannten Stellen der EpikIOff denkt, liegt solchen Schilderungen naturlich ein reales Erle- ben zugrunde, wie es sich im Mittelalter u. a. in Selbstbiographien beschrieben findet, z. B. in der des Gerald v. Wales des ofteren107 oder in den autobiographische Teile enthaltenden Geschichtswerken des Gregor v. Tours und Thietmar v. Merseburg.108 Freilich viel haufiger treffen wir dieses Motiv der (auf das erlebende Individuum bezogenen) Weissagung in seiner verchristlichten Form, nicht nur in der Hagiographie109, sondern auch in autobiogra- phischen Texten, etwa in Patricks «Confessio» (c. 23). Ein profanes Beispiel findet sich E. Plosz, Byzantinische Traumsymbolik und Kriemhilds Falkentraum, Germanisch-Romanische Mo- natsschrift 39, 1958, 218-226; andere Beispiele: Saintyves, Marge 50ss 99 Forstner, Baudris 54 100 nach Schmitz, Traum pass. 101 z. B. Ekkehart, Waltharius 623 ss 102 z. B. Salman und Morolf 534 ss 103 z. B. Heinrich v. Veldeke, Sanct Servatius 1, 1731 ss 104 z. B. Munchener Oswald 2320 ss 105 Herman Braet, Fonction et importance du songe dans la chanson de geste, Le Moyen Age 76, 1971, 405-416, 412 106 In der Sekundarliteratur oft behandelt, cf. u. a. Herman Braet, Fonction et importance du songe dans la chason de geste (Romania Gandensia 15), Gand 1975; Steven R. Fischer, The Dreams in the Middle High German Epic, Bern, Frankfurt 1978; K. J. Steinmayer, Untersuchungen zur allegorischen Bedeutung der Traume im altfranzosischen Rolandslied, Miinchen 1963; Richard Mentz, Die Traume in den altfranzosischen Karls- und Artusepen, Marburg 1888; Gerhard Smie- der, Traumstruktur und Umsetzung der Handlung ... <Ruodlieb> XVII, 85 - XVIII, 32, Mittellatei- nisches JB 10,1975, 62-73. In der Antike: John Barker Stearns, Studies of the Dream as a Technical Device in Latin Epic and Drama (Diss. Princeton), Lancaster, Penna., 1927; Maurice ffiuN, Le songe dans PEpopee et le Theatre latins, Rev. beige de Philologie et d’Histoire 8, 1929, 700-716; J. G. Wetzel, Quomodo poetae epici et Graeci et Romani somnia descripserint, Diss. Berlin 1931; Bern- hard BOchsenschOtz, Traum und Traumdeutung im Altertum, Berlin 1868; Achille Crespi, Le visioni nei poemi di Omero e Vergilio, Rivista di storia antica 10,1905,531-542; Gudmund Bjorck, ONAR IDEIN: De la perception du reve chez les anciens, Eranos 44, 1946, 308-314; Dario Del Corno, I sogni e la loro interpretazione nelPeta dell’impero, in: Hildegard Temporini, Wolfgang Haase edd., Aufstieg und Niedergang der romischen Welt 11/16, 2, Berlin, New York 1978, 1605-1618; knappe Zusammenfassung bei Le Goff, essais 299 ss 107 bes. De invectionibus 2 ss 108 Gregor, Hist. Franc. 7,22; 8,5. Thietmar, Chronicon 6,46; 8,16 109 wo nunmehr die Heiligen das Traum-Charisma der antiken Konige (Pharao) und Heroen (Scipio) ubemommen haben, wie Le Goff, essais 305 bemerkt
42 Definitionen etwa auch in der Sverrir Saga 2, wo der kunftige Herrscher sich im Schlafe in einen Vogel verwandelt sieht, der ganz Norwegen in seiner Grol?e iiberdeckt usw.110 Aus dem Altnor- dischen kennen wir viele Traume dieser Art; oft enthalten sie Vorhersagen von Ungliicks- fallen, die die ganz irdischen Lebensgeschicke betreffen.111 Sind aber die Bedingungen der raumlichen Veranderung und des religiosen Inhaltes gegeben, miissen wir diese Texte als Traumvisionen beriicksichtigen. Eine Definition der Traumvision wiirde also nicht anders lauten, als die der ekstatischen Vision - mit der einen Anderung, dal? der Austritt der Seele nun wahrend des Schlafes erfolgt, also in einem auch gar nicht visionar veranlagten Personen wohlvertrauten Zu- stand. So wird als Zeit der Schauung auch regelmafiig die Nacht angegeben, besonders die Stunden nach Mitternacht.112 Ein interessantes Beispiel unbezweifelbarer Authentizitat fiir eine solche Traumvision entnehmen wir der Autobiographic des spateren Kaisers Karl IV.113 Am 15. August 1333 ubemachtete er mit seinem Vater in Terenzo im Gebiet von Parma. «Ilia vero node cum nos sopor invaderet, apparuit nobis quedam visio, quoniam angelus domini astdtit iuxta nos in parte sinistra, ubi iacebamus, et percussit nos in latere, dicens <Surge et veni nobiscum.>... Et acdpiens nos per capillos anterioris partis capitis, exportavit nos secum in aerem super magnam aciem armatorum equitum, qui stabant ante unum castrum parati ad prelium.» Es ist eine Nacht wie jede andere auf diesem Kriegszug durch Itaiien. Nichts deutet auf besondere iibersinnliche Erlebnisse hin. Keine Zeichen eines krankhaften Befin- dens, keine Bemerkungen uber besondere Erregung. «Der Schlaf uberkam uns ...» Aber was Karl nun im Traum erlebt, entspricht genau dem, was viele der Visionare in einer Phase zwischen Tod und Leben schauen: ihr Fiihrer tritt an sie heran, in fast alien Visionen ein Engel. Er tragt den Prinzen an den Haaren durch die Luft: ein Motiv, das dem frommen Luxemburger wohl als eine Erinnerung an Ezechiel 8,3 untergekommen ist und das sich auch in anderen - ekstatischen - Visionen findet.114 Hier haben wir also eindeutig die Empfindung der Losung der Seele aus dem Korper, verbunden mit einer Ortsverande- rung: der Traumer befindet sich uber dem Vorfeld einer Burg, die, wie sich spater heraus- stellen sollte, dem Grafen von Savoyen zu eigen war. Ein Engel steigt nun vom Himmel herab, der dem Fiihrer dieser Heerscharen, einem Verwandten Karls, Bigo v. Vienne115 mit einem Flammenschwert den Geschlechtsteil abschneidet. Nachdem der Visionar auf seine besorgte Frage hin erfahren hat, dal? der Verwundete noch lange genug am Leben bleiben wird, um seine Siinden zu beichten,...«subito restituti fuimus ad locum nostrum, aurora iam clarescente. Veniensque .. .camerarius patris nostri, exdtavit nos ... Tunc surreximus, 110 Schach, Dreams 57; cf. G. D. Kelchner, Dreams in Old Norse Literature and their Affinities in Folklore, Cambridge 1935=1977; Wilhelm Henzen, Ober die Traume in der altnordischen Sagali- teratur, Leipzig 1880 111 Robert J. Glendinning, The Dreams in Sturla Pddarson's Islendinga Saga and Literary Con¬ sciousness in 13^ Century Iceland, Arv 29/30, 1973/4, 128-148, 131 112 Kamphausen 200, 209 113 Vita 7, Pfisterer, Vita 22 s 114 cf. Benz, Vision 563 und Visio Alberici 1 115 Guigo VIII.; das allgemein zu findende Todesdatum ist allerdings 28. Juli 1333
Die Traumvision Karls IV. 43 et eramus confracti et quasi fessi sicut post magnum laborem itineris.» Karl scheint langer als gewohnt geschlafen zu haben, da ihn der Kammerer vorwurfsvoll fragt, warum er seinen Vater warten lasse. Sein korperliches Mitgenommensein erinnert wiederum an andere Visionen, in denen der Seher eine Reminiszenz an seine Erlebnisse auch am Leib mitnimmt: Furseus und Rannveig ihre Brandwunden, Gottschalk seine Eiterungen, Els- beth Achler ihr Blutschwitzen.116 Als Karl vollkommen iiberzeugt den wesentlichen Inhalt seiner Offenbarung erzahlt, wird er von dem Ritter ausgelacht und von seinem Vater gescholten: «Noli credere somp- niis.» So unterlafit er es lieber, weitere Einzelheiten seiner Traumerfahrung mitzuteilen. Er selbst aber, und das ist ein wesentliches Moment einer Traumvision gegeniiber einem normalen Traum, ist im Glauben an die Richtigkeit des Geschauten nicht ins Wanken zu bringen. Nach einigen Tagen erhalt er auch tatsachlich die Bestatigung: es wird gemeldet, der Dauphin sei von einem Pfeil getroffen worden und nach der letzten Beichte verstorben. So wichtig ist dem Prinzen diese seine Vision, dal? er sie spater in Avignon Papst Benedikt XII. erzahlen mul?. Da sie auf einen Marienfeiertag gefallen war, hat Karl dann die Lesung von Marienhoren fur die Prager Kirche angeordnet117 und in Terenzo eine Kirche erbauen lassen.118 Sind nun die Faktoren des Raumwechsels, der bildlichen Beschreibbarkeit und des Eingriffes einer iiberirdischen Macht (des Engels) deutlich geworden, so ist noch nach dem religiosen Offenbarungsgehalt zu fragen. Prophetie ist Karls Schauung naturlich gleichzei- tig auch. Die Offenbarung liegt in den Worten, die der Engel an Karl zur Erklarung des ihm Gezeigten richtet: Bigo «propter peccatum luxurie sic a deo est percussus»; und wenn sich Karls Vater Johann nicht vorsehen wiirde, dann wiirde ihnen beiden (offenbar war also auch der Prinz nicht unanfallig fur fleischliche Versuchungen) Schlimmeres zu- stoSen.119 Genauso, wie etwa in einer Jenseitsvision dem Charismatiker die verschiedenen Strafen nicht zuletzt darum gezeigt werden, damit er sich vor den Sunden hiite, deren Lohn sie sind, mul? auch der Konigssohn erfahren, wie Gott schon auf Erden die Siinde der Flei- scheslust racht. Auch das Motdv, dal? der Visionar noch Lebenden Botschaften zu iiberbringen hat, taucht hier also auf, indem der Engel ihn ausdriicklich auffordert, seinem Vater diese Wamung zu sagen - was sich Karl jedoch nicht getraut, «propter aliquas raciones», wie es beschonigend in der «Vita» heifit.120 Wenn wir es hier bei diesem einen Beispiel aus dem spaten Mittelalter belassen, so bedeutet dies keineswegs, dal? wir Traumvisionen nicht auch aus den anderen Epochen kennen: im friihen Mittelalter etwa die des Laisren, Anskar, Walahfrid Strabo oder eines anonymen Priesters; im hohen die von Sinuinus, Rupert v. Deutz, Rainer v. Liittich, Gerald 116 Vita Fursei 23; Vis. Godesc. A 59; Vita Elsb. Achler 9 117 Vita 14, ed. cit. 49 118 Otakar Odlo£ilik, The Terenzo Dream of Charles IV, in: FS Anton Blaschka (Orbis Mediae¬ val), Weimar 1970, 163-173, 167 119 Vita 7, ed. cit. 23 120 ibid. 14, ed. cit. 49
44 Definitionen v. Wales aufgezeichneten; im spaten der zu den Franziskanem bekehrte Rauber, Robert d’Uzes oder der «Pearl»-Dichter.121 Gerade die Traumvision aber wird in besonderem Mafie die Form, in die (verstarkt ab dem Hochmittelalter) verschiedene rein fiktive Inhalte eingekleidet werden, so dal? hier eine kritische Priifung in vielen Fallen einen echten Erlebnishintergrund wird vemeinen mtissen. So wird aus autobiographischen Aufzeichnungen ein rein literarisches Genre122; man erinnert sich, dal? auch die Prophetie diese Entwicklung von als subjektiv echt empfunde- nen Eingebungen (Hildegard v. Bingen, Elisabeth v. Schonau usw.) zu bewufiten Mach- werken (auch dichterischer Qualitat: z. B. die auf Hildegard ful?enden Weissagungen bei Michel Beheim123) gegangen ist. Wie Visionen im Traum geschehen konnen, so auch Erscheinungen. Der Schlafer hat analog zur Wacherscheinung den Eindruck, er bleibe an seinem Ort, und eine meist aufierweltliche Person, ein Engel, Teufel, Heiliger, Gott selbst, am haufigsten wohl aber ein Verstorbener, kame zu ihm. Sehr oft kommt es zu einer Anrede oder einem Zwiege- sprach. Ein Traumerlebnis des Petrus Venerabilis124 125 wird uns ein um so interessanteres Beispiel sein, als der Abt von Cluny in die Erzahlung immer wieder seine Reflexionen zu diesem Phanomen einschiebt. Nicht lange nachdem der offenbar allgemein ob seiner Strenge gehafite, von Petrus jedoch geschatzte Prior Willhelm ermordet worden war, reiste Petrus in die Heilige Stadt. «Ibi dum node quadam quiescerem, ecce vir venerandae vitae domi- nus Guillelmus... mihi donnienti visus est in somnis astare.» Der Tote also besucht den ruhig in seinem Bett ruhenden Petrus, der sich offenbar auf dem ganzen Weg nach Italien mit diesem Verbrechen und der von ihm ersehnten Rache beschaftigt hatte («de tarn nefanda re anxius et dubius» hatte er seine Reise angetreten). Hoch erfreut steht der Abt von seinem Bett auf, umarmt und ku&t den Ankommling- im Traum, wessen er sich selbst genau bewufit bleibt: «Licet autem altus sopor exteriorem sensum officia occupasset, vigebat tamen velut in vigilante memoria, meque dormire dormiens non ignorabam. Nec illud mente exciderat ilium qui videbatur in somnis videri...» In dieser Bemerkung erfas- sen wir wiederum einen Unterschied zu den Visionen jedenfalls des frlihen und hohen Mittelalters123: dort ist es namlich die Regel, dal? der Visionar dabei keine Kenntnis von dem psychosomatischen Zustand seiner Entriickung hat; das gleiche gilt generell fur alle nichtekstadschen Erscheinungserlebnisse im Wachzustand. Petrus richtete nun vier Fragen an den Geist, die wir nicht iibergehen wollen, da sie uns einen Einblick in die Probleme eines mittelalterlichen Menschen tun lassen, der von ergrei- fender Unmittelbarkeit ist. Petrus ist sich namlich im klaren dariiber, dal? der zu ihm Gekommene nur kurze Zeit auf Erden verweilen darf, deshalb stellt er nur die Fragen, die fur ihn von primarer Bedeutung sind. Sie zielen in die Bereiche Hoffen, Glauben und Wissen, die (nach Kant) zentralen Bereiche menschlichen Denkens. Nach der einleitenden 121 cf. auch Le Loyer, Discours 420 ss 122 cf. unten S. 65 ss 123 cf. Struve, Utopie 81 ss 124 Petrus, de tnirac. 2, 25, PL 189, 938 ss 125 der ersten Phase, cf. unten
Traumerscheinung des Petrus Venerabilis 45 Frage, wie sich Willhelm befinde, spricht ihn Petrus daraufhin an, ob er schon zur Schau Gottes gekommen sei, deren Erlangung die grofite Hoffnung eines Christen bildet. Darauf die Glaubensfrage: «Estne, inquam, certum quod de Deo credimus, estne absque dubita- tione, vera fides quam tenemus?» 1st das eine Frage - hinter der ein Zweifel liegen mufi! - die wir von einem Erzabt v. Cluny erwarten wiirden, der sein Leben so intensiv in den Dienst der Verwirklichung eben jener «fides» gestellt hat? Und schliefilich die Wissensfra- ge, die allerdings Wissensfrage nur im allerweitesten Sinn ist, da sie sich auf einen konkre- ten Einzelpunkt richtet: «Verum est ...quosdam quos ipse non ignoratis ... vos occidisse? Verum est, inquit, verum est. Hie dictis, et ipse disparuit, et ego evigilans ea quae videram recolere et admirari incipiebafn.» Wie bei einer Wacherscheinung verschwindet der Geist wieder, der Seher bleibt alleine zuruck. Obwohl Petrus fiber diese Begegnung urteilt: «Non phantastica, sed verax... visio», wiederholt sie sich ihm zur Bekraftigung. Nicht genug, «Ut vero hujus visionis vel sotnnii indubia veritas commendaretur...», gelang es ihm, den Schuldigen ausfindig zu machen, als er nach Frankreich zurfickgekehrt war. «Haec supra- scripta visio», beendet Petrus seinen Bencht, «licet in somnis apparuerit, idcircio mihi fide digna videtur, quia et dormientis tarn integra in tantis, ut dixi, memoria, et iterata ac per omnia primae similis secundae visionis... forma, atque ipsius detestandi hominis publica confessio, non falsam, sed veram earn, ut arbitror, omnino demonstrant.» Dafi auch Petrus zwischen «sonmium» und «visio» keinen Unterschied macht, zeigt sein Wortgebrauch. Dafi er sich der Moglichkeit eines Truges bewufit ist, erhellt aus seinen absichernden Formulierungen. Man mufi sie wohl vor dem Hintergrund der kritischen mittelalterlichen Traumtheorie sehen, wie sie etwa der vielgeiesene Isidor von Sevilla vertrat126, mehr vielleicht noch vor den wamenden Worten Jesus Sirachs (34,1-8) und Jeremias (23,25ss) - Gegenstimmen gegen die sonst in HI. Schrift und mittelalterlicher Theologie vorwiegende Schatzung des (wahren) Traumes. Der mittelalterliche Wortgebrauch Nach diesen Unterscheidungen fragen wir, welche Worte das Mittelalter selbst fur die beschriebenen Phanomene verwendet hat. Die folgenden Angaben sind ausschliefilich nach den Texten gegeben, die unmittelbare Schilderungen solcher iibersinnlicher Erlebnisse bieten; das heifit, von der Terminologie etwa der Theologen, die iiber diese Phanomene reflektierten, wird im Augenblick abgesehen. Erwiinscht und lohnend ware eine lingui- stische Wortfelduntersuchung der folgenden Termini.127 Vorab ist zu betonen, dafi alle Formen der visuellen Begegnung mit der Welt der Unirdischen - seien es nun Raume oder Personen - zumeist unterschiedslos mit denselben Worten bezeichnet werden. Im allgemei- nen ist die von uns gemachte Aufspaltung dieses Phanomens in Vision, Erscheinung und Traumvision dem Mittelalter unbekannt. Dariiber gleich mehr. 126 Kamphausen, Traum 48 s 127 Lucius, litterature ist ein Ansatz dazu; unverstandlicherweise kommt die Autorin dabei (21, 25) zu dem ausgesprochen krassen Fehlurteil: «Pendant cette periode [namlich der mittellateini- schen!) visio est seulement un term juridique»
46 Definitionen Der weitaus haufigste Ausdruck, mit dem im Mittellatein die Konfrontation mit dem Aufierirdischen benannt wird, ist «visio». Besitzen Darstellungen von Visionen oder Er- scheinungen uberhaupt eine Oberschrift, sei es als Kapitelbeginn in einem grofieren Werk, sei es als Titel eines eigenen Manuskriptes, so heifit es im friihen und hohen Mittelalter so gut wie immer, im spaten weniger haufig «Visio»: Heitos «Visio Wettini»; die «visio cujusdam militis Hybemiensis» — «visio Tnugdali narracio» = «visio de situ Ybernie»128 129; «Visiones Georgii» ... Das Wort geht natiirlich in die mittelalterlichen Volkssprachen ein, wie wir z. B. aus den Obersetzungen der lateinischen Visionen ersehen: franzosisch «vi- s(i)on(s)», «avision»; provenzalisch «vecion»; italienisch «visione»; spanisch «visio»; eng- lisch «visyon»; deutsch «visiun(e)» etc. In der Haufigkeit an zweiter Stelle steht wohl «revelatio»; im Spatmittelalter kommt dieses Wort vielleicht sogar ofter vor als «visio». Dafi diese beiden Ausdriicke vollkommen synonym verwendet werden, erhellt (abgesehen von Formulierungen wie «revelatio visio- nis»lw) aus den Tatsachen, dafi dieselbe Vision einmal handschriftlich unter dem Titel «Visio Baronti», ein andermal unter «Revelatio beati Baronti»130 iiberliefert ist, oder dafi derselbe Verfasser eine Vision abwechselnd als «revelacio» und «visio» bezeichnet.131 Auch dieses Wort wurde vulgarsprachlich: franzosisch «revelement», «revelation»; italienisch «revelazione», spanisch «revelacion», englisch «reuelacioun», flamisch «revelacie»... Im Spatmittelalter wird «revelatio» gem dort gebraucht, wo die fruheren Schreiber «visio» genommen hatten: die Offenbarungen an Birgitta von Schweden, Juliana von Norwich, Savonarola u. a. gehen unter dieser Oberschrift. Nicht nur die Visionen in unserem Sinne, auch die Erscheinungen werden im Mittelalter vollig unterschiedslos als «visiones» (oder auch «revelationes») bezeichnet. Die Jens eitsrei- sen eines Alberich, Orm, Gottschalk u.s.w. heifien ebenso «visiones», wie die ganze Fiille der Heiligen-, Toten-, Christkinderscheinungen u.s.f. Ich greife einige beliebig heraus: da erscheinen dem Bruder Peter von Monticulo die Madonna und Johannes der Evangelist - «eidem vigilanti apparuit Virgo» sagt der Text ausdrucklich - und nennt das eine «visio»132; da zelebriert ein Priester die Messe, schon steht das Allerheiligste auf dem Altar, «protinus apparuit ei Dominus Jesus stans super eandem aram ... ita manifeste atque morose, ut usque ad consummationem sacrificii ipsa propemodum visio perseveraret.»133; da sitzt eine Dominikanerin «in domo laborerii... tunc subito corporeis oculis uisibiliter conspexit cetum sanctorum patriarcharum ...», was eine «laeta uisio» ist134 135 u.s.f. Nicht anders steht es mit der beriihmten «revelatio», in der Papst Stephan II. angeblich 754 «ante altare» die Apostelfursten und den heiligen Dionysius auftauchen sieht, die ihm seine Gesundheit wiederschenken133, nicht anders mit den vielen Erscheinungen, die neben m Wagner, Tnugdal 5 s 129 Leclercq, Anselli 191 13°" MG SSrer. Merov. 5, 377 131 Farmer, letter 96 132 Sabatier, Actus 213 s 133 Griesser, Exordium 230 134 Ancelet, Unterlinden 440 s 135 MG SS 15/1, 2 s, cf. unten S. 75
Mittelalteriicher Wortgebrauch 47 «uisio» auch als «reuelatio» benannt werden.134 Wenn nun unser Begriff «Erscheinung» so durch diese beiden Worte abgedeckt ist, die auch unsere «Vision» bezeichnen, so gibt es doch einen Ausdruck, der ausschliefilich fur unser Phanomen «Erscheinung» verwendet wird, so gut wie nie aber fur die «Vision».136 137 Dal? «apparitio» auf Schauungen beschrankt ist, die wir als «Erscheinungen» klassifizieren wiirden, zeigt, daS unsere Unterscheidung im Mittelalter zumindest vom Sprachgefiihl her schon angelegt war, wenn auch kaum reflektiert. Dazu ist der Begriff nicht haufig, im Gegensatz zu dem entsprechenden Verb, «аррагеге», das fast regelmafiig den Vorgang einer Erscheinung beschreibt, wenn sie nicht vom Charismatiker aus mit «ich sah ...» erzahlt wird. In Llulls zeitgenossischer Vitaetwa wird die Erscheinung des Gekreuzigten, die ihn zum geistlichen Leben bewegte, «apparitio» und auch «viso» genannt.138 Urspriinglich nur den Vorgang der Entraffung bezeichnen die drei Ausdriicke «exces- sus», «extasis», «raptus», doch konnte an vielen Stellen «visio» ohne Bedeutungsverande- rung eintreten. «Excessus» im klassischen Latein ist das Scheiden, das Verscheiden, der Tod; im Sinne des Hinausgehens der Seele fur beschrankte Zeit kommt es erst im christli- chen Latein vor, zum Beispiel in der «Visio Petri» (Apg. 10,10), einer Erscheinung, die der Heilige in Ekstase gesehen hat: «Cecidit super eum mentis excessus.» Ein beliebiges mittel- alterliches Beispiel ware die Vision eines karolingischen Anonymus, in der von einer Entruckung ins Jenseits «excessu mentis» gesprochen wird.139 «Extasis» ist dagegen ein uberhaupt erst durch die Kirchensprache ins Latein aufge- nommenes Fremdwort, das vom griechischen Neuen Testament bis zu den heutigen Volks- sprachen keine Bedeutungsveranderung (wenn auch eine Bedeutungserweiterung: sexuelle Ekstase) durchgemacht hat. Die mittelalterlichen visionaren Texte bezeichnen damit mehr den Vorgang der Entruckung als das Ensemble von Seelenaustritt und Schauung. Elisabeth von Schonau gebraucht dieses Wort dauemd: «veni in extasim, et vidi», «cum essem in extasi, vidi», «subito in extasim cecidi... et vidi»140 u. a., sagt aber auch: «vidi in visione spiritus mei ...»141 Der «raptus»141* schlieSlich ist ein namentlich in der spatmittelalterlichen Terminologie ofter zu treffender Begriff, der neben der schon klassischen Bedeutung in der arztlichen Fachsprache, namlich «Konvulsion», auch die darin erlebten Kontakte mit dem Obersinn- lichen andeutet. Wenn Francesco Silvester von Osanna sagt, «Post primum hunc rap turn pluries ... idem munus obivit»142, nachdem er gerade den Bildgehalt ihrer Verzuckung beschrieben hat, so meint er damit sicherlich nicht blofi die korperlichen Begleiterschei- nungen ihrer Christusbegegnung. 136 z. B. Griesser, Exordium 134; PL 189, 930 137 Einzige (?) Ausnahme ist das Vorkommen des Titels «Apparitio Tundali», Mussafia, Tundalo 3 ш Platzeck, Leben 147 139 MG Poet. lat. 1, 579 s, vs. 24 140 Roth, Visionen 14 s, 22 141 ibid. 88 I41* cf. Riehle, Mystik 135 ss 142 Vita 2,1s', AASS Juni 3, 1701, 688F
48 Definitionen Daneben gibt es noch eine Reihe von Substantiva, die synonym tor «visio» beziehungs- weise «revelatio» vorkommen, jedoch von aufierster Seltenheit sind. So «elevatio», ur- spriinglich nur das Aufgehobenwerden, dann auch die damit verbundene Offenbarung143, «visus»144 als Variante zu «visio», «facies»145, - so nicht klassisch als Riickubersetzung von «gesicht»? - und schliefilich das griechische (neutestamendiche) «огота» (бдара)146, eine gelehrte Endehnung. Die Volkssprachen kennen natiirlich auch einige Ausdriicke tor die lateinische «visio», wie zum Beispiel das anglosachsische «gesihde»147, verwandt dem mittelhochdeutschen «gesi(c)ht», oder das mittelenglische «schewing»148 und das proven- zalische «pantais» tor Traum«phantasie». Die meisten dieser Worte haben auch im Mittelalter noch andere Bedeutungen. Wie «visio» schon im klassischen Latein das Sehen an sich, die normale Perzeption, bezeichnet hatte, in der Sprache der Juristen soviel wie «Standpunkt» war (wahrend man tor Vision eher «visum» gebrauchte), so behielt das Wort im Mittelalter in juridischen Texten eine andere Bedeutung, synonym zu «inspectio rei, intentio in scopum».149 Analog dazu hie8 altfranzosisch «vision» auch soviel wie «Anschauung». Erst in der Kirchensprache des dritten und vierten Jahrhunderts scheint «visio» in seinem pradominierenden mittelalterli- chen Sinn haufiger zu werden, nachdem es zunachst als Ubersetzung von stScoXov; qpavxa- a(a, cpdvxaafxa (letztere in der philosophischen Nomenklatur als Aquivalent zu «species», «consideratio», «notio») Verwendung fand.150 Verstandlicherweise tritt als «visio» auch das Phanomen auf, gleichzeitig an anderen Orten schauen zu konnen (Television), wie wir dies etwa von Ida von Nijfel kennen151, und auch das prophetische Schauen kann so bezeichnet werden.152 Unser «gesiht» hiefi im Mittelalter freilich auch neben anderem das aufiere Aussehen; u. s. w. Auf eine besondere Eigentiimlichkeit des mittellateinischen Wortgebrauches ist noch hinzuweisen: «visio» und «somnium» werden von der Mehrzahl der Autoren fast aus- tauschbar gebraucht. Bestimmend ist hier die biblische Literatur, in der Traum und Vision sowohl vom Sprachlichen her, wie auch von der Funktion haufig nicht unterschieden sind. In gleicher Weise gilt dies tor die Kirchenvater.153 Dafi sich diese Tradition das ganze Mittelalter hindurch erwartungsgemafi halt, liefie sich durch eine grofie Zahl visionarer Texte beweisen. So heifit es in der «visio cuiusdam religiosi monachi Rotberti»: «Rotber- 143 z. B. Doncoeur, Angele 51 144 z. B. Hampe, Reise 629 145 z. B. Ancelet, Unterlinden 441; Strange, Dialogi 2, 3503 146 MG Epist. sel, 1, 2493 147 Napier, Leofric 182 148 So die Oberschrift der Offenbarungen an Juliana v. Norwich 149 Lucius, lifterature 17, 21 ss 150 ibid. 18 ss 151 Vita 27, Henriquez, Virgines 269 152 Dieter Harmening, Superstitio, Berlin 1979, 111 ss. Ein Beispiel ware auch die sog. «Visio Gamaleonis», ein deutsch-nationalistischer Weissagungstraktat liber das Kommen eines neuen Kai¬ sers Friederich (datiert 1409 oder 1439); cf. Struve, Utopie 9074 153 Kamphausen, Traum 30 ss
«visio» und «somnium 49 tus testatur se in sompnis visionem hanc vidisse»154, von dem Ritter Theodor, er sei «in somnis» ins Heisterbacher Kloster versetzt worden; «... evigilans, gavisus est. Et de visio - ne cogitans ...»155 Unter der Oberschrift «De visione quam vidit frater Leo de judicio» finden wir folgenden Bericht: «Frater Leo habuit hanc visionem: videbat namque in som¬ nis .. .»156 Diese drei Beispiele, deren Autoren jeweils aus dem franzosischen, deutschen und italienischen Sprachbereich stammen, konnen unbedingt als dem Ublichen entsprechend angesehen werden.157 158 Sie zeigen, dafi man im Schlaf nicht nur normale Traume, sondem auch visionare Offenbarungen erleben konnte bzw., dafi man Traume (oder Teile von ihnen) ihres Inhalts urid ihrer Intensitat wegen als gottgesandte Schauungen einstufen konnte. Umso interessanter ist es, dafi man daneben bisweilen einzelne Visionen findet, in denen das Ekstatische gegeniiber dem Traum betont, der Traum dagegen abqualifiziert wird. Die Voraussetzung dazu ist es, zwischen Traum und Vision iiberhaupt einmal zu unterscheiden. Dies tut zum Beispiel der Verfasser der zweiten Lebensbeschreibung der heiligen Aldegunde von Maubeuge, Pseudo-Hucbald, wenn er sagt, dafi ihr «non solum in somnis, aut per ecstasim frequenter, sed etiam vigilanti manifeste Angelus appareret.. .»ш Er unterscheidet damit zwischen drei Stufen: Wachen (entsprechend dem Zustand der «Erscheinung» unserer Terminologie), Schlafen (entsprechend der Traumvision/-erschei- nung), in Ekstase Sein (entsprechend unserer «Vision»). Man konnte hier, so wie bei der Distinktion von Traum und Vision in den «Libri Carolini» eine Manifestation des «karo- lingischen Rationalismus»159 sehen. Signifikant ist wohl auch der Wortgebrauch in der Vision des Heinrich von Ahorn: als er den Auftrag erhalt, seine Erlebnisse im Jenseits auf Erden zu erzahlen, wendet er ein, «Somnia me narrare inutilia dicturi sunt, friuola hec et quasi deliramenta deridebunt», wogegen der Apostel Jakob, der sein Fiihrer ist, «uisionem presentibus narrabis ...»160 befiehlt. In Verbindung mit der moglichen Anzweiflung seiner Schauungen wird also das Wort «Traume» gebraucht, im Munde des Hefligen dagegen, der Heinrich die Bedeutung dieser Schauungen bestatigt, erscheinen sie als «Vision». Diese Furcht der Visionare (und ihrer «amanuenses»), man konnte ihren Visionen keinen Glau- 154 с. 1; 5, Rigodon, Mozat 46 s 155 Caesarius von Heisterbach, Dial, mirac. 7,28, Strange, Dialogue 2, 37 156 Actus B. Frandsd 64, Sabatier, Actus 188 157 cf. weiters zum Beispiel Kamphausen, Traum 99, 107 ss; Haubrichs, Offenbarung 243 s; Chron. Cass. 4,102 («visio-somnus») PL 173, 926Cs; Helinand v. Friodmont, Chron. a.a. 1146 («visio» - «dormiens») PL 212, 1036A; Ordericus Vitalis, Hist. eccl. 3,10,12 (14) («somnium ... in visione noctuma») PL 188, 750A; Visio Baronti («... somno gravatus obdormisset») MG SS rer. Merov. 5, 373; Vision Thurkills, Introd. («dormisse ... visionis ... dormitionis») Ward, Thurkill 444, usf. Auch volkssprachlich: «vision de songe», «a suenno e a vision espiritual» etc., cf. Fritz Schalk, Somnium und verwandte Worter in den romanischen Sprachen (Arbeitsgemeinschaft fur Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften/Abhandlung 32), Koln, Opladen 1955, 12 s. Damit erledigt sich das Dictum von Ebel, Formen 201, «Die eigentlichen Visionen stellen sich ... nie in der Form eines Traumes dar.» 158 Vita 1,6, AASS Jan. 2, 1643, 1041 159 Hans LiebesschOtz, Wesen und Grenzen des karolingischen Rationalismus, Archiv fiir Kultur- geschichte 33, 1951, 17-44 160 DOninger, Elemente 82
50 Definitionen ben schenken, ist ein stehendes Motiv161; meist sprechen die Unglaubigen dann von «leeren Traumen», was zu rachen die gottliche Gerechtigkeit nicht lange zogert.162 Sehen wir aber von solchen Ansatzen der Trennung in der visionaren Literatur selbst ab - ich spreche, wohlgemerkt, nicht von der Theologie ~, so mussen wir sagen, dal? das «in visione somnii»163 oder «in sompni visione»164 geschauter Traum, Traumvision und ekstatische Vision gleichermal?en sein kann. Als symptomatisch setze ich Worte des Caesarius von Heisterbach hierher: «dormiens per visionem raptus est».16S Endlich finden wir unter der Uberschrift «Vision» bisweilen auch Texte, die mit dem von uns supponierten Inhalt nichts zu tun haben. Ein rein alchemistischer Dialog uber die Vermahlung von Schwefel und Quecksilber, die «visio Arislei» zum Beispiel (12. Jahrhun- dert?), gibt sich als Traumvision, ohne dal? diese Einkleidung in diesem «philosophischen» Gesprach eine Rolle spielen wiirde.166 Ahnlich mul? eine solche Einleitung auch der Aus- breitung des enzyklopadischen Wissens Alfonsos de la Torre (15. Jahrhundert) dienen: allein der Titel, «Vision delectable de la filosofia у artes liberales, metaftsica у filosofia moral» zeigt, dal? wir es hier mit einer Einleitung in das weltliche Wissen zu tun haben, nicht mit religioser Dichtung167, wie sich iiberhaupt die spanische Literatur des spaten Mittelalters besonders gem einer visionaren Einkleidung bedient (Santillana!). Das gilt auch von den «somnalia»: schlagt man etwa Jaume Gazulls (t ca. 1507) «Lo somni de Joan Joan» auf, bekommt man eine lustige Parodie auf mittelalterliche Liebeskasuistik und alte Ehemanner serviert.16® Ekstase Als Ekstase soli hier vorlaufig169 nur das Phanomen des Austritts (ёч-crcaaig) der Seele aus dem Korper bezeichnet werden. Der zuriickgelassene Leib zeigt dabei als Symptome meist Unsensibilitat und oft Starre. Wie der Schlaf die Vorbedingung fCir den Traum ist, so die Ekstase die Vorbedingung fur die Vision. Sie ist zuganglich einerseits von den Selbster- lebensbeschreibungen der Charismatiker, andererseits von den Beobachtungen ihrer Urn- gebung. Von diesen beiden Moglichkeiten her sollen zwei Beispiele ihr Wesen verdeutli- chen; dabei handelt es sich jedesmal um eine Trennung der Seele vom Leib im wachen Zustand, nicht um eine der eben behandelten Traumvisionen, die einen ahnlichen Zustand 161 ein beliebiges Beispiel: Vision Thurkills, Prol. 162 cf. z.B. Gregor v. Tours, Hist. Franc. 4,36 163 z. B. MG SS 11, 496 164 Thurston, Vision 303 165 Dial. 12, 42, Strange, Dialogue 2, 350 166 Julius Ruska, Turba Philosophorum, Berlin 1931 = New York 1970, 323 ss 167 Ausgaben und Literatur: KLL s.v. «Vision» 168 Ausgaben und Literatur: KLL s.v. «Somni» 169 Ausfiihrliche psychologische Diskussion folgt in einer spateren Untersuchung. Es wird interes- sant sein, die mittelalterlichen Darstellungen mit denen der gegenwartigen Sterbeforschung (Ray¬ mond A. Moody u.v.a.) zu vergleichen
Ekstase 51 im Schlaf voraussetzen. Im zeitgenossischen Latein werden synonym zu «extasis» auch «raptus», «elevatio», «sublevatio», «alienatio», «elatio mentis», «extra se trahi» u. a. verwendet, in den Volkssprachen die jeweiligen analogen Bildungen.170 Zunachst ein friihmittelalterlicher Text, die Beschreibung einer Ekstase «von aufien»: von dem Monch Barontus (7. Jahrhundert) heifit es171, dafi er «repente correbtus, ad extremum funere deductus, coepit magnis doloribus exagitare ...» Ein herbeigeholter Bruder «coepit eum bis terque appellare; sed ille nihil omnino valuit parabolare, sed digito gulam suam ei monstrabat ...» Der Ubergang in die Ekstase, der, wie so haufig, eine Erkrankung vorausgegangen ist (Fieberanfall), erfolgt bei diesem Beispiel stufenweise: zunachst versagt die Sdmme, obwohl die Glieder noch bewegt werden konnen, und Baron¬ tus auf seine Kehle weist, an der er sich von zwei Damonen gewiirgt fiihlt. Der zu Hilfe geeilte Monch lafit Weihwasser aussprengen, «Sed ille frater, manus suas ad latum suum extensas, oculos clusos, coepit semivivus iacere, ita ut nullum omnino possit videre.» Die Ekstase ist also durch die Unterbrechung der sensuellen Verbindungen mit der Aufienwelt gekennzeichnet, die Bewegungen haben aufgehort. Der Konvent wird nun zusammengeru- fen. «Qui ut viderunt nullum membrum agitare, lacrimare prae dolore vehementer nimis coeperunt et pro eius animam caelestem rogare conditorem turmasque conponere, qui psalmodiae cantus recitarent per ordinem, ut caelestis medicus mitteret animam in corpo- re.» An der eingetretenen Erstarrung erkennen die Monche, dafi die Seele des Barontus nicht mehr im Korper weilt und bitten Gott, sie doch dem Korper zuriickzugeben. Das heifit, dafi sie mit der Moglichkeit einer Ekstase rechnen, die ja, anders als die endgiiltige Trennung von Seele und Leib im Tode, eine Wiederkehr miteinbegreift, «Ad ipse frater sic statim perdificuit in corpore, ita ut iam nullus qui eum videbat de eius vitam temporalem habere fiduciam possit.» Trotz dieses korperlichen Verfalls kehrte Barontus aber aus der anderen Welt zuriick, offnete die Augen und brach in ein dreimaliges «Gloria tibi, Deus!» aus. Das eifrige Fragen der Bruder dann, «ubi fuisset vel quid vidisset» zeigt, dafi sie erwarteten, seine Seele sei in der Ekstase an einem anderen Ort gewesen. So also ein typischer Ekstaseverlauf in den Augen der Umstehenden. Wie erlebt nun ein Visionar selbst dieses Phanomen? Es ist schwer, sich zu entscheiden, welche unter den vielen Selbstaussagen man hier auswahlen soil. Tundal scheint einen der plastischsten Berichte gegeben zu haben: «Cum, inquit, anima mea corpus exueret et illud mortuum esse cognosceret, reatus sui conscia cepit formidare et quid faceret nesciebat... Volebat ad corpus suum redire, set non poterat intrare, foras etiam ire volebat, set ubique pertimescebat. Et sic miserrima volutabatur anima ... Dumque diutius se ita ageret et flens et plorans tremebunda, quid deberet facere, nesciret, tandem vidit ad se venientem tantam wimundorum spirituum multitudinem, ut non solum totam domum et atrium replerent... verum etiam per omnes vicos et plateas dvitatis nullus locus appareret, qui non esset eis plenus.» Schliefilich erscheint Tundals Schutzengel, der seine Seele aus der Umgebung der bosen Geister wegfiihrt in die Reiche der anderen Welt. «Tunc ilia anima ultra modum perterrita accessit ad eum propius relicto corpore, supra quod steterat prius.»172 Der Visio- 170 Hatzfeld, Spirituality 349 s, 374 s 171 Visio Baronti 1 ss, MG SS rer. Merov, 5, 377 ss 172 Visio Tnugdali 2 s, Wagner, Tnugdal 9 ss
52 Definitionen nar erlebt die Ekstase also als ein Ausziehen, ein Ablegen des Korpers, der damit fur ihn zu etwas Totem wird. Dies entspricht der von aufieren Beobachtem immer wieder festgestell- ten totenahnlichen Starre. Die Trennung von Leib und Seele ist in diesem Text uberaus klar dadurch ausgesprochen, dafi Tundal ja wieder in den Korper, in dessen Nahe er sich noch befindet, hinein mochte. Dieses Erlebnis, dal? die Seele bei ihrem Austritt noch eine Weile in der Umgebung ihres Tragerkorpers verweilt, ehe sie in einen anderen Raum gelangt, kommt in einigen Visionen vor, in der Mehrzahl aber erfolgt sofort und oft iibergangslos die Versetzung in den fremden Raum. Aber auch wenn Tundals Seele sich hier bei seinem Korper und damit innerhalb desjenigen Hauses befindet, in dem er plotz- lich kollabiert ist, so ist der Unterschied zu einer Erscheinung doch der, dal? dabei nie das Empfinden, aufierhalb des Kopfes zu schweben, damit verbunden ist, sondem die Wahr- nehmung des Umraumes immer durch die Sinnesorgane leiblich dem Gehim vermittelt wird. Aber noch etwas Zweites: der Wahmehmungsraum weitet sich sogleich - die Seele sieht alle Viertel und Platze der Stadt, die von Damonen erfullt sind. Dann beginnt die Jenseitswanderung. Solcherart also sind die Ekstasen, die den von uns zu beschreibenden Visionen vorausge- hen. Dabei ist aber nicht zu ubersehen, dal? andere mystische Charismata, wie die «unio» etwa, mit aufierlich den selben Syndromen einhergehen konnen, wie die visionare Ekstase. Den Verlust der normalen Sinneswahrnehmungen zusammen mit der entsprechenden kor- perlichen Bewegungslosigkeit hat man ja auch mehrfach von Katharina von Siena berich- tet, ohne dal? sie hierbei selbst offenbar dieses Gefuhl gehabt hatte, die Seele wiirde den Leib hinter sich zurucklassen. Im Gegenteil: bei ihr, - die hier nur stellvertretend fur viele Mystiker des spaten Mittelalters zitiert wird -, diirfen wir wohl schliel?en, kommt wah- rend dieses Zustandes die Gottheit in die Seele, die noch im Korper verbleibt, hinein. Aufschlufireich sind hier die Erwagungen, die der Herr Katharina in Zusammenhang mit der «unione» mitteilt. Nachdem er auf das Phanomen der Levitation eingegangen ist, spricht er «Io voglio che tu sappi che maggiore miracolo e a vedere che Panima non si parte dal corpo in questa unione... Pero che, non e che Panima si parta dal corpo, che ella non si parte se non col mezzo della morte, ma partonsi le potenzie e Paffeto... Congregate e unite tutte insieme queste potenzie, e immerse e affogate in me, perde el corpo il sentimento: che Pocchio vedendo non vede, Porecchia udendo non ode, la lingua parlando non park ... »173 Die Seele wiirde zwar gern den Korper hinter sich lassen, um die kurze Gottesbegegnung zu einer ewigen zu machen, tatsachlich aber schwingen sich nur Verstandeskraft und Gefuhl zur noch unvollkommenen Gottesschau auf. Dieses Betonen der Unmoglichkeit, dafi Seele und Korper sich voneinander vor dem Lebensende scheiden, obschon der Leib sich in einem ekstatischen Zustand befindet, zeigt, dafi hier ein anderes als das visionare, bildliche Schauen gemeint ist. Wenn wir in so einem Fall von «Ekstase» sprechen, so mussen wir sie als «mystische» oder als «Verzuckung» bezeichnen. Auch das gelegentlich von Mystikem beschriebene Schauen der eigenen Seele kann in einem solchen Zustand des Sinnesverlustes und ekstaseahnlicher Korperkondition vor- kommen. Dabei wird der eigene Korper durchsichtig, «wie aller ir lip cristalle were»174, 173 Katharina, Libro 79, Meattini, Libro 216 174 Anna v. Munzingen, Chron. [iiber Elisabeth v. Valckenstein], KOnig, Chronik 157
Mystik 53 und man erblickt, wie etwa Lukardis von Oberweimar, das Kreuz in dem eigenen Her¬ zen175; oder sogar in der Seele, wie Gertrud d. Gr., die Gottheit Christi selbst, die wie Gold hervorglanzt.176 Ein Gleiches gilt vom Erlebnis der Erscheinung, die — sehr selten allerdings - auch mit den korperlichen Begleitphanomenen verbunden sein kann, die sonst zu den Visionen gehoren. Sogar bei blofier Audition kann es dazu kommen. Da wir «Ekstase» in der eigentlichen Bedeutung176* des Heraustretens der Psyche aus dem Leib verwenden, haben wir hier von «ekstaseahnlichen» Verfassungen zu sprechen, wobei sich das Wort nur auf die somatischen Gegebenheiten bezieht. Die Terminologie der Psychologie dage- gen meint vielfach, wenn sie «Ekstase» gebraucht, die leib-seelische Verfassung des nach aufien Abgeschlossen- und nach innen Offenseins, ohne das Empfinden des Austrittes der Seele als konstituierend anzusehen. Mystik Christliche Mystik wollen wir in Ubereinstimmung mit der communis opinio177 definie- ren als eine Frommigkeitsform, die im Streben nach unmittelbarem Kontakt mit Gott durch personliche Erfahrung besteht. Das Trachten des Mystikers also ist nach dem Schau- en Gottes und dem Sein in Gott gerichtet, der zum Objekt des Erlebens wird und nicht des Denkens, wie in der Theologie. 175 Vita 53 176 Leg. div. piet. 3, 37, cf. 4, 28. Nach dem Endgericht, so das mittelniederlandische «Sterfboeck» 34, leuchtet die Seele der Verklarten durch den Leib wie die Sonne durch einen Kristall, Endepols, Bijdrage 76; cf. weiters Pieller, Frauenmystik 74 s 176a Urspriinglich bedeutet «ekstasis» jeden vom Oblichen abweichenden Affektzustand; im theolo- gischen Sprachgebrauch den Seelenaustritt, cf. Friedrich Pfister, Ekstasis, Antike und Christentum, Ergbd. 1, 1939, 178-191 177 Um nur ein Beispiel zu geben: Pieller, Frauenmystik 9: «Mystik ist eine Form des religiosen Bewufitseins, in welcher die Oberwindung der Trennung zwischen Gott und der Seele schon in diesem Leben bis zur vollkommenen Vereinigung ersehnt und gefordert wird.» Ahnlich zum Beispiel Arb- mann, Ecstasy 1, 547 s; Grabert, Erlebnisse 17; weitere Definitionen u. a. bei Andrae, Psykologi 11 ss; Buonaiuti, Misticismo 6 s; Kunze, Nonnenviten 28 ss. Wesentlich anders: Wilhelm Frese- nius, Mystik und geschichtliche Religion, Gottingen 1912. Bibliographie allgemeiner Werke: C. Clemen, Die Mystik nach Wesen, Entwicklung und Bedeutung, Bonn 1923; Martin Grabmann, Wesen und Grundlagen der katholischen Mystik, Munchen 21923; Joseph Zahn, Einfuhrung in die christliche Mystik, Paderbom 51922; Edvard Lehmann, Mystik in Heidentum und Christentum, Leipzig 21918; G. Mehlis, Die Mystik in der Fiille ihrer Erscheinungs- formen, Munchen 1926; Hilda Graef, Der siebenfarbige Bogen. Auf den Spuren der grofien Mysti- ker, Frankfurt/M. 1959; Jean Lhermitte, Echte und falsche Mystiker, Luzern 1953; B.-A. Scharf- stein, Mystical Experience, Oxford 1973; William Ralph Inge, Christian Mysticism, London 41918; Evelyn Underhill, Mysticism, London 1J1960 (Mystik, Munchen 41973); R. C. Zahner, Mysticism Sacred and Profane, New York 1961 (Mystik, religios und profan, Stuttgart 1960); C. Butler, Western Mysticism, London 21927; Gerda Walther, Phanomenologie der Mystik, Olten, Freiburg/ Br. 31976. Mystische Erfahrung, Die Grenze menschlichen Lebens, Freiburg/Br. 1976 [Sammelband];
54 Definitionen Diese emotionelle Erfahriing «wird dem betreffenden Menschen bewufit als etwas vollig Anderes, Wirklicheres und ihrem Gegenstand Adaquateres als all seine bisherige Erkennt- nis Gottes und all seine bisherige Liebe zu Gott. Sie wird erfahren als immanent und zugleich empfangen als etwas, was die Krafte des Geistes und der Seele bewegt und erfiillt. Sie wird empfunden als etwas, was sich in einer tieferen Schicht der Person und der Seele vollzieht als jener, in welcher der normale Prozefi des Denkens und Wollens stattfindet, und der Mystiker erkennt, sowohl in sich selbst als auch in anderen, die Seele mit ihren Eigenschaften, mit der Gegenwart und dem Wirken Gottes in ihr als etwas vom diskursi- ven Verstand und seinen Fahigkeiten vollig Verschiedenes. Endlich ist diese Erfahrung ganzlich unmittelbar, nur das Faktum als solches kann festgestellt werden, und in dieser Hinsicht sind alle AuSerungen der Mystiker, insofem sie die Erfahrung wiederzugeben versuchen, vollig unzulanglich, obwohl der Empfanger selbst vollkommene Gewifiheit liber sie hat.»173 * * * * 178Der Terminus «Mystik» wird aber allgemein auch fur die mittelbare Reflexion iiber solche Erfahrungen verwendet.179 Zwei Formen sind demnach zu unterscheiden, die sich wie Praxis und Theorie verhal- ten: die Erlebnismystik, der Gott und der Weg zu ihm nicht primar Objekt des Denkens, sondern des Fiihlens und Erlebens ist, und deren Zeugnisse folglich autobiographisch oder biographisch solche Erlebnisse als historische Fakten beschreiben — und die interpretieren- de beziehungsweise spekulative Mystik, die solche Erlebnisse in allgemeiner Weise schema- tisiert, darstellt und Anleitungen zu ihrer Erreichung bietet. Personliche Erfahrungen mo- gen den Werken der spekulativen Mystiker durchaus zugrunde liegen, sie werden jedoch in ihren theoretischen Werken gar nicht oder nur am Rande geschildert. Wollte man in einer Art Gratwanderung einen Umrifi der Geschichte dieser Gedanken- mystik im westlichen Mittelalter geben, so wurde man von einigen Werken Augustins und dem Corpus Areopagiticum ausgehend zum «Benjamin maior» und «minor» Richards von S. Victor kommen, zu Bernhards Hoheliedkommentar und Bonaventuras «Itinerarium mentis in Deum», zu den Predigten Eckharts und Taulers und der «Chierheit der gheesteli- ker brutlocht» Jan von Ruusbroecs, zur «Cloud of Unknowing» und zur «Scale of Perfec¬ tion» Walter Hiltons, um in der Neuzeit bei den groSen spanischen, italienischen, deut- schen und franzosischen Mystikern zu enden. David Knowles, The Nature of Mysticism, New York 1966; Paul Elmer More, Christian Mysti¬ cism, London 1932; Paul Mommaers, Wat is mystik (Spiritualiteit 12), Nijmegen, Brugge 1977 (Was ist Mystik? Frankfurt/M. 1979); Buonaiuti, Misticismo; Edsmann, Mysticism: Poulain, Hand- buch; Resch, Mystik; Tanquerey, Theologie; Ribet, mystique. Weiteres bei Oehl, Mystikerbriefe X ss; Mensching, Religion 370. Zeitschriften: La vida sobrenatural; Revista Espiritualidad; La vie spirituelle; Revue d’Ascetique et de Mystique; Ons geestelijk Erf; Zeitschrift fur Aszese und Mystik = Geist und Leben; Rivista di ascetica e mistica; Rassegna di ascetica e mistica 178 Knowles, Mystik 11 179 zur vielfaltigen Terminologie cf. u. a. Pieller, Frauenmystik 10 s, 17 s, (intellektualistische, voluntaristische. spekulative, asthetische, praktische Mystik)
Spekulative und praktische Mystik 55 Fufiend naturlich auf der Heiligen Schrift, insoweit sie die Moglichkeit des Einsseins mit Gott iiberhaupt bezeugt (zum Beispiel Johannes 17,20ss), ist in der mystischen Theologie ein Stufenschema entwickelt worden, von dem die Erlebnismystiker, jedenfalls im Mittel- alter, kaum sprechen. Es ist der Weg «x&fraQOig - Ш.ац'фьд - Ivcoaig», «via purgativa - illuminativa - unitiva» (Berufung und BuSe - Erleuchtung - Heiligung), beziehungswei- se «cogitatio - meditatio - contemplatio».180 Der hauptsachliche Gegensatz des theoretischen Mystikers zum Erlebnismystiker be- steht, wie gesagt, darin, daS er nicht von seinen personlichen Erfahrungen spricht, sondern die «esperienzia mistica in termini intellettualistici»181 kleidet. So wissen wir etwa von Bernhard von Clairvaux182, der doch die Christus-183 und Brautmystik184 begriindet hat, nicht, ob ihm selbst je ein ekstatisches Erlebnis zuteil wurde. Einerseits spricht er sich mystische Erfahrungen selbst abl8S (Bescheidenheitstopos?), andererseits nimmt er doch wieder auf solche Bezug.18* War es so, dafi Bernhard selbst keine hoheren religiosen Erleb- nisse hatte - nur die Sehnsucht danach187, oder sind etwa Visionen von ihm nicht uberlie- fert, «denn Bernhard rang ja gerade nach Befreiung aus aller sensualitas, insbesondere nach Befreiung von den letzten storenden Auslaufem der Sinnlichkeit, von dem Herein- spielen der Phantasie (imaginationes, similitudines) in das mystische Erlebnis»?188 Und doch soil seine Frommigkeit nicht unwesentlich auf ein weihnachtliches Traumgesicht von dem neugeborenen Jesus-Knablein zuriickgehen189 und hat er ein als «Eintritt des Wortes in die Seele» geschildertes Erlebnis erfahren.190 Ahnlich diirfte die Situation in der Regel auch bei den anderen Autoren sein, die nur die Theorie der Mystik besprechen. Visionen werden von ihnen im allgemeinen keine geschil- dert. Es gibt selbstverstandlich aber auch Mystiker, die auf beiden Gebieten Zeugnisse hinterlassen haben, wie zum Beispiel Seuse. Doch von jenen reinen Gedankenmystikern haben wir nicht weiter zu handeln.191 180 cf. Heiler, Frauen 217 181 Buonaiuti, Misticismo 42 182 cf. Schuck, Erlebnis; Linhardt, Mystik; Gilson, Mystik; Jean Leclercq, Saint Bernard Mystique, Bruges 1948; Watkin W. Williams, The mysticism of S. Bernhard of Clairvaux, London 1931; K. Haid, Das religiose Erlebnis beim hi. Bernhard v, Clairvaux, Cisterzienser-Chronik 46, 1934, 93 ss; Jean Leclercq, L’ experience mystique d’apres S. Bernard de Clairvaux, Studia missio- nalia 26, 1977, 59-86 183 Linhardt, Mystik 158 ss, 215 ss, 238 184 ibid. 153, 161, 166 s, 169, 217 ss, 221 ss 185 Serm. in Cant. 23, 9; 45, 10 186 ibid. 42, 3; 57, 5; 64, 1 ss 187 Schuck, Erlebnis 15 s 188 Linhardt, Mystik 154 189 Wilhelm v. S. Theoderich, Vita 1,24, PL 185, 228 s 190 Linhardt, Mystik 227, 231 191 dariiber cf. Joseph Bernhart, Die philosophische Mystik des Mittelalters von ihrem antiken Ursprung bis zur Renaissance (Geschichte der Philosophic in Einzeldarstellungen 3/14), Munchen 1922 = Darmstadt 1974; Preger, Mystik pass.
56 Definitionen Die religiosen Erfahrungen der Erlebnismystiker - und nur von ihnen sprechen wir von nun an, wenn wir das Wort «Mystiker» alleine gebrauchen - sind in Texten biographi- schen oder autobiographischen Charakters fiberliefert. Was scheidet den Mystiker vom Visionar? Nach den Selbstaussagen der Charismatiker ist das mystische Erlebnis (die Gottesvereinigung) bildlos, nicht beschreibbar, und findet in der Seele statt - das visionare dagegen bildhaft, darstellbar, und es spielt sich aufierhalb der Seele ab. Zwischenformen zwischen diesen beiden Extremen sind jedoch nachzuweisen.192 Das Ziel jedes Mystikers ist die «unio mystica», das Einssein mit Gott. Sie ist zwar nicht beschreibbar, wohl aber umschreibbar. Andere mystische Gnaden sind der «iubilus» und die «visio intellectualis», die eingegossene Kontemplation. Gebet, Meditation, meist auch Kasteiung sind die fiblichen Voraussetzungen dafur. 192 cf. z. В» Dinzelbacher, Ida 190 s
FALSCHUNGEN: Die Unterscheidung zwischen wahr und falsch ist fur unsere Fragestellung nicht belang- los, da wir ja, soweit dies schrifdiche Quellen prinzipiell zulassen, uns fur die Erlebnis- wirklichkeit mittelalterlicher Menschen interessieren. Es geht uns, anders als manchen Religionshistorikem193, nicht nur um die Erfassung geglaubter Traditionen, sondem auch und vor allem um die erfahrener psychischer Phanomene. Wie konnte es in einem «Zeitalter des Glaubens» dazu kommen, dal? auch in Visionen erteilte Offenbarungen Gottes bewufit gefalscht wurden, nicht nur Urkunden von Fursten und Konigen, sondem das Wort Gottes selbst? Und das offenbar nicht von Ketzem, sondem im Gegenteil von durchaus rechtglaubigen Geisdichen. Hier ist vielleicht ein wenig weiter auszuholen: das Phanomen der Falschung ist im Mittelalter so verbreitet, dal? man es geradezu als ein dadurch charakterisiertes Zeitalter angesprochen hat.194 In einem einzelnen Detailgebiet, den erhaltenen Diplomen der Mero- winger, gilt jede zweite Urkunde als Falschung, - dagegen nimmt sich die Zahl der nach- weislich unechten Visionen allerdings als quantite negligeable aus. Schon wegen der Schriftlichkeit kamen die Falscher bis ins Spatmittelalter so gut wie ausschliefflich aus dem Klerus, der sich ja der Sundhaftigkeit des Lugens (namendich wo es eigene Schriften Augustins dagegen gab195) besonders bewufit sein mufite. Welche andere Waffe als die Feder blieb allerdings denen, die auf das Schwert zu verzichten hatten (wenn sie das auch in der Praxis durchaus nicht immer taten)? Man geht heute davon aus, dal? der mittelalter- liche Falscher vielfach bona fide das, was fur notwendig und richtig gehalten, aber vermifit wurde, ans Licht treten liel?.196 Er unterstutzte das, was durch Gebrauch Recht geworden war oder was eigendich hatte Recht sein mussen (in Anbetracht etwa der Heiligkeit einer Kirche, der Wichtigkeit eines Klosters), durch ein schriftliches Falsifikat, dessen Nichtexi- stenz man in den betroffenen Kreisen geradezu als Ungerechtigkeit empfunden zu haben scheint, zumal bei dem Gewicht, das Geschriebenem beigelegt wurde.197 Die Korrektur 193 z. B. Eliade, Mythen 130 194 Zum Folgenden vomehmlich Wolfgang Speyer, Die literarische Falschung im heidnischen und christlichen Altertum (Handbuch der Altertumswissenschaft 1/2), Munchen 1971, bes. 94 ss, 171 ss; Hubert Silvestre, Le probleme des faux au moyen age, Le Moyen Age 66,1960, 351-370; Ahasver v. Brandt, Werkzeug des Historikers (Urban ТВ 33), Stuttgart s1969,120 ss; Horst Fuhrmann u. a., Die Falschungen im Mittelalter, Historische Zs. 197, 1963, 529—601; Elisabeth Frenzel, Gefalschte Literatur, Archiv fur Geschichte des Buchwesens 4, 1961, 711—739; Horst Fuhrmann, Einflui? und Verbreitung der pseudoisidorischen Falschungen I (MG Schriften 24,1), Stuttgart 1972, 65 ss; Klaus Schreiner, Zum Wahrheitsverstandnis im Heiligen- und Reliquienwesen des Mittelalters, Saeculum 17,1966,131—169; C. BrOhl, Der ehrbare Falscher, Deutsches Archiv f. Erforschung d. Mittelalters 35,1979,209-218 195 «De mendacio»; «Contra mendacium» 196 Die «bona fides» mufi iibrigens auch manchen literarischen Falschern zugute gehalten werden, wie z. B. Walther Map (f 1208), der, als er einen Freund vor der Ehe wamen will, sich in der «Dissuasio Valerii» andkisierender Formen bedient, weil die alten Autoritaten eher gehort wurden als ein Zeitgenosse; cf. sein «De nugis curialium» 4,2 197 cf. Lacroix, Historien 79 ss
58 Falschungen einer gestorten Ordnung wurde so vollzogen, eine der Unvollkommenheiten der Welt beseitigt. Das zeitgenossische Recht sah zwar schwere Strafen dafiir vor, die aber in praxi nicht oft verhangt worden sind. Voraussetzung fur die speziell zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert einen Hohepunkt erreichenden Falschungen scheint einerseits ein geringes individuelles Schuldbewufitsein gewesen zu sein, da ja der Nutzen regelmafiig einer Ge- meinschaft (sei es der einer speziellen Kirche oder der Kirche allgemein) zugute kam; andererseits, dafi die Weltordnung in Stufen verschiedener Vollkommenheit gesehen wur¬ de und die einer Gemeinschaft eigentlich zukommende, sei es auch pia fraude, manifest gemacht werden mufite. Dazu kam, dafi gewisse Bibelstellen es geradezu nahelegen, die Liige, die zum Vorteil eines anderen dient, sei Gott wohlgefallig. So z.B. die Geschichte der Rahab, die als einzige bei der Eroberung Jerichos mit den Ihren heil davonkommt, weil sie die jiidischen Kundschafter durch eine Liige gedeckt hatte191, - wenn auch die westlichen Kirchenvater diese Interpretation nicht gelten liefien. Damit soli freilich nicht geleugnet werden, dafi mehr als genug mittelalterliche Falschungen aus reinem Egoismus entstanden sind, der schwer auch unter Hinweis auf eine spezifisch mittelalterliche Mentalitat zu entschuldigen ist. Technische Schwierigkeiten der Entlarvung sowie Reste der atavisti- schen Anschauung, erst die entdeckte Liige sei die wirklich schlechte Liige, haben den Falschungen freilich Vorschub geleistet. Warum aber der von uns so deutlich empfundene Widerspruch zwischen diesem Tun und ernster Religiositat dem Mittelalter offenbar be- langlos war, gehort letztlich zu den unerklarten Fragen der Psychologie jener Zeit.198 199 Bei unseren falschen Visionen wiirde dann etwa durch die dem Eucherius (t 738) unterschobene Schauung nicht nur eine Warnung aus konkretem Anlafi an Ludwig den Deutschen gerichtet worden sein, sondem wiirde auch durch die Verurteilung Karl Mar- tells die von ihm bei der Sakularisierung des Kirchengutes gebrochene Ordnung wieder hergestellt worden sein. Denn in dieser Vision - die gerade erst damals (858) auftauchte, als sich die westfrankischen Bischofe von Ludwig bedroht sahen und die in seiner alteren Vita fehlt — «schaute» Eucherius ja, wie Karl in der unteren Holle auf Grund des Urteils der Heiligen, denen er irdische Giiter (aus dem Besitz der ihnen geweihten Kirchen) ent- fremdet hatte, bestraft wird.200 Unechte Visionen, deren Entstehung auf das Bediirfnis zuriickzufiihren sein mochte, etwa einem Heiligen zusatzlich zu seinen schon iiberlieferten Charismata auch noch jenes der Schauung hinzuzufiigen (weil es ja seiner Dignitat entsprechen mufite, wenn auch er himmlischer Gesichte teilhaftig wurde), finden sich in der Vitenliteratur. Hier konnte man wohl leicht der Verlockung erliegen, fur den Heiligen oder Herrscher, dessen Taten man beschrieb, auch die selben Gnaden in Anspruch zu nehmen, deren andere vor ihm teilhaftig geworden waren. Viten pflegten nach gewissen Modellen verfafit zu werden, die man bewunderte; da konnte die Imitatio schon iiber die immer wieder empfohlene stilistische 198 Jos. 2, 1 ss; 6,25 s; cf. Exod. 1,15 ss; Luc. 24,28; Ps. 18,27 199 Ein ganz ahnliches Problem stellt sich bei den mittelalterlichen Reliquiendiebstahlen, cf. Patrick Joseph Geary, «Furta sacra»: Thefts of Relics in the Central Middle Ages, Diss. Yale 1974 (als Buch: Princeton 1978), bes. 202 ss 200 Addit. Capit. Reg. Fr. Occid. 297, MG Capit. 2,432 s; cf. Levis on, Fruhzeit 240 ss
Beispiele 59 Anlehnung an die «auctores» und «meliores»201 hinaus auch auf das Inhaltliche iibergrei- fen. Wie man sich in der Baukunst die Spolien friiherer Epochen fur seine Kirchen holte (Aachener Pfalzkapelle) und die Gemmen der Antike in die Werke der Goldschmiedekunst einsetzte (Lotharkreuz), so entnahm man auch der alteren Literatur Zitate und Stoffe. Ein Beispiel waren etwa die Traumvisionen, die fast stereotyp die Geburt einer bedeutenden Personlichkeit ankundigen (Heilige, Konige .. .).202 Sie haben ihre Vorlaufer im Altertum, wie ja der Heroenkult allgemein dem der Heiligen vorausgeht, und sie konnten sogar ins Negative verwandelt die Geburt eines typischen Antiheiligen wie des Judas Iscariot an- zeigen.203 So begrundet z. B. der. etwa 1260/63 schreibende Gerhard von Frachet die Begegnung der Heiligen Dominikus und Franziskus (1215?) mit einer Traumvision, in der sich der Grunder des Predigerordens zusammen mit dem ihm damals noch unbekannten Poverello von der Madonna dem Erloser vorgestellt sah; erst auf Grund dieser Schauung habe er Franziskus am nachsten Tag in Rom auf der Strafie erkannt und angesprochen.204 205 Doch der unglaubwurdige Uberlieferungsweg und das Schweigen der fruheren Hagiographen beider Orden deuten darauf hin, dafi diese Traumvision erfunden ist. Fast funfzig Jahre liegen zwischen dem prasumtiven Ereignis und dem Auftauchen in der genannten Quelle.203 Und wenn man, wie es beispielsweise bei der «Visio Alberici» der Fall war206, eine echte Schauung durch Episoden aus der alteren einschlagigen Literatur erganzte, dann mochte man das in dem Bewufitsein getan haben, durch diese Verunechtung zum Wohle der Horer und Leser beizutragen, insofem namlich z. B. weitere Unterweltsschrecken die Gottesfurcht nur bestarken konnten, die wiederum die Voraussetzung zur Rettung der Seelen bildete. Ahnlich dachte man ja, dafi sogar gefalschte Reliquien echter Andacht dienlich seien, die mit echten Wundern Gottes belohnt werden konnte.20** Man darf auch nicht vergessen, dafi das Mittelalter durch ein ganz intensives Bediirfnis nach dem Eingriff des Oberweltlichen gekennzeichnet ist, dem daher nicht nur jede Unre- gelmafiigkeit der Naturvorgange zugeschrieben wird207, sondem das man auch immer wieder in die zwischenmenschliche Kommunikation eingreifen sieht. Wie man ein Kreuz- zugsuntemehmen eher forderte, wenn es auf Grund eines vom Himmel gefallenen Briefes entstanden war208 und daher nicht auf menschlichen Erwagungen beruhte, so mochte man in dem ersehnten Tod eines Tyrannen wie Wilhelms II. v. England (1100) lieber die Hand 201 cf. Laugesen, Middelalderlitteraturen 269 ss; 279 ss 202 Schach, Dreams 53 s, 59 ss; Francesco Lanzoni, II sogno presago della madre incinta nella letterature medievale e antica, Analecta Bollandiana 45,1927, 225-261; Le Loyer, Discours 460 ss 203 Dinzelbacher, Judastraditionen 16 s 204 Vitae Fratrum 1,1,4, Monumenta ordinis fratrum Praedicatorum historica 1, 1895, 9 ss 205 B. Altaner, Die Beziehungen des hi. Dominikus zum Ы. Franziskus v. Assisi, Franziskanische Studien 9, 1922, 1-28, 12 ss 206 Dinzelbacher, Alberich pass. Caesarius v. Heisterbach, Dialogue mir. 8,70 207 cf. z. B. Sprandel, Mentalitaten 25 ss 208 z. B. der Kinderkreuzzug von 1212, Hans Eberhard Mayer, Geschichte der Kreuzziige (Urban ТВ 86), Stuttgart usw. 31973, 190
60 Falschungen Gottes sehen, als einen profanen Jagdunfall oder Meuchelmord. So entstand eine Vision, in der Christus der verfolgten Ecclesia rasche Hilfe gegen Wilhelm verspricht, ein vatici- nium ex eventu, dessen Thema der christlichen Polemik gegen Julianus Apostata entnom- men wurde.209 Der gottliche Wille mufite sich in etwas Wunderbarem manifestieren; schon Augustinus hatte es ausdriicklich als gleichgultig bezeichnet, ob eine Episode einer be- stimmten Legende historisch sei, wenn sich darin nur die Lehre des Herm aufiere.209* Ahnlich haben auch Salvian und Paschasius Radberetus den Vorrang der dargestellten Wahrheit gegeniiber der literarischen Echtheit verteidigt.209b Sucht man nach Visionen, die auf Grund historischer Widerspriiche und eindeutiger Intention wirklich mit Gewifiheit als Falschungen zu betrachten sind, so ist die Zahl erstaunlich gering. Hat sich nicht der vielgescholtene Peter Bartholomaus, auf dessen schon von Zeitgenossen bezweifelte Visionen hin wahrend des ersten Kreuzzuges die ersehnte Reliquie der Heiligen Lanze in einer Antiochier Kirche zum Vorschein kam, dem Gottesurteil im Feuerordal unterzogen, wofiir er mit seinem Leben bezahlte?210 - Ein paar Visionen sind allerdings sicher Falsifikate: fur Hinkmar v. Reims, der auch Urkunden falschen liefi, ist wohl die genannte Vision des Eucherius geschrieben worden, wenn er sie nicht schon der miindlichen Volksiiberlieferung entnehmen konnte. Wenig jiinger ist die aufdringliche, Karl III. unterschobene Vision, in der er das Reich seinem entfemten Ver- wandten Ludwig Ш. v. Niederburgund (f 928) iibertragen mufi. Fingiert, da nur zum besseren Verkauf seiner gefalschten Heiligengebeine dienend, waren auch die Revelatio- nen, die ein Reliquienhandler zur Zeit Raul Glabers (f ca. 1050) der einfachen Alpenbe- volkerung vorschwindelte, die aber nicht weiter aufgezeichnet worden zu sein scheinen.211 Diese Beispiele zeigen iibrigens, ein wie grofies Gewicht man der Gattung «Vision» bei- mafi, da man sie gezielt zur Handlungsmotivation einsetzte. Freilich gab es deshalb auch im Mittelalter durchaus eine Echtheitskritik an Visionen und Erscheinungen, eine Kritik, um die man sich weitaus mehr bemiiht hat, als um die an historischen oder juristischen Dokumenten. Nicht nur, dafi sich einzelne Visionare wie Alberich212 oder Elisabeth v. Schonau213 uber die Falschungen ihrer Gesichte beklagten, auch von seiten der Theologie ist man ausfuhrlich auf dieses Problem eingegangen, von der Stellungnahme Augustins gegen die «Visio Pauli» iiber die «Libri Carolini», Johannes v. Salisbury, David v. Augs¬ burg u. a. bis hin zu Gersons «De distinctione verarum visionum a falsis».214 Viel grofier als die Zahl solcher sicherer Falsifikate ist allerdings die der Visionen, die zwar recht verdachtig wirken, deren Unechtheit aber nicht beweisbar ist. Wieder fallt hier der Name Hinkmar: nach dem Tode Karls d. Kahlen liefi er die Vision eines gewissen 209 Alexander Haggerty Krappe, The Legend of the Death of William Rufus in the Historia Ecclesiastica of Ordericus Vitalis, Neophilologus 12, 1927, 46-48; Owst, Pulpit 159 s c. Faust. 22, 79; cf. jedoch Quaest. de Ev. 2, 51 ^ Schreiner, Wahrheitsverstandnis 155 ss 210 Steven Runciman, The Holy Lance found at Antioch, Analecta Bollandiana 68,1950,197-209 211 Radulfus Glaber, Hist. 4,3, PL 142, 673 s 212 Visio, Epist 213 Liber vis. 3,19 2,4 Dies soli spater dargestellt werden
Politische Visionen 61 Bemhold verbreiten, der diesen Herrscher von Wurmem zerfressen im Purgatorium er- blickte - weil er nicht auf den guten Rat Hinkmars gehort hatte! Der befreit den Kaiser dann, immer noch in der Vision, durch seine Messe! Und diese Schauung ereignete sich gerade zu der Zeit, als sich Hinkmar Karls Nachfolger Ludwig selbst als Ratgeber emp- faЫ.215 Bernhold berichtet aber auch so viel anderes aus dem Jenseits, dafi man hier vielleicht eher mit dem ja haufigeren Fall einer Verunechtung durch Zusatze rechnen mufi, wenn nicht die gewissen Dinge, die man horen wollte, schon aus dem kranken Ekstatiker herausgefragt worden sind. Die Reihe der prophetischen Traumvisionen, die in der Tradition der normannischen Geschichtsschreiber die Eroberungen Rollos, Robert Guiscards und Rogers II. vorauskun- den216, erinnem an Motive der altnordischen Literatur217, die man in den Dienst dynasti- scher Propaganda gestellt hat. Da sie vaticinia ex eventu darstellen, dxirfte es sich, wenn schon nicht um Erfindungen, wenigstens um uminterpretierte echte Traumerzahlungen handeln — immerhin war die Gabe wahrsagender Traume gerade auch in nordischen Konigsgeschlechtem vererbt.218 Typisch ist die wiederkehrende Baumsymbolik.219 AbschlieSend seien noch ein paar wohl pia fraude erdichtete Texte erwahnt: Schon von der Manuskripttraditdon her unsicher ist die Vision, die die Standesarroganz Alberts v. Bremen gebrochen haben soil, sie wirkt sehr als spatere Einschiebung in seine Biographie, durch die ein Verhaltenswandel erklart werden soil.220 Vom Inhalt her ungewohnlich und mit ungewohnlich geringer Erschiitterung erzahlt ist die unter dem Namen Anselm laufende «revelatio visionis cuiusdam monachi»221, in der eine Vergegenwartigung des Descensus Christi mit einem Dialog zwischen Teufel und Monch im Bett abgeschlossen wird. Es diirfte sich um eine literarische Fiktion handeln, die vielleicht auf einer miindlich tradierten echten Schauung basiert. Einen ahnlichen Eindruck macht die Vision Johanns v. Luttich, der Traum eines Schul- meisters, der ungewohnlich grofies Interesse an kosmographischen Fragen zeigt. Eigenartig ist der Fall des Heinrich v. Toumai, der wohl tatsachlich Ekstasen und Gesichte hatte, dabei aber von den Klerikern der dortigen Kirche ausgefragt wurde und in einem medialen Zustand die Friihgeschichte der Stadt Toumai enthullte, die erstaunlicherweise zunachst mit C. Julius Caesar ubereinstimmt, worauf dann eine Menge Fabeln folgen. Recht zielgerichtet ist die Vision eines Kardinals, der erlebt, wie Papst Innozenz IV. nach dem Tode verurteilt wird, weil er die Kirche - die als Personifikation auftritt - geschadigt habe. Schon Matthaus Paris, der davon Kunde gibt, ist sich unsicher, ob dies nicht als «fantastica» einzustufen sei.222 215 PL 125, 1115-1118; cf. Levison, Friihzeit 242 s 216 Margit Reichenmiller ed., Bisher unbekannte Traumerzahlungen Alexanders v. Telese, Deut¬ sches Archiv fur Erforschung des Mittelalters 19, 1963, 339-352 217 cf. oben S. 42 218 Chadwick, Dreams 40 219 cf. auch Hermann Braet, Le Le Songe de l’arbre chez Wace, Benoit et Aimon de Varennes, Romania 91,1970, 255-267; Saintyves, Marge 60s 220 die Editionen der hier genannten Visionen sind oben S. 15 ss zitiert 221 Leclercq, Anselli 191 222 Chron. mai. a.a. 1254, RS 57/5, 472
62 Falschungen So konnte man noch viele Beispiele fur anzweifelbare Visionsschilderungen bringen, von denen in der vielleicht iiberhaupt als Ganzes erfundenen Vita des Gebizo v. Mt. Cassino (f 1078/87?)223 an bis hin zu der grofien Himmelsschau Savonarolas. Sehr oft wird man korrekterweise eine Entscheidung iiber echt oder unecht nicht fallen konnen; das gilt namentlich auch fur viele kleine Visionen in Heiligenleben. Thomas v. Celano z. B. hat in seiner ersten Lebensbeschreibung des Franziskus keine Erklarung dafiir, warum er den geplanten Kriegszug nach Apulien nicht untemimmt. In der zweiten Vita jedoch ist es eine Traumvision, durch die der Heilige den Befehl erhalt, in seine Heimat zuriickzukehren, womit er aus einem Saulus zu einem Paulus konvertiert.224 Em Schritt in der Bildung der Franziskus-Legende und reine Erfindung - oder tatsachlich nur ein Zusatz, der Thomas bei der Abfassung der ersten Vita noch nicht bekannt gewesen war, und den er inzwischen aus dem Munde vertrauenswiirdiger Mitbriider vernommen hatte, denen der Heilige ein authentisches Erlebnis seines Gnadenlebens verraten hatte? Selbst ein iiberkriti- scher Historiker raumt anlafilich eines etwas zweifelhaften Heiligenlebens in bezug auf die darin mitgeteilten Visionen ein, «vielleicht hat [der Autor] ... aus mundlicher Uberliefe- rung die tatsachlichen Nachrichten iiber einzelne Visionen ... entnommen.225 Wenn freilich in der Legende eines unbekannten Heiligen Johan Paulus die Unterweltsvi- sion eines genauso apokryphen Heiligen Basil ausfiihrlich erzahlt wird, so kann kein Zweifel an einer Fiktion bestehen.225® Die Frage nach Irrtum oder Trug wird aber schwer zu beantworten sein bei den Visio¬ nen, die, obwohl bereits friiher eindeutig belegt, nochmals zu einem spateren Datum auftreten. So liest man die von Beda iiberlieferte Vision des Drycthelm aus dem 7. Jahrhun- dert in einer spateren Chronik ohne Namensangabe zum Jahre 1160 in freier Nacherzah- lung wieder, jedoch ohne Anderung im Inhalt des Berichtes, des Ereignisses und Ortes.226 Dafi das Benediktinerkloster Melrose, von dem bei Beda die Rede ist, dabei von dem Zisterzienser Helinand (f 1237) als Kloster seines Ordens benannt wird, entspricht nicht etwaigen propagandistischen Tendenzen, sondem den Fakten; Melrose war 1136 von den Zisterziensern neu begriindet worden. Helinand, der seine Arbeit ohnedies vorwiegend aus anderen Historikem kompilierte, mag blofi ein chronologischer Irrtum unterlaufen sein, den er vielleicht schon so in seiner Quelle vorgefunden hatte. Moglich ware auch, dafi dem Autor des friihen 13. Jahrhunderts wirklich die Nachricht von einer Vision aus dem Jahre 1160 vorlag, die er aber mangels naherer Details durch eine Endehnung aus Beda zu einem paranetisch brauchbaren Teil seiner Chronik machen wollte. Bei der Ahnlichkeit der Jenseitsschilderungen in der Visionsliteratur mag ihn auch vielleicht der eine oder andere Zug dieser prasumptiven Schauung von 1160 an Drycthelm erinnert haben, so dafi er dessen Vision gleich als Muster verwendete, wobei er Beda allerdings nicht wortlich zitiert. 223 AASS Oct. 9, 1858, 298 ss; cf. unten A. 304 224 Vita primaT,3; Vita sec. 1,2, ed. Patres collegii s. Bonaventurae, Analecta Franciscana 10, 1926/41, 3 ss ш Caspar, Petrus 76s (zur «Vita Gebizonis») Шя Louis Karl ed., Notice sur la vision de Saint Basil, Rev. des Langues romanes 65, 1927/28, 304-323 226 Beda, Hist. eccl. 5,12; Helinand v. Froidmont, Chron. a.a. 1160, PL 212, 1059 s
tpia frans» und Schwank 63 Bedenklicher nach «pia fraus» sieht eine Vision aus227, die zwar genau mit 13. (bzw. 16.) 2.1331 datiert ist, jedoch in Stil und Inhalt sehr an die Literatur der Apokryphen erinnert, so dafi sie wie eine modemisierte und ubersetzte Bearbeitung eines Textes in der Art der Paulus- oder Esdrasvision aus der friihchristlichen Ara wirkt. Dafi in nachdantesker Zeit eine Apokryphe als stilistisches Muster fur eine im Volgare aufgeschriebene echte Vision verwendet worden sei, scheint wenig wahrscheinlich. Aber dafi dem Mittelalter die erbau- liche, padagogische, paranetische Funktion der Literatur allemal wichtiger war, als die Bewahrung der Historizitat, beweist alleine die Existenz der Exempelliteratur als Gattung, in der ja auch geschichtliche Berichte liber bekannte Personlichkeiten zum Lehrgebrauch auf ihre Moral hin zusammengeschnitten werden.228 Fingierte Visionen tauchen auch gelegentlich in der Erzahlliteratur auf; eine doppelte Fiktion also. Sie sind (wie auch die in der epischen Dichtung) von ihrer kompositorischen Funktion her verstandlich. Schon die alteste Novellensammlung des Mittelalters, die «Disci- plina Clericalis» eines konvertierten Juden, enthalt ein solches Beispiel: zwei Burger und ein Bauer befinden sich auf Pilgerreise und da sie zuwenig Brot haben, beschliefien erstere, dafi derjenige von ihnen alles bekommen solle, der den wunderbarsten Traum haben wurde. Der eine der Burger gibt vor, von den Engeln in den Himmel getragen, der andere, von ihnen in die Holle geleitet worden zu sein. Der Bauer, der aber inzwischen schon unbemerkt das Brot verzehrt hat, erzahlt nun, er seinerseits habe geschaut, wie die beiden zum Himmel respekti- ve zur Holle gefahren seien, weswegen er mit ihrer Riickkehr nicht mehr gerechnet habe. Warum also hatte er etwas von dem Brot iibriglassen sollen?229 Eine solche erfundene Vision erzahlt auch Boccaccios unfrommer Pater Alberto seiner Geliebten: seine Seele komme namlich ins blumenreiche Paradies, wahrenddem der Erz- engel Gabriel, der sich semen menschlichen Korper ausleihe, die Schone auf sehr irdische Weise begliickt. Alberto, der auch die Erscheinung des Engels vorspielt, wird freilich schlieSlich entlarvt und endet im Klosterkerker.230 Beide Male dienen diese fingierten Visionen also zu einem Betrug an Gestalten innerhalb der Erzahlung, wahrenddem dem Horer oder Leser der Trug offenbar ist, worauf die Komik der Situationen beruht.231 Nicht unerwahnt soli bleiben, dafi auch in der Neuzeit, wenn auch nur sehr vereinzelt, mittelalterliche Visionen erfunden wurden. Im Jahre 1816 erschien folgende Schrift ohne Angabe des Druckortes: «The Vision of Melachlin O’Phelan, King of Decies. An Irish Manuscript (Above 600 Years Old), discovered on the 29th day of Aug. last, in an earthen urn, by two peasants as they were digging up the remains of an old lime-kiln in a field in the vicinity of Cork. Translated by a reverend Gentleman. Eminent for his lerning and piety ...» Zeit und Ort schliefien wohl absichtlich an die echte «Visio Tundali» an; der 227 ed. Frati, Patrizio 172-179 228 Beispiele bei Tubach, Index nr. 3101, 4225 s, 4770 ss, 5398 usw. 229 Petrus Alfonsi, Disc. cler. 19, Alfons Hilka, Werner SOderhjelm edd., Die Disciplina Clerica¬ lis des Petrus Alfonsi (Sammlung mittellateinischer Texte 1), Heidelberg 1911,29 s; in viele Exempel- sammlungen eingegangen, cf. Tubach, Index nr. 1789 230 Boccaccio, Decamerone 4,2 231 cf. auch den erfundenen Traum im «Konig Rother» v. 2326 ss, zit. Schmitz, Traum 45 s
64 Falschungen Inhalt ist jedoch ganz aktuell: es handelt sich um Prophezeihungen iiber Napoleon I. Schon die an manche Antikenfalschung erinnemden Fundumstande machen hier miStrauisch. AbschlieSend ein Wort dariiber, welche Einstellung der Autor diesem Problem gegen- йЬег einnimmt: Man kann bei jeder geschichtlichen Quelle prinzipiell davon ausgehen, dal? sie vergangene Wirklichkeit getreu aufbewahrt (insoweit das gnoseologisch iiberhaupt moglich ist), solange keine gegenteiligen Indizien aufscheinen, oder man kann sie prinzi¬ piell bis zum Gegenbeweis als verunechtet oder gefalscht ansehen. Das heil?t in unserem Fall, vergrobert ausgedriickt, man kann die Visionsliteratur primar als Niederschlag echter ubersinnlicher Erfahnmg betrachten, oder als von der und fiir die Kirche geschaffenes paranetisches Instrument. Es zeigt sich, dal? fiir beide dieser Anschauungen Belege zu finden sind. Grundsatzlich wird aber von uns angenommen, die iiberlieferten Visionen seien nicht nur literarische Fiktion - bis zum Gegenbeweis. Solange keine ernsten Ver- dachtsmomente auftauchen, hat jeder Text, der sich als Schilderung eines echten Erlebnis- ses ausgibt, den Anspruch, als Zeugnis erfahrener Wirklichkeit betrachtet zu werden, auch wenn dies eine damals und noch mehr heute sehr unalltagliche Wirklichkeit ist. «Prinzi- pielle Skepsis stellt jedoch eine Geisteshaltung dar, die weder hoher zu bewerten noch fruchtbarer ist, als Leichtglaubigkeit ...»232 232 Marc Bloch, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers, Stuttgart 1974, 88 (Apologie pour Phistoire ou metier d’historieru Paris 1949)
LITERARISCHE VISIONEN UND TRAUMVISIONEN Von der Gruppe der gefalschten Visionen nicht immer einfach zu scheiden ist die der literarischen Gesichte; die eben genannten Texte stehen in der Mitte. Kann man bei ersteren das zahlenmafiige Verhaltnis zu den echten wegen der moglichen «Dunkelziffer» nicht gut schatzen, so sind jene namentlich im Spatmittelalter in grofier Ftille und mit bedeutenden Werken vertreten. Sie verfolgen oft keine unmittelbare Absicht aufierhalb der Kunst, es sei denn die, wiederum eine christlich-moralische oder auch profane Lehre zu vermitteln. Die Traum- oder Visionseinkleidung wird hier als Stilmittel eingesetzt, das aus literarischen und kimstlerischen Motiven Verwendung findet. Freilich konnte man so Dinge verbreiten, zu denen man sich ungem in direkter Form bekannt hatte, etwa, wenn man Kritik an bestehenden Zustanden uben wollte, wie z. B. Philipp v. Maziёre in seinem beriihmten «Somnium viridarii» (1376) an den Ansprtichen der romischen Kirche. Diese Form diente auch «zur Autorisierung einer Wissensvermittlung, fiir die der Dichter nicht selbst verantwortlich zeichnen will».233 Abaelard hat sich in seinem durchaus von sich selbst uberzeugten philosophischen «Dialogue» vorsichtshalber doch der Einleitung «Aspiciebam in visu noctis ...» bedient234, genauso Chaucer im Prolog zu der «Legend of good Women», in dem Amor den Dichter uber das richtige Verhaltnis zur Damenwelt belehrt. Mit der Schilderung tatsachlicher Traume soil der Leser dagegen im allgemeinen nicht von etwas tiberzeugt werden. Bei diesen literarischen Werken wird eine aufiematurliche Inspiration im Ernst ublicher- weise nicht mehr beansprucht, weswegen sie nicht als Falschungen anzusehen sind; sie sind zwar Fiktionen, aber ohne die Absicht, fur authentische charismatische Offenbarungen gehalten zu werden und dadurch zu tauschen.235 Es fragt sich, nach welchen Kriterien Visionen und Traumvision, die auf wirklichem Erleben beruhen, von solchen Texten geschieden werden konnen, die sich dieser Form nur als «poetical device» bedienen. Niemand wird glauben, dafi Langland im «Piers Plow* man», um das bekannteste Beispiel einer Traumdichtung zu nehmen, einfach tatsachlich erlebte Traume nacherzahlt. Besonders, da er sein Werk, von den Prologen abgesehen, von 11 auf 17 und dann von 17 auf 23 Passus erweitert hat, so dafi heute drei verschiedene Fassungen vorliegen.235,1 Aber worauf grundet sich unsere Skepsis bei Traumvisionen, die ohne solche entlarvende Umstande auf uns gekommen sind? Warum soli etwa der unbe- kannte Autor der «Voye de Infer» nicht tatsachlich getraumt haben, von der Dame «Dese- sperance» (Verzweiflung) iiber die Burgen der Sieben Todsunden zur Hollenstadt gefuhrt worden zu sein und von der Dame «Contrition» (Reue) in Schutz genommen worden zu 233 Blank, Minneallegorie 140 234 ed. Rudolf Thomas, Stuttgart 1970, 41 235 Augustinus hat sich in den «Soliloquia» 2,16 ss (ed. Harald Fuchs, Hanspeter Muller, Zurich 1954,150 ss) mit dieser Frage in bezug auf die Literatur allgemein auseinandergesetzt; cf. auch Paul Klopsch, Einfiihrung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters, Darmstadt 1980, 9 ss 2354 Fassung A enthait 3 Visionen, BIO und C 9; cf. Robert W. Frank jr., The Number of Visions in Piers Plowman, Modem Language Notes 66, 1951, 309-312
66 Literarische Visionen sein?236 Die Gedichtform (achtsilbige Reimcouplets) spricht sicher nicht eo ipso gegen eine echte Vision, denn von sovielen dichterischen Bearbeitungen visionarer Jenseitsreisen ha- ben wir ja die Prosaaufzeichnungen, die den Bericht des Ekstatikers selbst festhalten (Drycthelm, Wetti, Tundal, Owen usw.) Tatsachlich ist die Trennung zwischen realen und fiktiven Visionstraumen nicht immer mit Sicherheit durchzufiihren237; es ist nicht zu bewei- sen, dafi z. B. der Vision des Archipoeta kein richtiger Traum zugrunde liege, den er dann kunstvoll versifiziert habe, auch wenn es auf der Hand liegt, dafi der Dichter damit vor allem Reinald v. Dassel seine Wtinsche nahebringen mochte. Aber gewisse Unterschiede zwischen den Aufzeichnungen von echten und literarischen Visionen und Traumen lassen sich doch angeben238 - nicht als unbedingt notwendige Kennzeichen der einen oder anderen Form, aber doch als aus einer grofien Zahl von Texten deutlich zu abstrahierende Tendenzen. 1. Au/iere Evidenz: Die erfahrene Vision wird meist innerhalb einer Biographie (oder Autobiographie) berichtet (Furseus, Anskar, Christina v. Markyate, Gerardesca v. Pisa, Douceline, Benevenuta, die Nonnenviten des 14. Jahrhunderts, Seuse, Francesca v. Rom usw.) oder besitzt wenigstens einen biographischen Vorspann mit je nach allgemeiner Quel- lenlage mehr oder weniger nachprtifbaren Angaben (Barontus, Alberich, Orm, Tundal, Gottschalk, Thurkill); sie bezieht sich auf ein auch durch andere, im giinstigsten Fall unab- hangige Dokumente bekanntes Individuum (Elisabeth v. Schonau, Gertrud die Grofie, Georg v. Ungam, Birgitta v. Schweden usw.) und ist bisweilen sogar in anderen Quellen historiographischen Charakters erwahnt (Alberich, Elisabeth v. Schonau, Karl IV.). Die literarischen Visionen und Traume entbehren im allgemeinen konkreter biographischer Umrahmung, da der Dichter eben nicht von seiner ganz personlichen Erfahrung spricht, sondem dem Leser bzw. Horer eine Idenrifikation mit dem Traumer erleichtern will, han- delt es sich doch meist um sehr allgemein menschliche Probleme: «Jedermann» hat sich auf den Tod und das ewige Leben vorzubereiten («The Parlament of the Thre Ages», «Death and Life»23*), «Jedermann» steht vor der Gefahr, iiber den Flufi «Gloutonie» durch «Cha- stdau-Bordel» und «Cruaute» (Vollerei, Bordellburg, Grausamkeit), irnmer defer hinabzu- steigen bis zur Holle (Raoul v. Houdenc, «Song d’enfer»).240 So stammen die fiktiven Traum- visionen zwar bisweilen von einem wohlbekannten Dichter, der sich mit seinem Jenseitspil- ger identifiziert (agens-auctor), werden von ihm aber absichtlich nicht als Faktum inbiogra- phischem Zusammenhang ausgewiesen. Und wo fande sich eine Chronik, die zu einem ganz bestimmten Datum vermerkte, dafi damals z. B. ein William Langland eine Hollenvision241 gehabt habe? Oder, ein Raoul de Houdenc, von seinen Fahrten durch die andere Welt erschiittert, habe die Kutte genommen? Das formale Kriterium, dafi die literarischen Gesichte durchwegs in Versen aufgezeich- net wurden, ist alleine, wie gesagt, keineswegs ausreichend, doch mufi man feststellen, dafi 236 Owen, Hell 164 s 237 So urteilt in anderem Zusammenhang auch Forstner, Baudris 57 238 cf. аисЪ Lindblom, Gesichte 219 239 Spearing, Poetry 134 ss., 166 ss 240 Owen, Hell 158 ss 241 Piers Plowman В 18, C 21
Vergleich mit erlebten Schauungen 67 die fiktiven Traume und Visionen alle nur in dieser Form iiberliefert sind, wahrenddem sich bei nahezu samtlichen echten Visionen die Gedichtfassung als Bearbeitung der Pro- saaufzeichnung erweisen lafit Von den Erzeugnissen dichterischer Phantasie existieren jedoch keine prosaischen Vorlaufer. 2. Innere Evidenz: Zwar werden «visio» und «somnium» im Mittelalter gerne synonym gebraucht242, doch steht aufier Zweifel, dafi die Mehrzahl der Texte, die erlebte Schauun¬ gen enthalten, auf in Ekstase gesehenen Bildern beruht, wozu eine kleinere Zahl von Traumvisionen kommt. Die literarischen Gesichte dagegen sind fast durchwegs als Trau¬ me gekennzeichnet243, eine ekstatische Entraffung beanspruchen nur wenige der Dichter (Archipoeta). In ihnen kehren gewisse Topoi wieder, die man in erfahrenen Visionen nicht oder selten trifft. Zunachst das Setting: wahrenddem sich die echten Visionen in der Umgebung des Charismatikers, im Kloster, bei der Familie, in der Kirche ereignen, meist im Beisein anderer, sucht der Dichter die Einsamkeit, die er ublicherweise in freier Natur, oft an einem typischen Locus Amoenus (fast eine Inkubationsstatte) findet244; Kontrast zu seiner augenblicklichen Verwirrung und Versprechen auf eine durch den Traum gewiesene Losung seiner Probleme. Der Spaziergang und noch mehr der Traum selbst symbolisieren die Distanz vom Geschehen der All tags welt.245 In Krankheit werden poetische Visionen, anders als so viele der erlebten, nicht empfangen. Auch beim zeitlichen Ansatz zeigt sich eine in den ekstatischen Visionen nicht vorhande- ne Tendenz, aus demselben Grunde der Kontrastierung den Traum besonders gem in die Fruhlingszeit zu setzen246, Symbol der «vita nuova», die den Traumenden nach dem Emp- fang der sein Leben andernden Offenbarung erwartet, falls er ihr entsprechend Folge leistet. Der Ubergang vom Wachzustand in den des Traumes erfolgt undramatisch, ganz anders als der Ubergang in die Ekstase mit seiner Katalepsie des Leibes und seiner Erschtitterung der entriickten Seele (Tundal!). Nicht immer sind in den fiktiven Texten Traum- und Wacherle- ben klar zu scheiden («Piers Plowman» C-Textl). Auch das Ende des erdichteten Schlafes unterscheidet sich von der Riickkehr aus der Ekstase: der Charismatiker wird ublicherweise gegen seinen Willen auf gottlichen Befehl in den Korper zuruckgeschickt (Maximus, William, Thurkill, Hadewijch, Osanna v. Mantua usw.), der Traumer dagegen erwacht auf Grund irgendwelcher banaler Ereignisse, die er oft selbst verschuldet: Vogellarm, Tautropfen, Glockengelaute, der ungestume Versuch, 242 cf. oben S. 48 s 243 In einigen spatmittelalterlichen Dichtungen, doch relativ selten, kommt auch das Motiv des Halbschlafes vor, wobei auf die Polaritat Sunde-Schlaf: Gnade-Wachen (cf. Rom. 13,11) angespielt wird; cf. Thomas D. Hill, <Half-waking, half-sleeping»: a tropological motif in a Middle English Lyric and its European Context, Rev. of English Studies 29,1978,50-56; Spearing, Poetry 176,192. Nichtliterarische Schauungen werden nur selten im Halbschlaf erlebt, wie diejenige des Monches Herricus von 891, dem der hi. Audomarus erscheint und zu fleifiiger Tatigkeit ermahnt, Miracula S. Bertini 8, MG SS 15/1, 513 s 244 Newman, Somnium 281 ss 245 cf. Ingeborg Glier, Artes amandi (Munchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Litera- tur des Mittelalters 34), Munchen 1971, 300,398 246 Newman, Somnium 267s, 271 ss
68 Literarische Visionen den Jenseitsflufi zu iiberqueren247 oder einen Engel zu sehen: «minen slaf ich durch in brach / und wolt in sehen: do was er hin.»248 Was die Personlichkeit des Sehers selbst betrifft, so ist es die Regel, dafi die Gesichte des Ekstatikers nicht von ihm selbst, sondem von einem Amanuensis aufgezeichnet werden, wahrenddem der aufzeichnende Dichter mit dem erle- benden Traumer identisch ist. Die Landschaften, die geschaut werden, konnen sich bei beiden Gruppen auf das aufier- ste ahneln: speziell die Hollen- und Himmel-«Traume>> verwenden das ganze eschatologi- sche Material der echten Visionen. Aber die fiktiven Texte tendieren starker zum Allegori- schen, als die erlebten: in diesen wird eine Schauung meist erst nachtraglich (wenn tiber- haupt) in wohl oft post-ekstatischen, wenn auch inspirierten Ausfiihrungen mit einer symbolischen Bedeutung befachtet, wahrenddem in jenen von Anfang an allegorische Platze auftauchen. So schaut Gertrud zuerst einen sonnenglanzenden Strom, dessen Wellen sich durch den ganzen Himmel ergiefien, dann versteht sie, dafi die krauselnden Wellen die Gedanken, welche sie voll Eifer auf Gott gerichtet hatte, bedeuten.249 Die meisten Visionen bis ins Hochmittelalter aber verzichten uberhaupt auf eine solche Ausdeutung des Ge- schauten. Nicht untreffend hat man gesagt: «De weg naar het litterair genre der Visioenen wordt m. i. bewaakt door een veelkoppig monster. Zijn naam is Allegoria.»250 Die Dichtertraume haben fast regelmafiig eine «world of meaning»251, einen «locus animae»252, als Setting. Piers Plowman beschreibt den Weg zu «Treuthe» (Wahrheit) folgendermafien: «зе mote go bourgh mekenesse ... /Tyl зе come in-to consciense... And so boweth forth bi a broke, beth-buxum-of-speche, / Tyl зе fynden a forth. 3owre-fadres-honoureth.. ,253 (Ihr mufit liber Sanftheit gehen, ... bis ihr zum Gewissen kommt... dann biegt ab bei einem Bach, Wir-wollen-der-Rede-gehorchen, bis ihr eine Furt findet, Ehre-deine-Eltem). Dem- entsprechend trifft der Traumer auch mit Vorliebe auf allegorische Gestalten, etwa aus der antiken Mythologie (so bei Walther v. Chatillon oder Alanus v. Lille), mehr noch auf die Verkorperungen verschiedener Elemente des Lebens und Seelenlebens, wie Tod, Liebe, Eifersucht, Tugenden und Laster... Jean de le Mote z. B. wird in seinem Traum von Mord und seiner hubschen Gemahlin Verzweiflung zu den Sieben Todsunden gefuhrt, die sich seiner Reise in die Unterwelt anschliefien - bis ihn dann ein Engel rettet.254 Personifikatio- nen in echten Visionen auftauchen zu sehen, wie bei Hadewijch oder Adelheid Langmann, ist weniger haufig.255 Die Heiligen und Engel und Gott selbst, die der Ekstatiker zu treffen gewohnt ist, begegnen dem traumenden Poeten dagegen eher selten (Archipoeta, Apoca- lypsis Goliae). Er hat es durchgehend mit den Reprasentanten der geistigen Welt in der 247 Spearing, Poetry 43, 112, 115 248 Rudolf v. Ems, Der gute Gerhard vs. 1870 s., zit. Schmitz, Traume 93 249 Leg. div. piet. 4,59 250 Vekeman, Angelus 226 251 Newman, Somnium 300 252 Pieller, Landscape 13,69 253 Piers Plowm. B5,57 ss. Skeat, Piers 63; cf. Pieller, Landscape 81 254 Owen, Hell 162 s 255 cf. unten 171 ss
Fiktionalitat und Ailegorie 69 Form korperlicher Erscheinungen (Vermenschlichung, Personifikationen) zu tun. Diese werden erdichtet256, nicht geglaubt. Wo der Visionar seine Angste und Hoffnungen in der Begegnung mit jenseitigen Landschaften und Wesen objektiviert, verwendet der Dichter bewufit erfundene Personifikationen der Seelenkrafte. Die Regungen der eigenen Psyche treten dem poetischen Ich als helfende Tugenden und verfiihrende Laster entgegen. Genereil kann man sagen, dafi die echten Gesichte durchgehend religiosen Inhaltes sind, wahrenddem die fiktiven oft genug profane Themen behandeln, auch wenn sie sich dabei der sakularisierten Elemente jener Literatur bedienen (des Paradiesesgarten, des Lebens- brunnen usw.). Die bekanntesten Traume profanen Inhalts sind wohl der «Rosenroman» und die vier Traumgedichte Chaucers («The Book of the Duchess», «The House of Fame», «The Parliament of Fowles», der Prolog zu «The Legend of good Women»). Schwierig ist die Einordnung der «Divina Commedia».257 Was den literarischen Traumvisionen ebenfalls abgeht, ist die bei den Charismatikem unablassig zu findende Beteuerung von der Reaiitat ihrer Schauungen, d. h. sowohl der des Erlebnisses als auch der der geschauten Inhalte. «But when I sy hit, hit was but a whew, / A dreme, a fantasy, & a thyng of nought,» sagt Lydgate einmal am Ende eines Traumge- dichtes258, wobei er zwar an der Tatsachlichkeit seines Traumerlebnisses festhalt, nicht aber an der objektiven Existenz des Geschauten. Manchmal entlarvt der Dichter seine Fiktion selbst, wie jener Anonymus, der in seiner «Vision» zum Tode des hi. Thomas Becket sagt, «Si viderim, nescio; puto me vidisse ...»259 Schliefilich pflegen Zeugnisse wirklicher emotioneller Ergriffenheit (wie dies auch der Unaussprechlichkeitstopos ist) zu fehlen. Das Ziel des Traumes ist erreicht, der Dichter erwacht und ... Explicit! So nach immerhin nahezu 22000 Versen getraumter Abenteuer der Rosenroman. Thematisch gesehen stehen die Traumvisionen des 12. und 13. Jahrhunderts noch naher bei den ekstatischen, indem sie gem noch im Jenseits und nicht unbedingt in einer allegori- schen Landschaft spielen. In der zweiten Halfte des vierzehnten Jahrhunderts - nach Ockham! - liegt wohl die kunstlerische Blute dieses Genres in England, es genugt an Langland, den «Pearl»-Dichter und Chaucer zu erinnem. Die zeitlich-geographische Rei- henfolge ware Frankreich - England - Spanien, die deutschsprachige Literatur scheint die Traummode kaum mitgemacht zu haben. Nur in der Minnelyrik findet sich die Traum- form ab dem 14. Jahrhundert, doch blo8 in relativ kurzen Werken.260 Eine Sonderentwicklung bietet Irland auch auf diesem Gebiet: die «Aisling»-Dichtung. Wahrendem allegorische Traumdichtungen, die denen der lateinischen und volkssprachli- 256 cf. Dantes Reflexionen in der «Vita Nova» 23 257 Als Visionsdichtung interpretiert z. B. von Newman, Somnium 338 ss 258 Assembly of the Gods 2049 s., zit. Pieller, Landscape 8325, cf. Newman, Somnium 330; femer Spearing, Poetry 47,113 259 Schmidt, Becket 165, Vis. de morte Thom. 3,1. Zur Wahrheit der literarischen Traume im Selbstverstandnis der Dichter cf. Smith, Apocalypse 82 ss 260 Blank, Minneallegorie 139 ss; Tilo Brandis, Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederlandische Minnereden (Munchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 25), Miinchen 1968, 78, 93 ss
70 Literarische Visionen chen Literaturen des mittelalterlichen Europas vergleichbar waren, hier erst ab dem 18. Jahrhundert aufkommen, gibt es schon seit ca. dem 9. Jahrhundert prophetische Traumge- dichte wie «Aisling Dubthaich» oder «Aisling Cormaic», oft auch als «a bardic device for praising or encouraging a patron or for giving expression to the hopes that one reposed in him»261 konzipiert. Dazu die Traume, in denen die Geliebte erscheint (z. B, «Aisling Oen- guso») und der parodistisch-schwankhafte Traum, der die Gattung des Fis aufs Korn nimmt («Aislinge Meic Con Glinne»). Einen Einflufi der Traumdichtungen auf die Visionsliteratur kann man gut am Beispiel der aus dem Purgatorium S. Patricii berichteten Schauungen erkennen: wahrend der Pro- pugnator all der Ritter, die diese Lauterungsstatte besuchten, Owen, noch darauf beharrte, er habe die Fegfeuerqualen und das Paradies nicht «in extasi et ... in spiritu» gesehen, sondern «corporeis oculis»262 werden die Erlebnisse seines Nachfolgers Georg v. Ungam zwei Jahrhunderte spater schon als «Revelatio» bzw. «visio purgatorij, infemi et paradisi» bezeichnet263, was schon sehr an die ekstatische Vision gemahnt, auch wenn an der Korper- lichkeit von Georgs Erlebnissen festgehalten wird.264 Um die Wende vom 14. zum 15. Jh. aber berichten die Besucher des Purgartorium, sie seien vor ihren Jenseitswanderungen in Schlaf gefallen.265 Bei den Traumdichtungen diente diese Form als Vehikel verschiedenster Inhalte. Als Traum konnte genausogut fiber die Pilgerschaft des Menschenlebens reflektiert (Guillau¬ me de Digulleville, «Pelerinages») wie eine Invektive gegen sexuelle Verirrungen geritten werden (Alanus v. Lille, «De Planctu Naturae»), konnte genauso eine Consolatio geboten werden (Chaucer, «The Book of the Duchess») wie eine Diskussion uber die Verstofie gegen die Regeln der Courtoisie («Li Fabel dou Dieu d* Amours»). Lauter Stoffe also, die auch ohne visionare Einkleidung in Vers und Prosa behandelt wurden! Eine eigene Gruppe bilden die satirischen Visionen.266 Damit ist nattirlich nicht gesagt, dafi nicht auch erlebte Traume in dichterischer Form behandelt worden waren: das Traumgedicht des Baudri v. Bourgueil (nach 1107) etwa spiegelt deudich Probleme seines Lebens wider: dem Sturz von der Brficke, der Gefahr durch treibende Felsen und der Beseitigung des Hindernisses im Traum entspricht eine Krise und ihre Uberwindung bei der Verwaltung seines Bistumes.267 Die visionare Einkleidung ffir einen an und ffir sich unabhangigen Inhalt lafit sich nun im Bereich der religiosen Dichtung am besten an dem in alien europaischen Sprachen in so ungemein vielen Versionen vorliegenden Streitgedicht zwischen Korper und Seele zeigen. Die bis ins Altagyptische zurtickreichenden Anfange dieses Themas hintangesetzt, ist die 261 Gerard Murphy, Notes on Aisling Poetry, Eigse 1, 1939,40-50,43 262 Tract. Purg. Patr. 22, Jenkins, Espurgatoire 93 263 Prol., Hammerich, Visiones 79,104 264 ibid., ed. cit. 83 265 Ramon v. Perelhos: Owen, Hell 220; William Staunton: Krapp, Legend 59 266 cf. z. B. Owen, Hell 158 ss 267 Forstner, Baudris pass. Ein typischer Angst- und ein erotischer Wunschtraum finden sich versifiziert z. B. im «Liederbuch der Clara Hatzlerin» 2,4; 2,5, ed. Carl Haltaus, Quedlinburg. Leipzig 1840 = Berlin 1966, 125 ss. Cf. weiters Eduard Wechssler, Das Kulturproblem des Minne- sangs I, Halle/S. 1909, 229 ss
Visio Philiberti 71 alteste erhaltene mittelalterliche Fassung die altenglische Ansprache der Seele an den Leib (10. Jh.): die Seele eines bosen Menschen verwunscht ihren Korper, da seine Handlungen sie in die Holle stiirzen, die eines guten Menschen lobt ihn aus den gegenteiligen Grim den. Dieses Gedicht besitzt zwar eine Rahmenerzahlung, in der wir erfahren, dafi sich die Seele so jede siebte Nacht ihrem Leib nahem mufi u. a., aber von einer Vision oder Erscheinung ist nicht die Rede.268 In der nachsten bekannten Bearbeitung des Themas, der «Royal Debate» aus dem fruhen 12. Jahrhundert, antwortet der Leib nicht nur der Seele, sondem ist die ganze Debatte nunmehr als Vision ausgegeben: «Nuper huiscemodi/visionem somnii/Cuidam pontifici/ factum esse didici» lautet der Eingang und «Cuius miserabili/voce. cor episcopi/ Motum huiuscemodi/ finem fecit sompnij.» das Ende.269 In der nur wenig jungeren franzo- sischen Version wird der Rahmenbericht in Ich-Erzahlung gegeben, sodaB Dichter und Visionar identisch sind: «Et ui en mon dormant/Une auisiongrant.»270 Wiederum ist es das furchtbare Schreien der von den Teufeln geholten Seele, das Traum und Gedicht beendet. Die bekannteste Fassung der Debatte schliefilich (aus dem beginnenden 13. Jahrhun¬ dert), die in sehr vielen Manuskripten iiberliefert ist, tragt den Titel «Visio Philiberti» (u. ahnl.): sie wird wiederum in der ersten Person mitgeteilt und um einige realistische Details vermehrt, wie die, dafi das Gesicht Folge von geringem Schlaf sei und dafi der Dichter als Konsequenz aus ihm sich ganz in Christi Hande kommendierte.271 So konnen wir hier die einzelnen Stufen einer fiktiven Visionsdichtung verfolgen: die nichtvisionare Erzahlung — die einer dritten Person (dem Bischof) zugeschriebene Traum- vision — die als eigenes Erlebnis eines Anonymus berichtete Vision — die unter einem Namen als eigenes Erlebnis gebotene Vision. Eine umgekehrte Entwicklung nahmen dieje- nigen erlebten Visionen, die durch Versifikation und Bearbeitung aus Tatsachenberichten zu Dichtungen wurden (Drycthelm, Wetti, Alberich, Owen, Tundal, Edmund usw.). Es ist dies sicher ein Hinweis, eine gewisse Skepsis anderen Traumgedichten gegentiber zu hegen, von denen Vorstufen nicht bekannt sind; dennoch ist es auch bei der «Visio Philiberti» letztlich nicht auszuschliefien, dafi die eine oder andere ihrer Varianten wirklich durch einen Traum angeregt wurde, konnen doch wohl auch (vor)gelesene Stoffe in Trau- men wiederkehren. So soil ja Papst Johannes XXII., dem man die Tundalusvision vorgele- sen hatte, diese ganze Jenseitsreise im Traum in richtiger Reihenfolge nachvollzogen ha- ben272, womit man iibrigens seine Irrlehre in Verbindung brachte273, und so lafit sich die echte Hollen- und Purgatoriumsvision der Francesca v. Rom auf die Lektiire der «Come¬ dia» zuriickfiihren.2734 268 Georg Philipp Krapp, Eliott van Kirk Dobbie edd., The Exeter Book (The Anglo-Saxon Poetic Records 3) New York 1936, 147 s.; Georg Philipp Krapp ed., The Vercelli Book (id. 2), ibid. 1932, 54-59; Gail D. D. Ricciardi, The Grave-Bound Body and the Soul: A Collective Edition, Diss. Pennsylvania 1976 269 vs. 1 ss., 2541 ss. ed. Ferguson, Debate 96, 145 270 ibid. 146, vs. 2 s. 271 ibid. 168, 175 272 D’Ancona, Scritti 21 s. Anm. 273 Spilling, Tnugdal 35 ss 273a cf. unten Anm. 453a
72 Literarische Visionen So lafit sich auch nicht mit Sicherheit ausschliefien, dafi der Disput zwischen Seele und Leib etwa einen unbekannten Philibert so intensiv beschaftigte, dafi er ihn im Schlafe nacherlebte und daraus eine Dichtung schuf. Non liquet.274 Abschliefiend sollen kurz eine ekstatische Vision, eine Traumvision und ein fiktiver Traum als konkrete Beispiele fur das oben Gesagte miteinander verglichen werden. Es handelt sich um drei Queilen, die innerhalb eines Menschenalters entstanden sind: rein literarisch ist der Traum, den Anselm v. Besate in seiner 1046/48 verfafiten «Rhetorima- chia» erzahlt275, tatsachlich erlebt die Vision des Alberich v. Settefrati (ca. 1117)276 und der Traum, den Guibert v. Nogent von seiner Mutter in den um die namliche Zeit geschriebe- nen Memoiren mitteilt.277 Freilich sind dabei nicht bei jedem Text alle genannten Punkte vorhanden. 1. Auflere Evidenz: Alberichs Vision ist in einer Cassineser Sammelhandschrift iiberlie- fert, sie bildet ein geschlossenes Ganzes mit Einleitungsbrief des Visionars, Kapiteleintei- lung und Prolog eines Mitbruders. Darin, sowie in einem weiteren Vorspann und dem letzten Kapitel der Vision werden Angaben zur Entstehungsgeschichte des Textes und zur Biographie Alberichs gemacht. Die Vision wird auch in anderen Werken aus Monte Casi¬ no erwahnt.278 Guibert beschaftigt sich in seiner Autobiographic sehr viel mit seiner Mutter279, von der er auch andere aufiersinnliche Erlebnisse berichtet. Guibert war Abt des Benediktinerklo- sters Nogent, von ihm sind zahlreiche theologische und historische Arbeiten bekannt, bei denen er durchaus historisch skrupulos vorgeht.280 Bekannt ist seine ungewohnlich kriti- sche Einstellung zum Reliquienkult. Es gibt keinen Anhaltspunkt, dafi gerade er eine Vision erfunden haben sollte. Anselm, der «bizzare Rhetoriker und extreme Literat»281 war 1047/50 Notar am Hofe Kaiser Heinrichs III. Sein Traum ist Teil seines Rhetoriklehrbuches, das viele autobiogra- phische Passagen enthalt, die, milde formuliert, ein «mafiloses Selbstbewufitsein»282 verra- ten. Sein Traum steht an keinem besonderen Ort seines Lebens, sondem «Quadam nocte, cum dormirem».283 Er beginnt mit achtzehn gereimten Funfzehnsilbern, um dann in rhythmischer Prosa fortgesetzt zu werden, wodurch der Leser wohl an Boethius’ «De Consolatione Philosophiae» erinnert werden soil. Keine aufiere Quelle bezeugt ihn. 274 Einige mit Sicherheit als literarisch zu betrachtende Streitgedichte waren: «Altercatio Ganime- dis et Naturae». «Dialogue inter Aquam et Vinum»; «Dialoque entre la Folle et la Sage», «Dit d’ Ypocrisie», «Desputoison de l’Eglise et de la Synagoque», Jean le Tinturier: «Marriage des sept Arts», usw. 275 2,1 ss., MG QG 2, 128-150 276 Inguanez, Cod. pass. 277 De vita sua 1,18, PL 156, 876 ss 278 Mirra, Alberico 33 ss 279 zu ihrer Bedeutung fur Guibert cf. Kantor, Memoirs pass. 280 Lacroix, Historien 69; Klaus Guth, Guibert v. Nogent und die hochmittelalterliche Kritik an der Reliquienverehrung, Ottobeuren 1970 281 Karl Manitius in:' MG QG 2,72 282 ibid. 82 283 2,1, ibid. 138
Vergleich von ekstatischer Vision, Traumvision und Traumdichtung 73 2. Innere Evidenz: Alberich erfahrt seine Vision mit zehn Jahren wahrend schwerster Krankheit, neun Tage in Ekstase zwischen Tod und Leben schwebend. Wahrenddessen liegt er in der vaterlichen Burg von Settefrati, seine Mutter ist bei ihm. Zeitangaben werden sonst nicht gemacht. Die Riickkehr aus der Ekstase erfolgt offensichtlich auf Befehl des Apostels Petrus, eine mehrere Tage dauemde Apathie und Erschopfung folgt auf sie.284 Die Aufzeichnung erfolg- te zwar in Ichform, doch ist sie Ergebnis einer Zusammenarbeit Alberichs mit anderen Monchen.285 286 Geschildert wird die Wanderung durch eine detaillierte Jenseitslandschaft, in der die Menschen nach dem Tode weiterleben. Sie wird nicht allegorischer Deutung unter- worfen. Heilige, gerettete, biifiende und verdammte Seelen tauchen darin auf, aber keine Personifikationen. Alberichs Reaktion auf diese Entraffung ist es, seine El tern zu verlassen und Monch zu werden.246 Einleitungsbrief und Prolog dienen ausdrucklich zur Beteuerung der Wahrhaftigkeit der Vision, genauso die Anspielung auf die Johannesapokalypse 10 im 47. Kapitel der Vision. Die Schilderung und die behandelten Probleme sind zutiefst religios und ernst gemeint. Das hindert nicht, dafi in den Text sekundar einige Predigtexempel eingefugt wurden, die sich sowohl durch ihre Lange als auch stilistisch vom Rest der Vision unterscheiden. Sie ist dadurch zwar aufgeschwollen, aber dal? sie nichtsdestotrotz auf einem echten Erlebnis basiert, das sie getreu wiederzugeben bemiiht ist, wird durch Inhalt und Engagement nahegelegt.287 Guiberts Mutter schlaft eines Sonntags nach der Mette ein, zu Hause auf einem sehr schmalen Schemel sitzend. Sie spurt, wie ihre Seele den Korper verlafit: «in somno coepit deprimi, sua ipsius anima de corpore sensibiliter sibi visa est egredi».288 Wie sie erwacht, wird nicht beschrieben. Der Inhalt ihrer Schauung ist die Begegnung mit ihrem verstorbe- nen Mann im Purgatorium. Er bufit dort durch solche Verwundungen, «ut magnus intuen- tem sequeretur horror, et commotio viscerum».289 Dazu kam das unertragliche Geplarre eines Kleinkindes, - eines illegitimen Halbbruders Guiberts, den sein Vater, bei seiner Gattin impotent, zum Beweis seiner Manneskraft mit einer anderen gezeugt hatte, den er jedoch sogar ohne Taufe hatte zugrunde gehen lassen. Dieser Traum ist nicht nur vollig ernst erzahlt - Guibert betont seine gottliche Herkunft mit dem in der Unterscheidung zwischen wahr und falsch gangigen Kriterium seiner Absicht (namlich seinem Vater Hilfe zu schaffen), - sondern hat auch einen aus den meisten Jenseitsvisionen genauso bekann- ten Inhalt (namlich das Zusammentreffen mit einem bufienden Verwandten). Tatsachlich reagiert die Traumerin auch so, dafi sie ihr Gesicht vollig ernst nimmt und «Similia ergo similibus objectans»290 ein Waisenkind zu sich nimmt, dessen unentwegtes nachtliches Geschrei ihren Mann von dem seines vernachlassigten Sohnes befreien soli. In der Hand- lungskonsequenz unterscheidet sich also die Traumvision nicht von der ekstatischen, ge- 284 Vis. o, 48 s 285 ibid. Ep., Prol. 286 ibid. 50 287 Dinzelbacher, Alberich pass., bes. 442 288 PL 156, 876D 289 ed. tit. 877C 290 ed. tit. 879A
74 Literarische Visionen nausowenig wie im «Personal»: biifiende Seelen und Damonen. Keinerlei Allegorisierung wird von Guibert in den Traumbericht gebracht, dessen Anliegen eine exemplarische Darstellung wirklich gelebter Pietas ist. Anselm will seinen Traum einmal «primo noctis tempore»291 alleine zu Bett liegend geschaut haben. Darin diirfte bereits eine versteckte Andeutung auf seinen fiktiven Cha- rakter zu suchen sein. Denn nach der vom Mittelalter iibernommenen antiken Traumtheo- rie sind die Traume vor Mittemacht «vana» und «iniqua», die spateren aber wahr.292 Abgesehen davon gibt es in der «Rhetorimachia» aber noch einen Hinweis, dafi es sich um kein historisch emst zu nehmendes Werk handelt, sagt der Autor doch selbst von sich, darin «quidem plurima ... non vera admiscui».293 Darunter fallt sicher auch dieser Traum: Der Autor kommt in den mit seinem klassischen Namen bezeichneten Himmel («Hely- sia»), wo er einen Onkel trifft, der sich iiber ihn, Anselm, in den schmeichelhaftesten Ausdriicken verbreitet. Dieser nimmt das zur Gelegenheit, seinen erlauchten Stammbaum aufzusagen - das Buch war fiir den Hof geschrieben und wurde dem Kaiser uberreicht. Wie in echten Visionen bekommt er dann einen Auftrag an eine Lebende und trifft andere seiner Vorfahren, von denen sich allerdings eine erstaunliche Anzahl unter den Heiligen befindet («plurimus ordo sanctorum»294). Zu diesen stoSen drei Jungfrauen, Dialectica, Rethorica und Gramatica, also die Personifikationen des Trivium. Sie beginnen, sich nach wohlgesetzten Reden mit den Heiligen um den Seher zu streiten (!) und versuchen, den Zaudemden mit sich zu ziehen. «In tanto itaque clamore et dissidencia rediit spiritus .. .»29S Und da Anselm in seinem Bett weder Heilige noch Jungfrauen vorfindet, bleibt ihm nur noch eine hypothetische Entscheidung, die endlich zugunsten der (fiir noch Lebende «rea- leren») Damen ausfallt. Dieser humorvoll geschilderte Schlufi des Traumes zeigt, dafi die Wahlmoglichkeiten nur scheinbare sind und steht damit im Gegensatz zu so vielen ekstati- schen Visionen, die den Charismatiker wirklich zu einem neuen Lebenswandel bewegen. Aufierdem hat dieser Traum gezielt die Funktion nicht nur einer Laudatio sui, sondern der Dichter bekommt in ihm auch Stoff fur die Fortsetzung, die Invektive gegen einen Vetter, geliefert, gegen den der «Redekampf» polemisiert, namlich die Untaten, die jenem vom Onkel zugeschrieben werden. Im Vergleich zu den meisten spateren Dichtertraumen ist der Inhalt sehr.spezifisch auf Anselm bezogen, hat aber doch ein seit Hieronymus immer wieder aufgegriffenes Problem der mittelalterlichen Intellegenzia zum Hintergrund, nam¬ lich die Entscheidung zwischen dem «piscatorie» (in der Nachfolge der Fischer, Petrus, Johannes ...) und dem «aristotelice» (in der Nachfolge der antiken Philosophen)296, vor dem, viel tragischer freilich, etwa auch Otloh v. S. Emmeram steht.297 291 Rhetorim. 2,1, MG QG 2,138 292 Kamphausen, Traum 19 s., 62, 10051, 200 293 Epist. ad Dr., MG QG 2,103. Die antike und mittelalterliche Literaturtheorie stellt iibrigens die Nahe der Dichtung zur Luge dar, cf. Laugesen, Middelalderlitteraturen 287, 289; Klopsch, Einfuh- rung 9ss 294 Rhetorim. 2,4, ed. cit. 146 295 ibid. 2,5, ed. cit. 150 296 cf. Laugesen, Middelalderlitteraturen 69 ss; Klopsch, Einfuhrung 15 ss 297 De doctr. spir. 14, PL 146, 277 ss
Fiktive Erscheinungen 75 Dieses Resumee zeigt also, dal? viele der erwahnten Punkte wie Identitat von Traumer und Dichter, eher profaner Inhalt (Genealogie), Personifikationen, Konsequenzlosigkeit des Traumes im Leben, fehlende seelische Erschiitterung und Wahrheitsbeteuerung hier gegeben sind. Gefalschte und erdichtete Erscheinungen Nur anhangsweise, ohne darauf naher eingehen zu wollen, sei bemerkt, dafi sich erwar- tungsgemafi auf dem Gebiet der Erscheinungen der gleiche Sachverhalt wiederfindet. Auch hier gibt es Texte, die als Falschungen gelten, auch hier wurde dieses Phanomen als dichterisches Kunstmittel verwendet. Bekanntestes Beispiel ist vielleicht die sogenannte Vision Papst Stephans II. Ihm seien, als er 754 todkrank in Paris damiederlag, so berichtet er in einem offizios formulierten Schreiben, die Apostel Peter und Paul und der «dreimal selige Herr Dionysius» (St. Denis) erschienen, hatten ihm die Gesundheit wiedergeschenkt, und eine Altarweihe anbefohlen. Dabei, so die an die Erscheinung angehangte «Clausula de unctione Pippini», hatten sich die «Francorum proceres» verpflichtet, nie eine andere als die karolingische Konigssippe anzunehmen.298 Moglicherweise ist Abt Hilduin von St. Denis, der um 835 an seinem «Liber de S. Dionysio» arbeitete, der Urheber dieser Erschei¬ nung, der von Ludwig dem Frommen um die Aufzeichnung dieser «Revelatio» gebeten worden war. Wieder unter Hincmar von Reims dtirfte die unechte oder wenigstens ver- unechtete «Visio Raduini» entstanden sein, eine Marienerscheinung eines dortigen Mon- ches, in der die Madonna erklart, ihr Sohn habe dem hi. Remigius, dem Reimser Heiligen, das Recht der Herrscherweihe fur die Franken verliehen: Manifestation der Verteidigung des Rechtes auf die Konigsweihe durch den Erzbischof dieser Kirche.299 Dies nur zwei Beispiele zum Thema «Falschungen». Genauso schwer zu beurteilen wie die entsprechenden Visionen sind die Erscheinungen, die sich in unzahligen Heiligenviten finden, oft aber eben nur in der jiingeren Tradition. So etwa die weit verbreitete Legende vom hi. Bonus, wohl um 1100 entstanden, aber von dem Clermonter Bischof des 8. oder 9. Jh. erzahlt:300 Unter den Klangen der Himmelschore steigt Maria in die Kirche hinab und befiehlt dem Bischof, die Messe zu singen. Zur Belohnung erhalt er ein bliitenweifies Mefigewand aus himmlischen Tuch.301 298 Text: Antonis Staerk, Les manuscripts latins conserves a la Bibliotheque Imperiale de Saint- Petersbourg I, Petersburg 1910, 216 s; MG SS 15/1, 2 s; Dufresnoy, Recueil 1/1, 180 s. Kritik: Wattenbach-Levison, Geschichtsquellen 2, 1636. Die Erscheinung ist in viele spatere Werke einge- gangen, z. B. Regino v. Prum, Chron. p.a. 753; Annalista Saxo a.a. 753, usw. 299 Text: Flodoard, Hist. Rem. eccl. 2, 19, MG SS 13,471; Kritik: Wattenbach-Levison, Ge¬ schichtsquellen 3, 334; DOnninger, Elemente 33 300 Bonitus (f ca. 709) oder Bonus (f 892)? 301 Text: Moriz Haupt ed., Bonus, Zs. fur deutsches Altertum 3,1843, 299-304. Literatur: KLL s.v. «Bischof Bonus»; dazu: Erhard Lommatzsch, Geschichten aus dem alten Frankreich, Frankfurt 21966, 361 s (volkssprachliche Versionen); Karl Goedeke, Deutsche Dichtung im Mittelalter, Han¬ nover 1854, 158 ss (mittelhochdeutsches Gedicht). Auch bei Vinzenz v. Beauvais, Spec. hist. 7,97
76 Literarische Visionen Wohl noch bekannter war das Exempel der Nonne Beatrix, die ihres Geliebten wegen das Kloster verliefi, nach jahrelangem Leben in der Siinde zuriickkehrte und erfuhr, wie Maria ihre Stelle inzwischen in ihrer Gestalt ausgefullt hatte. In der niederlandischen Bearbeitung des 14. Jahrhunderts ist vs. 932 ss eine ungewohnliche Erscheinung eingefiigt, die in den anderen Versionen nicht vorkommt und die als Erfindung des unbekannten Dichters gilt. Beatrijs erblickt einen Engel, mit einem Apfel spielend, gleichzeitig ein blut- uberstromtes Kind tragend. Damit, so erklart er selbst, soil ihr sinnbildlich bezeigt werden, daS ihre Selbstkasteiungen ohne priesterliche Absolution genausowenig von Gott zur Kenntnis genommen werden, wie von dem toten Kind der springende Apfel,302 In den spateren Lebensbeschreibungen der mittelalterlichen Herrscher spielen Erschei- nungen genauso eine Rolle wie in der religios-erbaulichen Literatur. Es sei nur die «Histo- ria Karoli Magni» zitiert, die unter dem Namen des Reimser Erzbischofs Turpin verbreitet war; in Wirklichkeit eine ganz ahistorische Erzahlung aus der Mitte des 12. Jahrhunderts. Hier wird (nach einem von manchem GroSen der Welt erzahlten Exempel) berichtet, wie an dem vor dem Altar in Ekstase erstarrten Bischof eine Schar Damonen vorbeizieht nach Aachen, um die Seele des grofien Karl zu holen, bald jedoch den Riickweg mit leeren Klauen antreten mufi, da der Kaiser durch die Interzession des heiligen Jacobus errettet worden ist.303 Soviel nur zu den Erscheinungen innerhalb literarischer Texte. Aber es sind auch nicht wenige Dichtungen entstanden, die als Ganzes eine Erscheinung zum Thema haben. Wegweisend wurde hier die im Mittelalter immer wieder gelesene und ubersetzte «Consolatio Philisophiae» (524), in der Boethius seine Erscheinung der personi- fizierten Philosophic und ihre Gesprache darstellt. Eine typische Nachahmung ist etwa die Traumersgheinung der Weisheit im anonymen „Encomium Guntharii" (850/63).303“ Da diese Tradition gut untersucht ist, genugt es nur an Namen wie Adelard von Bath, Alanus v. Lille, Petrus von Compostella usw. zu erinnem.304 Der katalanische Dichter Bemart Metge (1340/6-1413) etwa sitzt ebenfalls im Kerker, als ihm der eben verschiedene Konig Johann I. v. Aragon zusammen mit Orpheus und Tiresias erscheint. In den sich nun ergebenden Traumdialogen werden die verschiedensten Themen von der Unsterblichkeit der Seele iiber die Strafen der Holle bis zu den Fehlem der Frauen und Lastern der Manner 302 Editionen und Literatur: KLL s.v. «Beatrijs»; dazu: Tubach, Index nr. 536. Die Herkunft dieses merkwurdigen Bildes ist auch von P.F.J.M. Eligh, Het visioen van Beatrijs, De Nieuwe Taalgids 36,1970, 132-137 nicht befriedigend erklart. Sie ist m. E. in der Allegorie des mysdschen Apfels zu suchen, wie sie etwa Guillaume de DiguIIeville, Pelerinage de Tame vs. 5603 ss schildert: das Kind ist die Seele, der Apfel Christus, das Spiel mit ihm der Verkehr zwischen Seele und Gottessohn. 303 Ausgaben und Literatur: KLL s.v. «Historia Karoli Magni...»; dazu: DCnninger, Elemente 64; Gaiffier, Etudes 251 s, 266 s; Tubach, Index nr. 946; cf. die Interzession des hi, Laurentius fur Heinrich II., ibid. nr. 1501d; die vorbeiziehenden Teufel: cf. unten Anm. 389ss 3038 MG Poet. Pat. 3/1, 238 ss 304 Howard Rollin Patch, The Tradition of Boethius, New York 1935 = 1970; Pierre Courcelle, La «Consolation de Philosophie» dans la tradition litteraire, Paris 1967, bes. 29 ss; auch Ovid, Epist. ex Ponto 3,3 war vorbildlich, z. B. fur das «Sompnium» des Gottfried v. Reims (f 1095), ed. Andre Boutemy, Trois CEuvres inedites de Godefroid de Reims, Rev. du moyen age latin 3, 1947,335-366, 344 ss
Fiktive Erscheinungen 77 abgehandelt.305 Wie in diesem Werk des religiosen Fnihhumanismus so ist noch in vielen anderen auf Boethius beruhenden Dichtungen die bei dem spatantiken Autor als Erschei- nung bei wachen Sinnen gegebene Situation in ein Traumbild umgewandelt. Als letzter Beleg fur die Beliebtheit der Erscheinung als Form literarischer Rahmener- zahlung sei die erschreckende Geschichte des Magister Porphrius30* aus Irland angefiihrt, der Gott anfleht, mit dem Tod sprechen zu diirfen. In der fiinften Stunde nach der Messe erscheint er ihm, bleich, mit einem Lendentuch bekleidet, eine furchterliche Sense in der Hand. Der Tod antwortet nun dem Magister auf eine Reihe von Fragen, die unschwer als Vorspiel zum «Ackermann aus Bohmen» zu erkennen sind. Am Ende des Gespraches bricht der Magister ohnmachtig zusammen, um dann ein gottesfurchtiges Leben zu begin- nen.307 Hier ist die Ausstrahlung der echten Visionsliteratur unverkennbar: schon die Ver- setzung des Geschehnisses nach Irland erinnert an Tundal und Owen, die Reaktion des Sehers an die vieler historischer Visonare. Der Mittelteil ist eine theologische Belehrung uber die Macht des Todes, die auch in vollig anderer Form hatte erteilt werden konnen. 305 Editionen und Literatur: KLL s.v. «Somni» 306 auch: Policarpus oder Potharpus 307 Text: A. BrDckner, Fremde Vorlagen und Fassungen slawischer Texte IV, Archiv fur slawische Philologie 11, 1888, 613-618; sehr ahnlich die unpublizierte Version in der Handschrift Gottweig (Niederosterreich), Stiftsbibliothek Cod. 456 (rot) 17v-19v. Andere Variante bei Leopold ZatoCil, Zwei Prager lateinische Texte als Quellen des Ackermann aus Bohmen, Brunner Beitrage zur Germa- nistik und Nordistik 1, 1977, 7-21
DIE TYPISIERUNG DER MITTELALTERLICHEN VISIONEN Einige bescheidene methodische Vorbemerkungen seien vorausgeschickt: kein Litera- turhistoriker ist im Stande, samtliche Dichtungen auch nur eines Volkes, auch nur in einem beschrankten Zeitraum liickenlos zu iiberschauen, dennoch periodisiert die Literaturge- schichte: Sturm und Drang, Klassik, Romantik... Kein Kunsthistoriker ist im Stande, samtliche Monumente auch nur einer Nation, auch nur in einem Zeitabschnitt kennenzu- lemen, trotzdem klassifiziert die Kunstgeschichte: Basilika, Hallenkirche, Zentralbau... Zweierlei erhellt aus diesen beliebig vervielfaltigbaren Beispielen: 1. Kategorien zu bilden ist offensichtlich unumganglich und 2. diese Kategorien werden immer auf Grund einer mehr oder minder beschrankten Auswahl aus dem existierenden Material gebildet. Zu 1.: Die Welt kann, wie Norbert Wiener bemerkte, als «a myriad of To Whom It May Concern messages» betrachtet werden.308 Jedes Lebewesen selektiert daraus die fur es wichtigen Signale. Diese werden unbewufit in Gruppen unterteilt, die eine jeweils verschiedene Reak- tion erfordem (Flucht, Angriff, Demutsgebarde usw.) Allein hierin, im InstinktmaSigen, scheint bereits die Wurzel des Kategorisierungs«zwanges» zu liegen. Geschahe diese Selek- tion nicht, ware das Lebewesen einer nicht zu bewaltigenden Reizuberflutung ausgesetzt. Auf das menschliche Denken iibertragen: ohne Typenkonstruktion, Klassifizierung, Kate- gorienbildung ware die Welt in ihren Erscheinungen nicht «in den Griff zu bekommen», ware ein Denkvorgang iiberhaupt unmoglich. Differenzierung ist also unerlafilich, ihre Feinheit allerdings ist Ermessensfrage. Damit waren wir bei 2. Die Auswahl aus dem zuganglichen Material erfolgt auf Grund der vom betrachtenden Subjekt (Wissenschaftler) fur relevant gehaltenen Kriterien. Diese sind ausschliefilich AusfluS der unmittelbaren (erlebten) und mittelbaren (via Medien aufgenommenen) personlichen Erfahrungen dieses Subjekts, ein Teil von ihnen wird freilich als das historische, geographische, soziale... usw. Ambiente dieses Subjekts bezeichnet.309 Soweit die allgemein fur den Geisteswissenschaftler geltenden Vorbedingungen einer ordnenden («strukturierenden») Arbeit. Fiir eine Typenbildung heiSt dies: inwieweit wer¬ den im Material vorgegebene Strukturierungen nur aufgedeckt, inwieweit werden sie in das Material durch den Untersuchenden hineingetragen? Allerdings ist jeder Erkenntnis- vorgang Resultat eines Zusammenwirkens von a posteriori und a priori, strittig ist aber die Gewichtung dieser beiden «Ingredienzien» der Erkenntnis. 308 Lawrence K. Frank, The World as a Communication Network, in: Gyorgy Kepes, ed., Sign, Image, Symbol, London 1966, 1-14,1 309 Hier ist das Problem der «Objektivitat» in den Geisteswissenschaften angesprochen. Adam Schaff, Geschichte und Wahrheit, Wien 1970 z. B. beweist auf 246 Seiten sehr einleuchtend die Unmoglichkeit einer Objektivitat (um dann auf den noch folgenden sechs Seiten, quantite negligeable, den marxistischen Gelehrten dieses Ziel in einer tour de force doch noch erreichen zu lassen). Fur die Moglichkeit einer Objektivitat pladieren z. B. Detlef Junker, Peter Reisinger, Was kann Objektivi¬ tat in der Geschichtswissenschaft heiSen und wie ist sie moglich? Historische Zs. Beiheft 3NF, 1974, 1-46, ohne zu uberzeugen
Quellentiberlieferung und Forschungsstand 79 Sehen wir von diesen theoretischen Erwagungen ab, so findet sich der Erforscher der Wsionsliteratur des Mittelalters noch vor einigen speziellen Schwierigkeiten, die gerade iiesem Stoffgebiet eigen sind. Das hier zitierte Material, auf dem unsere Klassifizierung310 beruht, ist verstandlicher- veise nur ein Ausschnitt aus dem heute und erst recht aus dem einst vorhandenen. Welche lauptsachlichen Filter liegen, abgesehen von den Unzulanglichkeiten des Autors, zwischen ien Visionen und dieser ihrer Darstellung? Hat ein Visionar sein Erlebnis iiberhaupt einmal mitgeteilt und ist dieser Bericht dann rgendwann aufgezeichnet und damit zu Literatur geworden, so ist diese Aufzeichnung lerselben Siebung ausgesetzt, wie die antike und die mittelalterliche Literatur iiberhaupt, las heifit der Dezimierung durch Feuer, Wasser, Wiederverwendung des Pergaments, ^erdrangung durch Zusammenfassungen, durch aktuellere Texte usf. Gerade bei der Vi- ►ionsliteratur ist aber besonders in der Epoche der Aufklarung noch zusatzlich mit Verlu- !ten zu rechnen. Wer, wie josephinische Beamte bei den Klosteraufhebungen, von Auf- darung und Kirchenkritik herkam, konnte in den mittelalterlichen Erbauungs- und Exem- jeltexten kaum brauchbare und wertvolle Literatur sehen. «Unbrauchbar und werdos >cheinendes wurde [bei Gelegenheit der Auflosung der Klosterbibliotheken] als Makulatur ferkauft oder in die Stampfe gegeben. Die «Papierer» zahlten fur den Zentner Papier Lfl.l5kr.... Wenn sie wollten, konnten sie auch das Papier von Folio- und Quartbanden ibemehmen, das Pfund zu 3kr.»311 Ein weiteres Handikap ist das Desinteresse, das dieser Literaturgattung von seiten der Eteratur-)historischen Wissenschaften bis in die zweite Halfte des 19. Jahrhunderts entge- ;engebracht wurde. Wahrend man sich fiir andere Zweige der mittelalterlichen Literatur gegenwartig teil- iveise auf sehr umfangreiche Zusammenfassungen stiitzen kann, fehlte eben bisher iiber- laupt eine nur liber Ansatze hinausgehende Inventarisierung der Visionsliteratur. Das fringe Interesse an diesem Gebiet der mittelalterlichen Frommigkeit, das scheinbar weni- *e intellektuelle oder asthetische Reize bot, fand seinen Niederschlag auch in unzureichen- ier Publikationstatigkeit. Wahrend etwa das «Nibelungenlied» seit dem Ziiricher Erst- Iruck von 1757 unablassig neu ediert, iibersetzt und untersucht wurde312, obgleich es vom ^tandpunkt der Bedeutung fur das mittelalterliche Publikum nach Ausweis der Oberliefe- *ung (34 Handschriften und Fragmente, eine verlorene Obersetzung) keine groEere Verbrei- nng erreicht haben kann, wurde die Tundalus-Vision dagegen, die allein in ca. fiinffacher Zahl in lateinischen Handschriften sowie Obertragungen in samtliche mittelalterliche Volks- jprachen vorliegt, das erste Mai 1869 nach einem einzigen Manuskript ediert, das zweite and bisher letzte Mai 1882. Ein fur die Visionsgeschichte so interessanter, da sehr eigen- Jtandiger Text, wie der der Vision Gottschalks, wurde bis 1979 iiberhaupt nur in Ausziigen- 310 cf. unten 229 ss 311 Rudolf Hittmair, Der Josephinische Klostersturm im Land ob der Enns, Freiburg/Br. 1907, 100. Z. B. Schriften des Mystikers Nikolaus Kemph (1397-1497) wurden bei solcher Gelegenheit /emichtet, Oehl, Mystikerbriefe 646 312 Diskussion und Literatur z. B. bei Walter Falk, Das Nibelungenlied in seiner Epoche (Germani- iche Bibliothek 3), Heidelberg 1974
80 Typisierung gedruckt. Viele der in Viten des Hoch- und Spatmittelalters inkorporierten Visionen sind nur in minder kritischen barocken Ausgaben, wie z.B. den «Acta Sanctorum», zuganglich. Ein ahnliches Defizit zeigt sich in der Sekundarliteratur, wo vor allem die ganz ungleich- mal?ige Gewichtung auffallt: wahrenddem einige Visionare, wie etwa Gerardesca von Pisa, so gut wie ununtersucht sind, ist zu anderen, wie zum Beispiel Katharina v. Siena eine kaum mehr iibersehbare Anzahl von Publikationen erschienen. Wo es nun auf anderen Gebieten, zum Beispiel der Erforschung mittelalterlicher Epik, durchaus moglich ist, sich mit Hilfe der einschlagigen Bibliographien in den Handbuchem, geschichtlichen Darstellungen und literaturhistorischen Zeitschriften einen ziemlich voll- standigen Uberblick iiber Editionen und Untersuchungen zu machen, steht man bei den mittelalterlichen Visionen vor der Schwierigkeit, dal? die auf sie beziiglichen Publikationen in den Organen so gut wie aller historischen Disziplinen der Geisteswissenschaften zer- streut sind: Literaturgeschichte, Geschichte, Volkskunde, Landeskunde, Sprachwissen- schaften, Theologie usf. kommen hier in Betracht. Soweit einige Momente, durch die die Zufallsauswahlen der Oberlieferung und des daraus Publizierten der neuerlichen Zufallsauswahl des Bekanntgewordenen unterworfen sind. Es darf bemerkt werden, dal? sich der Autor hier mancher Legenda und Desiderata bewuSt ist, die entweder nicht beschaffbar oder zeitlich nicht durchforschbar waren, moglicherweise aber Hinweise auf weitere Visionen enthalten konnen. Von diesen «technischen» Beschrankungen abgesehen, mufite aus der immer noch iiber- reichlichen Fiille des erfal?ten Materials absichtlich weiter ausgewahlt werden. Ein Haupt- gesichtspunkt war dabei der sehr simple der Lange der einzelnen Texte. Es gibt namlich in den mittelalterlichen Chroniken, Briefcorpora, Exempelsammlungen, Viten, homiletischen Texten usf. jede Menge von Visionsberichten, von knappen Erwahnungen angefangen bis zu kurzen Inhaltsangaben von drei bis vier Satzen. Es diirfte iiberhaupt nur ziemlich wenige Quellen der genannten Art geben, in denen man keinerlei Erscheinungen oder Visionen finden wird. Dazu waren diese Phanomene ein viel zu konkreter Bestandteil der mittelalterlichen Welt. Solche knappen Beispiele werden also nur in willkiirlicher Auswahl herangezogen. Ein zweites Kriterium fur Texte, die jedenfalls beriicksichtigt werden soil- ten, war das der iiberlieferungsmaSigen Autarkic, d. h., den Schwerpunkt des vorgestellten Materials bilden solche Visionen, die als eine eigenstandige Literaturgattung tradiert wur- den. Sie sind also selbstandige Werke, oft in eigene Handschriften geschrieben, mit Uber- schrift, etwa: «VISIO BEATI PAULI APOSTOLI, QUAM EIDEM MONSTRAUIT ET OSTENDIT BEATUS MICHAEL ARCHANGELUS DE PENIS INFERNI»313, mit Explicit usw. Dazu rechnen auch die Visionssammlungen des hohen und spaten Mittelalters, wie die «Visiones» der Elisabeth von Schonau, der «Legatus Divinae Pietatis» der Gertrud von Helfta, die «Revelationes» der Birgitta von Schweden, Desgleichen all die Visionen, die nun nicht mehr als eigenstandige Texte, sondern, meist verkiirzt, nur innerhalb eines Werkes einer anderen Literaturgattung erhalten sind, von denen wir aber wissen oder annehmen diirfen, dal? diesen Ausziigen gesonderte Berichte iiber die Vision zugrunde lagen. Die Visionen der Aldegunde von Maubeuge etwa sind uns 313 Silverstein, Pauli 196
Friihere Einteilungen 81 nur mehr aus dem Wenigen bekannt, was davon in ihre Viten aufgenommen wurde, die aber gleichzeitig berichten, Aldegunde «visiones quae sibi apparuerant... ipsa descripse- rat... »314, so daS es ein eigenstandiges Visionsbuch von ihr gegeben haben mufi. Ahnliches kann fur eine Reihe weiterer, nur innerhalb von Viten tradierter Visionen gelten, gerade auch fiir die der spateren vlamischen Nonnen, in deren Lebensbeschreibungen sich diese Phanomene so auffallig haufen. Auch in Sammelwerken anderer Art sind oft urspriinglich eigenstandige Visionen inkorporiert. So bringt Vinzenz von Beauvais in seinem «Speculum historiale» Nacherzahlungen sowohl des Tundal als auch des Owen, die beide als eigene Visionen in vielen Handschriften iiberliefert sind. Vinzenz erzahlt nun auch die Vision des William, und diese Vision ist nur bei ihm und einem zweiten Historiker, nicht aber in einer separaten Manuskripttradition zu finden. Aus der Parallele mit den genannten anderen Visionen kann man aber schliefien, dafi wahrscheinlich eine eigene «Visio Guillelmi» existierte, die vielleicht noch einmal aufgefunden werden wird (wie etwa die Gesichte Edmunds von Eynsham schon vor der Publikation dieser Vision aus den verkiirzten Wie- dergaben bei Matthaus Paris und Roger von Wendover bekannt waren).315 Auf Visionen, deren Texte nicht mehr erhalten sind, die aber wahrscheinlich gewissen bildlichen Darstellungen als Vorwurf gedient haben, wie den Fresken in Chaldon oder Loreto Aprutino, kann hier noch nicht eingegangen werden,316 Damit ware einiges von den Vorbedingungen offengelegt, die fiir die Zusammenstellung der in den folgenden Darstellungen verwendeten Materialien bestimmend waren. Eine vollstandige Sammlung aller bekannten «langeren» Visionen wird im in Arbeit befindlichen historischen Teil dieser Untersuchungen angestrebt. Ehe hier nun eine eigene Typisierung versucht werden soli, ist es sinnvoll, zunachst eine Obersicht iiber die in der Literatur bisher vorgenommenen Typenbildungen zu geben und erst dann die hier vorgeschlagene zu begriinden. Es muf? betont werden, daS alle diese Typisierungen nur innerhalb der von uns vorab gegebenen Definition von «Vision» Gel- tung haben sollen, also iiber ihre Anwendbarkeit auf «Erscheinungen» u.a. nichts ausge- sagt wird. Da die im folgenden referierten Kategorien meist an neuzeitlichem Material gewonnen wurden, sind immer ein paar mittelalterliche Visionen erwahnt, die in die jeweils genannten Gruppen hineinpassen wurden. Die Klassifizierungen von Visionen und Traumen in der Antike317 erfolgten vor allem nach dem Kriterium ihrer Brauchbarkeit fiir die Lebenspraxis, das heiSt, man war vor allem daran interessiert, ob etwa ein Traum Zukiinftiges vorausdeute und wie man die Traumsymbolik zu interpretieren habe. Von hier leitete sich einerseits die bis in die Gegen- wart anhaltende Flut divinitatorischer Literatur (die Traumbiicher) her, andererseits das 3,4 Vita P 2,5, AASS Jan. 2, 1643, 1035 315 cf. auch Thurkills Vision 316 Eine Untersuchung daruber bereite ich vor; cf. Dinzelbacher, Jenseitsbriicke 47 s, 60, 147ss, 164 317 cf. Kamphausen, Traum 14ss; Newman, Somnium lss; Speckenbach, Traum 169ss; Haub- RIChs, Offenbarung 244 ss; Saintyves, Marge 4ss
82 Typisierung ebenfalls bis in die Neuzeit andauemde theologische Schrifttum, das zwischen wahren - von Gott gesandten - und falschen - vom Teufel eingegebenen - Visionen scheidet.318 Beschranken wir uns hier auf das 19. und 20. Jahrhundert, so finden wir Typisierungen nach literaturwissenschafdichen, theologischen und psychologischen Gesichtspunkten. Am leichtesten nachvollziehbar sind die in der Literaturwissenschaft entstandenen Ein- teilungen, da sie auf Inhalt und Intention der Visionen beruhen.318e So scheidet D’Ancona poetische, politische und kontemplative Visionen:319 Poetische Visionen waren hiemach solche, bei denen ein (beliebiger) Stoff in der literari- schen Form einer Vision aufgezeichnet ware, ohne daE hier in Wirklichkeit iiberhaupt eine Vision hatte stattfinden miissen. Die Vision des Archipoeta «Nocte quadam» diirfte hier- her gehoren, das «Aislinge Mac Conglinne», das «Somnium clerici» usw., sowie viele Erzeugnisse namentlich des Spatmittelalters: Guillaume de Digullevilles «Pelerinages», William Langlands «Vision of William concerning Piers the Plowman», Chaucers «House of Fame», Santillanas «Planto de la reina Margarida» und seine «Coronacion de Mossen Jordi de Sant Jordi» usf. Die meist allegorischen Inhalte dieser «Visionen», in denen beson- ders geme Personifikationen auftreten, sind sehr vielfaltig: Satire, Kritik, Didaktik, Pane- gyrik ...320 Politische Visionen sind solche, die auf geschichtliche Geschehnisse und Personlichkei- ten eingehen und damit eine gewisse Tendenz, meist kritischer Art, verbinden. Sie konnen auch ganz dezidiert auf das Verhalten einer Person einwirken wollen. Man hat unter ihnen wieder drei hauptsachliche Gruppen hervorgehoben: die Jenseitswanderung, die Ver- sammlung von Verstorbenen, die Gerichtsvisionen.321 Wahrend einem Teil dieser Texte echte visionare Erfahrungen zugrunde liegen diirften, ist der andere literarische Fiktion. Die Inhalte beziehen sich auf Bistumsinteressen (Besetzung des Episkopats, Besitzverhalt- nisse usw.), auf klosterliche Zustande (Reform, Rivalitat der Orden, Gottesfriedensbewe- gung usw.), auf einzelne kirchliche und weltliche Machthaber (Kritik an Karl dem GroSen, Heinrich III., an einzelnen Bischofen, Grafen; Handlungsanweisungen an Karl den Kahlen liber die Besetzung eines Abtstuhles usw.). Die karolingische bis salische Epoche scheint der Hohepunkt dieser Gattung zu sein, als Beispiele konnen die Visionen des Wetti, Rotcharius, Huzmann, Heinrich von Ahom u. a. genannt werden, aber auch viele Visio¬ nen einschlagiger Sammlungen, bei Otloh von S. Emmeram, Caesarius von Heisterbach, Stephan von Bourbon etc. In den groSen Jenseitsvisionen (Tundal, Gottschalk...) findet sich ebenfalls manche eindeutig politische Passage. 318 Zu den mittelalterlichen Traumbuchem cf. oben A. 93; zum Theologischen M. Meschler, Ober Visionen und Prophezeiungen, Stimmen aus Maria Laach 14,1878,523-544; 15,1878,54-71; 246-264; 405-427; Ribet, mystique 1, 436 ss; A. Oddone, Visione e apparizione, Roma 1948 318e Die anspruchslose geographische Einteilung, wie sie nach Мое, skrifter 245 s ausfiihrlicher Giovanni Gonnet, П Draumkvaede e la Divina Commedia, in: Sergio Ponzanelli, Domenico Ghio edd., Atti del 1° Congresso degli italianisti scandinavi, s.a., s.l. [Stockholm 1964], 63-78,66 entwirft, kann in diesem Zusammenhang wohl auEer Acht bleiben. 319 Scritti 23 320 cf. oben S. 65 ss 321 DOnninger, Elemente 13 s
Literaturgeschichtliche Einteilungen 83 Den kontemplativen Visionen322 zuzurechnen ware demnach das Gros des iiberkomme- nen Materials, denn ihr Hauptziel ist Erbauung und Reue - und das kann von wenigen mittelalterlichen Visionen nicht (zumindest auch) gesagt werden. In iiberwiegender Mehr- heit scheinen sie auf echtes ekstatisches Erleben zuriickzugehen. All die grofien Jenseits- reisen vom 7. bis zum 13. Jahrhundert wiirden hierher gehoren, aber auch die unzahligen Visionen in den Nonnenviten, Visionssammlurigen, Predigttexten usw., besonders auch die so vieler mystisch begabter Frauen des Hoch- und Spatmittelalters (die D*Ancona nicht beriicksichtigt). Christus- und Marienminne sind ihre Hauptthemen neben der anderen Welt. Um einige Namen zu nennen: Drycthelm, Adamnan, Edmund von Eynsham, Hade- wijch, die beiden Mechthilden, Juliane von Norwich ... haben in diesem Sinne «kontem- plative» Schauungen gehabt. Die theologische Einteilung der Visionen, sofern sie nicht nach dem Begriffspaar wahr— falsch erfolgt, ist bis zur Gegenwart abhangig von den «tria genera visionum», die Augu¬ stin im letzten Buch seines exegetischen Werkes «De genesi ad litteram libri duodecim» unterscheidet. Die «visio corporalis» ist unsere alltagliche Erfahrung durch die Sinnesorga- ne, die wir mit den Tieren gemeinsam haben. Die «visio spiritalis» bezieht sich auf die Bilder der Imagination, sei es die der Phantasie, sei es die des Gedachtnisses. Unsere Traume gehoren in diese Kategorie. Die «visio intellectualis» ist die verstandesmafiige Erkenntnis von Abstracta, wie Liebe oder Gerechtigkeit.323 Treffend bezieht Le Loyer324 die korperliche Vision auf die «spectres», die geistige auf «la vision veritable de la nuict», doch meiner Ansicht mifiverstandlich die intellektuelle auf das Gesicht Belsazars (Dan. 5), da hier einerseits auch eine «visio corporalis» vorliegt, andererseits (bei Daniel) vielleicht eine eingegossene Rede. Doch jedenfalls ist es auch fur diesen Autor des fruhen 17. Jahrhunderts Augustins Schema, das er als verbindlich an- sieht. Auch Gorres im 19. Jahrhundert fuEt bei seiner Einteilung in geistige, seelische und intellektuelle Visionen325 eben darauf. Tanquerey im «Grundrifi der aszetischen und mystischen Theologie»326 kennt unter den aufiergewohnlichen mystischen Vorgangen 1. die «sinnfdllige = leibliche» Vision, die, da als Wahrnehmung einer sonst unsichtbaren, doch auSerseelischen Wirklichkeit gekenn- zeichnet, auch unserer Definition von «Erscheinung» entspricht; 2. die «bildhaften oder Phantasiegesichte», die von Gott oder den Engeln im Einbildungsvermogen hervorge- bracht werden, und 3. die gestaltlosen «intellektuellen Gesichte». Augustins Klassifizierung ist es auch, die, um noch einen modernen Autor zu zitieren, der katholische Theologe Farges vorfiihrt: er spricht von «vision exterieure», «vision imaginative» und «vision intellectuelle».327 322 von D’Ancona, Scrim 26 mit monastischen Visionen gleichgesetzt, was nur sehr bedingt sdmmt: Gottschalk und Thurkill zum Beispiel waren Bauem, wenn ihre Visionen auch von Geistli- chen aufgezeichnet wurden 323 cf. Kamphausen, Traum 36 ss 324 Discours 3 325 G6rres, Mystik 2, 343-380 326 30 s 327 Phenomenes 294 ss, 300 ss
84 Typisierung Gleichzeitig gibt es in der Theologie noch ein zweites Schema: die Unterscheidung von ubernatiirlichen, aufiernatiirlichen und natiirlichen Visionen. Erstere «sind die theologi- schen Visionen im Vollsinn»328, die Gott im Menschen wirkt. Die zweite Gruppe ist das Werk von Engeln und Damonen, die dritte ist rein innerpsychisch und steht der Eidetik nahe. Die Visionen, die wir hier untersuchen, haben im Mittelalter durchgehend als iiber- naturlich gegolten, sobald man sie iiberhaupt als wahr betrachtete. Aber es gibt auch, doch vor allem auf dem Gebiet der Erscheinungen, Phanomene, die man auf teuflische (zum Beispiel Robert d’Uzes) oder englische Einwirkungen (zum Beispiel die beriihmten Erschei¬ nungen des heiligen Michael am Monte Gargano328a) zuruckfiihrte. Dafi solche Phanomene auch natiirlichen Ursprungs sein konnten, ist zwar eine Erwagung der mittelalterlichen Visionstheoretiker329, wird aber kaum je von einer aufgezeichneten Vision behauptet. Interessant ist die Zweiteilung Rahners, der Vision allerdings in weitaus weiterer Bedeu- tung als wir gebraucht: «als eine Unterscheidung nach dem Akzent, nach dem, was bei einem solchen Phanomen vorbetont ist,... mochten wir zwischen einer (bloS) mystischen und einer (uberdies) prophetischen Vision unterscheiden ... Mystische Visionen nennen wir diejenigen, die sich im Ziel und Inhalt nur auf das personliche religiose Leben und die Vervollkommnung des Visionars selbst beziehen. Prophetische Visionen sind solche, die daruber hinaus den Visionar veranlassen oder beauftragen, sich mit einer Botschaft beleh- rend, wamend, fordemd, die Zukunft voraussagend an seine Umwelt, letztlich an die Kirche zu wenden.»330 Sucht man nach mittelalterlichen Beispielen, die in diese Einteilung passen, so wird man viele fur die zweite Gruppe finden, weniger fur die erste. Denn Visionen werden doch schon allein darum aufgezeichnet, um der Mit- und Nachwelt zur Belehrung zu dienen. Als reine visionare Erlebnisse betrachtet, sind sicher Hadewijchs Schauungen «mystisch» in Rahners Sinn, da ungewohnlich egozentrisch, vielleicht auch die Getruds und Mechthilds von Hackebom, und Ahnliches lieSe sich vielleicht von manchen kleineren Visionen des Friihmittelalters sagen, Leofrics «gesihde» betrifft nun wirklich nur sein eigenes Seelenheil, auch in Sunniulfs Vision liegt das Schwergewicht auf seiner eigenen «Besserung». Aber sowohl durch den Kontakt mit Verstorbenen im Jenseits, der Schau noch Lebender eben- dort, als auch den allgemein didaktischen Inhalten erweisen sich die meisten mittelalterli¬ chen Visionen als Vertreter der «prophetischen Vision»,331 Das differenzierteste Kategorisierungssystem von theologischer Seite hat der evangeli- sche Kirchenhistoriker Ernst Benz vorgelegt. Wenn wir nur diejenigen Phanomene beriick- sichtigen, die unter unsere eigene Definition fallen, so waren, allerdings nach verschiede- nen Einteilungskriterien gebildet, zu nennen: Bestatigungsvisionen, Traumvisionen, pro¬ phetische Visionen und Lehrvisionen. Wahrend Benz unter «Bestdtigungserlebnissen» vor allem «Lichtvisionen» (Lichterscheinungen nach unserer Terminologie) begreift, ist es gut moglich, auch andere visionare Erfahrungen unter diesem Begriff einzuordnen, der durch 328 A. Mager, Vision, Lexikon f. Theologie u. Kirche 10, 1938, 646-649, 647 328a cf. Michel Naveau, Chronicon apparitionum et gestorum S. Michaelis, Duaci 1632 329 cf. oben S. 39 s 330 Rahner, Visionen 21 331 cf. unten S. 210ss
Theologische Einteilungen 85 «den Charakter von Evidenz-Erlebnissen» «als ein Zeichen der himmlischen Bestati- gung»332 gekennzeichnet ist. Eine solche Vision — keine Lichterscheinung - erzahlt Angela von Foligno: als sie in starkem Zweifel liegt, ob sie das Missale vor ihr offnen solle, schlaft sie ein und wird von einem Ungenannten durch ungenannte Raume gefiihrt. Sie darf von der Siifie des Evangeliums kosten, und wieder ins Bewufitsein gebracht, bleibt ihr eine so intensive Gewifiheit und Gottesliebe, dafi sie alle Worte der Prediger gering schatzt.333 Die prophetische Vision, schreibt Benz, sei der haufigste Typ und gleichzeitig der der starksten Wirkung innerhalb der Geschichte. «Die grofien Visionare der christlichen Kir- che sind als ihre grofien Propheten hervorgetreten.»334 Wenn man von der offenbaren Haufung dieser Form in der Alten Kirche absieht, so ist fur das Mittelalter die Zahl von Visionen, die auch prophetischen Inhalt haben, nicht allzugrofi, da die meisten Prophetien als Wortoffenbarungen, in Audition oder als Glossolallie, auftreten und seltener innerhalb einer Vision gegeben werden. Orms Vision enthalt einen Passus iiber das Kommen des Antichrists335, eine Reihe kiirzerer Visionen zeigt drohend Gerichtsszenen336, ein Nachfol- ger des Franz von Assisi sieht, wie die verschiedenen Briider in seinem Orden zu den Erwahlten oder Verdammten gehoren werden337 usf. Hildegards und Elisabeths Prophezei- ungen, wenn auch als «visiones» bezeichnet, sind aber fiir gewohnlich keine auf ekstati- scher Seelenreise empfangene Weisungen. Vielfach sind prophetische Visionen auch ein- fach geschaute Bilder von Symbolen, die ausgelegt werden miissen, wie etwa die Gesichte Roberts v. Uzes oder Savonarolas.338 Fiir die Lehrvision ist «das Vorherrschen der auditiven Elemente und das Zuriicktreten der bildhaft visuellen Momente bestimmend. Die Bildmomente sind hier nicht mehr zen- tral, sondern sie liefern nur noch den Rahmen, innerhalb dessen die Belehrung durch die himmlische Stimme stattfindet. Das bildhafte Element der Vision beschrankt sich auf die Stilisierung der Buhne, von der herab die Lehrrede erfolgt.»339 Die Betrachtung der mittel- alterlichen Visionsliteratur bestatigt die Existenz eines solchen Visionstyps vollkommen, in besonderem Mafi fur das Spatmittelalter; der Obergang zur Audition liegt hier nahe. Tatsachlich gibt es viele Visionen, in denen rein vom Umfang her die Worte Gottes, die der Charismatiker in einer anderen Welt hort, den hauptsachlichen Inhalt bilden. Elisabeth von Schonau liefert dafiir viele Beispiele, auch fur die Tendenz, dafi sich diese Art der Visionen zu einem System erganzen, genauso Agnes Blannbekin oder Birgitta von Schwe- den* Die Lehrvisionen konnen in der Form «visionarer Interviews»340 auftreten. Das ist es, was wir immer wieder in Mechthilds «Fliefiendem Licht» vor uns haben, oder etwa im dritten Buch von Gertruds «Gesandtem». Visionen dieser Art haben ihre weiteste Ver- 332 Benz, Vision 99, 102 333 Doncoeur, Livre 14 s 334 Benz, Vision 131 335 Vis. 7 336 Beispiele bei Tubach, Index 510 s.v. «Vision of judgment»; GOnter, Psychologie 306 ss 337 Fioretti 48 338 Herbert Lucas, Fra Girolamo Savonarola, Edinburgh, London 21906, 86 s 339 Benz, Vision 150 340 ibid. 152
86 Typisierung breitung im hohen und spaten Mittelalter; im Fruhmittelalter ist fur den Visionar das Beeindruckende der Raum, weniger die Worte seines Fuhrers durch die andere Welt. Wenn Benz schliefilich die Traumvisionen als eigene Kategorie anfuhrt341, dann ist hier die Form und nicht mehr die Intention als typenbildend betrachtet. Wir haben oben gezeigt, dafi das ganze Mittelalter hindurch Traume geradesogut als Visionen aufgefafit wurden, wie ekstatische Schauungen, und viele Visionen - auch echte, besonders gem aber literarisch fingierte - werden als Traum beschrieben.342 Leofric hat seine Vision in einem schlafahnlichen Zustand, Christina von Markyate erlebt im Traum, was sonst Inhalt ekstatischer Erlebnisse ist, Olav Astesons Zustand wahrend seiner Jenseitswanderung, die in allem den ekstatischen Visionen Alberichs, Tundals, Thurkills usw. vergleichbar ist, wird ausdrucklich als Schlaf bezeichnet. Traumvisionen scheinen das ganze Mittelalter hindurch erlebt worden zu sein; zu einer literarischen Einkleideform wurden sie insbeson- dere am Ende des Hochmittelalters (Raoul de Houdenc, «Roman de la Rose» usf.) und im Spatmittelalter («Somnium Viridarii», Langland, Santillana u.v.a.).343 Die Psychologie hat sich mit dem Phanomen der Vision, das ja speziell durch seine Bildhaftigkeit gekennzeichnet ist, weit weniger beschaftigt, als mit der Ekstase an sich, die gerade in letzter Zeit sehr ausfuhrlich Gegenstand von psychologischen Darstellungen gewesen ist. In psychologischen Lexika sucht man auch ein Stichwort «Vision» meist vergebens. Es ist trotzdem auf den ersten Blick erstaunlich festzustellen, dafi diese Wissenschaft (soweit mir bekannt) kein explizites eigenes System entwickelt hat, sondern letztlich ge- nauso wieder auf Augustinus zuruckgreift, wie die Theologie. Arbmann etwa, der fur sein umfangreiches opus den grofiten Teil der einschlagigen Literatur bis in die funfziger Jahre hinein gesichtet hat, findet kein besseres System als eben die Unterscheidung von visio corporalis, imaginativa und intellectmlis, die er durchgehend verwendet. Dabei wird freilich die imaginare Vision, die der aufieren Realitat entbehrt, in etwa mit dem modemen Begriff der psychischen Halluzination gleichgesetzt344 und die intellektuelle Vision als Denkform mit begleitendem Evidenzgefiihl beschrieben.345 346Poll344 verwendet nicht den Begriff «Vision», sondern «Erscheinungsoffenbarung». Auch diese Phanomene sind aber in korperliche (also mit den Sinnen des Korpers erfafite), imaginative (im Geist als von Gott eingegeben erlebte Vorstellungen) und intellektuelle (gedankliche) einzuteilen. Beispiele aus dem Mittelalter konnte man in beliebiger Fiille beibringen: die meisten Teufelserscheinungen waren korperliche Visionen - man stellte sich ja vor, daB die Damo- nen die Holle verlassen konnen, um Menschen zu versuchen, qualen, schlagen und sogar 341 ibid. 104 ss 342 cf. oben S. 39 ss 343 cf. oben S, 65 ss 344 Arbmann, Ecstasy 1, 10, 21 ss 345 ibid. 1, 229 ss, 291 346 Religionspsychologie 441 s
Psychologische Einteilungen 87 zu toten.347 Korperlich das Fegefeuer und das Paradies besucht zu haben, behaupteten auch Pilger, die im Purgatorium S. Patricii gewesen waren. Das ganze Gros der hier sonst behandelten Texte wiirde unter die imaginativen Visionen fallen, von den Visionen bei Gregor von Tours bis zu denen einer Veronica von Binasco oder Osanna von Mantua. Intellektuelle Visionen findet man vielfach bei Angela von Foligno, Katharina von Siena, Katharina von Genua, aber auch bei einzelnen Unterlindener Nonnen usf. Gleicherweise treffen wir die korperlichen (halluzinatorischen) Visionen bei Oester- reich348 (- kniipfen sie an eine reale Wahmehmung in der Umwelt an, handelt es sich zum Unterschied um «Illusionen» -), die imaginativen Visionen sind fur ihn richtig «Phantasie- vorstellungen»349, die intellektuellen (oder intuitiven) allerdings sind Urteile, verbunden mit starker Gemtitsbewegung.35? Das weicht von sonstigen Definitionen etwas ab, man konnte sich aber vorstellen, etwa manche Gesichte Angelas von Foligno so zu interpretie- ren:351 bejahendes Urteil fiber die Anwesenheit Gottes zusammen mit starkster Ergriffen- heit. Die Gruppe der «inneren» (= imaginativen) Visionen, in die die uns hier beschafti- genden Visionen fallen, wird allerdings noch weiter unterteilt: in Wachvisionen (wozu zum Beispiel die grofie Revelation Savonarolas zu zahlen ware) und Schlafvisionen (zum Beispiel die «Visio Anselli»); unverstandlicherweise werden die ekstatischen Visionen nicht beriicksichtigt. Drei Gruppen hebt der Autor nach anderer Einteilung noch hervor:352 Asthetische Visio¬ nen und ihr Gegensatz, apokalyptische Visionen (Gertrud die Grofie gegeniiber Thurkill etwa) und schlieSIich fingierte Visionen (die «Visio Pauli» etwa). An die Psychologen anschliefiend sei noch eine Gruppe von Beobachtem des Phano- mens «Vision» erwahnt, die gewifi adaquatere, da auf Introspektion beruhende Klassifizie- rungen versucht hat, als die aufienstehenden Betrachter: es sind die Visiondre selbst, insoweit sie sich nicht mit einer theologischen Scheidung von wahr/falsch oder anderen theoretischen Schemata begnugt haben. Von ihnen sei hier nur einer erwahnt: Swedenborg hat ein funfstufiges Schema entwickelt, das bei der Schau «mit offenen Augen» beginnt: hier werden irdische Wirklichkeit und geistige Welt in einer Schau durch- drungen. In der zweiten Form sind die aufieren Wahmehmungen gegeniiber den inneren abgeschwacht, die sich im Erkenntniszentrum dartun. Die dritte Stufe ist ein Zwischen- zustand zwischen Wachen und Schlafen, das Tagesbewufitsein ist eigentlich schon ausge- schaltet, obwohl der Visionar sich noch wach wahnt. Die vierte Form ist ein klares Sehen, aber mit geschlossenen Augen, die ffinfte die Traumvision, bei der innerer und aufierer Mensch voneinander getrennt sind.353 347 cf. oben A. 72 348 Religionspsychologie 28 ss 349 ibid. 32 350 ibid. 48 351 Dieses und die anderen Beispiele nenne ich, um die mogliche Anwendbarkeit der Einteilung dieses Autors auf die mittelalterlichen Visionen zu zeigen; Oesterreich kennt kaum mittelalterliche Visionare, was man leider als typisch fur die Psychologen bezeichnen mufi 352 ibid. 39 ss 353 Benz, Vision 90 ss
88 Typisierung Aber diese Typen sind verstandlicherweise fur unsere Oberlegungen kaum anwendbar, da sie die ekstatische Vision - und diese steht im Zentrum unserer Darstellung - nicht beriicksichtigen. Fast nur auf Hildegard von Bingen, die eben gerade die einzige nichtek- statische Visionarin des Hochmittelalters ist, diirfte Stufe I passen; obschon Elisabeth von Schonau und die Helftaer Nonnen, auch manche Mystikerin aus den Sammelbiographien, wohl ahnliche Erfahrungen gehabt haben. Dies scheint mir auch fur II zu gelten. Ill ist ein im Mittelalter ebenfalls selten beschriebener Zustand, aber die Traumerscheinung des heiligen Martin vor Sulpicius Severus354 oder auch Leofrics Vision scheinen genau hierher zu passen. IV ist wohl ebenfalls selten zu konstatieren, vielleicht ist Seuses Gesicht von der «vemunftigen Schule354®» unter diese Rubrik zu setzen. Die letzte Form entspricht unserer oft genug vorkommenden Schlafvision. Wir haben nun die von verschiedenen Betrachtem visionarer Phanomene verwendeten Typen kurz umrissen und festgestellt, daft die meisten von ihnen auch fur einen gewissen Teil der Visionen aus der Epoche des Mittelalters angewandt werden konnen. Dennoch sind sie einer zweifachen Kritik zu unterwerfen: einmal sind die vorgetragenen Schemata durchwegs eindimensional. Es wird zum Beispiel entweder nur nach den inhaltlichen oder nur nach den psychologischen Befunden unterteilt. Wenn schon mehr als ein Kriterium beriicksichtigt wird, dann gehen die verschiedenen Kategorien eher kraus durcheinander. Der Versuch, eine Korrelation unter den verschiedenen Formen aufzustellen, also etwa zu untersuchen, ob z.B. die poetischen Visionen sich mehrheitlich als «visiones intellectuales» oder «imaginativae» oder «corporales» geben, wird so gut wie nicht gemacht. Zum anderen fallt es auf, daft historische oder soziologische Gesichtspunkte nicht an die Visionen herangetragen werden. Das mag von seiten der Theologie aus verstandlich sein, die alle als echt beurteilten Visionen gleichwertig als Offenbarungen des einen unverander- lichen Gottes («Ego sum dominus et non mutor»> Mai. 3,6) betrachten mag, nicht aber von seiten der Disziplinen, denen jede Aufierung des Menschen als historisch, das heifit unwiederholbar, da im Schnittpunkt einer einmaligen Konstellation von Umstanden ent- standen, gilt. Zwar scheint es wohl vertretbar, von der Voraussetzung eines prinzipiell in den letzten paar tausend Jahren der menschlichen Geschichte konstanten psychischen Repertoires moglicher menschlicher Erfahrungen auszugehen und damit ein Grundphano- men «Vision», ein Grundphanomen «Erscheinung» anzunehmen, genauso, wie es in alien Zeiten das Phanomen «Liebe» gegeben hat oder das Phanomen «Aggression». Aber man muft doch damit rechnen, daft auch diese grundsatzlichen Phanomene konkret in verschie¬ denen Varianten auftreten, die in verschiedenen Epochen in verschiedener Haufigkeit existieren. Anders gesagt: «Liebe» tritt uns in romischer Zeit in betont erotischer Form entgegen; im Hochmittelalter erscheint sie als Minne; in der Romantik als Sentiment... Es ware erst zu beweisen, daft es niemand in der Antike gegeben hat, der wie ein Troubadour des 12. Jahrhunderts geliebt hat - was wir aber sicher wissen, ist, daft das nicht die iiblicherweise in den Zeugnissen jener Zeit niedergelegte Form von Liebe ist. Also ist die Haufigkeit der Liebe in der Variante «Minne» im Altertum nach unserem Wissen gleich 354 cf. oben S. 35 3S4a cf. unten S. 139
Historisch-phanomenologischeTypenbildung 89 Null. Umgekehrt gibt es wohl einige Belege fur eine der antiken Erotik nicht ganz unahnli- che Liebesvorstellung im Hochmittelalter354b, aber die Haufigkeit der Variante «Minne» ist, nach den Quellen zu urteilen, grofier. Usw. Genauso sinnvoll ist es dann aber, sich zu fragen, ob nicht auch Visionen oder Erschei- nungen in unterschiedlichen zeitspezifischen Formen aufgetreten sind und inwieweit hier die geschichdichen Perioden ein jeweils eigenes Bild bieten. Das fiihrt weiter zu der Frage, ob auch innerhalb einer Ara zu differenzieren sei. Der in der bisherigen Literatur durch- gehend getibte Brauch ist es freilich, Antikes, Mittelalterliches, Neuzeitliches und Gegen- wartiges in puncto «Vision» beliebig nebeneinanderzustellen. Was die soziologische Fragestellung betrifft, so ist meines Wissens nie der Versuch gemacht worden, die Trager der Visionen nach Herkunft, Alter, Lebensform und Ge- schlecht einzuordnen. Falls hier Gruppen gebildet werden konnen, dann ware wieder nach ihrer Haufigkeit in den verschiedenen Zeitraumen zu fragen und schliefilich zu versuchen, Zusammenhange mit anderen Lebensgebieten herzustellen (wie man etwa die zitierte Min- ne mit dem Rittertum beziehungsweise dem Feudalismus in Verbindung bringen kann). Es steht also zu untersuchen, ob bestimmte Lebensformen moglicherweise Visionen uber- haupt oder bestimmte Typen von Visionen begunstigen, oder ob der visionare «spiritus» auch nach einer sozialhistorischen Betrachtungsweise beliebig weht, wo er eben will. Wir werden im folgenden die mittelalterlichen Visionen, um zu sehen, ob sie alle ein Erscheinungsbild aufweisen oder ob differente Typen gebildet werden konnen, nach diesen Fragen analysieren:355 Inhalt, Bilderwelt, Verhaltnis des Visionars zum Raum, Verhaltnis zur Zeit, Beziehung zu Personen, Form (Eintreten der Ekstase, Aktivitat oder Passivitat des Visionars, Ruhe und Bewegung, Sinnlichkeit und Gefuhl, Realitat und Allegorie), Funk- tion (Anforderung oder Gnadenerweis an den Visionar, Bedeutung der Vision in seiner Lebensgeschichte, Intention der Vision in bezug auf die Mitmenschen). Dazu kommen die oben erwahnten Fragen nach der sozialen Herkunft und Stellung der Visionare. Dies ergibt eine Phanomenologie dieser Schauungen, die vor allem durch die Bindung an die chronolo- gische Haufigkeit des Auftretens der einzelnen «Muster» zu einer Typenbildung fiihren wird. 354b cf. Dinzelbacher, Liebe pass. 355 Die Art dieser Fragestellung ist teilweise nicht unbeeinflu&t von der Vorgangsweise der histori- schen Verhaltensforschung. Zu dieser cf. August Nitschke, Ziele und Methoden historischer Verhal- tensforschung, Historische Zs., Beiheft 3 NF, 1974, 74-97; id., Eine neue Wissenschaft: Die histori- sche Verhaltensforschung, Universitas 31, 1976, 493-501; Walter Falk, Vom Strukturalismus zum Potentialismus, Freiburg, Munchen 1976, 130 ss
DIE VISIONAREN RAUME Das Wesen einer Vision besteht im Versetztwerden in andere, bildhaft beschreibbare Raume. Fur den Erlebenden sind dies vollig reale, daher selbstverstandlich auch beschreib¬ bare Welten. Zwei Arten visionarer Raume lassen sich unterscheiden: irdische und aufier- irdische. Vier unirdische, d.h. nicht auf unserer Erde gelegene Regionen gibt es, in die mittelalter- liche Visionare eintreten: Himmel, Purgatorum, Holle und schliefilich zwar nicht genau definierte, offenbar aber nicht in dieser Welt befindliche Raume. Dafi die ersten drei Raume, die man auch «eschatologische» nennen konnte, unirdische sind, scheint uns auf den ersten Blick hin ganz evident; versucht man jedoch, die Lokalisierung dieser Spharen gemafi der mittelalterlichen Vorstellungswelt zu sehen, erheben sich Bedenken. Holle Zunachst die Holle:356 war sie dem Mittelalter ein Bereich des Jenseits?357 Ohne die Entwicklung der mittelalterlichen Hollenvorstellungen aus klassischer358, ger- 356 In der Literatur meist zusammen mit dem Fegfeuer behandelt: D.D.R. Owen, The Vision of Hell, Edinburgh, London 1970; Friedrich Heer, Abschied von Hollen und Himmeln, Munchen, Efilingen 1970; James Mew, Traditional Aspects of Hell, London 1903; Adolf Bastian, Die Ver- bleibsorte der abgeschiedenen Seele, Berlin 1893; Louis Br&mont, La Conception catholique de PEnfer, Paris 1913; Marcus Landau, Holle und Fegfeuer in Volksglaube, Dichtung und Kirchenlehre, Heidelberg 1909; Fr. Schmid, Das Fegefeuer nach katholischer Lehre, Brixen 1904; Eric Maple, The Domain of Devils, London 1966; Joseph Bautz, Die Holle, Mainz 21905; id., Das Fegefeuer, Mainz 1883; die Artikel: Helvete, KLNM 6, 425—437; Skarseld, ibid. 16, 109-113; Georges Panneton, Die Holle, Innsbruck usw. 1963; Hans-Wilhelm Rathjen, Die Hollenvorstellungen in der mittel- hochdeutschen Literatur, Diss. Freiburg i. Br. 1956; Bernhard Bartmann, Das Fegfeuer, Paderborn 21934; Jaques Le Goff, La Naissance du purgatoire (XII-XIIIe siecle), Coll, «recherches et docu¬ ments» (publ. de la societe savante d’alsace, Strasbourg) 25,1977, 7-10; Gerard Le Don, Structures et significations de Pimaginerie m6dieval de Penfer, Cahiers de civilisation medievale 22, 1979, 363-372; Robert Hughes, Heaven and Hell in Western Art, London 1968; Leopold Kretzenba- cher, Legendenbilder aus dem Feuerjenseits (SB d. osterreichischen Akademie der Wissenschaften, philos.-histor. Klasse 370), Wien 1980; Joyce R. M. Galpern, The Shape of Hell in Anglo-Saxon England, Diss. Berkeley, Calif., 1977; Bernhard Bartmann, Das Fegefeuer, Paderborn 21934 357 Dieses deutsche Wort entsteht urn 1800, franz. «au-del&» erst im 20. Jahrhundert. 358 Ernst WOst, Unterwelt, RE 11/17 (Al/9), 672 ss; Ganschinietz, Katabasis, RE 10/2(20) 2359 ss; Gustav PfannenmCller, Tod, Jenseits und Unsterblichkeit, Munchen, Basel 1953 [Samm- lung von ubersetzten Texten]; Karl PrOmm, Der christliche Glaube und die altheidnische Welt 11, Leipzig 1935; Albrecht Dieterich, Nekyia, Leipzig, Berlin 21913; W. F. J. Knight, Cumean Gates, Oxford 1936; Eduard Norden, Vergil, «Aeneis» Buch 6, Darmstadt51963; Carlo Pascal, Le cre- denze d’oltratombe nelle opere letterarie delPantichiti classica, Catania 1912; Franz Cumont, Lux Perpetua, Paris 1949; Martin P:n Nilsson, Helvetets forhistoria. Straff och sallhet in den andra varlden i forkristen religion (Aldusbok 83), Stockholm 21963; weiters Heiler, Religion 517 Anm.
Holle 91 manischer359, keltischer360 und vor allem jiidischer361 Mythologie hier verfolgen zu wollen, sei ein knapper Exkurs zur Topographie der anderen Welt gestattet, der wolil zu rechtferti- gen ist, wenn man sich erinnert, dafi die drei eschatologischen Raume diejenigen sind, in die sich die weitaus uberwiegende Zahl der Visionare versetzt fuhlt. Es gibt eine Fiille von Belegen aus mittelalterlichen Quellen, die zeigen, dafi man sich die Holle konkret unter der Erdoberflache vorstellte. «Fur den mittelalterlichen Menschen fehlt aber die absolute Schranke, die radikale Andersartigkeit des metaphysischen Raumes, wo sich die Toten aufhalten ... Holle und Paradies sind auf dieser Erde gelegen ...».362 Unter den Fragen, die der «vir inquisitor»363 Friedrich П. seinem Hofastrologen und Ratgeber Michal Scotus («Michele Scotto fu, che veramente/ delle magiche frode seppe il gioco»364) vorlegte, war auch die, «ubi sit infernus, purgatorius et paradisus celestialis, scilicet an sub terra vel in terra vel supra terrain».365 Hatte Michael bei seinem alteren prasumtiven366 Landsmann Johannes nachgeschlagen, so hatte er gefunden: Die Holle befindet sich nicht «in localibus spatiis corporalibusve carceribus», sondem im Gewissen. Die Erde, so argumentiert Johannes, wird ja (beim Jiingsten Gericht) auch zu Grunde gehen, also: «spiritualiter enim futura impiorum tormenta intelligenda sunt».367 Aber da- mit hatte Michael eine fur seine Epoche untypische Meinung hervorgezogen, ja sogar eine Meinung, deren Propagierung eben zu seiner Zeit mehrfach verurteilt wurde. Den Ab- straktionsgrad, den jener Neuplatoniker in seinen Uberlegungen fiber das «Driiben» er- reichte, findet man im Mittelalter bei akzeptierten Autoren nur selten wieder. Einige Theologen der Epochenscheide des 12. Jahrhunderts, wie Guibert v. Nogent, Richard v. S. Victor und der nicht gerade als orthodox angesehene Peter Abaelard betonen, dafi die biblischen Aussagen liber die eschatologischen Orte nicht real, sondern «figuraliter» und «mystice» zu verstehen seien.368 Freilich gab es auch bisweilen Denker, die die Existenz der Holle, liber Johannes hinausgehend, (der sich wohl keiner Irrlehren in seiner Theologie 359 Martin Ninck, Gotter und Jenseitsglauben der Germanen, Jena 1937; Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, Guthersloh 41875,1, 260; 2,667 ss; Dietrich, Die deutsche Wasserholle, Zs. fur deut- sches Altertum 9, 1853, 175 ss; Gustav Neckel, Walhall, Dortmund 1913; Jan de Vries, Altgerma- nische Religionsgeschichte П, Berlin 21957,370 ss; Hilda Roderick Ellis, The Road to Hel, Cambrid¬ ge 1943 360 Eleanor Hull, The Development of the Idea of Hades in Celtic Literature, Folk-Lore 18,1907, 121 ss; Alfred Nutt, The Celtic Other-World, ibid. 445 ss 361 Paul Volz, Die Eschatologie der judischen Gemeinde im neutestamentlichen Zeitalter, Tubin¬ gen 21934; Jakob Tauber, Jiidische Eschatologie, Bern 1940; weiteres Heiler, Religion 516 Anm., 523374; Johannes Feiner, Magnus LOhrer edd., Mysterium Salutis 5, Zurich usw. 1976,453 ss, 553 ss 362 Palgen, Gesicht 107 363 So nannte ihn sein Sohn Manfred, Karl Hampe, Kaiser Friedrich II. als Fragensteller, FS Walter Goetz (Kultur und Universalgeschichte), Leipzig, Berlin 1927, 53 ss, 60 364 Dante, Divina Commedia, I, 20, 116 s 365 Hampe, Friedrich (wie Anm. 363), 55 366 Johannes Scotus Eriugena (!) war Ire, Michael Scotus Schotte. Im Mittelalter wurde Irland auch als «Scotia maior» bezeichnet 367 De div. nat. 5,29 s, PL 122, 936В; 939B 368 Lubac, Esegesi 1245 ss
92 Die visionaren Raume bewufit war - schliefilich hat seine offizielle Ablehnung durch die Kirche mehr als 300 Jah- re auf sich warten lassen) sogar leugneten. Diese aber, wie zum Beispiel die Amalrikaner369, wurden allemal von der Kirche als Ketzer verurteilt und nicht selten dem Scheiterhaufen uberantwortet.370 Ein Zogem findet sich jedoch auch bisweilen bei anderen Theologen: «abdita sunt receptacula animarum, nec potest ab homine diffiniri quod non potest ab homine sciri» schreibt Werner von S. Blasien.371 Auch Augustinus* kategorische Feststel- lung «De inferis magis mihi videor dicere debuisse, quod sub terris sunt, quam rationem reddere, cur sub terra»372 zeigt doch wenigstens eine leichte Unsicherheit. Es gab also schon innerhalb der orthodoxen Intelligenzija hin und wieder ein gewisses Bedenken, ob die Holle «unter, oder auf oder uber der Erdscheibe» zu lokalisieren sei. Doch war dies kaum die Hauptstromung unter den theologischen Meinungen. «Infer- nus equidem locus est tam deterior terra quam inferior...» hiefi die bundige Formulierung Robert Pulleyn’s373, hiefi es vielmehr allgemein. Der Philosoph und Theologe des Mittelalters, Thomas von Aquin, kommt allerdings erst nach einem griindlichen scholastischen Abwagen verschiedener Moglichkeiten zu einem Schlufi. Er bedenkt eine Reihe von Bibelstellen und Autorenzitaten, die fur und wider eine unterirdische Holle sprechen, erwagt ihre Grofie und stellt fest: «Quidam tamen philosophi posuerunt quod locus inferni erit sub orbe terrestri, tamen super terrae superficiem, ex parte opposita nobis ... Sed tamen convenientius his quae sunt in Scriptura dicuntur est ut sub terra esse dicatur.»374 Sogar Gregor der Grofie, der ja die Geschichte vom Atna als Holleneingang kolportiert hatte, sagte dennoch liber die Lage der Holle: «Нас de re temere defimre nil audeo.»375 Aber auch er stimmte schliefilich, wenn auch vorsichtig, der Annahme einer unterirdischen Holle zu: «quid obstet non video ut sub terra infemus esse credatur».376 Begeben wir uns von diesen Hohen der Theologie auf ein - natiirlich nur im Vergleich mit Thomas - ein wenig «inferiores» Niveau und sehen wir exemplarisch, was der popula- re Kompilator Honorius von Augustodunum zu dieser Frage beibringt, der «ohne jeden Zweifel seit der Mitte des 13. Jahrhunderts weiteste Verbreitung liber das ganze mittelal- terliche Europa hin» genofi.377 Zunachst einmal die beliebte, aus Psalm 85,13 abgeleitete Zweiteilung der Holle. Da es in der Vulgata-Obersetzung mifiverstandlich heifit «... eruisti animam meam ex inferno inferiori», hat man schon in der Vaterzeit den Schlufi gezogen, es musse also auch ein «infemum superius» geben.378 Der Weg zu Honorius lafit sich iiber 369 Grundmann, Bewegungen 367 s 370 Die Leugnung einer realen Holle war selbstredend dabei nur ein Punkt ihrer Irrlehren. Im Hinblick auf solche «philosophi», wie etwa Anhanger des Origenes, betont z. B. Heliand v. Froid- mont die Glaubwiirdigkeit der Hollenlehre: Sermo 6, PL 212, 530 371 Deflor. 2,6, PL 157, 1059A 372 Retract. 2,25 (50), CSEL 36, 160, cf. auch En. in Ps. 85, 17 s, CC 39, 1190 s 373 Sentent. 4,f7, PL 186, 823B 374 Summa Theol. 3, 97, 7 (176); Deutsche Thomas-Ausgabe 36, 1961, 304 ss, 307 s 375 Dial. 4,42, PL 77, 400C 376 l.c., ed. cit. 401A 377 Palgen, Gesicht 29 378 So Augustin, En. in Ps. 85, 12 s, CC 39, 1190
Honorius v. Augustodunum iiber die Holle 93 Cassiodor, Beda, Haymo von Halberstadt und Geroh von Reichersberg verfolgen.379 «Duo sunt inferni», schreibt Honorius also, «superior, et inferior. Superior, infima pars hujus mundi, quae plena est poenis ... Inferior vero est locus spiritualis, ubi ignis inexstinguibi- lis ... Qui sub terra dicitur esse, ut... animae peccantium sub terra in inferno sepeliantur.380 Bemerkenswert ist die ausdriickliche Auszeichnung als «geistiger Ort» und trotzdem die konkrete Lokalisierung. Auf diese Koinzidenz von fur unser Denken Unvereinbarem wird noch zuriickzukommen sein. Etwas weiter spezifiziert Honorius die Lage der Holle: «est locus in medio terrae positus, igne et sulphure pleno; hie usitato nomine dicitur infemus vel stagnum ignis et sulphuris; ad hunc pertinent omnia loca vel in terra vel super terram ardentia».381 «Sicut enim terra est in medio aere: ita est infemus in medio terrae.»382 Nach einem im Mittelalter noch beliebteren Vergleich: «Sicut autem cor animalis in medio est, ita et infemus in medio terrae esse perhibetur.»383 Dies ist die Interpretation eines Wortes Jesu, der auf seinen Descensus anspielt: «...erit Filius hominis in corde terrae tribus diebus et tribus noctibus» (Math. 12,40). Der Grund fur diese Lage: «... ne mali lumen coeli videant».384 Hier ist aber auch offensichtlich einer Vorstellung des Volksglaubens Rechnung getragen, von der wir gleich sprechen werden, den vulkanischen Hollenpfor- ten. Neben dieser eigentlichen Holle gibt es nach Honorius noch sechs weitere «speciales inferni»: «corpus corruptible, quod animam aggravat... hie mundus... cohabitatio invi- cem se odientium... cum anima corpori subtracta ad loca spiritualia et poenalia, corpori- bus similia ducitur crucianda... cum anima, corpore penitus mortuo, non corporalia, sed spiritualia corporalibus similia patitur... ignis aetemus, in quern anima cum recepto corpore truditur in die judicii cum daemonibus semper crucianda. Utrum aut hie infemus in hoc mundo, an extra mundum futurus sit, ignoratur». Das heifit, dafi sich Honorius also sehr wohl eine extramundane Holle vorstellen kann -, doch erst nach dem Endgericht. Aber er betont noch einmal die Unkorperlichkeit des in der Erde gedachten Strafortes: «Omnis enim locus longitudinem, latitudinem, altitudinem habet, sed anima, dum his omnibus caret, in nullo loco includi valet.»385 Er hat sich noch an einer ganzen Reihe anderer Stellen seiner Werke mit der Holle auseinandergesetzt, am eindrucksvollsten in seiner Schrift iiber das Weltbild, wo er von dem «lacus vel terra mortis» spricht, von der «terra tenebrosa», «terra oblivionis», dem «Tartarus», der «gehenna» und dem «Erebus, draconibus et igneis vermibus plenus».386 379 cf. Silverstein, Pauli 115 s, 71; Spilling, Tnugdali 88 ss 380 Eluc. 3,4, PL 172,1159C 381 Scala Coeli mj. 18, PL 172,1237C 382 De imag. mundi 1,37, ed. cit., 133A; cf. Isidor von Sevilla, de ordine creat. 13, PL 83, 946: «Sicut terrae in profundo aquarum, sic inferna in profundo terrarum.» 383 so zum Beispiel Hrabanus Maurus, de univ., 13,23, PL 111, 376A, cf. KLNM 6, 426. Aus der Theologie geht das in die naturwissenschaftlichen Darstellungen ein: «Nu wil ic u doen gewach / Waer die helle wesen mach / Bi scrifturen proef men wel / Dat si is nieuwer el / Dan in midden van ertrike.» Broeder Gheraert, Natuerkunde vs. 1701 ss., zit. Endepols, Bijdrage 85 384 Caesarius v. Heisterbach, Dial. 12,13, Strange, Dialogi 2, 326 385 Scala coeli mj. 18s, PL 172,1237s ш De imag. mundi. 1,37, PL 172,133AB
94 Die visionaren Raume Zitieren wir im Gegensatz zu Honorius nur einen seiner Zeitgenossen, den Mystiker Hugo von S. Victor, dessen hohe Einschatzung sein Beiname «alter Augustinus» aus- drtickt. Seine Hollenvorstellungen sind unerwarteterweise noch viel realer: «Sicut peccato- ribus cruciandis Deus poenas corporales praeparavit, ita etiam ad ipsas poenas corporales loca corporalia distinxit... Bene etenim locus tormentorum est deorsum ... quia et culpa deorsum premit... Maxima tormenta locum in infimo habent ...in into terrae... De quo tamen omnino certum non est in qua parte ejus, id est utrum intra concavitatem illius sive extrinsecus in aliqua regione ambitus ipsius dispositus sit: quamvis tamen verisimilius videatur infra terrain quasi carcerem quemdam, et velut ergastulum tenebrarum collo- catum... »387 Hier ist diese ganz handfeste Vorstellung vom Kerker, Zuchthaus, Hollen-KZ388, die man in alien mittelalterlichen Visionen wiederfinden wird, und in so vielen anderen Quel- len dieser Zeit... Noch deudicher wird dies alles aus Texten, die man wohl der Volkstradition zurechnen kann. Bekannt ist jenes Exempel vom bosen Herrscher, der in einen Vulkan gestiirzt wird, um so in die Holle hinabzufahren. Den Prototyp dieser Legende erzahlt Papst Gregor der Grofie in seinen «Dialogi» (4,30): An seinem Todestag wird der Gotenkonig Theoderich von einem Einsiedler der Insel Lipari gesehen, gefesselt zwischen Papst Johannes I. und dem Patriarchen Symma- chus, die ihren Morder zum Atna schleppen.389 Seit diesem wamenden Ende des arianischen Konigs hat man ein ahnliches Schicksal im feurigen Berge unter anderen auch dem Merowingerkonig Dagobert I.390, dem neustrischen Hausmaier Ebroin391, Karl Martell und Karl d. Gr., den Mainzer Bischofen Hatto und Johannes II.392, Kaiser Heinrich II.393, dem Prinzen Magnus v. Danemark (im Hekla)394, Kaiser Friedrich IL395 usf.396 zugedacht. Auch von Konig Artus wird erzahlt, er safie in diesem Berg397, aber das ist hier das heidnische, noch nicht einer Interpretatio Christiana unterzogene Motiv vom Bergjenseits 387 De sacram. 2, 16,4, PL 176, 586AB 388 «KZ-Wirklichkeit in dieser Kirchen-Holle», sagt Heer, Abschied 74, in bezug au£ die Hollen- schilderung der Paulusvision 389 cf. Gesta Theoderici 2,3, MG SS rer. Merov. 2, 214; Tubach, Index nr* 4767; ausfuhrlich Wolfgang Stammler, Wort und Bild, Berlin 1962, 45 ss; cf. auch Monteverdi, Specchio 291 s; Reinhold K6hler, Kleinere Schriften II, Berlin 1900, 266 ss ; Liebrecht, Gervasius 12 ss; 109 ss 390 Gesta Dagoberti 44, MG SS rer. Merov. 2,421 s; cf. Bruder Grimm, Deutsche Sagen nr. 439 391 Ado von Vienne, Chron. a.a. 696, PL 123, 117 392 Ganschinietz, Katabasis 2438 393 DOnninger, Elemente 29 s; Gaiffier, Etudes 249 s; cf. Bruder Grimm, Deutsche Sagen nr. 485; 283 394 Alberich v. Trois-Fontaine, Chron. a.a. 1130, MG SS 23,829 395 Thomas v. Eccleston, Lib. de Adventu fr. min. a.a. 1250, MG SS 28, 568 396 z. B. Caesarius v. Heisterbach, Dial. 12,7; 12,12 s; Monteverdi, Specchio 291s 397 Chambers, Arthur 185, 188 ss, 217 ss, 221 ss, 276 ss; Graf, Miti 2, 303-335; Wimberly, Ballads 132 ss; Os, Visions 174; Tubach, Index nr. 361; Literatur zu diesem Motiv bei Dinzelba- cher, Jenseitsbrucke 213259, 221393; weiters Peter Munz, Fredrick Barbarossa, London 1969, 3 ss,
Hollische Vulkane 95 und Konig im Berge. Denn er sitzt ganz friedlich in seinem koniglichen Palast, ohne Pein. Wir kennen das Motiv noch aus vielen Sagen; erst die verchristlichte Form macht daraus einen Strafort. Es ist dies also eine communis opinio des Mittelalters (doch nicht beschrankt nur auf diese Peri ode398), dafi man durch die Krater der Vulkane direkt in die Holle gelangen konne. Am weitaus bekanntesten war hier der Atna. Isidor von Sevilla, der von vielen anderen Autoren ausgeschrieben wurde, sagt: «Mons Aethna ex igne et sulphure dictus; unde et Gehenna.»399 Gottfried von Viterbo weift: «Mons ibi flammarum, quas evomit, Aethna vocatur: Hoc ibi tartareum dicitur esse caput.»400 Ganz ausfuhrlich wird Alberich von Trois-Fontaines, wenn er von «ilia famosissima olla Vulcani de Sicilia que gehenne spiraculum dicitur et ad quam morientium anime damnatorum ad comburendum, ut sepe probatum est, cotidie protrahuntur ...» spricht. Er beschreibt das schaurig-schone Schau- spiel «ut exurgentes undique flammarum multiplices atque inmense piramides ad nubes usque pertingant, ipsisque recidentibus alie atque alie insurgant,... alias evomendo alias resorbendo vehementer ...»; «... ignis iste sevissimus ... altitudinem pelagi cepit inaudita sevitia usque ad abissum comburere ...»401 Der Abgrund, «abyssus», ist aber nicht nur die Meerestiefe, sondern wiederum auch die Holle.402 Viele werden in der Umgebung dieses Berges von Damonen iiberfallen.403 So kommt es manchmal zu einer Obertragung: der Berg erscheint nicht mehr nur als Hollenschlund, sondern als die Holle selbst. Ein Beispiel ist der Strafort des Verraters Judas Iskariot, der ja in der mittelalterlichen Tradition iiblicherweise sonst einen beson- ders tief unten gelegenen Platz in den infernalischen Strafstatten inne hat.404 In einer lateinischen Version der Brandanlegende, der «Peregrinatio (vel Navigatio) S. Brandani abbatis», stofien die Monche auf eine Insel, die folgendermafien beschrieben wird: «Erat namque ripa illius magne altitudinis, ita ut summitatem illius vix potuissent videre, et coloris carbonis ...» Dort erleidet Judas die Vergeltung seiner Schuld. Er mufi von sich 410 (Kyffhauser-Sage); Mathilde Hain, Lebendige Volkssage im «Dialogue Miraculorum» des Caesa- rius von Heisterbach, Archiv fiir mittelrheinische Kirchengeschichte 2, 1950, 130-140, 138 s; Rein¬ hold Kohler, Kleinere Schriften II, Berlin 1900, 266 ss; daher ubrigens das sizilianische Sprichwort «Ich will lieber im Mongibello, im Atna ..., bei Konigen und Fursten sein, als im Himmel bei Lahmen und Blinden», Grupp, Kulturgeschichte 4,3172 398 Noch um die Jahrhundertwende schreibt ein deutscher Theologe, die Vulkane seien «der Holle Schlote», und es sei «sehr wahrscheinlich,... dafi die Holle ihren Sitz im Innem unserer Erde habe.»! Bautz, Holle vii, 40. James Georges Frazer, The Golden Bough 4, London 1935=1966, 1361 be- merkt zu diesem Autor «He is, let us hope in more senses than one, an extraordinary professor of theology at the University of Munster ...» Bis zu seiner Zeit hatte die Theologie ubrigens noch folgende Lokalitaten als mogliche Orte fiir die Holle vorgeschlagen: das Gehinnomtal, eine unbe- kannte Insel, der Nord- oder Sudpol, die Sonne, der Mond, der Mars, eine Region der Luft, ein Ort auger dem Universum, Bautz, Holle 30; die Wusten, das Tote Meer, Endepols, Bijdrage 85 399 Etym. 14,814 ed. W. M. Lindsay, Oxford 1911 u.o. 400 zit. Graf, Miti 2, 316 401 Chron. a.a. 1130, MG SS 23, 829 s unter Berucksichtigung der Varianten 402 cf. z. B. Rom. 10,7; Apoc. 20,3 403 Nicolaus Specialis, Hist. Sic. 8,2, Muratori SS 10, 1079A 404 cf. Dinzelbacher, Judastraditionen 53 ss
96 Die visionaren Raume sagen: «ardeo sicut massa plumbi.. .in medio montis quem vidistis. Ubi est Leviathan cum suis satellitibus ...»405 Regnauld le Queux hat in seinem Handbuch iiber die Holle von 1480 («Baratre Infernal») dem Atna ein Kapitel unter der Rubrik «De l’enfer particulier» gewidmet.406 Es ist interessant zu sehen, wie sich dieser Volksglaube auf «hoherer Stufe» im Denken der Intelligenzija spiegelt: hier wird auf einen blofien Vergleich reduziert. So zum Beispiel schon bei Minucius Felix: «sicut ignes Aetnae montis et montis Vesuvii, et ardentium ubique terrarum flagrant, nec erogantur: ita poenale illud incendium non damnis ardenti¬ um pascitur, sed inexesa corporum laceratione nutritur».407 Der genannte Isidor hat in einem anderen seiner Werke iiber den Atna: «ad exemplum gehennae isti montes in tanta temporis diuturnitate usque nunc flammis aestuantibus perseverant, ita ut nunquam exstin- gui possint, sic ignis ille ad crucianda corpora damnatorum finem nunquam est habi- turus».408 Etwa eine Generation fruher hatte Gregor von Tours bemerkt, es gabe auf Erden Dinge, die die Sunder mahnten «et ignem infemalem figurant, ut est Ethna, fons Gratiano- politanus». Gemeint ist der heifie Sprudel von Grenobel, an dem man erkennen konne, dafl zwar jetzt «incendiis licentiam esse non datam ad nocendum corpus humanum, quod post iudicium, si peccato obnoxium fuerit, accepturi erunt perpetualiter exurendum».409 Die Vorstellung von solchen Eingangen in die Unterwelt ist natiirlich grofiteils antik.410 Fur uns, die wir uns hier die Konkretheit der mittelalterlichen Hollenvorstellungen vor Augen fuhren wollen, geniigt es, die Bedeutung des Atna als eines in dieser Welt gelegenen Berges, der «trotzdem» den Zugang zur «anderen Welt» bildete, mit einigen Texten belegt zu haben; freilich gab es noch andere Orte, an die sich ahnliche Vorstellungen geknupft hatten. So die beriihmten Bader von Pozzuoli411, bei denen Christus in den Limbus abge- stiegen sein soil, so der Stromboli412, so der sudislandische Hekla, «mons quidam arduus et enormis magnamque occupans partem ipsius regionis [sc. Hysselandiae], sub quo et in quo homines loci maximum arbitrantur esse infemum».413 Aber nicht nur so naheliegende Orte, wie die Vulkankrater waren in verschiedenen Hollenfahrtgeschichten als Pforten zur Unterwelt angesehen, es gab noch eine Reihe von Traditionen, die von der Holle an weniger leicht in Augenschein zu nehmenden Orten wufiten. 405 Schrader, Brandan 29 406 Owen, Vision 298 407 Octav. 35, PL 3, 364AC 408 De nat. rer. 47,4, PL 83,1016. Ahnlich aufgenommen von Beda Venerabilis, de nat. rer (PL 90, 275) und Honorius v. Augustodunum, der hinzufugt, «in aliis etiam terris incendium surgit, et gehen- nam praeostendit.» De imag. mundi 1,43, PL 172,134 409 De cursu stell. 10; 14, MG SS rer. Merov. 1, 860, 862 = 22,410,412 410 ausfuhrlich Ganschinietz, Katabasis pass. 411 С. M. Kauffmann, The Bath of Pozzuoli, Oxford 1959, 51 s, 141, Abb. 9, 30, 55, 69 412 Ganschinietz, Katabasis 2437 s 413 Alberich v. Trois-Fontaines, Chron. a.a. 1130, MG SS 23, 829 (nach Herbert v. Sassari, Lib. mirac.). Zum Nachleben cf. K. Maurer, Weiteres iiber die Holle auf Island, Zs. des Vereins fiir Volkskunde 8, 1898, 452 ss; generell Sigurdur Thorarinsson, Vulkaner, KLNM 20, 265-267
Irdische Hollenplatze 97 So besucht nach dem mittelalterlichen Alexanderroman der makedonische Konig ein von Teufeln bewohntes Tal, «certamente una specie di inferno, un inferno geografico».414 Mindestens ebenso bekannt war die Brandanlegende, in der erzahlt wird, wie der heilige Seefahrer auf seiner abenteuerlichen «Navigatio» an feuergliihenden Inseln und Bergen vorbeikommt, von denen aus Damonen Glutbrande auf sein Schiff schleudern, wie einst der Zyklop Felsen auf Odysseus ... «Milites Christi», sagt da der Heilige zu seinen beglei- tenden Briidem, «sitis robusti in fide non ficta, quia, ut verum fateor, sumus modo iuxta os infemalis putei.» Dann erscheint ihnen «Sathanas in forma voluntate sue satis condi- gna» und bittet Brandan im Namen Christi, er moge den Teufeln in ihren «in obscuris enim mans locis» gelegenen «mansiones pessimas», ihr Dasein bessem.415 «Et quesiuit Branda- nus, ubi esset ille locus penalis. Cui demon: <Nemo hominum potest uidere, et postea uiuere.> Et indicavit demon portam loci illius penalis eis.» Aber einer von Brandans Ge- fahrten begleitet den Bosen in die Holle — und kehrt zuriick. «Cumque uidisset penas ac uulutus sustinentium eas, statim mortuus est, dicens: <Ve omnibus in ilium locum tormen- torum venientibus.>» Brandan freilich erweckt ihn wieder zu Leben, aber «non tamen sine magno labore».416 Dort sitzt auch der arme Judas auf seinem Stein inmitten des Meeres. Er wird — eine Konkretisierung der oben besprochenen theologischen Lehre von den zwei Hollen - abwechselnd in der oberen Holle auf einem Berg und in der unteren in einem Tal gequalt, wobei die obere «tetrior» ist, die niedere «horribilior».417 Seine Strafen gehoren zum Grausamsten, was sich das Mittelalter erdenken konnte.418 Auf einer Insel, meint auch der «Lucidarius», die bei Skylla und Charybdis gelegen ist, hausten die Zyklopen-Teufel, die die Seelen martern. «inder selbin insvlin was vulcanus der der helleporte phligit.»419 Auch hier liegt letztlich die antike Uberlieferung zugrunde. In Irland kommt derselbe Brandan noch zu einem anderen Holleneingang, moglicher- weise ist das Purgatorium S. Patricii gemeint.420 Auch der Wald, in so manchen mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Marchen und Mythen Toten- und Jenseitsreich, der unheimliche Wald («Onques nus horn ni pot aler / Qui puis em peust reperier»)421, Dantes «selva oscura»422 kann als Holle gesehen werden. So in einer Legende, die sich um den Markgrafen Hugo, Statthalter Ottos III. in Italien, gerankt hat. «Dies iam declinabat... marchio prefugientem cervum insequitur; et cum per dempsiorem silvam ingreditur ... solus ad sinistram tendit423 ... horrendam incur- 414 Palgen, Origine 37; id., Gesicht 36 415 Der erlosungsbedurftige Teufel ist ein nicht so seltenes Motiv der Volkstradition, cf. z. B. Leopold Kretzenbacher, Des Teufels Sehnsucht nach der Himmelsschau, Zs. fur Balkanologie 4, 1966, 57-66; Dinzelbacher, Jenseitsbrucke 154 s, 248 416 Plummer, Vitae 1, 129 ss; cf. 2, 284 ss 4,7 ibid. 2, 285 ss 418 cf. Dinzelbacher, Judastraditionen 56 s 419 zit. Rathjen, Hollenvorstellungen 2 (um 1190) 420 Plummer, Vitae 1,145 421 Guingamor vs. 174 s, zit. Marianne Stauffer, Der Wald, Diss. Zurich 1958 (Bern 1959), 26 422 Div. Comm. 1,1,2 423 links als bose Seite ist auch dem Mittelalter gelaufig genug, cf. z. B. die Wortentwicklung von
Die visionaren Raume rit speluncam ... in modum terribilis fabrice constructam, vidit et fabros mira magnitudi- ne, Ethiopes nigridine ... malleis nephandi ponderis cudebant homines, et in varias duce- bant formas: hunc in suem, ilium in leonem ... Et ecce quidem suis humeribus attulit homi- nem unum, et proiecit ilium in fabricam. Reliqui fabri clamaverunt: <Veni, veni anima infelix ...> Locus prohibet illos esse spiritus: et forma, ministerium et loquela facit eos manifestos ministros esse infemales ... non est hie ignis extinguibilis, set etemus ...» Hugo hat in der Folge auf diese Schrecken noch eine Vision, die seinen Lebensweg zum besseren andert.424 Ahnlich findet sich die Holle als Tal der Schmiede in der irischen Tradition.425 In diesen Legenden wird, wie beim Brandan, die Oberlieferung letzten Endes aus der klassischen Antike kommen (Vulcanus). Wenn diese Ansicht von der Lokalisierbarkeit der Holle wirklich so gelaufig war, dann mufi sie auch in die mittelalterliche Geographie eingegangen sein. Tatsachlich schreibt schon der so umstrittene Aethicus Ister, dafi der gebirgsummauerte Acheron, der der Gehenna entspringe, in Sibirien und in der Inneren Mongolei fliefie; und dafi jenseits von ihm die Unterirdischen lebten.426 Da sich diese Kosmographie als eine Obersetzung eines mit dem Kirchenvater identifizierten Hieronymus ausgibt, wurde sie geme beniitzt, so von Hrabanus Maurus, Vinzenz von Beauvais, Haldingham, Roger Bacon u.a.427 Haldingham schreibt 1220 zu seiner Landkarte uber die Kaspische See: «hie fluvius infemalium esse creditur ..., et hie os gehenne patet, ut dicitur».428 Der vielleicht 30 Jahre altere «Lucidarius», ein verbreitetes Kompendium mittelalterli- chen Wissens, ist der Auffassung, «die inre helle div ist an deme ende dirre welte. da vor nebile vnde vor vinstri niemir dehein lebende menische nechumit».429 430 Also unerreichbar fem, am Rande dieser Erdscheibe, aber immerhin in der Welt. Nahert man sich noch von einer anderen Seite der Frage nach der Lage der Holle, namlich durch Untersuchungen der fur sie gebrauchlichen Worter, so wird man finden, dafi hier zumeist das unter der Erde Liegen impliziert wurde. Das haufigste Wort, «infem- um», wird im Mittelalter nach Augustin450 von «infra», unterhalb, abgeleitet.431 Ein Syn¬ onym fur «infernum» ist «lacus» nach Psalm 87,4s, wozu die gequalte Etymologie «Dici¬ tur enim inde lacus, quod sub ipsa terra lateat»432 gegeben wird, die wiederum den geogra- phischen Ort verdeutlicht. Auch das deutsche «daz vreizliche abgrunde»433 weist auf diese «sinister» im Franzosischen. Weiteres bei Maurmann, Himmelsrichtungen 219 s.v. «rechts»; Kirschbaum, Lexikon 3, 511 ss 424 Gaudenzi, Ugo 275 ss 425 Douglas Hyde, ed., The Lad of the Ferule, & Adventures of the Children of the King of Norway, London 1899, 159 42S Rathjen, Hollenvorstellungen 6 427 J. Lelewel, Geographie du moyen age, Epilogue, Bruxelles 1857, 1 s 428 ibid. 24 429 zit. Rahtjen, Hollenvorstellungen 4 430 De Gen. ad litt. 12,33* 431 cf. z. B. Julian v. Toledo, Prognost. 2,5, PL 96, 478A 432 z. B. Hrabanus Maurus, De univ. 11,7, PL 111, 317A 433 Rathjen, Hollenvorstellungen 35, cf. 199
Die Lage der Holle nach den Visionen 99 Vorstellung hin. Der «Erebus» ist «die zuovart unde die tiefe der hellen», das «Baratrum» die «swarce ginunge».434 Auch wer das Wort «gehenna» beniitzte, war sich der Ableitung von einem irdischen Ort, dem Hinnomtal bei Jerusalem, vielfach bewu6t.435 Wenn nun in der aul?ervisionaren Literatur die Lokalisierung der Holle und sogar ihrer Eingange teilweise mit solcher Genauigkeit erfolgte, dann sollte man annehmen, dal? auch die Visionare berichten, sie seien von ihrem Fiihrer durch diesen oder jenen Vulkan in die Unterwelt gebracht worden. Tatsachlich aber gibt die Visionsliteratur nur sehr sparliche Anhaltspunkte zur Lage des Infemum. Die Formulierungen sind hier vielmehr kurz und vage - ganz im Gegenteil zu den ausfiihrlichen Topographien, die dann von den Straforten selbst gegeben werden. Barontus etwa erzahlt, «Et iuxta inferno iter habuimus et custodes infemorum vidi¬ mus.»436 oder «Deinde iter agentes pervenimus ad infemum, sed non vidimus, quid intus ageretur propter tenebrarum caliginem et fumigantium multitudinem.»437 Ahnlich unbe- stimmte Angaben (wenn uberhaupt welche gemacht werden!) konnte man aus vielen anderen Gesichten zitieren. Von Petrus Petroni heifit es nach seiner ausgedehnten Hollen- vision sogar «negans se prorsus scire num infema loca in terrae centro collocata sint nec ne».438 Bisweilen wird aber doch wenigstens eine Himmelsrichtung angegeben. So befiehlt in der Vision Laisren’s der leitende Engel zwei anderen: «<Now take this man that he may see Helb Thereupon he is led down northward into a great glen ... He sees a great pit as it were the mouth of a cave between two mountains ... That cave was the door of Hell, and its porch.»439 Also die ganz konkret beschriebene Hollenpforte liegt irgendwo im Norden. Ahnliches erfahren wir von Drycthelm, der seine Jenseitsreise «contra ortum solis solstita- lem»440, also Richtung Nordost, beginnt. Fegefeuer und Holle sind dort angesiedelt. Zum «locus florifer» geht es dann nach Sudost weiter, «contra ortum solis brumalem».441 Letz- teres entspricht also der allgemeinen Ansicht, dal? das Paradies, das damit gemeint ist, im Osten zu suchen sei.442 Die Nordlage folgt auch aus den poedschen Worten Orms, der nach der Besichtigung der Hollenstrafen sagt, «Post hec ductor meus eduxit me de lacu miserie et a regione umbre mortis443, ab aquilone semper ascendendo ad meridianam plagem solis444, hoc est a nocte perpetua ad diem sempiternum.» Darauf nahern sie sich dem Paradies.445 434 ibid. 79 435 z. B. Isidor v. Sevilla, Etym. (ed. W. M. Lindsay, Oxford 1911) 14,99: «Gehenna ... a valle iuxta murum Hierusalem ... ubi peccatores cruciandi sunt.» 436 Visio 7, MG SS rer. Merov. 5, 383 437 ibid. 17, ed. dt. 390 438 Bartholomeus Scala, Vita 7,68, AASS Mai 7, 1688, 215F 439 Vis. 6, Meyer, Stories 117 s 440 Beda, Hist. ecd. 5,12, Plummer, Baedae 304 441 ibid., ed. dt. 307 442 cf. unten S. 106 443 Ps. 39,3; 106,14; Is. 9,2 444 Ez. 47,19 445 Visio 5, Farmer. Orm 80s; cf. unten S. 110 _ _
100 Die visionaren Raume Und wiederum finden wir in Thurkill’s Vision, dafi der Bauer zuerst «contra orientem usque ad mundi medium» gefuhrt wird. Dort liegt die Basilika der Madonna, wo die Seelen der Abgeschiedenen sich versammeln. Sowohl der Reinigungsort als auch der «pu- teus gehennalis» befinden sich auch hier «Extra murum aquilonarem» dieses Gotteshau- ses.446 Der Norden, «Mitternacht», als eine der «bosen» Himmelsrichtungen des Mittelal- ters griindet einerseits (neben der Assoziation mit Nacht, «пох», die von «nocere»447 etymologisiert wird) auf Isaias 14,13, wo Luzifer seinen Thron «in lateribus aquilonis» aufrichten wollte. Aber andererseits hat auch der Volksglaube germanischer Pragung die- selben Vorstellungen gekannt, was mehrfach aus skandinavischen Quellen hervorgeht. «<Nordbotnen> var i gamle skrifter enstydigt med <trollbotnen> ...»448 Auch hier ist eine christliche Beeinflussung zeitlich sicher ebenso moglich, wie eine eigenstandige Entwick- lung. Jedenfalls koramt im Draumkvaede der Teufel, Grutte Graskjeggji, auf seinem schwarzen Rofi aus dem Norden geritten449, und liegt in der «Vqluspa» (25s) der sonnen- ferne (!) Saal mit dem tropfenden Gift und den Wanden aus Wurmleibem im Norden; dort durchwaten Morder und Meineidige die Stimpfe. Ausdriicklich eine andere Lage hat die Holle aber in der «Visio Godeschalci». In ihren beiden unabhangigen Aufzeichnungen ist Gottschalks Bewegungsrichtung «Ab oriente versus occidentem .. .»450 * Dies wird vor dem Besuch der Holle gesagt und vor dem Aufstieg in die seligen Gefielde wiederholt, woraus sich ergibt, dafi alle drei eschatologischen Orte westlich von Holstein, der Heimat dieses Visionars, vorgestellt werden. Das ist doch wohl keine christliche Tradition. Auf einen vulkanischen Holleneingang wird meines Wissens nie Bezug genommen, sieht man von einer Stelle in der Vision Gunthelms ab, wo dieser Zisterziensemovize auf steilem und schliipfrigem Weg zum Land der Finsternis gefuhrt wird («terra tenebrarum»). «Quam cum nouicius circumspiciens ualde nimirum expauesceret, lustrans inferius, et cemens quasi turrium fusca cacumina ab imo surgentium, ex tam horrenda uisione tam- que terribili et caliginosa obscuritate existimauit se infemi loca uidere. Cui haec existiman- ti angelus inquit: Non est infemus quod cemis, sed quae conicis andquas esse turres, camini sunt infernales per quos ignis aeternus suas euomit flammas, et gehennalis fomax suas emittit fauillas.»431 Hier ist die visionare Schau in Obereinstimmung mit dem geogra- phischen Weltbild gebracht, der begleitende Engel gibt eine Naturerklarung, die man fast fur eine nachvisionare Zutat halten mochte. Aber auch Gunthelm, wohlverstanden, betritt und verlafit die Unterwelt nicht durch die genannten vulkanischen Schlunde. Auffallenderweise aber spielen die Gesichte von den Peinstatten generell eher im Purga- torium als in der Holle. Einerseits vertrug sich ein Hollenbesuch schlecht mit der Bibelstel- 446 Visio 1, Ward, Thurkill 445, cf. 443 447 so Isidor v. Sevilla, Etym. 5,31,1; cf. weiters Roswitha Klinck, Die lateinische Etymologie des Mittelalters (Medium Aevum 17), МйпсЬеп 1970, 5061; Maurmann, Himmelsrichtungen pass., bes. 78 s 448 Мое, Skrifter 285 s; cf. Wimberly, Ballads 136 ss 449 Draumkvaede R 30 s 450 Visio В 8; 14; A 14 45t Constable, Gunthelm 109
Fegefeuer 101 le «non est qui agnitus sit reversus ab inferis»452, andererseits war das Fegfeuer, in dem ja nach der gangigsten Anschauung nur die armen Seelen, denen letztendlich noch das Para- dies vorbestimmt war, brannten, eher mit Menschenzungen zu beschreiben, als die das absolute Grauen darstellende Holle: «omnia hujus mundi tormenta, quae sunt 6c quae fuerunt, 6c quae vel aestimari vel excogitari possunt, si reducerentur in unam poenam quomodocunque summariam, minimo inferni cruciatui nulla possent similitudine compa- rari».453 Die ausfuhrlichste Hollenvision ist wohl die an der «Divina Commedia» inspirier- te453a der Francesca von Rom. Fegefeuer Das Fegefeuer454 ist diejenige der eschatologischen Statten, die in den Visionsberichten wohl am ausfiihrlichsten beschrieben wurde. Wo befand es sich nach mittelalterlichem Denken? Darauf geben die Quellen eine zweifache Antwort: entweder an einer Stelle in der Nahe der Holle, also auch unter der Erde, oder an ganz beliebigen, verschiedenen Platzen auf Erden. In der Theologie hat sich die Fegefeuerlehre zogernder als die von Himmel und Holle entwickelt. Augustin sagt, die Seelen seien nach dem Tode in «abditis receptaculis ... sicut unaquaeque digna est vel requie vel aerumna .. .455, ohne auf eine Spezifizierung, schon gar nicht auf eine Lokalisierung, einzugehen. Erst ab Thomas scheint man sich der unterirdi- schen Lage dieses «receptaculum animarum» sicher zu sein: er formuliert klar: «Locus purgatorii est locus inferior inferno conjunctus, ita quod idem ignis sit qui damnatos cruciat in inferno et qui justos in purgatorio purgat»456, nachdem er sich auf entsprechende Revelationen berufen hat. Aber geht man zuriick in die Zeit Bernhards von Clairvaux, so ist es fast riihrend zu lesen, wie sich etwa dessen Freund Robert Pulleyn mit dieser Frage abmuht. «Ubi sunt ea [purgatoria]? nondum scio... nec in Scriptura tertium facile invenies apud inferos locum purgandis deputatum. Quid ergo?» Schliefilich bekennt er sich zu der Meinung, dafi auch die Sunder, die letztlich doch noch das Himmelreich gewinnen wer- den, wenn sie fiir ihre Schuld gesiihnt haben, «in inferno in unum habitant, poena ac quiete distantes ...»457, womit das Fegfeuer also ausdrticklich kein gesonderter Ort der Jenseitstopographie ware. Sein Zeitgenosse Hugo von S. Victor meint, «[Purgatorii] locus omnino determinatus non est, nisi quia multis exemplis et revelationibus animarum in ejusmodi poena positarum 452 Sap. 2,4 453 Vis. Godfridi, Trithemius, Annales 2,152 453a cf. Omella Moroni, Le visioni di S. Francesca Romana tra medioevo e umanesimo, Studi Romani 21, 1973, 160-178, 168 454 cf. oben Anm. 356; Erich Fleischhack, Fegefeuer, Tubingen 1969 455 Ench. 29,109, CC 46, 108 456 In IV. Sent. 21,1 [V] 31, Maria Fabianus Moos ed., Thomas Scriptum super sententiis magistri Petri Lombardi, Parisiis 1947, 4,1050. Ibid. 32: das Purgatorium an verschiedenen Stellen 457 Sent. 4,22 ss, PL 186, 826 ss
102 Die visionaren Raume saepe numero monstratum est, in hoc mundo illam exerceri, et fortassis probabilius erit, ut in iis podssimum locis singulae [sc. animae] poenam sustinere credantur, in quibus culpam commiserunt ...»458 Hiermit waren wir beim zweiten Uberlieferungsstrang uber die Reini- gungsorte, namlich dem, dal? sie eigentlich iiberall auf Erden liegen konnen, wie auch Thomas und Bonaventura zugeben,459 460 461 Dies ist iibrigens eine der nicht zu haufigen Stellen, an denen ein Theologe, Hugo, seine Anschauungen direkt mit nachbiblischen Privatoffen- barungen begriindet, hier mit den in der angezogenen Exempelliteratur so iiberaus oft anzutreffenden Totenerscheinungen. Ich mochte ein paar Beispiele aus der leicht ein eigenes Buch ergebenden Vielfalt der bezeugten Moglichkeiten geben, wo iiberall auf Erden man sich diese Straf- und Reini- gungsplatze, der «animae ad purgationem in hac terra positae»459* vorgestellt hat. Ein bekanntes Predigtmarlein erzahlt die Geschichte von der Seele, die ihre Siinden in Eis eingefroren verbiifien mul?: Es geschah, dal? die Fischer eines gewissen heiligen Bischofs «in dem necze, du czogen sy vff eyn stucke yses. Vnde ez waz by der cziid czu mytten somer ...» Der Bischof «horte in dem yse eyne stymme ... <Ich byn eyn sele eynes men- schen vnde werde gepyneget in duszem yse;> Der Heilige erbarmte sich ihrer und nahm sich vor, sie mit dreifiig Messen zu erlosen. Aber dreimal (die heilige Zahl auch in der neuzeitli- chen Volkstradition) stort der Teufel sein Beginnen, bis schliel?lich das Erlosungswerk gliicklich abgeschlossen werden kann.4<M Die armen Seelen, das ist eine Intention dieses Exempels, sollen mit den Messen, die die Lebenden fur sie lesen lassen, aus dem Fegfeuer losgebetet werden. Das Feg«feuer» ist hier ein schwimmender Eisbrocken. Den namlichen Zweck verfolgt das exemplum «De Hemmerlino, quern s. Thomas Cantuariensis a purgatorio liberavit»: Hemmerlin, eines Ritters getreuer Knappe fallt im Kampfe. Nach drei Jahren erscheint er seinem Herrn in einem Walde: «vidit creaturam miserabiliter versus se velut globum venientem et miserabiliter clamantem. Miles autem coniurando percuncatur, cuiusmodi creatura esset. Cui respondit: Ego sum ... Hemerlinus, ... nimis in flamma crucior. Ad quod miles: Est de te aliqua spes? ... Respondit ille: Sanctus Thomas, episcopus Cantuariensis, tanti meriti est apud deum, quod per suas missas de purgatorio multi sunt liberate [sic!] ...» Als Thomas dann auf des Ritters Ersuchen auch fur diese Seele betet, sieht jener, wie die ganze Kirche von Seelen erfiillt ist, die den Heiligen fur seine Hilfe preisen, und auch Hemmerlins Seele wird vom Erzengel Michael von Sonnenhelle umstrahlt (typisches Zeichen der erlosten Seele) herbeigefiihrt.4*1 Fur diese Seele war der Reinigungszustand also der eines im Walde residierenden Kobolds. Das nachste Beispiel ist vielleicht noch bezeichnender: In der Lebensbeschreibung des heiligen Bischofs Ulrich von Augsburg wird berichtet, er habe einmal mit seinem Amtsge- nossen Konrad von Konstanz an einem Weiher kampiert. «Qui cum sic starent simul colloquentes, viderunt duas aviculas de piscina sursum in aera evolare subitoque se aquis 458 De sacr. 2,164, PL 176, 586D 459 Bautz, Fegefeuor 187 459a Visio Johannis 4, PL 180,181D 460 Carl Reinhold ed., Die Wundergeschichten des Cod. Pal. Germ. 118, Diss. Greifswald 1913, 30; die lateinische Vorlage bei Klapper, Exempla 25 s; cf. Tubach, Index nr. 2717; Os, Visions 242 461 Klapper, Exempla 20 s; cf. oben A. 88a
Irdisches Fegefeuer 103 remergi et voces lamentabiles dare. Quo viso dixit beatus Vdalricus episcopo Conrado: Pium est nos has animas a purgatorio liberare ... Quod et factum est et post missas venerunt deo gracias referentes. Et sic albe et lete ad celestia volauerunt.»462 Das Berner- kenswerte hieran ist, dal? es fur die beiden Bischofe uberhaupt keine Frage ist, was sie von den klagenden Vogeln4*3 halten sollen, sondem ihnen sofort - Wahmehmung und Inter¬ pretation fallen zusammen - klar ist, dal? hier erlosungsbediirftige Seelen gereinigt werden, deren Weg zum Himmel durch die Zelebration von Requien beschleunigt werden kann. Man konnte, wie gesagt, unschwer ein ganzes Buch mit Berichten fiillen, die zeigen, in welchen Gestalten und an welchen Orten im Mittelalter diejenigen Toten ihre Sunden abzubufen hatten, die zwar zu gut fur die Holle, zu schlecht aber vorerst fur den Himmel waren.464 Da gibt es Geister (Seelen), die ihre Gestalt vom Raben zum Torfhaufen, Ketten- hund und zur Geil? wandeln, ehe sie eine wenigstens ungefahr menschenahnliche Gestalt annehmen4*5, als Feuer oder Buschwerk und als Jager erscheinen, Tote, die an ihre Graber gebunden sind usw.466 Was die geographischen Formationen anbelangt, so scheinen die Purgatorien auf der Erde besonders in Talem oder bei einsamen Bergen gelegen gewesen zu sein. Thomas von Chantimpre gibt eine Nachricht uber ein solches Tal in den Alpen, in dem ein ungenannter Adeliger «invenit locum planum, pulchrum valde atque gramineum inter montes, in quo quasi hominem magnum et elegantem forma, facie tenus prostratum videns, duas clavas ferreas ad utrumque iacentis horrentibus oculis intueretur». Er bekommt die Auskunft «ordinatione divina tibi talis appareo, ut in me misero poenitentiae sumas exemplum. Mortuus sum, licet tibi corporalis appaream». Die beiden Keulen sind Werkzeuge zweier Damonen, denen er anheimgegeben ist «usque in diem iudicij cruciandus. Et hodie quidem per ascensum montium istorum miseram animam meam impulerunt et iterum per abrupta eorum earn cum dictis clavis ferreis praecipiter depulerunt».467 Daneben warden eben die Platze, die vorhin als Hollenstatten beschrieben wurden, auch als Purgatorien ausgegeben, wie man denn im Mittelalter Holle und Fegefeuer immer wieder verwechselte. So wurde in der Brandantradition die Insel, die so gezeichnet wird: «Ein grundeloser se / slue die selen stets an. / Uz der wende ein vlut ran, / die was swarz unde kalt. / anderhalbe bran ein wait, / daz von der hitze under stunden / die harte 442 ibid. 21 463 Die Vogelseele ist ein Gemeinplatz im mittelalterlichen Totenglauben, cf. die Literatur bei Dinzelbacher, Alberich 441, dazu: Myles Dillon, Early Irish Literatur, Chicago 1948, 127, 138; Erich, Worterbuch 730 ss; Kamphausen, Traum 933‘; Tubach, Index nr. 4542; Kirschbaum, Lexi- kon 4,141 464 nach Hilarius, Hieronymus, Ambrosius u. a. mussen auch die Reinsten, sogar Maria, durch das Fegefeuer (Bautz, Fegefeuer 73; cf. die apokryphe Apokalypse der Gottesmutter, die in der Ostkirche verbreitet war: KLL s. v. Apokryphen des Neuen Testaments 3); auch die anderen Heiligen sind nicht davon ausgenommen, Helinand v. Froidmont sagt so oder die Visio Tundali 9, cf. unten S. 120 465 A. J. Grant, Twelve Medieval Ghost Stories, Yorkshire Archaeological Journal 27, 1923/24, 363—378, 365 s 466 Tubach, Index nr. 2044, 2024, 4546; Erich, Worterbuch 970 ss; Bonifatius, Ep. 115; Visio Alberici 43,45; Konrad v. Eberbach, Magn. Exord. 5,21 etc. 467 De bon. univ. 2,51, zit. Palgen, Origine 18 s
104 Die visionaren Raurae vlinssteine schrunden.» ja auch als Fegefeuer gedeutet.463 Schon nach Gregor dem Grofien scheinen die Thermen von Citt& S. Angelo in den Abruzzen Bufiorte fiir die Toten gewesen zu sein4*9, und als Odilo von Cluny die Stimmen der Seelen im Feuerberg jammern horte, verstand er diesen Platz nicht als die Holle, als die wir diesen Berg schon kennengelemt haben, sondern als Fegefeuer, weswegen er 998 das Allerseelenfest begriindete: auf Sizilien gab es die beriichtigten «loca flammas eructantia, quae vocantur ab incolis ollae Vulcani, in quibus animae defunctorum luebant... supplicia, ad ea exsequenda deputatis ibi dae- monibus; quorum se crebro voces, iras et terrores, saepe etiam ululatus audisse dicebat [aliquis] ...»468 469 470 Auch von Pozzuoli erzahlte man, dies sei ein Fegfeuerort, wo die Seelen «in concavitate montis sulphurei audiebantur pati...».471 Die Vorstellung vom Purgatorium als Vestibiil der Holle wird hier greifbar. Die im Mittelalter beriihmteste Statte eines irdischen Purgatoriums aber war gewifi das Purgatorium S. Patricii im Lough Derg (Nordirland). Seitdem gegen Ende des 12. Jahrhun- derts die Visionen des Ritters Owen von dort iiber ganz Europa verbreitet worden waren, zog ein steter Strom oft ritterlicher Pilger dorthin, um schon zu Lebzeiten fiir ihre Stinden Bufie zu leisten. Es handelte sich hier um eine kiinstliche Unterwelt, die in vielen Berichten beschrieben wurde und zu deren Statte noch heute jahrlich tausende glaubige Iren wall- fahrten. Da an anderem Ort ausfiihrlich dariiber zu handeln ist, soli hier nicht weiter darauf eingegangen werden.472 Jedenfalls war dies eine ganz reale Hohle, in der man nach langer Vorbereitung eingeschlossen wurde, und die den Zugang zur anderen Welt erlaubte. Was die Visionen betrifft, so ist das Purgatorium wohl die am ausfiihrlichsten in ihnen geschilderte Jenseitslandschaft. Die langsten Visionen, wie die des Alberich, Tundal, Gott- schalk oder Edmund spielen vor allem in dieser Region. Gemeint ist dabei der unterirdi- sche, bei der Holle gelegene Bufiort, keine Statte auf Erden, sodafi ein Versetztwerden des Charismatikers etwa in die Tiefe eines Sees, oder in jenes einsame Tal, von dem oben berichtet wurde, kaum vorkommt. Aber es lafit sich in bezug auf die Lokalisierung auf oder unter der Erde das Namliche sagen, wie bei der Holle: Geographische Fixierungen kennt die Visionsliteratur nicht. Anskar etwa wird von Petrus und Johannes dem Taufer gefuhrt (wo?), «cum pervenissent ad locum quemdam, quern ipse ignem purgatorium esse, nemine narrante, certissime sciebat ...».473 In der Vision des Edmund von Eynsham liest man unter der Uberschrift: «Qualiter venit in primum locum tormentorum»: «Ibamus igitur per planam viam recto orientis tramite quousque pervenimus in regionem quandam spatiosam, nimis visu horrendam, palustri sito et luto in duritiam inspissato deformem. Ibi 468 Schrader, Brandan 74, cf. Rathjen, Hollenvorstellungen 7 s 469 Dial. 4,42 470 Helinand v. Froidmont, Chron. 46, a.a. 998, PL 212,920 nach Sigebert v. Gembloux, Chrongr. a.a. 998, MG SS 6,353, dieser nach Petrus Damiani, Vita Odilonis 10 s, PL 144,936 ss, cf. dort Anm. 134 s 471 Gervasiusvv. Tillbury, Otia Imp. 3,17, Liebrecht, Gervasius 17. Weiteres bei Vladimiro Za- bughin, Quattro «Geroglifici» Danteschi, Giomale storico della letteratura italiana, Suppl. 19-21, 1921, 505-563, 514 s 472 cf. meine Arbeit «Kunstliche Hollen» (in Vorbereitung) 473 Rimbert, Vita 3, MG SS 2, 691
Paradies 105 erat videre hominum infinitam multitudinem...» usw.474 Warum hier das Fegfeuer in Richtung Osten gelegen gedacht wird, in Richtung Jerusalem und Eden also (!), bleibt unerklart. Gottschalk dagegen, von seinen beiden Engeln an den Handen genommen, wird von ihnen «ab aquilone versus meridiem» zu den Reinigungsorten geleitet, die also hier im Siiden gedacht werden. Beide voneineinander unabhangige Berichte von seiner Vision bezeugen dies.475 Die Visionen im Purgatorium S. Patricii dagegen, das ja durchaus auf Landkarten einzeichenbar war, werden von den Visionaren zumeist nicht als etwa im Schlafe erfahrene Schauungen dargestellt, sondern als konkret mit den Augen der Physis Gesehenes, als «visio corporalis» also, wie die mittelalterliche Bezeichnung lautet. Das soil diese Berichte freilich auf eine Stufe hoheren Interesses erheben, als die ekstatisch erlebten Jenseitsfahrten, da hier die grundsatzlich alien Menschen mogliche Aktivitat - man brauchte nur an einen bestimmten Ort zu pilgern - das Ausschlaggebende war, das Han- deln vom Menschen aus also, nicht die von oben nach unerkennbaren Kriterien verteilte Gnade. Paradies 1st in der Heiligen Schrift fiber die Lage der Holle wenig, fiber das Fegefeuer fiberhaupt so gut wie nichts gesagt, so sind Piazierung und Aussehen des Paradieses in der Genesis 2,4 ss deutlich beschrieben476, und es gab im Mittelalter keinen Zweifel daruber, dafi diese Statte in der Landschaft Eden gelegen war. Doch neben diesem irdischen Paradies, und das verkompliziert den Versuch, sich Klarheit fiber die diesbezuglichen mittelalterlichen Vor- stellungen zu machen, gab es auch ein eschatologisches, das mit dem Himmel in eins gesetzt werden konnte (wie offenbar im Lukasevangelium 23,43), und gab es die Verwen- dung dieses Wortes fur den Limbus477, der aber auch wieder mit dem Schofi Abrahams oder anders der Holle identifiziert wurde.478 Da fiber die Anschauungen, die das Mittelalter vom Paradies hatte, mehr als eine materialreiche Arbeit vorliegt479, kann ich mich hier auf einige Andeutungen beschranken. 474 Visio 15, Thurston, Visio 254 475 Visio A 2,2; В 3, Assmann, Godeschalcus 54; 164 476 Die westlichen Kirchenvater hatten Origenes’ Tendenz, auch diesen Ort primar allegorisch zu verstehen, heftig abgelehnt, Lubac, Esegesi 1254 ss 477 KLNM 13, 114 478 ibid. 10, 570 s; 6, 560 479 vor allem Howard Rollin Patch, The Other World, New York "1970; Graf, Miti 1, ix-240; Elisabeth Peters, Quellen und Charakter der Paradiesesvorstellungen in der deutschen Dichtung vom 9. bis 12. Jh. (Weinholds und Vogts Germanisti. Abhandlungen 48), Breslau 1915 = 1975; R. R. Grimm, Paradisus Coelestis, Paradisus terrestris: zur Auslegungsgeschichte des Paradieses im Abend- land bis um 1200 (Medium Aerum 33), Miinchen 1977; Lars-Ivar Ringbom, Paradisus Terrestris: Myt, Bild och Verklighed, Helsingfors 1958; Sabine Baring-Gould, Curious Myths of the Middle Ages, (Boston 1867) London 1897,250 ss; B. Andriani, La forma del paradiso. II sistema del mondo secondo gli antichi e secondo Dante, Padova 1961; Maury, Croyances 175 ss; P. G. M. Gilet, Le paradis terrestre et son image dans la litterature de la premiere moitie du XIIе siecle, Diss. Melbourne 1966; I. de Vuippen, Le paradis terrestre au 3e del. Fribourg, Paris 1925; Schulten, Das Paradies, Zurich 1816; Kirschbaum, Lexikon 3,375-384; Ayer, Paradis geht nur bis ins Fruhmittelalter
106 Die visionaren Raume Dafi auch das Paradies, in dem die Seelen der Gerechten bis zum Endgericht ruhen, auf Erden liege, ist in der Theologie seit den Zeiten der Kirchenvater (Tertullian, Justin der Martyrer, Origenes u. a.) gangige Meinung. Daneben gab es unbeschadet auch die Ansich- ten, es befande sich in einer Region inmitten von Himmel und Erde (Theophil von Antio- chien), oder ware gleich mit dem dritten Himmel, in den der Apostel Paulus entrafft worden war (Irenaeus)480, u. a. Aber der Hauptstrom der Tradition sieht das Paradies auf Erden, und es gibt iiber es wenigstens drei topographische Aussagen, die im Mittelalter immer wiederholt werden: 1. das Paradies liegt im Osten, 2. es befindet sich auf einem hohen Berg und ist 3. von einem Wall aus Gebirgen oder Feuer umzogen. «Paradisus est locus in orientis partibus constitu- tus... Septus est enim undique romphea flammea, id est muro igneo accinctus ...»481 «Е questo e un monte ignoto a tutta gente, Alto che giunge sino al primo cielo, ...»482 Freilich gab es auch hier Autoren, die diese allgemeinen Ansichten wohl referierten, selbst aber nicht bekraftigen wollten, wie etwa Hrabanus Maurus.483 Die mittelalterliche Kartographie bestatigt aber, dafi das oben Gesagte die communis opinio war: «Paradise is in the east, surrounded by wall or mountains, and sometimes cut off by an ocean. The result in general in nearly all our evidence is the same.»484 Dazu gab es noch die «sichere» Evidenz verbiirgter Reiseberichte. Alexander der Grofie hatte das «Iter ad Paradisum» untemommen und von der hohen Paradiesesstadt in Indien einen wunderbaren Stein mitgebracht.485 Brandans Ziel war es gewesen, auf seinen Fahrten die «Terra Repromissionis» zu finden.486 Einer der Paradiesstrome, weifi Joinville zu be- richten, der ja schliefSlich selbst in diesem Land gewesen ist, zieht nach Agypten. Wunder- same Holzer kann man aus ihm fischen: «c’est a savoir gingimbre, rubarbe, lignaloeca et canele [Ingwer, Rhabarber, Aloe, Zimt]; et dit Pon que ces choses viennent de Paradis terrestre, que li venz abat des arbres qui sont en Paradis...»487 Mancher Wanderer freilich, wie die drei mesopotamischen Monche, brachte es nur bis in den Dunstkreis des Gartens Eden, um dann knapp vor dem Ziel auf gottliche Weisung hin umzukehren.488 Auch bei diesem nun sicher auf Erden liegenden Ort bleiben die visionaren Schilderun- gen, so detailreich und liebevoll in ihnen das Paradies an sich gezeichnet wird, von der lagemaSigen Bestimmung des Raumes her, stumm. «Tunc beams Raphael, assumens noui- cium, duxit eum in paradysum» ist alles, was die «Visio Gunthelmi» iiber den Weg dorthin 480 Patch, World 135 ss 481 Isidor v. Sevilla, Etym. 14,32 ss (Ed. wie Anm. 399) 482 Fazio degli Umberti, Dittamondo 1,11, zit. Graf, Miti 1,13824 483 Comm, in Gen. 1,12, PL 107, 476 484 Patch, World 153 485 ibid. 157 s; cf. Tubach, Index nr. 126 466 Literatur dazu KLL s. v. «Voyage de Saint Brendan»; wenn hier das Paradies ungewohnlicher- weise im Westen gedacht wird (Endepols, Bijdragen 81), so in der keltischen Tradition von der dorc angesiedelten Insel der Seligen, Avalon; cf. Patch, World 284; Chambers, Arthur 114 ss, 219 ss 487 Hist, de S. Louis 40, ed. Natalis de Wailly, (Soc. de PHistoire de France 144), Paris 1868, 67; eine ahnliche Geschichte bei Endepols, Bijdrage 82 488 Patch, World 165 ss
Himmel 107 weiE. Dann beginnt schon die Beschreibung: «Quo cum appropinquassent, eleuans noui- cius oculos uidit quasi ciuitatts deauratos muros,...» usw.489 Sicher ist nur, daE das Para- dies hoch liegt: «Ascendamus» fordert der Engel Tundal auf, als sie sich auf den Weg zur silberumgurteten Ruhestatte der Verehelichten machen.490 Oft flieEen Paradies und Him¬ mel in eins: so bei Gerardesca von Pisa, wo diese beiden Bilder zu einer bestechenden Neuschopfung verschmelzen: «... levatus fuit spiritus ejus in caelum, Sc fuit in loco ubi erat quaedam rocca, quae vocabatur Rocca S. Mariae; quae cum sit sita supra montem qui septem milliariis in altum extenditur, quolibet milliari undique quadam platea distincto, a caelesti Curia circumdatur processione aliquando ...» Hier wird aus dem Gedanken des Paradiesesberges ein unterteiltes himmlisches Gebirge, mit einem besonderen Felsen fur die Gottesmutter. Darauf befindet sich die «munitio, septem turres continens» und das «clau- strum B. Bernardi»491, typische Elemente einer mittelalterlichen Stadt. Uber die Lage des Paradieses also sprechen sich die Visionare erstaunlich wenig aus, auch Owen berichtet nichts selber, nur der Aufzeichner seiner «Visionen», der Bruder H. von Saltrey meint «et quod paradisus in oriente et in terra sit, narracio ista ostendit»492 - im Bericht des Ritters selbst aber steht kein Hinweis auf die Lage des irdischen Paradie¬ ses, es sei denn der, daE es sich gerade unter der Himmelspforte befindet.493 Und gerade H. von Saltrey betont besonders, hier handle es sich um «reale» Erfahrungen, und nicht um ekstatische. Diese Affinitat Paradies-Himmelseingang kam ja auch in einer fruhmittelalterlichen Vision zum Ausdruck, wo von der «terra viventium et gaudentium» die Jenseitsbriicke in Form des Regenbogens zum ersten Himmel fiihrt, von dort ein zweiter Bogen zum zweiten, ein dritter zum dritten.494 Himmel494a Beim Himmel hat sich eigentlich nie ein topographisches Problem ergeben. Er ist uber uns, wie schon die in alien westeuropaischen Sprachen (aufier dem Englischen) zu konsta- tierende Identitat vom «materiellem» Himmelszelt und Wohnung Gottes bezeugt: aus *kem - entwickelt sich deutsch Himmel, englisch heaven, skandinavisch himmel, nieder- landisch hemel; aus *kai - entwickelt sich lateinisch caelum, franzosisch del, spanisch/ italienisch cielo..., jeweils beide Bedeutungen enthaltend. Der Himmel wird zwar nach seinem Aussehen vielfach beschrieben, aber etwaige Versuche, ihn in einer besonderen Himmelszone oder Himmelsrichtung zu lokalisieren, sind nicht allgemein anerkanntes Gedankengut gewesen. Oft wird er unterteilt vorgestellt, des Apostel Paulus drei Himmel 489 Constable, Gunthelm 108 490 Vis. 18, Wagner, Tnugdal 45 491 Vita 6,55, AASS Mai 7, 1688, 176F 492 Tract., Prol. Jenkins, Espurgatoire 13 493 ibid. 16, ed. cit. 58 494 Bonifatius, Epist. 115, MG Epist. sel. 1, 248; cf. Dinzelbacher, Jenseitsbriicke 103 ss 494a Joseph Bautz, Der Himmel, Mainz 1881; U. E. Simon, Heaven in the Christian Tradition, London 1959; Kirschbaum, Lexikon 2 s.v.
108 Die visionaren Raume (2 Kor. 12,2), die sieben Himmel der Apokryphen495, vermengt mit den antiken Planten- spharen, die die Engel mit Kurbeln in Bewegung halten.496 Ahnlich realistische kosmologische Ausmalungen finden sich ja auch - sehr vereinzelt allerdings — in den visionaren Quellen. So erblickt Gunthelm einen Engel «ab oriente in occidentem solem ducentem et reducentem», der als «ductor solis et rector apparuit».497 Johann von Luttich kann die Himmelsspharen genau beschreiben, deren grofite ist oval, zweimal so lang wie breit usw.498 In der «Divina Commedia» spielt diese Unterteilung eine bekannte Rolle, Dante durch- steigt die zehn Himmel bis er zur Anschauung der Gottheit gelangt, die nicht mehr be- schreibbar ist: «Da quinci innanzi il mio veder fu maggio / che’ *1 parlar nostro, ch’a tal vista cede, / e cede la memoria a tanto oltraggio.»499 Die haufigsten Darstellungen des Himmels sind als Stadt (als Himmlisches Jerusalem der Apokalypse), auf einem Berg gelegen500, als Kirche und, in Verschmelzung mit dem Paradies, als wundersame Landschaft, in aufierster Uberhohung des «locus amoenus» ge- geben. «Daz wunnesamme himilriche»501 ist oft in mittelalterlichen Dichtungen besungen worden, es ist «Diu himilisge gotes burg diu ne bedarf des sunnen nob des manskimen da zeliehtenne. in ire ist der gotes skimo der sie al derluhtet... Siu stat in quaderwerke ... Siu ist in iro strazzon daz rotlohezonte golt ...»502 Als der Miniateur des Liber Floridus von St. Bertin das «Jherusalem Celestis» darstellen soil, wahlt er dafiir unter dem Eindruck des typologisch als Vorbild verstandenen Salomonischen Tempels eine romanische Kathedrale als Bild.503 Die beiden apokalyptischen Baume deuten in San Pietro bei Civate den Him- melsgarten an.504 Dafi man in den visionaren Quellen die Ortsangaben uber das Himmelreich finden konnte, die in Texten anderer literarischer Genres nicht enthalten waren, wird wohl nicht erwartet werden. Das nicht weiter reflektierte Oben dieses Bereiches wird anschaulich in der Vision Laisrens formuliert: Laisren schaut in seinem visionaren Traum «the church open above towards heaven, and two angels taking the soul between them and rising into the air».505 Freilich gelingt ihm der Aufstieg nicht, er mufi zuerst in die Unterwelt.506 495 cf. Dinzelbacher, Jenseitsbriicke 20285; Ayer, Paradis 113 ss; Hans Bietenhard, Die himmli- sche Welt im Urchristentum und Spatjudentum, Tubingen 1951 496 so auf bildlichen Darstellungen, z. B. Champeaux, Symboles 15 497 Constable, Gunthelm 111 498 Visio 6, PL 180,182D 499 3, 33,55 ss 500 z. B. Cursor Mundi; zit. Os, Visions 166 501 cf. KLL s.v. «Himilriche» 502 «Himmel und Holle» (2. H. 11. Jh.), Wilhelm, Denkmaler, Textband 31, cf. KLL s.v. (man¬ skimen = Mond-scheines) 503 Otto von Simson, The Gothic Cathedral (Harper Torchbook 2018), New York, Evanston 21964, 11; cf. Hans Jantzen, Kunst der Gotik (rowohlts deutsche enzyklopadie 48/49), Hamburg 61966, 151 ss 504 Hubert Schrade, Die romanische Malerei, Ihre Maiestas, Koln 1963,82,128 (Gewolbemalerei 2. Halfte 12. Jh.) 505 Vision 2, Meyer, Stories 116 50$ Die Vision ist nur fragmentarisch erhalten; der fehlende Rest umfafite wahrscheinlich eine Himmelfahrt des Heiligen
Himmlisches Jerusalem 109 Es ist immer wieder das Bild vom himmlischen Jerusalem, das von den mittelalterlichen Visionaren als die Himmelsschilderung gegeben wird. Ich zitiere nur aus den Visionen Gerardescas von Pisa: «dum... anima ejus portaretur in caelum, cum txansiret planetas caeli, vidit ingentem planitiem, quae vocabatur comitatus Ierusalem sanctae civitatis: & erat ibi castrorum mirabilis multttudo, & viridaria pulchra valde... In medio itaque comitatus hujus extat Ierusalem sancta, sublimis & pulchra valde... Et erant per gyrum arces septem, venustate decorae...»507 Das ist die Stadt der Apokalypse, verwandelt in einen oberitalienischen Stadtstaat des 13. Jahrhunderts, mit Territorium («comitatus») und Burgen, man denkt an Bellinzona, wie es noch heute zu sehen ist, die Stadt mit ihren Befestigungen auf den Bergen, oder an Simone Martinis beruhmtes Gemalde des Guidoric- cio da Folignano in Siena50® mit den Hohenburgen, die unter die BotmafSigkeit der «Stadt der Jungfrau» gekommen waren. Gerade bei dieser Vision ist aber noch auf ein interessan- tes Detail hinzuweisen: die von der Heiligen nur fluchtig erwahnten Planetenspharen. Hier sind sie wenigstens en passent in das Weltbild eingebaut, iiblicherweise spielen sie aber in visionaren Himmelsfahrten kaum je eine Rolle. Eine Ausnahme bildet die eben genannte (in bezug auf ihre Erlebnisechtheit etwas zweifelhafte) Vision des Johannes von Liittich, der bei seinem Aufstieg durch die Lufte — den Himmel selbst erreicht er nicht - auf die Mondsphare prallte, von der die Damonen abstiirzen, getroffen vom Klang der Spharen- stimmen «Quis respondebit tribulanti?»509 Auf seine Frage «de contentu coeli» zeigt ihm sein Patron Laurentius auch die Sphare «coloris aurei non adeo rotunda, sed longa et ductilis ... quae rotunditas licet duplo longior quam latior in ilia coelestis orbis effigiatione apparebat, volvebatur celeritate grandi...» Spharenharmonien erklingen von ihr.510 Wohl nicht ganz zufallig erinnert sich Johannes der Naturlehre Bedas in diesem Zusammen- hang.511 Fassen wir zusammen: Oben und Unten, Himmel und Holle, das sind die Raume, in die sich die meisten Visionare versetzt sehen. «Eg hev vori meg upp mx sky £ neatt pi svarte dikji; eg hev set at heite helvite a ein deil av himerikji. For m£nen skin’e, £ vegjine fadde so vie.»512 (Ich bin oben bei den Wolken gewesen / und unten in dunkler Lache / ich habe in die heifie Holle gesehen / und einen Teil des Himmelreiches. / Denn der Mond scheint / und die Wege fallen so weit) driickt es die poetischste unserer Visionen aus. Diese Richtungsangaben, 507 Vita 4,34, AASS Mai 7, 1688, 171 s 508 cf. Gianfranco Contini, Maria Cristina Gozzoli, L’opera completa di Simone Martini (Classi- ci delParte 43), Milano 1970, nr. 23 509 Visio 3, PL 180, 180 510 ibid. 6, ed. cit. 182 511 I.c.; cf. etwa Beda, de nat. rer. 5 ss, CC 123A, 196 ss 512 Draumkvaede R 10, Мое, Skrifter 253
110 Die visionaren Raume oben und unten, sind eigentlich im allgemeinen die einzigen kosmographischen Angaben, die die Visionare liefern. Meist wird zwar von einem Weg in die regna der anderen Welt gesprochen, nicht aber von ihrer Lage. Die Vision Orms schildert vielleicht noch am plastischsten dieses «oben» und «unten»: «Et repente super sydera perduxit me [sc. S. Michael], et cum elevarer in nimiam celi altitudinem, ecce solem et lunam et Stellas a longe positas subtus me video, que illinc multo maiores mihi videbantur quam hominibus appa¬ rent. Venimus itaque ad portas celi... »513 Hier ist sogar ganz logisch die Perspektive eingebracht (immerhin fruhes 12. Jahrhundert), die Gestirne, der natiirUche Himmel, sind weit unter ihm, aber doch, da naher als auf Erden, grofier. Beim danach erfolgenden Abstieg zum Infemum heifit es «Post hec predictus angelus ductor meus ... descendit de celo et duxit me in oblico subtus mundum, ad vallem profundissimam... »514 Unter der Welt liegt die Holle, das geht auch aus «descendere» hervor, ein Verb, das fast immer beim Abstieg in die Unterwelt verwendet wird. Orm darf dann noch das Paradies sehen: «Post hec ductor meus eduxit me de lacu miserie et a regione umbre mortis515 ab aquilone semper ascendendo ad meridinam plagam solis».516 Dal? die Holle im Norden liegt, ist, wie ange- deutet, allgemeine Vorstellung, das Paradies hier aber im Siiden anzusetzen517, ist nicht aus der biblischen Tradition verstandlich, sondern blol? aus der Gegenstellung zur mitter- nachtlichen Unterwelt. Allerdings gab es eine Bibelstelle, die ein topographisches Nebeneinander der himmli- schen und hollischen Regionen nahezulegen schien: es ist die vielzitierte Parabel vom armen Lazarus und dem reichen Prasser (Luc. 16,19ss). Nach dem Tode heifit es vom Reichen ja «sepultus est in inferno. Elevans autem oculos suos, cum esset in tormentis, vidit Abraham a longe et Lazarum in sinu eius...», woraus man offenbar, nicht unver- standlich, eine Lage der Holle und des Schofies Abrahams (bald als Limbus, bald als Himmel identifiziert) in Sichtweite erschlossen hatte. Die antike Auffassung vom Neben¬ einander von Hades und Elysium518 wird eine solche Auslegung noch begiinstdgt haben. Man mul? sich vergegenwartigen, wie solche Vorstellungen dem Volk gepredigt wurden. In Exegese eines Gregor entnommenen Satzes erklart ein suddeutscher Prediger: «Justi sem¬ per intuentur iniustos in tormentis. ut hinc eorum gaudium crescat... un so si ier marter ie me un ie me sehenU so ier fr8wde ie gr8zer un ie gr8zer wirt. wan swenne si den grozen amer also an in sehent. so muzen si sich frSwen, un muzen got loben. dc er si mit siner erbermherzechait vor der ewigon marter so reht genedeclichen hat behutet. Wan sihestu vater un muter, bruder un swester. wip un kint un alle dine friunde brinnen un braten. sieden un r8sten in der bitteron belle. da von wirstu niemmer ungemut.» Hierauf folgt eben die Berufung auf die oben genannte Parabel Jesus.519 Ein Theologe wie Honorius von Augustodunum mufite ausdriicklich dagegen Stellung nehmen, aus solchen Schriftzitaten 513 Visio 3, Farmer, Orm 78 s 514 ibid. 4, ed. cit. 79 515 Ps. 39,3; 106,14 516 cf. Ez. 47,2 u. 19 517 Visio 5, ed. dt. 80 s 518 cf. z. B. Vergil Aen, 6,268 ss; Tertullian, apol. 47 519 Grieshaber, Predigten 41; cf. zum Thema Dinzelbacher, Reflexionen 31s
Raumliche Nahe der Straf- und Gnadenstatten 111 auf eine reale Nahe zu schlieSen; anlafSlich Prov. 14,19 «Jacebunt mali ante bonos, et impii ante portas justorum» bekraftigt er «Attamen quod dicit, non ad vicinitatem loco- rum pertinet, quoniam boni et mali non sibi erunt tunc vicing sed pertinet ad visionem bonorum, quoniam boni semper videbunt tormenta malorum, ut Deo liberatori suo majo- res sine fine referant grates».5194 Eben dies ist aber nun interessanterweise eine Vorstellung, die anscheinend recht oft in die Visionen eingegangen ist; allerdings mit dem Unterschied, dafi nicht nur die Holle und der Himmel, sondern auch die Reinigungsorte und die Paradiesesgefilde relativ eng be- nachbart gedacht werden. Eine Reihe von Visionaren betont die Kiirze des dazwischenlie- genden Weges. So Drycthelm: er folgt seinem Fiihrer aus dem Fegefeuer zu den «beatorum mansiones spirituum» und bemerkt dabei: «Nec mora, exemtum tenebris in auras me serenae lucis eduxit»520; Rotchar sieht die Jenseitsspharen als einzelne Hauser (nach Joh. 14,2), wobei sich die hafiliche Behausung der Sunder unter dem Palast der gottlichen Majestat befindet, eine Beschreibung, die ein raumliches Beieinander nahelegt.521 Der zwei- te Monch von S. Vaast erlebt den Ubergang von der Unterwelt zum Himmel ziemlich abrupt: «Exeuntes vero inferni stationes et penarum loca ex adverso deorsum, totius pads luds et quietis accommodum praeminentis montis superabant verticem ipsum, ubi per amenissima circumquaque spacia pro unius cuiusque merito in etemam requiem mansura edificabatur mansio.»522 «Indem» (Partizip) sie die Hollenstatten verliefien, gelangten sie auf den Paradiesesberg. Die Unterwelt liegt wiederum konkret unter («deorsum») dem Gottesreich. Im Tundal heifit es von der Wanderung zwischen Qual- und Ruheorten eindeutig «et cum non longe pergerent, fetor evanuit et destructis tenebris lux apparu- it...», was den Beginn des «campus letitie» ankiindigt, vor dessen Umzaunung allerdings noch manche biifiende Seelen auf Einlafi barren.523 In Gottschalks sehr eigenwilligem Gesicht sind Himmel und Holle offenbar auch nicht allzuweit voneinander entfemt ge¬ dacht, denn sie sind durch den Knotenpunkt eines Dreiweges verbunden. «Prima igitur via, que a dextris erat, sursum ad celum ducebat, media ad occidentem tendebat, tercia, que a sinistris erat, deorsum ad inferos descendebat.»524 Nicht direkt auf diesem untersten Weg, sondern zwischen ihm und dem mittleren, muE der Visionar in die Holle absteigen; doch der Weg kann nicht lange sein: jedenfalls, wie aus der Uberschrift von Kapitel 8 und dem Schlufisatz von Kapitel 9 hervorgeht525, kiirzer als eine Tagesstrecke. Von der Weg- kreuzung erreichen sie die Holle «viam aliquamdiu gradientes».526 Da jener Punkt offen- sichtlich in der Mitte zwischen Flimmel und Holle gelegen ist, sind diese beiden Raume rund einen TagesfuSmarsch (Gottschalk mufi immer durch das Jenseits gehen, wahrend- dem manch anderer Visionar, wie Furseus, von Engeln getragen wird) weit voneinander 5194 Quest, et resp. 14, PL 172, 320B 520 Beda, Hist. eccl. 5,12, Plummer, Baedae 307 521 Wattenbach, Petersburg 73 522 Hugo v. Flavigny, Chron. 2, MG SS 8, 389 523 Visio 15, Wagner, Tnugdal 40 s 524 Visio В 8,2, Assmann, Godeschalcus 170ss, cf. A 14 ss 525 «De facto secunde diei» - «Et hie quoque secunde diei terminus completus est.», ibid. В 8 s 526 ibid. В 9
112 Die visionaren Raume entfemt. Die in der christlichen Literatur und Kunst ja sehr haufig anzutreffende Vorstel- lung vom engen, steinigen Weg zum Himmel, dem der breite und schone Weg zur Holle entgegengesetzt ist527, hat Gottschalk in sehr logischer Weise umgestaltet: der Weg zum schonsten Denkbaren, dem Himmel, mufi naturlich prachtvoll und leuchtend sein, der zur Statte des Grauens schmutzig und schmal. Aber in der ursprfinglichen Anordnung finden wir dieses Bild in visionarer Konkretisierung der Parabel zum Beispiel in einer Schauung der Ida von Nijvel: auf einem Berg liegt eine Feste, der «locus beatitudinis», enge Wege ffihren hinauf, die als die Monchsregeln gedeutet werden. Eine breite Strafie fiihrt dagegen zum Infernum, das die so gewohnte Form eines tiefen Tales zur Linken der Burg hat. Was uns hier interessiert, ist die bei Ida (wie bei alien anderen diesen Wegvisionen) zugrundelie- gende Idee, daf? das himmlische Jerusalem und die Statte des ewigen Todes nicht weit auseinander liegen: die Holle liegt gleich «a sinistro latere castri».528 Dies sind nur einige Belege, wie sehr sich die Nahe der eschatologischen Orte nun als schaubare Topographie innerhalb der Visionsliteratur durchgesetzt hat. Denkt man wei- ters an all die vielen Visionen, die vom Feuerstrom sprechen, der die Peinorte von den Wohnstatten der Geretteten scheidet, denkt man an die vielen Texte, die von einer Briicke fiber diesen Strom sprechen529 und deren Lange bisweilen sogar in irdischen Mafien ange- geben wird: einmal tausend Schritte, dann zwei Meilen fur die beiden Brficken im Tun- dal530, so wird man sich davon ein Bild machen konnen, wie direkt die visionare Geogra¬ phic oft die eschatologischen Raume beieinander ansiedelt.531 Dies ware also ein Punkt der Korrespondenz der allgemeinen mittelalterlichen Anschauungen mit den in Ekstase ge- schauten Situationen; er betrifft aber nur die Polaritat der entgegengesetzten Raume (oben - unten - beieinander), sagt jedoch nichts fiber ihre Lage auf unserer Welt bzw. im Kosmos aus. Mischformen Wenn wir untersuchen, nach welcher topographischen Anordnung die Jenseitsreiche in den Visionen geschaut werden, dann ist noch auf eine Sonderform hinzuweisen, die der irischen Tradition anzugehoren scheint. Hier tritt namlich eine m. W. aus nichtvisionaren Quellen nicht bekannte Mischung zwischen Straf- und Ruheorten auf, die eine Differenzie- rung in separat lokalisierte - wenn auch moglicherweise eng benachbarte - Bereiche der anderen Welt in gewissem Mafie wieder aufhebt. In der Form, in der «Fis Adamnain» 527 Das Motiv geht offenbar von einigen biblischen Parabeln aus: Luc. 13,23 s; Math. 7,14; bes. 4 Esra 5 (7), 6 ss; cf. Dinzelbacher, Jenseitsbrucke 14 ss, 168, 179 s; Wolfgang Harms, Homo viator in bivio (Medium Aevum 21), Munchen 1970 528 Vita 18, Henriquez, Virgines 244 s 529 cf. Dinzelbacher, Jenseitsbrucke pass. 530 Visio 6; 8 531 Einige Visionen, wie die einer Christina Mirabilis oder eines Barontus, Wetti, William, Hein¬ rich v. Ahom etc. lassen keinen sicheren Schlufi zu; von einer langeren Reise zwischen dem unmittel- bar hintereinander beschriebenen «Oben» und «Unten» ist jedenfalls nichts gesagt
Mischformen ИЗ iiberliefert ist532, werden Strafen namlich in den Himmeln durch die heiligen Engel an den Siindem vollzogen, was sonst die Aufgabe der Teufel in der Holle bildet. Im ersten Himmel sitzt der Erzengel Michael an der Pforte and beaufsichtigt zwei andere Engel (?), die die Sunder mit Eisenstangen schlagen. Ariel bewacht den nachsten Himmel; seine Gefahrten peitschen die Aufsteigenden mit feurigen Geifieln in die Augen. Vor dem dritten Himmel nimmt ein Feuerofen die Sunder fur zwolf Jahre auf. So geht es weiter mit Feuerflussen, Feuerwanden, Feuerwirbeln usw., bis die Erwahlten genugsam gereinigt sind - die Sunder aber dem Teufel iiberantwortet werden konnen.533 Nun gibt es hier durchaus noch eine Holle und dazu noch eine zweite, siebenmal schrecklichere Holle, die erst nach dem Endgericht bevolkert werden wird534, aber die Himmel erfullen hier die Funktion des Purgatorium; Himmel und Fegefeuer sind eins. Vergleichbar ist, was der irische Ritter Tundal aus dem «campus letitie», also einer eindeutig paradiesischen Region, in der sich auch der Brunnen mit dem Lebenswasser der Geheimen Offenbarung findet, zu berichten hat: dort gibt es ein aus Gold und Silber erbautes Haus, wo der Konig Cormac auf goldenem Thron residiert. Von alien Seiten werden ihm Geschenke dargebracht. Plotzlich verfinstert sich das Haus, und Tundal «vidit ipsum regem in igne usque ad umbilicum».535 Jeden Tag verwandelt sich so der Palast fur drei Stunden in einen Folterkeller. In dieser Ambivalenz seines Palastes, der einerseits Ort der Belohnung seiner Guttaten ist, und ebenso Siihnstatte seiner Vergehen (Ehebruch, Anstiftung zum Mord), scheint eine speziell irische Vorstellung zum Ausdruck zu kommen. Die irischen Visionare sind nun allgemein sehr stark von der letztlich judischen Literatur der Apokryphen beeinflufit.536 Dort finden sich auch Texte, in denen von der Existenz von Strafstatten in den einzelnen Himmeln die Rede ist537; in der griechischen Baruch-Apokalypse zum Beispiel werden unter der wieder- holten Uberschrift «Der dritte Himmel» die Schrecken der Unterwelt geschildert.538 Parallel dazu geht in den irischen bzw. irisch beeinflufiten Visionen eine Tendenz, die topographische Trennung der Jenseitsbereiche zu verwischen. Jenseitsvisionen, die sicher nicht auf insularen Motiven aufbauen, wie die Karls III., der Christina Mirabilis, der Ida von Nijvel, Mechthilds von Magdeburg, Geradescas von Pisa usf. scheiden die positiven und negativen Landschaften ublicherweise streng voneinander. Tundal dagegen fuhrt vor dem genannten «Feld der Freude» einen Zwischenbereich ein, wo die «mali, set non valde» zwar noch an der Paradiesesmauer sitzen, aber doch schon das Himmelslicht haben und aufier Hunger und Durst keine Foltem erdulden. Diese Region gehort zwar einerseits noch zu den Straforten, ist andererseits aber schon Vestibul des Gottesreiches.539 Auch die 532 namlich wahrscheinlich als Kontamination zweier urspriinglich getrennter Texte, cf. Seymour, Adamnan pass.; dagegen (wenig iiberzeugend) David N. Dumville, Towards an Interpretation of Fis Adamnan, Studia Celtica 12/13,1977/8, 62-77 533 Fis Adamnain 15 ss 534 ibid. 30 535 Visio 18, Wagner, Tnugdal 44 536 McNamara, Apocrypha 126 s erwahnt den Tundal zwar unter den apokryph beeinflufiten irischen Werken, gibt aber keine Spezifizierungen; uber mogliche Quellen Adamnans ebd. 537 worauf in diesem Zusammenhang zuerst Seymour, Visions 160 hingewiesen hat 538 Riessler, Schrifttum 43 ss; weiteres bei Bietenhard, Welt (wie Anm. 495) 205 ss 339 Visio 15
114 Die visionaren Raume unbedingt aus der irischen Tradition schopfende italienische «Visio Alberici» zeigt ein solches Verschleifen: hier befindet sich im Fegfeuer ein brennender Pechflufi, von einer veranderiichen Briicke iiberspannt, deren Aufgabe es ist, die Sunder so lange hinabsturzen zu lassen, «donee in morem camium excocti et purgati, liberam habeant transeundi pontis facultatem».540 Wenn man aus vielen Texten die phanomenologische Bedeutung dieser Jenseitsbriicke rekonstruiert, so wird klar, dafi sie der schwierige Ubergang von einem Jenseitsreich zu einem anderen ist, so wie der Feuerflufi die Grenzscheide zwischen zwei Welten.541 Im Alberich aber folgt auf diese Briicke eine weite Ebene, die so voil von Dornen ist, dafi man nicht einen Fufi dazwischen setzen kann. Dadurch wird die arme Seele von einem drachenreitenden Damon so lange gehetzt, «donee emundata a peccatis, levior efficiatur eius fuga, et expeditius fugiat inimicum persequentem» und dann in die Paradie- sesbezirke des Jenseits iibergeht.542 Flufi und Briicke bilden in den mittelalterlichen Jenseits- beschreibungen regelmafiig die Grenze zweier eschatologischer Raume (wie ja auch die Grenzen auf Erden sehr oft mit Fliissen parallel laufen); jenes Feld liegt aber schon hinter dieser Grenze, also in einem eigentlich schon dem Paradies zugehorigen Raum; zwischen ihm und dem «Campus, splenditus, suavis ac decorus» gibt es keine Scheidelinie. Seine Funktion ist bereits von dem Flufi erfiillt worden: Reinigung der Seelen. Also haben wir auch hier ein Heriiberragen der Strafregionen in die Gnadenbezirke, das an die irischen Visionen erinnert. Ein bekannter Literaturhistoriker des Mittelalters hat einmal en passent bemerkt: «One great beauty in the stories of these visions is that they are indeed explorations of untravel¬ led countries: they are not bound by conventional theories, nor are they mere repetitions of teaching.»543 Dies konnten wir bestatigen. Wenn nun die nicht visionaren Quellen Paradies, Fegfeuer und Holle teilweise sehr konkret auf und unter der Erde lokalisieren, warum finden sich in den Visionsberichten summa summarum doch so wenig Anklange an diese kosmographischen Vorstellungen? Gerade darin konnte man vielleicht ein Indiz der Echtheit so vieler mittelalterlicher Jenseits visionen erblicken: der Weg zur Holle wird eben nicht «real» durch einen Vulkanschlund hinabgegangen, sondem der Charismatiker findet sich in die andere Welt versetzt. Die Wanderungsschilderungen setzen meist erst nach dem Ubergang ins Jenseits ein, die Nahtstelle zwischen normalem Umraum und visionarem Raum wird meist ohne weitere Kommentare passiert. Gerade zweifelsfrei echte Visionen, wie zum Beispiel die der Elisabeth von Schonau, die nicht nur im Text der Charismatikerin selbst vorliegen, sondem auch von aufieren Zeugen bestatigt werden, haben immer wieder diesen plotzlichen Ubergang: «... visum est mihi, quasi abstraheretur spiritus meus a cor- pore, ac sublevaretur in altum. Vidi autem in illo excesscu meo celos apertos ...».544 Man weifi zwar, dafi die anderen Welten nach der theologischen und homiletischen Literatur dort oder dort zu suchen seien, aber man erlebt dies nicht, oder solche Vorstellungen spiegeln sich nur in Ansatzen im ekstatischen Erleben. Das macht aber die mittelalterlichen 540 Visio 17, Inguanez, Cod. 93 541 Dinzelbacher, Jenseitsbriicke 171 ss 542 Visio 19 s, Inguanez, Cod. 95 543 Ker, Ages 52 544 Visiones 1,41, Roth, Visionen 21
Symbolische Raume 115 Visionen moglicherweise vergleichbar mit gegenwartigen, wo j a die eschatologischen Orte im allgemeinen nicht mehr in die irdische Welt einbezogen sind. Symbolische Raume Neben den genannten vier eschatologischen Raumen (wobei wir Abrahams Schofi und den Limbus puerorum wegen der Seltenheit ihres Vorkommens nicht behandelt haben) gibt es nun auch visionar geschaute Raume, die kein Pendant in anderen Quellen haben und die wir «symbolische» nennen wollen, weil sie sehr oft die als raumliches Bild ge¬ schaute Verdinglichung eines an sich abstrakten Sachverhaltes sind. Es sind offensichtlich Raume, die nicht auf Erden liegen, sondern in einfach nicht naher umschriebenen Zwi- schendimensionen zwischen dieser und der himmlischen Welt. Es gibt keine Aussage der Charismatiker dariiber, wo sie in solchen Ekstasen waren, einfach, weil sich ihnen das Problem nicht stellte: sie waren dort, genauso real in ihrem Erleben, wie fur andere ein Besuch San Jagos oder der Heiligen Stadt. Einige Beispiele: «Jc sach enen groten berch, die hoghe was ende breet, ende van onseggheleker scoendere ghedane; tote dien bergheghingen .v. weghe hoghe staen, die alle dien edelen berch op ghinghen ten hoechsten sittene, dat daer bouen was. Maer si ghinghen hoghe ende noch hoghere ende meer hoghere ende alder hoghest, Soe dat hi selue die hoechste was gheheel ende dat hoechste wesen selue. Ende ic wart op ghenomen ende wart gheuoert op dien berch.»545 Also da ist eine Landschaft: ein Berg, grofi und breit und schon. Darauf gibt es Wege, die verschieden hoch liegen. Der Berg ist betretbar, die Visionarin wird darauf gefiihrt. Dafi dieser Berg im folgenden symbolisch ausgedeutet wird, ist kein Grund, die Bildhaftigkeit dieses Gesichtes zu leug- nen. Es heifit namlich weiter: «Daer saghic een anschijn van eweleker ghebrukenessen546, daer alle die weghe in inden, ende daer alle die ghene, die de weghe vollbrachten, .J. in worden.» Alle Wege und alle die sie wandem werden also eins in dem Antlitz der Gottheit - hier tritt Hadewijch aus dem Bild heraus und der Rest dieser Vision ist eher Wortoffen- bar ung. Aber das andert nichts daran, dafi, wenn wir den Text emst nehmen, die konkret bildliche Schau am Anfang steht. Doch wo sollte dieser Berg liegen? Am ehesten wird man noch einen femen Reflex des Paradiesesberges annehmen diirfen, aber es ist ein nicht naher beschriebener, symbolischer Raum, der (woruber die Visionarin kaum reflektiert haben wird) gewifi nicht in unserer Welt zu finden ist — wie dagegen die Holleneingange oder das Paradies sehr wohl. Die folgende Vision der Mechthild von Hackebom ist durchaus allegorisch und den- noch so detailliert, dafi man nicht zweifeln kann, dafi sie jenen Raum bildlich als Raum gesehen hat: «... vidit protinus Cor divinum quasi mutatum esse in domum magnam aurei coloris, et Dominum in medio Cordis sui ipsius, velut in domo speciosa ac deliciosa deambulantem. Quod ilia admirans, et qualiter hoc fieri posset apud se pertractans, intel- lexit Dominum sibi decentem: «Nonne recolis illud Psalmi: Perambulabam in innocentia 545 Hadewijch, Visioenen 8, Mierlo, Visioenen 1,83 (unter Hinzufiigung der Interpunktion) 546 dt. «Genu6» ist zu blafi; cf. im Lateinischen den (etymologisch verwandten) «usus-fructus» und die «fruitio»
116 Die visionaren Raume cordis mei, in medio domus meae?547 ... Conspexit etiam in ipsa domo quatuor virgines pulcherrimas, quas agnovit esse virtutes: scilicet, humilitatem, patientiam, mansuetudinem et charitatem, quae caeteras elegantia sua praecellens vestitu viridi praefulgebat.... admi- rans requisivit a Domino quamobrem charitas crebrius in viridi appareret.»548 Das eben ist ein wesentliches Moment visionaren Schauens, dafi Abstrakta verbildlicht werden. Ein Satz des Alten Testaments wird hier geradezu «verfilmt»: Jesus spaziert in seinem eigenen goldenen Herzenshaus hin und her. Die Tugenden sind elegant gekleidet, Mechthild sieht die Nachstenliebe wirklich als Madchen in Griin und erkundigt sich nach diesem Gewan- de. Gerade in den Visionen weiblicher Charismatiker spielen ja Kleidung und Schmuck, bis ins Detail geschildert, oft eine nicht unbedeutende Rolle. Man lese einmal die Beschrei- bung der Kleider der Konigin und ihres Gefolges in Hadewijchs neunter Vision oder Ahnliches; Benz bemerkt dazu, nachdem er einige fast allzumenschliche Beispiele aus der Neuzeit gegeben hat: «Die grofie Rolle, die das himmlische Kleid in den Visionen der mystischen Frauen spielt, zeigt die sehr konkreten, realistischen Voraussetzungen, die dieses Bild in der Welt der visionaren Anschauungen hat. Sie zeigt auch, dal? fur eine Frau, auch wenn sie eine Nonne ist und eine Vision hat, ein Kleid immer ein Kleid bleibt, und in der Vision die himmlische Gewandung in Form einer recht vielgestaltigen und vielfarbigen Garderobe auftritt.»549 Bei der Mitteilung der Vision dann war sich die Mystikerin sicher dessen bewufit, dafi solchen Dingen eigentlich eine solche Bildhaftigkeit nicht zukommt: das gottliche Herz verwandelt sich «gleichsam» in ein Haus, in dem sich Jesus «wie» in einem Haus ergeht. Aber gerade, dafi sie sich wundert, wieso denn so etwas uberhaupt sein kann, weist auf die Konkretheit ihrer Vision hin, genauso wie die Beschreibbarkeit einer der Madchen als besonders elegant in Griin gekleidet. Dieses goldene Haus, das aus Jesu Herzen entstanden ist, ware also ein solcher, sicher unirdischer, symbolischer Raum. Noch ein solches konkretes Beispiel: als der heilige Franzikus krank darniederlag, pfleg- te ihn Bruder Leo; dabei «factus in extasi, ductus est ad maximum quoddam flumen et impetuosum et latum. Ubi quum aspiceret transeuntes, vidit aliquos fratres oneratos ingre- di dictum flumen. Qui statim ab impetuositate dicti fluminis subvertebantur, et absorbebat eos vorax profunditatis. Aliqui ibant usque ad tertiam partem fluminis et peribant, aliqui usque ad medium, alii usque ad finem... Et ecce subito apparuerunt aliqui fratres sine aliquo onere vel sarcina omnis rei, in quibus sola paupertas relucebat. Et intrantes flumen transibant sine aliqua laesione.»550 Franziskus legt dieses Gesicht dann wie zu erwarten aus: im Flufi, das heifit in der Welt, gehen die Monche zugrunde, die dem Armutsgelubde nicht folgen. Leo’s Vision bringt das grofie Selbstwertgefiihl der neuen Monchsgemein- schaft gegenuber den alten, reich und habgierig gewordenen Orden also sehr augenfallig zum Ausdruck. Aber wiederum: das ist ein ganz beschreibbarer, reifiender und breiter Strom, an den der Bruder gefuhrt wird. Ungeachtet seiner allegorischen Qualitat als bose 547 Ps. 100,2 548 Lib. spec. grat. 2,21, Monachi, Revelationes 2, 160 549 Vision 352. Wir konnen diese Beobachtung unschwer durch weitere Beispiele stutzen: Getrud v. Helfta, Leg. div. piet. 4,28; Mechthild v. Hackebom, Lib. spec. grat. 2,38; 3,52; 4,2 s; cf. 1,15; Ivetta v. Huy, Vita 23,68; usw. 550 Actus B. Francisci 59,1 s, Sabatier, Actus 178
Irdische Raume 117 Welt steht der Visionar an seinem Ufer und schaut den watenden Briidern zu. In seiner Ekstase war der Minorit also in einen «real-visionaren» Raum gefiihrt worden, betretbar zwar dem Charismatiker, aber wohl sicher nicht dieser Erdenwelt. Diese symbolischen Raume sind also durch folgende Eigenschaften umschrieben: sie sind betretbar, konnen wie eine naturliche Landschaft oder ein Bild beschrieben werden, es gibt keine Hinweise, dafi sie in die mittelalterliche Kosmographie einbezogen waren, das heifit, sie scheinen weder in den bekannten Zonen der Erde gelegen, noch in der Nahe einer der eschatologischen Bereiche, und sie unterliegen meist einer allegorischen Ausdeutung. Irdi&che Raume Die letzte Gruppe in der Aufzahlung der visionar geschauten Raume stellt unsere neu- zeitlichen Moglichkeiten des Nachvollzugs eigentlich vor keine besondere Probleme. Es handelt sich um geographisch eindeutig lokalisierbare Orte dieser unserer Welt, an die der Seher versetzt wird. Nur die Zeitebene kann wechseln. Ein klares Beispiel: der heilige Findan (800-878) lebte 22 Jahre unter strengsten Bedingungen als Inkluse auf der Rhein- au. Als nun die Translation gewisser Martyrerreliquien stattfinden sollte, sehnte er sich sehr danach, diese mittragen zu durfen. Aber sein Gelubde, das Inclusorium nicht zu verlassen, verbot dies. In dieser Situation greift «Dominus desiderium pauperis... exau- diens...» in seiner Gnade ein. Findan «nocte visus est sibi pontem Rheni fluminis... transisse, columbam quoque humeris suis insedisse, et earn se, ut cupiebat, humeris depor- tasse,.. .551 Das ist ein vollig realer, determinierbarer Ort, an den der irische Visionar versetzt wird, eben die Briicke, die dort den Rhein uberquert und iiber die er den Martyrer (d.h. seine Seele in Vogelgestalt) tragt. Die haufigsten Orte der normalen Umwelt sind freilich kirchliche Gebaude, in die sich etwa eine Nonne visionar zur Mitfeier der Messe entriickt sieht. So eine Mitschwester der Lukardis von Oberweimar an einem Sonntag «cum to to conventu constitutam super chorum».552 Oder, um einer weiteren gottlichen Schauung teilhaftig zu werden, Gerardesca von Pisa, die «in momento ad ecclesiam S. Petri ad gradus delata extitit, quae quidem ecclesia distat quatuor millibus a civitate Pisana».553 554 Dann offnen sich die Himmel zu einer Weltuntergangsvision. Die ganz irdische Umgebung, in der Gerardescas Schauung beginnt, hat der Autor dieser Zeilen, der Beichtvater der Oblatin, durch die Entfernungsangabe eindeutig herausgestellt. Auch ein Ort der Wamung ist die Kirche, wie einst fur den adelsstolzen Bischof Adal¬ bert von Bremen. Er blickte mit Verachtung auf alle seine Vorganger, die ihm daraufhin, als er «nocte intempesta se in conventum ecclesiae raptum» erlebt, deutlich machen, dafi er nicht mit ihnen Gemeinschaft haben konne und ihn von der Opferung bei der Messe 551 Vita 6, MG SS 15,505; dieselbe Vision wurde von dem Martyrerbischof Blasius (t 316?) berichtet, AASS Feb. 1,1658, 336 E 552 Vita 57, Analecta Bollandiana 18,1899, 343 553 Vita 1,12, AASS Mai 8, 1688, 167C 554 Gesta Hammab. eccl. pont. 3,69, AQ 11,420, nicht in alien Handschriften
118 Die visionaren Raume ausschliefien. Diese Vision soli, so wir Adam von Bremen Glauben schenken durfen554, die Konversion des «vir superbissimus» bewirkt haben. Sie spielt wohl nicht zufallig gerade zur Zeit seiner Entmachtung (um 1066). Anders eine Vision der Mechthild von Hackebom: auch sie schaut einen geographisch genau definierten Ort, namlich Bethanien, unweit des Olbergs bei Jerusalem im Heiligen Lande. Aber es ist die Zeit von ca. 1200 Jahren vor Mechthilds Geburt! An einem Palm- sonntag namlich «incidit menti ejus ut scire cuperet quid commodi beatae Maria et Mar¬ tha Domino, cum apud se hospitaretur, praeparassent.555 Tunc visum est sibi quasi esset Bethaniae in domo earum. Viditque domunculam seorsum paratam, in qua mensa erat collocata, et Dominum sedentem invenit. Quern dum interrogasset quid ilia nocte egisset, respondit: «Ego in orationibus totam illam noctem duxi.»55* Mechthild ist also real in jener Zeit und an jenem Ort, so real, dafi sie mit dem Erloser sprechen kann! Das geht noch weiter, denn sie bedient den Herm bei Tische. Er speist Honig aus einer Silberschussel, dann ein Veilchengericht, Lammfleisch,... bis sie ihm schliefilich sein eigenes Herz, mit bester Spezerei gewurzt, vorsetzt. Naturlich werden diese Gerichte dann als Christi Liebe, Lebenswandel, Opfer usw. interpretiert, und die Vision schliefit mit den Worten: «Haec autem omnia quaelibet devota anima spiritualiter ministrat...»557, was aber wiederum nichts an der Bildhaftigkeit andert. In ihrer Vision war die Nonne «in illo tempore» mit dem Herm zu Bethanien. Sehr viele Mystikerinnen ab dem 12. Jahrhundert erleben Ahnli- ches; sie finden sich namentlich zur Schau der Passion des Herm in das Heilige Land und in jene Heilszeit zuriickversetzt bzw. pilgem visionar dorthin (z.B. Lidwina).558 559Versucht man sich nun einen Uberblick dariiber zu verschaffen, in den Visionstexten welcher Epochen jeweils welche Raume am haufigsten vorkommen, so ergibt sich folgen- des Bild:5*9 Von den eschatologischen Raumen spielen Holle und Fegefeuer die grofite Rolle in den Visionen vom 7. bis friihen 13. Jahrhundert. Fursa schaut die Feuer, die die Sunder verschlingen, Barontus die Qualen der Holle, Drycthelm das Purgatorium und den Hollen- schlund, der Monch von Wenlock den Feuerflufi, das arme Weib die Qualen der Sunder, Rotchar die Behausung der Gefolterten, Adamnan die Feuer- und Schlangenholle, Bernol- dus das pechschwarze Wasser der Holle, Laisren den Holleneingang, Eucherius die unter- ste Holle, die Monche von S. Vaast wiederum die Unterwelt und ihre Strafen ... Alle die grofien Visionen des 12. Jahrhunderts zeichnen sich durch ein eindeutiges Dominieren der Schreckensregionen aus: Alberich benotigt fiir die Beschreibung der verschiedenen Marter- i55 cf. Joh. 11, 1 ss 556 Lib. spec. grat. 1,14, Monachi, Revelationes 2, 46 557 l.c., ed. cit. 47 558 cf. unten S. 155 559 Hier und spater jede mir bekannte Vision zu zitieren, ist wohl unnotig; das Gesagte wird an den Inhaltsubersichten der historischen Darstellung uberpruft werden konnen. Es gibt schliefilich auch keine Kunstgeschichte, die Fotos von jedem erhaltenen Bau zwischen, sagen wir, 1000 und 1200 bringt, um zu beweisen, dafi in der Romanik der Rundbogen dominiert und fiir diesen Stil charakteri- stisch ist, auch wenn der Spitzbogen in dieser Zeit bisweilen vorkommt.
Zeitliche Verteilung der Jenseitsschilderungen 119 orte etwa doppelt so viel Raum, wie fur die von Paradies und sieben Himmeln, dasselbe gilt fur die viel kiirzere Vision William’s. Im Tundal nehmen die sehr detaillierten Schilde- rungen von Purgatorium und Infemum sogar mehr als das Zweifache des Raumes ein, der den himmlischen Regionen gewidmet ist. Im Purgatorium S. Patricii folgt eine Strafstatte des Fegefeuers auf die andere, - ca. drei Seiten in einer modemen kleingedruckten Edition in Quart. Das Paradies dagegen nimmt um die Halfte weniger Raum ein.560 Sinuinus berichtet iiberhaupt nur, wie es Siindern ergeht. In der Vision des Edmund von Eynsham ist das Verhaltnis der Straforte zu den Gnadenorten sogar, grob geschatzt, vier zu eins! Thurkill beschreibt die Martem der Sunder wiederum doppelt so ausfiihrlich wie die Freuden der Gerechten. Adam von Kendal schaut nur sein Schicksal in der Holle, Olav Astesons Himmelfahrt hat man in drei Strophen abgetan, dreizehn brauchte man fur seine Hollenfahrt.561 Damit sind wir etwa in der Mitte des 13. Jahrhunderts. Spater sind ausfiihr- liche Beschreibungen der Unterwelt ziemlich seiten und fast nur auf Italien beschrankt (nach dem Vorbild Dantes?). Schauungen, die von den Strafstatten dominiert werden, bilden nur mehr einen kleinen Bruchteil des visionaren Erlebens. Vor allem aus dem Purgatorium S. Patricii kommen bis ins 15. Jahrhundert Berichte von den Qualorten — diese sind aber allsamt Nachbildungen der Visionen Owens aus dem spaten 12. Jahrhundert. Dagegen spielen die Visionen des Spatmittelalters viel ofter in den Bereichen des Him- mels. Betrachtet man zum Beispiel den «Legatus Divinae Pietatis» der Gertrud von Helfta, so findet man auf ca. 600 Druckseiten ununterbrochen Szenen, die sich im Himmel oder wenigstens in symbolischen Regionen ereignen miissen (Gertrud gibt meist keine Ortsan- gabe), denn es handelt sich um Gesprache mit Jesus, Erscheinungen Mariens und der Heiligen u. a. Die Holle selbst wird iiberhaupt nicht dargestellt, auf das Fegefeuer wird insgesamt fiinfmal angespielt; nur ein einziges Mai wird es dabei ganz kurz geschildert.562 Und man vergleiche die Plastizitat einer der alteren Jenseitsvisionen, zum Beispiel Tun- dals, mit Gertrudes Fegefeuer: in jenem gibt es unter anderem ein tiefes Tal voll gluhender Kohlen, das von einem Eisendeckel verschlossen wird. Darauf rosten die Sunder so lange, bis sie wie Wachs zerschmelzen und in das Feuer sturzen, um fur neue Qualen wiederher- gestellt zu werden.563 Oder: da gibt es ein riesiges rundes Bauwerk, aus dessen Fenstem Feuer schlagen, Damonen warten an den Eingangen, bereit, die Seelen mit verschiedenen scharfen Instrumenten hineinzuziehen, sie zu enthauten, zu kopfen und zu verstummeln.564 Bei Gertrud dagegen horen wir nur von einem Sunder, der in Gestalt eines Tieres iiber dem Rand der genausowenig wie das Fegefeuer selbst beschriebenen Holle auf einem Pfahl sitzt, vom aufsteigenden Rauch gepeinigt.565 Aber nochmals ist zu betonen, dafi in den visionaren Texten des spaten Mittelalters, insofern sie nicht «Kopien» alterer Visionen sind, der Holle und dem Fegefeuer meistens fast vernachlassigbar geringe Bedeutung zu- 560 Jenkins, Espurgatoire 83 ss, unter Abrechnung der eingeschalteten Homilien 561 nach Version R des «Draumkvaede» gezahlt 562 4,35; 5,15, 16, 19, 22 563 Visio 4 564 ibid. 9 565 Leg. div. piet. 5,19
120 Die visionaren Raume kornmt. Man versuche nicht, das obige Beispiel durch einen Hinweis auf eine prasumptiv sanftere Vorstellungswelt der Frauen zu entkraften, die ja im Spatmittelalter nahezu alle «Visionare» stellen: die «paupercula mulier» etwa erzahlt, wie einem Sunder geschmolze- nes Gold in den Mund gegossen wird oder wie die Konigin Irmgard immer wieder von drei Miihlsteinen an Brust, Kopf und Rucken untergetaucht wird - aber hier sind wir eben noch in einer Jenseitsvision des friihen 9. Jahrhunderts. Und Francescas Inferno (im 15. Jahrhundert) steht dem Dantes nicht um viel nach.5*5 Himmel und Paradies werden von Visionaren des ganzen Mittelalters immer wieder geschaut. Dennoch gilt hier die Umkehrung des oben Gesagten: die Mehrheit der Jenseits- visionen bis ins 13. Jahrhundert handelt diese Region weit kiirzer, oft auch farbloser ab, als die Unterwelt. Wahrend die meisten der Charismatiker, die bis in diese Zeit den Himmel, oder, vielleicht sogar ofter, das Paradies schauen, auch die Peinorte der Sunder besuchen miissen oder durfen (dtirfen: sogar die «... justi, qui penas non patiuntur, ad videndas illas ducuntur, ... ut visis tormentis, a quibus liberantur per divinam gratiam, ardentius in laudem sui creatoris ferveant et amorem»566 567), bleiben diese Regionen den Spateren nicht selten ganz erspart. Juliana von Norwich etwa wird in den Himmel erho- ben568, nichts aber von einer Hollenschau. So auch Gertrud die Grofie, Flora oder viele Schwestem, deren Visionen wir aus den Sammelviten kennen. Was nun die symbolischen Raume betrifft, so wird man vor dem 12. Jahrhundet selten eine Vision finden, die sie zum Gegenstand hatte. Diese Raume tauchen in den Visions- sammlungen etwa ab Elisabeth von Schonau auf569, dann sind sie neben dem Himmel die bevorzugte «Gegend» fur die unzahlbaren Zwiegesprache mit Jesus, fur die Erlangung mystischen Wissens von den Geheimnissen Gottes, fur die Einigung mit dem Herrn. Zieht man ein Resumee (unter Vernachlassigung von Ausnahmeerscheinungen), so er- gibt sich in bezug auf die Haufigkeit der verschiedenen visionaren Raume folgendes Ver- haltnis: Es gibt eine Gruppe von Visionaren, in deren ekstatischen Schauungen der Gang durch die Holle und mehr noch durch das Fegefeuer das wichtigste und haufigste Erlebnis darstellt. Himmel und Paradies werden ebenfalls besucht, sind aber von nicht ganz gleich- wertiger Bedeutung. Diese Gruppe gehort zeidich ins fruhe und besonders ins hohe Mittel- alter. Es gibt ferner eine zweite Gruppe, deren Visionen vor allem in himmlischen und symbolischen Regionen spielen, jedoch nur selten in den Peinstatten. Die ersten Vertreter dieser Gruppe finden sich im 12. Jahrhundert, im folgenden Spatmittelalter beherrscht sie die visionare Szene. 566 Sollte ubrigens jemand der Frau im Mittelalter Sanftmut in ubersteigertem Mafie zubilligen wollen, so diirfte es^ hinreichen, auf Aelred v. Rievaulx, De sanctim. de Wattun, PL 195, 791 ss, hinzuweisen. Cf. dazu Giles Constable, Aelred of Rievaulx and the Nun of Watton, Studies in Church History/Subsidia 1, 1978, 205-226 567 Visio Tundali 9, Wagner, Tnugdali 26; cf. Spilling, Tnugdali 51129 568 Revelations [Kurzfassung] 4 569 z. B. Vis. 1,40 = 3,29
DER VISIONAR UND DER RAUM Plastische und abstrakte Raumerfahrung Betrachtet man nun die Art und Weise, wie der Visionar in seiner Schauung den Raum erlebt und in welcher Beziehung er zu ihm steht, so fallt zunachst auf, dafi es eine Reihe von Visionen gibt, die durch ihre Detailfreudigkeit und Plastizitat in der Raumschilderung charakterisiert sind. Wiederum existiert eine Gruppe von anderen Visionen, in denen der Raum eine sehr untergeordnete Rolle spielt, wobei seine Schilderung kurz und ausgespro- chen blafi ist und auf Einzelheiten verzichtet wird. Ein paar Belege fur die Visionen mit ausgepragter Raumzeichnung zuerst: Gunthelm wird von seinem Ftihrer, dem Erzengel Raphael, zum Paradies gebracht: «... uidit quasi ciuitatis deauratos muros, ualde rutilantes et splendidos, et portam quandam inenarrabili pulchritudine decoram, et artificio mirabili compositam, et per totum lapidibus preciosis et gemmis omatam ... herbarum uarietatem, arborum diuersitatem, auium concentus, et uarium florum colorem, fructuum abundantiam, specierum redolentiam, et liquorum om¬ nium uiuificae suavitatis affluentiam. Erat autem ibi subter unam arborum limpidissimus atque ad intuendum fons ortorum gratissimus, puteus aquarum uiuentium ...»570 Das ist wohl ein «locus amoenissimus», aber beschreibbar fur irdische Sinne: verschiedenfarbige Krauter, Baume und Bluten, duftende Spezereien, geschiitzt von einer goldglanzenden Ummauerung. Der Brunnen ist ausdriicklich besonderlich lieblich anzuschauen - ein Be- weis der visuellen Erfafibarkeit dieser Visionslandschaft. Es ist dies freilich auch ein «locus communis» der Visionsliteratur, in der die Paradiesesschilderung dieses im Prinzip immer gleiche Bild vor Augen fiihren, Kombination aus dem Ort der Genesis und der apokalypti- schen Gottesstadt. Oder im «Tundal»: da wird eine der Wohnstatten in den himmlischen Gefilden beschrie- ben, das Haus des Konigs Cormachus: «viderunt domum mirabiliter omatam, cujus parie- tes et omnis structura ex auro erant et argento et ex omnibus lapidum pretiosorum generibus; set fenestre ibi non erant nec ostium ... Verum ipsa domus erat ampla nimis atque rotunda nullisque columpnis fulcita et cum auro et lapidibus pretiosis totum ejus vestibulum erat stratum.» Wir erfahren Details iiber die Form und Grofie dieses Gebaudes, iiber Material und Konstruktion. Freilich leuchtet es innen «quasi multi ibi splenderent soles»571, aber wir konnen uns doch eine ganz konkrete Vorstellung von diesem Raum machen. Es sind auch hier die in keiner Schilderung der paradiesischen Gefilde fehlenden Edelmetalle und Edelsteine, die das Bild pragen.572 Das Wesen dieser Stoffe ist ihre starke Reflexion des Lichtes. Darum strahlt dieses Haus auch sonnenhell. Alles Gute, Gottliche, Schone wird im Mittelalter immer durch Licht symbolisiert, «quoniam Deus lux est, et tenebrae in eo non sunt ullae» (1 Joh. 1,5). Es gibt keine mittelalterliche Himmelsdarstel- 570 Constable, Gunthelm 108 s 571 Visio 18, Wagner, Tnugdali 42 s 572 Diese sind auch Trager mannigfacher Symbolik, cf. Christel Meier, Edelsteinallegorese, in: Legner, Parler 3,184-188
122 Visionar und Raum lung (schon durch das Vorbild der Apokalypse), die ohne Lichtsymbole auskame. Schon- heit und Licht sind fast Synonyme.573 Man wird heute solchen visionaren Schilderungen wie der von Cormacs Palast in der anderen Welt schwerlich gerecht werden konnen, wenn man nicht deren irdische Verkorpe- rungen kennengelemt hat. Es war nicht nur die Kirche, die in ihren grofien Kathedralen das himmlische Jerusalem auf die Erde geholt hat - am greifbarsten vielleicht im ganz mit Goldmosaik ausgelegten Dom zu Monreale -, auch weltliche Fursten haben das versucht. Man muS selbst, um ein sowohl erstrangiges als auch gut erhaltenes Beispiel zu nennen, in den Kapellen der Burg Karlstein gewesen sein, um sich eine gewisse Vorstellung davon machen zu konnen, wie die Bilder ausgesehen haben mogen, die hinter den Worten stehen. Karlstein war, mehr als profaner Wehrbau, befestigter Sakralbezirk, in dem Tag fiir Tag die Messe zelebriert wurde - in wievielen Erscheinungen und Visionen feiert ein Charismatiker solche Gottesdienste mit den himmlischen Heerscharen mit!574 In diesen Kapellen waren die Gewolbe vergoldet und versilbert so wie mit Edelsteinen besetzt, die Wande mit Tausenden Halbedelsteinen inkrustriert und von Tausenden Kerzen bestrahlt. Dort war die Gemein- schaft der Heiligen, die «sich zum Teil iiber die Bildrahmen hinauslehnen und gewisserma- fien aus dem idealen und zeitlosen Raum des Jenseits in den Kapellen-Raum blicken».575 Karl, der selbst in seiner Autobiographic von Visionen und Offenbarungen zu berichten hat, der selber eine Heiligenlegende verfafit hat, mag wohl Texte wie die so weit verbreitete Tundalvision gekannt haben... Es erscheint mir wesentlich, bei der Lektiire solcher Visions- schilderungen sich nicht nur mit den Worthulsen zufriedenzugeben, sondern sich die Bilder, als deren Reflexe das visionare Schauen mit gedeutet werden kann, zu vergegenwartigen.576 Diese Verbindung zwischen dem irdischen Steinbau und dem uberirdischen Gottesreich gewinnt um so mehr Berechtigung, wenn man sie im Lichte der das ganze Mittelalter durchdringende Mikrokosmos-, Makrokosmos- und Typologie-Vorstellungen betrachtet. Nicht nur der Mensch ist Abbild des Universums, sondern auch das Kirchengebaude, der Altar, das Ziborium, der Kreuzgang .. ,577 Da ist nicht der arme Judas mit seiner Untat eine isolierte Gestalt der Geschichte, sondern er wurde vorausgedeutet durch Abiram und Absa¬ lom, durch Cham und Chusai, durch Jakob und Joab und praefiguriert selbst feindliche Gestalten von Arius bis zum Antichrist.578 Nichts und niemand steht vereinzelt, uberall in Raum und Zeit existiert ein Beziehungsgefiige, das mitzudenken ist.579 573 cf. Assunto, Theorie, Register s.v. Schonheit als Licht und Lichtmetaphysik 574 z. B. Agustus, Bernhard v. Petershausen, Luitgard v. Wittichen (Leben 14), Benevenuta (Vita 3,28; 8,68) usw. 575 Erich Bachmann, Architektur bis zu den Hussitenkriegen, in: Karl M. Swoboda ed., Gotik in Bohraen, Miinchen 1969, 34-109, 97 s; cf. Legner, Parler 3, 249 (Register) 576 Die zeidiche Differenz von Tundal und Karl sowie die Veranderungen der Sehweise vom 12. zum 14. Jahrhundert sind mir bewufit; trotzdem mochte ich der Eindringlichkeit dieses Raumes wegen die chronologische Verzerrung in Kauf nehmen. Wir haben aber mehr als genug Handschriften der «Visio Tnugdali» auch aus dem 14. und 15. Jh. 577 Champeaux, Symboles 151 ss 578 Dinzelbacher, Judastraditionen 71 ss 579 Friedrich Heer hat das in seinen mediavistischen Arbeiten deutlich genug gemacht, cf. A. 1153
Plastische Raumschilderungen 123 Dies als Versuch, den Visionsbericht vom Jenseits durch Bezugnahme auf sein irdisches Pendant, den mit den korperlichen Augen schaubaren Kultraum, als Realitat bewufiter zu machen. «Das Kunstwerk wird als eine Art Zwischenwelt angesehen: ahnlich den Dingen der Erde, aber gleichzeitig diesen unahnlich, weil es den Himmel vorwegnimmt und die Menschen zum Himmel fiihrt.»580 Wie konkret man sich diese Raumlichkeiten der anderen Welt gedacht hat, zeigt eben dies, dafi man sich nicht mit dem Mythos begniigt hat, sondern ihn auf Erden in tastbare Wirklichkeit umgesetzt hat. In Karlstein kann man die dicht nebeneinanderliegenden Edelsteine beriihren ... Nicht weniger real sind die Reiche der Unterwelt. Ihre Schilderungen zeichnen sich nicht selten durch eine noch grofiere Detailfreudigkeit aus, als sie die der Uberwelt bieten. Bei manchen dieser Visionen geht das soweit, da£ genaue Mafiangaben gemacht werden. Alberich berichtet zum Beispiel aus dem Purgatorium: «Inde in aliam vallem nimis terribi- liorem deveni, plenam subtilissimis arboribus in modum astarum.581 Sexaginta brachiorum longitudinem habentibus, quarum omnium capita ac si sudes acutissima erant et spinosa, in quibus vidi transfixis uberibus mulieres dependentes.»582 Auch wieder ein sehr plasti- sches Landschaftsdetail; wie man sich das bildlich vorzustellen hat, kann man etwa aus der Ikonographie des Martyriums der 10000 Ritter des heiligen Achatius entnehmen, die ja in einen solchen Lanzenwald hinabgestiirzt wurden.583 An anderer Stelle erzahlte der Visionar von einer 365 Ellen langen gliihenden Lei ter, von einem 60 mal 30 mal 20 Fufi grofien feurigen Pferdegefafi usw.584 585Solch ein realistisches «stage setting» des visionaren Erlebnisses findet sich nun in all den grofien Jenseitsvisionen des Friih- und besonders des Hochmittelalters. So gut wie aus jeder liefien sich ahnliche Texte zitieren. In ihrer Endphase fiihrt das zu bei allem Sadismus schon das Grotesk-Komische beruhrenden Bildem, wie dem des Teufelstheaters in der Vision Thurkills: «Perrexerunt ergo ad plagam aquilonalem, quasi montem ascendendo, et ecce in descensu montis erat domus amplissima et fuliginosa muris veternosis circumdata erantque in ea quasi multae plateae innumeris ignitis et ferreis sedibus circumquaque repletae. Sedes vero ex candentibus ferreis circulis et ex omni parte clavatis, superius et inferius, a dextris et a sinistris, exstructae erant, atque in eis homines diversae conditionis et utriusque sexus miserabiliter residebant ...»58s Das scheint die Beschreibung eines aus romischer Zeit iiberkommenen Amphitheaters zu sein, kombiniert mit gewissen Methoden mittelalterlicher Tortur; jedenfalls ist auch dies ein Element einer infernalischen Land- schaft, ein bis in Einzelheiten realistisch vorstellbares Bild. Aber es ist bei den Visionen dieser alteren Gruppe nicht so, dafi nur der Gesichtssinn angesprochen ware, auch andere Sinneseindriicke spielen eine Rolle, zum Beispiel der Geruch. Eindringlich schildert hier Gottschalk vom Fegfeuer: «Fetorem preterea immode- 580 Assunto, Theorie 25 in Anlehnung an Suger von St. Denis, de administ. 33 581 sc. = hastarum 582 Visio 4, Inguanez, Cod. 88 583 cf. Kirschbaum, Lexikon 5,16-21, bes. 9 584 Visio 5; 8 585 Visio 3, Ward, Thurkill 450
124 Visionar und Raum ratum et incredibilem baratrum illud horrendum de se exalabat, qui totum aerem mortali- ter inficiebat. Cuius fetoris veneno Godeschalcus irremediabiliter se corruptum et ingra- vescentis diutineque infirmitatis sue causam magna ex parte fuisse testabatur.»586 Die Geruchsempfindung ist so stark, dafi der Visionar als sehr konkrete Erinnerung an seine Jenseitsreise mehr als sechs Monate unter Kopfschmerzen und Eiterauswurf leidet.587 Dem- entsprechend heifit es von den himmlischen Regionen, den dort Einziehenden «odor mire et inestimabilis suavitatis occurrit; cuius vitali haustu in tantum sunt refecti, ut ultra nulla sibi alimonia indigere viderentur. Cuius virtute fraglancie Godeschalcus efficaciter perfu- sus cibum corporalem non appetit ...»588 Andererseits nun jene Gruppe von Visionen, in denen die Raumeindrucke ganzlich sekundar sind: auch von Mechthild von Hackebom wird eine Hollen- und Fegfeuervision berichtet, aber eine Raumbeschreibung fehlt einfach: «Orante aliquando, vidit sub se Infernum apertum et in eo infinitam miseriam et horrorem ...» Folgt ein Satz, der von den Sundern als einander in Tiergestalt zerfleischend spricht: das ist ihr ganzer Eindruck von der Holle. «Vidit etiam Purgatorium, ubi ... superbi ... de lacu ad lacum incessanter cadebant.»589 Dafi es im Purgatorium Seen gibt — ein ausfiihrlich beschriebenes Motiv in so vielen alteren Jenseitsvisionen — ist hier uberhaupt das einzige, was wir von der unterirdi- schen Topographie erfahren. Um wieviel lebendiger beschrieb etwa Alberich einen solchen Strafort des Fegfeuers: «De lacu igneo in quo sacrilegi cremabantur: Post hec vidi vallem, in qua erat lacus magnus totus rubicundus. ac si metallum lique factum, undis valide crepitantibus. et nunc sursum, nunc deorsum flammas emittentem, in quo sacrilegi cre¬ mabantur.»590 Hier werden die Eigenschaften des Sees aufgefuhrt, er ist grofi und rot; seine Materie wird mittels eines Vergleichs angedeutet, seine Aktivitat beschrieben und ein akustischer Eindruck damit verbunden. Aber noch einige Belege fur so unplastisch beschriebene visionare Raume: als Gertrud die Grofie eines Nachts keinen Schlaf findet und diese ihre Schlaflosigkeit wie gewohnt dem Herrn zur Lobpreisung aufopfert, «videbatur sibi quod ... quasi quibusdam gradibus ascendendo appropinquaret Domino. Tunc ostendit illi Dominus ad dexteram suam quamdam valde amoenosam sessionem praeparatam ...»591 Offenbar eine Himmelsvision, aber der Raum interessiert die Visionarin gar nicht, gerade, dafi sie den ihr bereiteten Platz schildert - das einzige, was wir iiber das Aussehen jenes Ortes erfahren. Diemut Ebnerin von Niirnberg aus dem Kloster Engelthal «wart auch entzuket in daz irdisch paradis, und sprach oft: sie west als wol wie ez in dem paradis gestalt wer, als in dem closter.» Elias und Henoch «reten mir ihr und zaigten ire die wunder die dar inne waren».592 Und trotzdem weifi sie nicht mehr davon zu erzahlen, als dafi es dort Baume gibt, die gleichzeitig bliihen und Fruchte tragen. Keine Beschreibung des «locus amoenus», 586 Visio A 15, Assmann, Godeschalcus 66ss 587 ibid. 59 588 ibid. 31, ed. cit. 108 589 Liber spec. grat. 5,20, Monachi, Revelationes 2,351; einen ahnlichen Vergleich konnte man mit fast alien Jenseitsvisionen der zweiten Gruppe anstellen, ohne zu einem anderen Resultat zu kommen 590 Visio 10, Inguanez, Cod. 91 591 Leg. div. piet. 3,53 Monachi, Revelationes 1, 225 592 Christine Ebnerin (?), Biichlein von der Genaden Oberlast, Schrader, Engelthal 33
Abstrakte Raumschilderungen 125 keinerlei Angaben, aus denen man sich die Topographie dieses Jenseitsortes auch nur ansatzweise rekonstruieren konnte. Das geht so weit, dafi die visionaren Raume, in denen der Seher mit Personen der anderen Welt zusammentrifft, nur ganz kurz angedeutet wer- den, oder iiberhaupt nur mehr ihr Name genaxmt wird, ohne dafi ein Versuch der Schilde- rung gemacht wiirde. So heifit es von Iten von Hochenfels aus Otenbach, dafi sie ward «verzuket und ward gefiiret auf ein schone heid und sah do die weifi593 und die pofien veind und sah, wie gro8 die wei8 oder pein was und erkant die underscheidung der wei8 an geistlichen und an weldichen Leuten ...» Nachdem ihr verschiedene «erkantnufi» eingegossen war, «daucht sie, da8 sie wiirde verzucket in das himelreich ...»594, wo ihr wiederum manches geoffen- bart wird. Eine richtige Jenseitsvision also mit Fegfeuer- und Himmelfahrt - nur, was die Visionare der ersten Gruppe auf Dutzenden von Seiten in alien Einzelheiten darstellen, ist hier zu einer blofien Ortsnennung zusammengeschrumpft, deren einziger bildlicher Gehalt die Vorstellung vom Strafort als Heide bildet. Oder: am Rande des Todes hatte ein Wohltater des Klosters Adelhausen folgende Vision, die im «setting» genau der Situation entspricht, in der sich zum Beispiel Barontus, Wetti, Laisren, Tundal usw. befanden und die bei ihnen eben zur Aufzeichnung ausge- dehnter Jenseitsschilderungen fuhrte. Hier aber berichtet der Visionar nur: «Ich wz tot, vnd wz das vrteil der verdampnisse vber mich gegeben. Vnd do ich wert gefiiret an der helle porten, da komen die frowen von Adelnhusen vnd ledigeten mich ...»595 Diese Visionen sind auch oft auffallend kurz: Adelheid von Rinvelden in Unterlinden «Vidit eum [sc. einen Verstorbenen] in spiritu in locis penalibus deputatum et ibidem flammis ignium inuolui acriter et uexari. Quo uiso, extemplo ad se rediit, grauiter ingemis- cens ...»596 Ein Alberich dagegen war neun Tage in Ekstase, Gottschalk funf, Orm und Olav Asteson vierzehn, und sie haben alle ausfiihrliche Berichte von der Gestalt der ande¬ ren Welt mitgebracht. Wenn wir also die Visionen betrachten, die wir von den Sehern der ersten Phase haben, so sind diese durchgehend wesentlich umfangreicher, vorausgesetzt, sie sind uns als unmit- telbar nach den Erzahlungen jener «Zuriickgekehrten» aufgezeichnete Texte erhalten und haben in ihrer Uberlieferung keine Verstummelungen erlitten. Wenn sich zum Beispiel in Exempel-Sammlungen und geschichtlichen Darstellungen ahnlich kurze Visionen des Typs I finden, so hat man in ihnen wohl des ofteren Epitomen aus langeren Vorlagen zu sehen. Dies la8t sich bei einzelnen dieser Visionen, die zu «exempla» verktirzt wurden, wie zum Beispiel die Drycthelms, eindeutig nachweisen. Die Raume, die die Visionare der ersten Gruppe schauen, gleichen zwar stark verfrem- deten, aber grundsatzlich doch irdischen Landschaftsteilen, wo es Berge und Taler, Fliisse mit Briicken, Seen und Bauwerke gibt, wenn auch meist keine zusammenhangenden Land- schaftsbeschreibungen gegeben werden, sondern einzelne «loca» des Geschehens hinter- einander wie im Punktscheinwerfer aufleuchten. Dies ist jedoch fiir die friih- und hochmit- 593 mhdt. «wize» = Strafe 594 Zeller, Oetenbach 240 595 Konig, Chronik 186 596 Katharina v. Gebeswiler, Vitae Sororum 23, Ancelet, Unterlinden 399
126 Visionar und Raum telalterliche Raumschilderung auch aufierhalb der Visionsliteratur nicht anders. Der Raum wird nicht als ein Kontinuum beschrieben, sondem setzt sich aus Einzelschauplatzen zusammen. Dagegen sind die Raume der zweiten Gruppe nicht nur blafi und undifferen- ziert, sondern oft auch so abstrakt, daS sie offenbar nicht mehr adaquat sprachlich geschil- dert werden konnen. Der Anfang der elften Vision Hadewijchs verdeutlicht das sehr gut: «Jc... wart op ghenomen inden gheeste. Daer saghic enen ouer diepen wiel ende enen widen ende ouerdonker; ende in dien wiel die soe unit was So was alle dine besloten so vaste ende so na bedwonghen. Dat donkere uerlichte ende dore sach alle dine. Die ongron- deleke diepheit vanden wiele was so hoghe datter nieman toe en mochte gheraken.»597 Und damit gibt die Visionarin selbst die Beschreibung auf, weil es, wie sie selbst schreibt, ohnehin unsagbar ist. Ein iibertiefes Rad oder ein Wirbel, in dem alle Dinge beschlossen sind, ein Dunkel, das alle Dinge erleuchtet...? Paradoxe Formulierungen, die wohl auch auf einen Raumeindruck (Weite, Tiefe, Hohe) zurtickgehen, deren Bildhaftigkeit aber unvergleichlich weit von der Konkretheit der Seher des ersten Typs entfemt ist. Juliana von Norwich berichtet eine Himmelsvision, bei der man nach dem Anfang eine Himmelsschilderung alter Pragung erwarten wiirde: «... my understandig was lifted up into heaven; and there I saw three heavens.»598 Aber nichts dergleichen, vielmehr heifit es, daS der erste Himmel Gottvater ist, der zweite Chrisd Passion; der dritte sollte dann dem heiligen Geist entsprechen, Juliana schwenkt aber sogleich auf Reflexionen uber die Pas¬ sion iiber. Die Visionarin wird zwar in einen anderen Raum versetzt, aber dessen Realitat wird gleich durch die Verschmelzung mit etwas anderem, hier mit einer der Personen der Trinitat, zerstort. Seine Bedeutung fiir die Visionarin liegt nicht in der Schonheit oder Schrecklichkeit dieses Platzes, sondern in seiner Identitat mit dem Fuhlen einer iiberweltli- chen Person. Umgekehrt konnen raumliche Elemente an Personen auftreten, und das wiederum in einer Form, die sich unserer Vorstellungsweise wohl entzieht. So schaut Mechthild von Hackeborn die Seele des Probstes Otto, die Fenster hat, in deren Rahmen sich wieder Bilder von Seelen befinden.. ,599 Es gibt hier visionare Phanomene, die sehr an der Grenze dessen, was noch unserer Visionsdefinition entspricht, stehen, wo eine raumliche Komponente nur mehr in rudimen- tarster Andeutung sichtbar ist. So bei Seuse, in dessen Autobiographic wir lesen «do ward sin sel verzuket in dem libe neiss uss dem libe.600 601 Da sab er und horte, daz alien zungen unsprechlich ist: es waz formlos und wiselos und hate doch aller formen und wissen fr6denrichen lust in ime... Er tet nuwen ein steren in den glanzenrichen widerglast, in dem er gewan sin selbs und aller dingen ein vergessen ... Er sprach dur na: <ist dis nit himelrich, so enweis ich nit, waz himelrich ist.. .»>m Seuse identifiziert das ausdriicklich als Himmel- reich, aber es ist nicht mehr das «betretbare» Elysium der alteren Visionare, sondern ein formloser Lichthimmel, in den er hier mit dem Gefiihl eingegossener SiiSe «hineinstarrt». 597 Mierlo, Visioenen 1,110 598 Revelation 22,-Walsh, Love 83 599 Lib. spec, grat 5,10; zugrunde liegt wohl die Allegorie von der Seele als Burg oder Kloster 600 cf. 2 Cor. 12,2 601 Exemplar 1,12, Bihlmeyer, Seuse 10
Abstrakte Raumschilderungen 127 Obwohl hier kein Bezug zu einer Person hergestellt wird, erinnert dieses Erlebnis doch an eine «unio mystica» mit der Gottheit. Ganz bezeichnend fur diesen hohen Abstraktionsgrad ist ja auch eine «visio» Angelas von Foligno: «Et uidebatur michi stare ante deum, sed non ostendabatur michi plus nisi illud.»602 Das ist keine Erscheinung, ein Raumwechsel ist erfolgt, jedoch sie erfafit den neuen Raum gar nicht, nur Gott zeigt sich ihr, dem gegentiber der Ort so gut wie wesenlos wird. Ahnlich ihre Zeitgenossin Mechthild von Hackeborn. Auch sie berichtet zwar, in den Himmel entruckt worden zu sein und welche Person sie dort von Christus geschmiickt angetroffen, schildert jene Region aber mit keinem Wort.603 Es ist in dieser Gruppe von Visionaren also ein ziemlich starkes Desinteresse an raumli- chem Erleben und Schildern festzustellen. Das kann so weit gehen, dafi, wo man in der ersten Phase der Visionsliteratur eine mehr oder minder ausfiihrliche Beschreibung des Fegfeuers bekommen hatte, nunmehr das Erlebnis in die Visionarin hineinverlegt wird, also nicht mehr sie an den eschatologischen Ort kommt, sondem dieser in sie. In der Vita der Elsbet Achler heifit es: «In der selben jungfrowen betrahtung und schowen do be- schach es zu mengem mol, daz ir sele in dem lip enpfant daz fegefiir etwen sehs stunden me oder minder. Und in dem selben zit do switzete ir lip so groslich, daz ir kleider, die linlachen und die declachen also fuhte und nas wurden, also werent su umbkeret gesin in dem bach. Und in dem selben zit waz su von usnan on vemunft...» Dann erscheinen ihr die um Hilfe schreienden Seelen aus jenem Marterort.604 Vergeicht man eine solche Schilde- rung mit der einer Jenseitsvision des alteren Typs, so hat man doch mehr den Eindruck, es liege hier eine andere Art der Erfahrung vor, nicht nur eine Schilderung desselben Erlebens in anderer Form. Sogar Margery Kempe, die nun wirklich ausgedehnte visionare Wege in Palastina zur Zeit der Passion des Herrn zuriicklegt, hat fiir die Gegend einfach kein Auge, so realistisch sie sonst bei der Schilderung von Handlungen sein mag. Dem ersten Typ von Visionen entspricht es, wie zu erwarten, dafi, gleich wie in einer irdischen Landschaft, auch die Elemente der jenseitigen Raume konstant zueinander ste- hen. Da gibt es ein Tal, in dem ein Schwefelflufi braust, von zwei Bergen eingesaumt, die eine Brticke von tausend Schritt Lange und einem Fufi Breite verbindet. Sein Schutzengel geleitet Tundal sicher daruber.605 Da muE Gottschalk iiber ein Domenfeld, dessen Stacheln sich so schmerzhaft in seine blofien Fufie einbohren, dafi er «ultra doloris intoleranda progredi non sustinens inter manus se ducentium collabitur». So bleibt dem einen der ihn fuhrenden Engel nichts iibrig, als zu der Linde zuriickzugehen («redire»), die sie eben passiert haben, und dem armen Bauern ein Paar der Schuhe zu bringen («afferre»), die an jenem Baum fiir die Gerechten zur Uberquerung dieses Strafortes wachsen.606 Also ein vollig «realer» Raum, den sogar die Engel nicht anders tiberwinden konnen, als in ihm hin und herzulaufen. Da wird im Thurkill eine genaue Jenseitstopographie gezeichnet: In der anderen Welt gibt es eine Basilika, in deren Osten ein riesiges Fegfeuer, von zwei Mauem 602 Doncoeur, Angele 31 603 Lib. spec. grat. 5,8 604 c. 13, Bihlmeyer, Achler 107 605 Visio 6 606 Visio A 8; cf. die germanischen «helskor»
128 Visionar und Raum eingeschlossen, brennt, «Murus enim unus a septemtrionali parte consurgebat et alter ab607 australi ab invicem amplo spatio in latitudine distantes, qui diutius in longitudine proten- debantur versus orientem usque ad quoddam stagnum ...»608 Hier sind die einzelnen Ele- mente des Raumes also sogar nach Himmelsrichtungen in bezug aufeinander angegeben. Ebenso genau wird im nachsten Kapitel der Weg geschildert, den die Seelen gehen miissen. Also nochmals: im Vergeich zu spateren Texten klare Raumvorstellungen mit angebbaren Entfernungen und mit zueinander in durchaus beschreibbarer, unveranderlicher Lage exi- stierenden Raumelementen kennzeichnen die erste Visionsgattung. Vergleicht man diese Raumbeschreibungen der Visionsliteratur in der frtiheren Phase mit Texten anderer literarischer Genres, etwa dem der hofischen Romandichtung, so stellt man sowohl Ubereinstimmungen als auch Differenzen fest. Selbstverstandlich bieten auch die Visionen keine Landschaftsschilderungen im Sinne der nachmittelalterlichen Literatur - doch gilt fiir sie, was man exemplarisch vom mittelhochdeutschen Versroman festgestellt hat? Namlich, daS diese Texte «das Raumliche nicht um seiner selbst willen, sondem nur als raumliche Orientierungspunkte der Handlung beschreiben oder nur mittelbar andeu- ten»?609 Hochstens zum Teil. Denn der Raum der Visionen ist als gliihend, vereisend, duftend, strahlend usf. eben an der Handlung beteiligt. Diese Handlung ist einerseits das, was mit dem «Personal» des Jenseits vor sich geht: also mit den Seelen, die gestraft oder belohnt werden, mit den Teufeln, die foltern und selbst gequalt werden, mit den Himmli- schen, die den Thron Gottes verehren. Andererseits besteht die Handlung im Vorriicken des Visionars mit seinem Fiihrer durch die verschiedenen Abteilungen der anderen Welt und in dem, was er dort eventuell mit den Bufiern und Seligen spricht oder was er von seiten der Damonen an Boshaftem, von seiten der Himmlischen an Trostlichem erfahrt. Bei diesen beiden Handlungsarten aber spielt der Raum, wenn man so sagen darf, eine «agierende» Rolle. Worunter leiden denn die Fleischessunder nach der Aussage Alberichs? Nicht unter damonischen Angriffen, sondem dadurch, dafi sie in gigantische Eisberge verschieden tief eingefroren sind.610 Was ist den Sodomiten zur Qual neben den gegen sie wutenden Ungeheuern? Schwefelrauch, Stinknebel, pechschwarze Flammen sagt Edmund von Eynsham.611 Warum bricht Gottschalk nach den ersten paar Schritten im Jenseits schon zusammen? Nicht ob irgendwelcher satanischer Anfeindungen, sondem da er die Dornenebene ungeschiitzten FuSes nicht zu durchschreiten vermag.612 In den Visionen hat der Raum also oftmals nicht nur jene kulissenhafte Funktion, auf die er im Roman be- schrankt bleibt. Wahrend in ihm dieser Hintergrund relativ austauschbar zu sein scheint - dafi Erec und Enide gerade «lor ostel prirent / desoz un arbre an une lande»613, ehe sie in 607 Ed.: ob 608 Visio 1, Ward, Thurkili 446 609 Reiner Gruenter, Zum Problem der Landschaftsdarstellung im hofischen Versroman, WdF 418, 1975, 293-335, 297 610 Visio 3 611 Visio 24 612 cf. oben S. 127 613 Chretien de Troyes, Erec et Enide vs. 3083 s, ed. Mario Roques (Classiques fran^ais du moyen age 80) Paris 1973, 94
Vergleich der Raumbeschreibungen in Visionen mit dencn anderer Genres 129 die Stadt des verraterischen Grafen kommen, ist ohne Belang, genau so gut hatten sie es im Waldesdickicht tun konnen oder in einer Eindde haben die visionaren Landschaften ihren eigenen Wert, insofem sie Vollzugsinstrumente der gottlichen Gerechtigkeit sind. Die Holle mufi schrecklicher ausgemalt sein, als das Fegfeuer, der Himmel herrlicher als das (irdische) Paradies. Und wahrend das Personal des hofischen Romanes an relativ beHebiger Stelle mit dem Helden zusammentreffen kann — Erec hatte die beiden bosen Riesen auch in jeder anderen Umgebung erschlagen614 -, so sind die Personen der Visionen (der fiihrende Engel bzw. Heilige ausgenommen) ublicherweise eher an ihren Platz gebun- den: die Teufel an ihren jeweiligen «Hollenkreis», der Konig Cormac an sein rundes Haus615, die verschiedenen Engel an ihre Himmelssphare.616 Als gewisse Ubereinstimmung dagegen mit der genannten Dichtungsgattung lafit sich feststellen, «dafi der Schauplatzraum dem Leser Zug urn Zug vor Augen tritt» und die Fortbewegung der Visionare «nicht fliefiend, sondem ruck- und sprunghaft wie bei Spielfi- guren auf den Feldem eines Spielbrettes»*17 vonstatten geht. Diese liber Hartmanns «Erec» gefallte Aussage wiirde etwa auf Alberich oder Orm gut zutreffen; minder schon auf Tundal oder Gottschalk. In diesen umfang- und detailreichen Visionen erreicht die Land- schaftsbeschreibung eine in der verglichenen Gattung nicht anzutreffende Koharenz. Das zeigt sich vielleicht am deutlichsten in der Vision Thurkills: die Basilika der Gottesmutter, daneben der Holleneingang und das Fegefeuer, weiter weg der Eissumpf, iiberragt vom Berg der Freude, zu dem die Nagelbriicke den einzigen Zugang bietet - dies gibt eine vorstellbarere Topographie, als die, in der manches reale oder verzauberte Schlofi der Abenteuerromane gelegen ist. Innerhalb der Visionsliteratur scheinen es wiederum die Texte anglo-irischer Provenienz zu sein, die in der zweiten Halfte des 12. Jahrhunderts die grofite Plastizitat aufweisen. Dafi in den meisten anderen Jenseitsvisionen allerdings das additive Element das Ubergewicht vor dem konstruktiven besitzt, ist fiir diese Literaturgat- tung genauso zuzugeben, wie fur die sonstigen des Hochmittelalters, wenn auch, wie gesagt, die Visionstexte am fortschrittlichsten in der Entwicklung der Landschaftsdarstel- lung wirken. Dies bestatigt sich auch, wenn man eine andere Gruppe von Texten zum Vergleich heranzieht. Wo es fiir die Autoren fruhmittelalterlicher Klostergrundungsberichte wichtig war darzustellen, wie der Mensch die Landschaft empfindet (und nicht, wie sie «objektiv» aussieht), wenn sie von rauhen, feindlichen, oft unumgrenzten Orten sprechen, die man fiirchtet, und von fruchtbaren, kultivierten, festumrissenen, die man lobt618, so stimmt dies mit der (im nachsten Abschnitt beschriebenen) Reaktion der friihen Visionare tiberein. Wenn aber das Interesse dieser Autoren am Aussehen der Orte im Friihmittelalter generell minimal bleibt619, so unterscheiden sich auch hier einzelne Visionare schon des 7. Jahrhun- 614 ibid. vs. 4353 ss 615 Visio Tundali 18 616 zum Beispiel im «Fis Adamnain» 617 Gruenter, Problem (wie oben Anm. 609) 297, 302 618 Dieter v. d. Nahmer, Uber Ideallandschaften und Klostergrundungsorte, Studien und Mittei- lungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens 84,1973,195-270,264. Ahnlich im Epos: Henning, Romance 160,162,164 619 Nahmer (wie Anm. 618) 259 s; cf. Henning, Romance 160 ss
130 Visionar und Raum derts (besonders die Monche bei Valerius v. Bierzo, auch Agustus) doch dadurch, dafi sie Schonheiten und Schrecken der Jenseitsgefilde beschreiben, Paradieseswiese und -blumen, die Sitze in der anderen Welt usw., wobei allerdings die Anlehnung an den «locus amoe- nus»-Topos nicht zu ubersehen ist. Dagegen nun die zweite Visionsgruppe: undeutliche, unvollstandige, zum Abstrakten tendierende Raume (cf. den oben zitierten Hadewijch-Text) ohne irgendwelche topogra- phische Angaben. Hierzu kommt, dafi der Raum sogar nicht einmal konstant sein mufi: Am Beginn ihrer vierten Vision schaut Hadewijch zwei Konigreiche von gleichem Ausse- hen und gleicher Pracht. Diese sind aber wieder eins, sind dann ein Engel, Christus(P), seine und der Visionarin Menschheit. Einerseits sieht sie die Konigreiche, andererseits versinkt sie darin, andererseits ist sie selbst eines davon. Oder ihre sechste Vision: da wird sie an eine hohe und gewaltige Statte gefuhrt, wo der Thron Gottes steht, also in den Himmel. Doch wenig spater hat er den grofien Himmel in seiner Rechten ... Hadewijchs Raume, insoweit es uberhaupt noch Raume zu nennen sind, sind unstabil und verwirrend, ohne festes Bild. Harmloser geht es bei Angela von Foligno zu; in ihrer Ekstase weitet sich der Kirchen- raum und das Gebaude erscheint ihr plotzlich viel grower, als sie es aus der Alltagswirk- lichkeit kennt.620 Unruhiger wieder Juliana von Norwich: abgesehen davon, dafi sie das Geschaffene als haselnuSkleine Kugel schaut, so dafi sie sich wundert, wie es in seiner Geringheit nicht ins Nichts zerfalle, erblickt sie auch ihr eigenes Herz so grofi wie ein Konigreich, worin sich eine herrliche Stadt befindet, in der Gott thront - sicherlich Allego- rien, aber als Bilder in Visionen konkretisiert: «he shewed a little thing, the size of a hazel¬ nut, which seemed to lie in the palm of my hand; I saw the soul, so large as if it were an endless world, and also as it were a blessed kingdom».621 Dieses Variieren und Ineinander- fliefien der Raume (Herz, Konigreich usw.) ist, wo uberhaupt vorhanden, nur innerhalb der Visionscorpora von Charismatikem zu finden, die der zweiten Klasse zugehoren. Weiters ist auffallend: die Visionare der ersten Phase bleiben meist nicht in einem Raum, sondern ihre Vision ftihrt sie zu verschiedenen Teilen des Jenseits. Einerseits sind es die groSen eschatologischen Bezirke selbst, Himmel, Holle, Fegfeuer, die ihnen gezeigt werden. Wetti, Adamnan, Alberich, Tundal, Gottschalk, Edmund, Thurkill... sehen alle sowohl die Gnaden- als auch die Straforte in jeweils einer Vision. Diese einzelnen Orte wiederum sind in verschiedene «loca» unterteilt, wo verschiedene Arten von Siinden be- straft beziehungsweise verschiedene Tugenden belohnt werden. Tundal etwa622 kommt im Fegfeuer zuerst in das mit gluhenden Kohlen gefullte Tal der Morder, dann an den teils brennenden, teils gefrorenen Berg der Verschlagenen, sodann an den SchwefelfluS der Stolzen usw., passiert zwei Jenseitsbmcken und schaut schliefflich in den freundlicheren Regionen das Feld der Freude und die Lebensquelle, das Haus des Konigs Cormac, das duftende Feld der treuen Ehegatten, die goldenen Wohnstatten der Martyrer u.a. Der 620 Doncoeur, Angela 128 621 Revelations 5; 68, Walsh, Love 53, 178 622 ich belasse es bei diesem einen Beispiel, da das Gesagte an Hand des beschreibenden Teils in den folgenden Banden nachgepriift werden kann
Ruhe und Bewegung 131 visionare Raum besteht also aus den drei eschatologischen Regionen, die sich wiederum aus einzelnen Vergeltungsstatten zusammensetzen. Bei der zweiten Gruppe dagegen wird der Charismatiker in den meisten Fallen nur mit einem, in sich selbst iiblicherweise auch nicht mehr differenzierten Raum konfrontiert. Man braucht nur die Visionen in Gertruds «Legatus Divinae Pietatis» oder in Mechthilds «Liber Specialis Gratiae» durchzusehen, wo dies sofort deutiich wird. Aber nicht anders ist es im allgemeinen in den Sammelviten der Kloster Unterlinden, Той, Adelhausen, Oeten- bach usf. Nicht anders sind die Himmelsvisionen der Angela von Foligno oder der Marga- rete Ebner: einphasig, auf einen Jenseitsraum beschrankt. Die erwahnte Mechthild von Hackeborn zum Beispiel sieht im Himmel, wie die seligen Heerscharen dort die Messe zelebrieren und ihr Opfer darbringen — aber damit ist diese Vision eben abgeschlossen. Oder sie kommt auf eine Wiese, wo sie Jesus und eine Person, fur die sie im Gebete lag, trifft - aber sie besucht keine anderen Raume in dieser Schauung. Oder sie wird zu Christus entrtickt, der auf seinem Elfenbeinthron sitzt, von dem das Lebenswasser ausgeht. Wieder ist die Vision nach diesem einen Bild vorbei.623 Die oben festgestellten Veranderun- gen, die in einigen Visionen dieser zweiten Gruppe zu beobachten sind (Hadewijch!), widersprechen dem hier Gesagten insofem nicht!, als es sich auch dort nicht um eine Abfolge von topographisch verbundenen Platzen handelt, wie regelmafiig bei dem alteren Visionstyp, sondem um ein sich Verwandeln des einen Raumes in etwas anderes, das nicht in irgendeiner Weise einem Nebeneinander, sondem vielmehr einem Identischsein ent- spricht. Wir haben nun die visionaren Raume an sich zu beschreiben versucht und dabei festge- stellt, dafi es hier zwei Gruppen gibt, namlich eine besonders in der Zeit des Friih- und Hochmittelalters auftretende, in der vor allem die eschatologischen Orte des Jenseits ge- schaut werden, diese Orte ausfUhrlich, plastisch und detailreich geschildert werden sowie in einzelne Regionen unterteilt sind, und eine zweite Gruppe, im Hochmittelalter begin- nend und im Spatmittelalter andauernd, deren visionaren Orte meist undifferenziert und blafi erscheinen, nur kurz geschildert werden, und wo in einer Vision nur ein Raum geschaut zu werden pflegt. In der ersten, friiheren Gruppe werden konkrete Landschaften mit zueinander konstanten Elementen erlebt, in der zweiten, spateren tendieren die Raume zum Abstrakten, Ungreifbaren, Unstabilen, sind Veranderungen moglich. Ruhe und Bewegung Als nachstes ist nun die Beziehung der Charismatiker zum visionaren Raum zu untersu- chen. Achtet man auf das Verhaltnis von Ruhe und Bewegung, so ergeben sich abermals zwei Klassen: in vielen Visionen ist der Visionar in dieser Hinsicht sehr aktiv, bewegt sich durch weite Raume. In vielen anderen Visionen ist er in Ruhe, befindet sich im visionaren Raum, ohne ihn zu durchmessen, wird passiv von ihm umhiillt. 623 Lib. spec. grat. 5,3; 4,35; 1,5
132 Visionar und Raum Von den Texten der ersten Gruppe lassen sich viele einpragsame Passagen zitieren, aus denen das Erleben einer Jenseitswanderung spricht. Analysiert man etwa die erste Vision in der Chronik des Hugo von Flavigny, die in Dialogform gegeben ist, so stofit man andauemd auf Verben der Bewegung: die Seele des Monchs wird vom heiligen Michael durch das Jenseits geleitet: «Angelus. <Non dimittam te, veni sequere me. Vide.>... Anima. <0 domine, quam longa via est ubi est paradisus?> Angelus. <Eamus, sequere me.> Anima. <Sequor te.. .> <Quare non dimittis me?> Angelus. <Non dimittam te, nisi veniemus ad Salvatorem.> Angelus. < Veni eamus.>... Angelus. <Sequere me.> Anima. <0 sancte Michael, ubi debeo sequi te?> ...Angelus. <Modo ibimus ad infernum.> ...Anima. <0 domine, ne permittas me intrare.> ...Angelus. <Sequere me. Modo veniemus ad magnam et fortem aquam ... Veni, ostendam tibi. Sequere me... Eamus de isto periculo. Sequere me.»> usf.624 Der Engel mufi diesen erschrockenen Menschen regelrecht hinter sich herziehen und ihm von Zeit zu Zeit erlauben, sich zum Ausrasten niederzusetzen, damit er das Jenseits schau- en kann. Aber normalerweise brauchen wir die Bewegung nicht nur aus den Gesprachen des Visionars zu erschlieSen, sondern finden ganz eindeutige Beschreibungen. Der heilige Raphael hat Gunthelm das Paradies gezeigt. «Et exeuntes inde, coeperunt ad dissimilem et longe aliam descendere regionem, ad terram tenebrosam et opertam mortis caligine, ter- ram tenebrarum et miseriae, per uiam praecipitem et iter lubricum.»625 Der Visionar wird also nicht irgendwie von einem Ort zum nachsten versetzt oder von seinem Engel durch die andere Welt getragen, sondern hat den Weg selbst zuriickzulegen. Sehr plastisch wird dies in den Visionen Gottschalks und Tundals geschildert. Sein Schutzengel hat Tundals Seele beim Tode von den Angriffen der Damonen befreit, die den Sunder unter Hohnreden zur Holle schleifen wollten. «Angelus vero precedens dixit ad animam: Sequere me ... Cum- que longius simul pergerent et nullum preter splendorem angeli lumen haberent, tandem venerunt ad vallem valde terribilem.. .»62* Nachdem Tundal diesen Qualort betrachtet hat, befiehlt der Engel: «Proficiscamur, grandis enim nobis restat via. ... Igitur profecti vene¬ runt ad montem.. .»627 Nachdem sie so verschiedene Platze durchschritten haben, kommen sie an eine Brucke, die zwar tiber einen mit Ungeheuem gefiillten Feuersee fiihrt, aber bei einer Lange von zwei Meilen nur eine Handbreit schmal ist und dazu dicht mit Eisennageln gespickt. Da so die Diebe bufien, erhalt Tundal, der sich dieser Sunde im Leben schuldig gemacht hat, den Befehl: «Festinemus, quia istum pontem transire debemus. At ilia [sc. Tundali anima]: Tu quidem, ait, per divinam potentiam transire poteris, me vero tecum, ut reor, conducere nequaquam valebis. Non ego, inquit angelus, tecum transibo, set tu ipsa per te transibis ...» Strafverscharfend mufi der Visionar eine wilde Kuh, die er einstmals gestohlen, iiber die Briicke fiihren. «Anima autem cum cepisset iter agere, vacca nolebat cum ea ire. Quid amplius moramur? Cum stabat anima, cadebat vacca, et dum vacca stabat, cadebat anima, et sic versa vice modo stabant et modo cadebant, usque dum ad medium pontem veniebant.» Da kommt Tundal eine andere diebische Seele entgegen, so 624 Chron. 2, MG SS 8, 382 ss 625 Constable, Gunthelm 109 626 Visio Tundali 3 s, Wagner, Tnugdali 12 627 ibid. 4 s, ed. cit. 13 s
Aktive Bewegung durch das Jenseits 133 dafi der Weiterweg versperrt ist. «Et sic dolentes stabant et stantes pontem plantarum sanguine cruentabant.» Irgendwie kommen die beiden Seelen dann doch auf ihre jeweilige Seite hiniiber. Als Tundal nun seine zerstochenen Fiifie dem Engel zeigt «et conquessa est, se amplius non posse pergere, respondit: Meminisse debes, quam veloces erant pedes tui ad effundendum sanguinem ...», um ihn schliefilich doch zu heilen.628 Die Korrespondenz zwischen den diesseitigen und den jenseitigen Wegen, die hier ausgesprochen ist, kommt ja auch ganz deutlich in anderen Visionen zum Ausdruck, zum Beispiel wenn es bei Gott- schalk oder William Staunton heifit, wer auf Erden eine Briicke gebaut, komme ohne Schwierigkeiten uber den furchtbaren Jenseitsstrom.629 Selten aber ist eine solche Realistik erreicht, wie in dieser Schilderung Tundals.630 Dieses immer in Bewegung Sein, Fortschrei- ten, dem Fiihrerengel Folgen gilt genau so fur die himmlischen Regionen. Gottschalk, der iibrigens auch ahnliche Erfahrungen mit einer Dornebene machen mufi, wie Tundal631, findet sich am vierten Tag seiner Vision in Betrachtung der Himmelsbasilika, da «angelus affabilis Godeschalco ulterius eis progrediendum esse intimavit. Querente igitur illo, quo- nam eundum eis esset, angelus ad generalem conventum sollempnitatis bead Andree ..., procedendum eis esse pronunciavit. ... Cum ergo aliquamdiu processissent, venerunt, ubi multitudinem infinitam populi collectam repererunt ...»632 «Progredi, procedere ...», es ist ein immer Weiterschreiten, das diese Visionare erleben. Und gerade dies ist ja wieder ein Hinweis auf die grofie Konkretheit, mit der in dieser Phase jenseitiger Raum erfahren wird: nicht nur sichtbar, nicht nur riechbar, nicht nur horbar, sondern auch durchmeSbar, mit Fiifien zu betreten, mit Handen zu greifen. Die sicher schonsten Formulierungen fur dieses intensive Erlebnis des Wandems durch die andere Welt liest man in der Vision des Olav Asteson, dem «Draumkvasde», womit die Reihe der Beispiele fur diesen Visionstyp beendet sei: (11) Eg hev fart ivi vigde vatni a ivi djupe dalar; hoyrer vatn, & ser de inkji - unde jori so mune de fara. For manen skin’e a vegjine fadde so vie. (21) Eg hev gjengji Gjaddarbrui, ho as b&de bratt a lei; vassa so hev eg dei Vasemyran, no as eg kvitt’e dei. For etc. 628 ibid. 8, ed. cit. 19 ss 629 Dinzelbacher, Jenseitsbrticke 181 ss 630 Die Bemerkung Spillings, Tnugdali 183 s vom «Tanz, den er dort oben mit seiner Kuh aufge- fuhrt», scheint mir doch den blutigen Ernst dieser Prufung zu verharmlosen 631 Visio A 4 632 ibid. A 42, Assmann, Godeschalcus 126
134 Visionar und Raum (23) Eg hev gjertgji Gjaddarbrui, к der va krokane pd; men eg totte tyngre dei Gaglemyran, gud bsere den dei sko gd9 For etc.633 (Ich bin dahingefahren tiber geweihte Wasser / und hin uber tiefe Taler / ich horte das Wasser und sah es nicht / denn unter der Erde fliefit es. / Denn der Mond scheint, / und die Wege ziehen sich so weit hin. - Ich bin uber die Jenseitsbrucke gegangen / die ist steil und schwierig; / durchwatet habe ich das Sumpfmoor / dessen bin ich nun ledig. - Ich bin liber die Jenseitsbrucke gegangen / und da waren Haken darauf / aber schlimmer fand ich das Gansemoor / Gott trage den, der da gehen soil.) Viel schwerer ist es, Beispiele fur die zweite Gruppe zu geben, da das Ruhen, die bewegungslose Schau dieser Charismatiker eben kaum verbal zum Ausdruck gebracht wird, sondem vor allem aus der Abwesenheit jeglicher Bewegungstermini erhellt. Wurden die Visionare der ersten Gruppe von einem Engel oder Heiligen in die andere Welt gefuhrt, so weiS etwa Mechthild von Magdeburg gar nicht, ob sie in den Himmel versetzt wurde, oder ob der Himmel zu ihr herabgekommen ist; nur die die Vision konstituierende Veran- derung des Ortes ist ihr wohl bewuEt: «In minem gebete es also beschach, das ich nit weis, weder dc himelrich were geneiget zu mir, oder ich was gezogen in das wunerrich hus gotz.»634 635 Aufier der Erwahnung des Thrones des Himmelsvaters erfolgt dann keine weitere Bezugnahme auf die Jenseitstopographie und auch keine Bewegung in diesem Raum, sondem ein Gesprach mit einer verstorbenen Schwester. Oder Angela von Foligno: sie erzahlt, dafi ihr, in tiefes Nachdenken versunken, «subito fuit leuata mens, et posita in prima eleuatione ad unam mensam sine initio et sine fine; sed fui posita non ad uidendum ipsam mensam, sed ad uidendum illud quod erat super illam mensam; et uidebam plenitudinem unam inenarrabilem ... Et nescio aliud narrare de illo quod uidi. Sed anima michi reportauit istud uocabulum, scilicet, mensa; et quod fui posita in prima eleuatione ad unam mensam»/35 Eine zwar offensichdich bei aller Abstraktion eine Raumvorstellung wahrende Vision (Tisch, uber dem Tisch, bei dem Tisch); aber Angelas Seele wird dorthinein versetzt, ohne selbst eine Bewegung durchzufuhren. Es gibt keinen irgendwie gearteten Weg in diese andere Welt, den die Visionarin aktiv zuriickzule- gen hatte, sie bleibt passiv, schaut nur; ja das Raumliche dieser Schauung ist so ver- schwommen, daS sie sich gar nicht einmal sicher ist, ob durch das Wort iiberhaupt das Erblickte bezeichnet werden kann. Die bildliche Vision tendiert hier dazu, in die abstrakte «visio intellectualis» uberzugehen. Das «videre» schwebt zwischen der realen und der iibertragenen Wortbedeutung. Denn was sie uber dem Tisch «schaut», ist die «divina sapientia»: seit dieser Vision ist Angela fahig, alle «spiritualia» richtig zu beurteilen. Selbst 633 Мое, Skrifter 254, 268 634 vliess. liecht 2,20, Morel, Offenbarungen 41; - die lateinische Fassung 2,21: «nescio an caelum fuerit ad me inclinatum, vel ego rapta sim in admirabilem Dei domum», Monachi, Revelatio- nes 2,514 635 Doncoeur, Angele 51
Passives Umgebensein vom visionaren Raum 135 dies fallt ihr ohne alle Aktivitat zu, nicht einmal darum zu bitten hat sie. Dieser Eindruck von Passivitat wird ja auch durch die Wortwahl hervorgerufen: die auf sie beziiglichen Verba sind grofiteils passivi generis, das Schauen ist zunachst nicht mittels eines Verbum finitum, dessen Subjekt die Seherin zu sein hatte, ausgedriickt, sondern durch ein Gerun- dium. Das zweite Buch des «Legatus divinae pietatis» - das einzige, das von Gertrud selbst stammt - beginnt mit einer Vision, die ebenfalls das Bewegungsmoment vollig ausgeschal- tet hat. Hier ist noch ein gleichzeitiger Rest des Tagesbewufitseins erhalten, der der Visio- narin ihr eigentliches in Ruhe Sein gegenwartig halt. Sie begegnet im Schlafsaal einer alteren Schwester, da erscheint ihr plotzlich ein hoidseliger Jungling, wahrend dessen Anrede «quamvis me corporaliter scirem in praedicto loco, tamen videbar mihi esse in choro, in angulo quo tepidam orationem facere consuevi...». Als sie sich spater umdreht, sieht sie sich von einem unabsehbar langen Domzaun von dem Jungling getrennt, der sie dann ergreift und neben sich stellt.636 Die Visionare der alteren Gruppe hatten diesen Zaun iibersteigen miissen, so wie noch Ida von Nijvel die Briicke zu Christus hin uberschreiten muftte.637 Gertrud aber in ihrer Passivitat mufi hiniibergehoben werden. Gleichzeitig illu- striert diese Vision das Umgebenwerden von einem visionaren Raum, in den man nicht mehr hineingefuhrt werden mufi, sondern in dem man sich plotzlich befindet. Es ist keine Frage, daft hier Raumelemente Trager eines symbolischen Gehaltes sind, denn der Zaun ist die Konkretisierung der Worte des Christus-Jtinglings: «Cum inimicis meis terram lambi- sti638, mel inter spinas linxisti, tandem revertere ad me.» Das Zusammensein mit den Feinden des Herrn bedingt das Getrenntsein von ihm selbst. Sinnfalliger Ausdruck dieser Trennung ist der aus den angesprochenen «Domen» entstandene Domzaun: Gertrud assoziiert offenbar: Trennung — Trennendes — Domen - Domzaun. Wenn Jesus diese Trennung aufhebt, so ist dies der Einbruch der gottlichen Gnade - die Nonne verwandelt sich durch ihr Erlebnis: «Nam ex tunc ... ego jugum tuum suave et onus tuum leve6388 reputarem, quod paulo ante velut importabile judicavi.» Erwahnen wir vielleicht noch Gertruds Visionen am Festtage der Aufnahme der Ma¬ donna. Sie glaubt, diesem Fest im Himmel beizuwohnen, hort den Chor der Engel und Apostel, sieht den Eingang Mariens in den Himmel, eine Blumenau, schaut die Thronset- zung der Himmelskonigin usf. - aber Gertrud ist dabei in volliger Ruhe, beobachtet, geht aber selbst nicht mit.639 Mechthild von Hackeborn wird bei einer Himmels- und Fegfeuer- vision von Christus ausdriicklich darauf aufmerksam gemacht, daft sie diese Jenseitsreiche nur durch ihn sieht, nicht aber sich dort befindet640 - wahrend bei den Visionaren der alteren Phase der Eindruck, wirklich dort gewesen zu sein, sehr stark ist, - wobei gerne Paulus zitiert wird: «sive in corpore, sive extra corpus, nescio» (2. Cor. 12,2). Daft ein Seher, der nach den anderen Typica seiner Vision eher zu dieser Gruppe zu zahlen ist, 636 Leg. div. piet. 2,1, SC 139, 230 s 637 Vita 9, Dinzelbacher, Ida 180 s 638 cf. Ps. 71,9 638a Matth. 11,30 635 Leg. div. piet., 4,48
136 Visionar und Raum einen visionaren Raum richtiggehend durchwandert, wie Klaus von Flue, gehort zu den Ausnahmeerscheinungen. Allerdings gibt es hier Mystikerinnen, die ihre Visionen so darstellen, als ob sie nur bildhafte, vermenschlichte Umschreibungen abstrakter Erlebnisse waren. So die eben ge- nannte Angela einmal: «Non uidebam secundum formam aliquam» und «... non est similitudo mensurabilis uel sensualis; quia in intellectu est secundum operationem gratie diuine ineffabilem».641 Dies ist zunachst auf jeden Fall eine besondere Form des Unsagbar- keitstopos, der auch den konkretesten Schauungen mitgegeben wird, da die Intensitat ekstatischer Eindriicke offenbar tatsachlich nicht in der alltaglich gebrauchten Sprache formulierbar ist. Auch ein so in «handfesten» Bildem schwelgender Seher des I. Typs wie etwa Gottschalk bekraftigt, die Dinge, die er in der anderen Welt geschaut, waren «tarn inenarrabilia, ut nec vox humana promere possit nec aures aut corda capere valeant».642 643 Gesetzt auch, es wiirden in einigen Fallen tatsachlich erst zu abstrakten Erlebnissen diesel- bigen reprasentierende Bilder dazuerfunden, so gibt jedenfalls die erdriickende Uberzahl der Texte nicht nur die Schilderung eines real mit den «Augen der Seele» Gesehenen, sondern ebenso Geschmeckten, Gehorten, Gefuhlten, Gerochenen ... Auf Grund dieser Uberfiille eindeutiger Zeugnisse scheint es auch bei den wenigen als Gleichnis fur Unbe- schreibliches bezeichneten konkreten Visionsbildern richtig zu sein, sie als reale, bildhafte Schauungen - wenn auch unterschiedlicher Plastizitat - zu nehmen, zumal auch diese Visionare bei den meisten ihrer Gesichte in ein «ich sah ...» mit nachfolgendem konkreten Bild zuriickfallen. Der Unsagbarkeitstopos und der Anspruch, alles greifbar Bildliche als Erscheinung eines an und fur sich Unsichtbaren und Unkorperlichen verstehen zu miissen, diirften zu Aussagen wie der oben zitierten Angelas gefuhrt haben. Nur wenn ein Bild also ausdriicklich als nicht geschaut bezeichnet wird, mufi es in die Nahe der «Visio intellectua- lis» geriickt werden und entfallt als Quelle fur diese Untersuchung. Emotionelle Reaktionen Es kommt nun eine weitere Verschiedenheit zwischen Тур I und II hinzu: fur die Visionare der ersten Gruppe enthalt der Raum eine bedrohliche oder erfreuliche Konnota- tion; sie haben eine Beziehung zu diesem Raum, der, wie aus ihren Darstellungen hervor- geht, auf ihre Gefiihle einwirkt. Es ist jener visionare Raum, der als negativ oder positiv empfunden wird, auch wenn von der Fiihrung durch Damonen oder Engel die Rede ist, wie folgende Stellen zeigen mogen: Da wird der Monch Bonellus in seiner ersten Vision von einem Boten Gottes gefuhrt «in amoenissimum jucunditatis locum;... in cellulam ex auro purissimo, lapidibusque ... et margaritis constructam ...». Dort gibt es «zetulae*** exstructae, atque camerae ...», die in vielfachem Glanz erstrahlen. Zum Schlufi meint Bonellus: «Quid multa dicam, aut quid cogitem? Nam habitaculi hujus atque loci illius 641 Doncoeur, Angele 69,66 642 Vis. В 24,1, Assmann, Godeschalcus 192 643 cf. diaeta = Zimmer
Ergriffenheit vom jenseitigen Raum 137 pulchritudo inaestimabilis et incomparabilis est ...»644 645 646 Der «Ort» ist es, der die «Freude» schenkt. Keine Rede von einer Begegnung mit irgendeiner der himmlischen Personen; keine Rede von einem Interesse an seinem englischen Fiihrer. - Oder das Gegenteil: Da wird etwa Heinrich von Ahorn vom Teufel in die Unterwelt geschleppt: «Trahitur, angu- stiatur et ad penarum loca perducitur ibique uia deorsum uergens lata fumanti sulphure et acutis clauibus asperrima ad trahendum animas infidelium ad penas ignis etemi preparata ei monstrata est. In cuius uisione nimium exterritus turbatur .. .W5 Hier ist der Schrecken Eigenschaft jenes hollischen Weges zum Verderben, wenngleich freilich hier auch die Art der «Beforderung» und der sie ausfiihrt, furchtbar genug sind. Oder man erinnere sich an die oben zitierte Passage der Vision Gunthelms, wo es hiefi, dafi ein steiler und schltipfriger Weg zu der von Todesdunkel verschatteten «terra tenebrarum et miseriae» hinabfuhrt, woran sich folgende Aufierung iiber Gunthelms Empfinden anschliefit: «Quam cum noui- cius circumspiciens ualde nimirum expauesceret ...»мб Ublicher- und verstandlicherweise sind die uberirdischen Regionen dem Visionar Ursa- che der Freude, wie expressis verbis in der Vision Thurkills zu lesen steht: der Bauer wird zu einer edelsteingezierten Pforte in einer goldenen Mauer gefiihrt. «Statim ut portam intraverunt apparuit quoddam templum aureum multo magnificentius priori in omni pulchritudine et suavitatis dulcedine ac choruscantis luminis splendore ita ut nullius jocun- ditatis aut amoenitatis reputaret loca prius visa ad hujus loci respectum.»647 Es ist der Ort, der diese aufierste «jocunditas» schenkt, und keineswegs die drei Heiligen, die Thurkill dann dort vorfindet. Aber die grolSere emotionelle Reaktion ruft doch regelmafiig die Schreckenslandschaft der unterirdischen Bereiche hervor. Die kurze Jenseitsvision eines Zisterziensers berichtet, wie er vom heiligen Augustinus in die obere und untere Welt geleitet wurde, um wahlen und danach sein Leben einrichten zu konnen. Er gelangt «per innumera loca poenarum et usque ad ipsum putei gehennalis ingressum, in quern ex alto prospiciens trementibus membris et palpitante anima prae pavore intolerabili vidit illam tartaream ardentis abyssi voraginem plenam clamoribus horrendis ...». Dagegen wird bei der folgenden Beschreibung der himmlischen Ruheorte keine Empfindung des Monches mehr geschildert.648 Wenn man die ausfuhrlichen Visionen des 12. Jahrhunderts durchliest, dann stofit man immer wieder auf diese Betroffenheit des Sehers vom Raum her, die ein autarker Eindruck neben dem von Personen in diesen Raumen hervorgerufen ist (Damo- nen, Heilige, Gott, andere Seelen und deren Schicksale). Da ist regelmafiig die «vallis terribilis» und andererseits der «campus amenissimus»649, Worte die immer wiederkehren, schon zum Topos geworden. Allein durch die Wahl der Adjektive, bei denen emotionell gefarbte meist zusammen mit rein deskriptiven verwendet werden, spricht sich dieses Ergriffensein von der Landschaft aus. Es ist der Raum selbst, der straft und qualt, nicht einmal immer die Damonen. Edmund beschreibt ausfiihrlich ein sehr tiefes Tal zwischen 644 Valerius v. Bierzo, Opuscula 20, PL 87, 433Ds. 645 DOnninger, Elemente 80 646 Constable, Gunthelm 109 647 Visio 22, Ward, Thurkill 459 648 Konrad v. Eberbach, Magn. Exord. 4,4, Griesser, Exordium 229 s 649 Visio Alberici 3; 20; Inguanez, Cod. 87; 95
138 Visionar und Raum hohen Schroffen, das von einem Sumpf «amplitudine altissimum, teterrimo latice horren- dum, quod nebulam fetoris indicibilis iugiter exalabat» erfiillt ist. Dort wird die in den Visionen so beliebte Strafe abwechselnder Hitze und Kalte vollzogen. «Imminens vero hac ex parte stagni montis latus, rogum, ad ipsam usque cell cameram, succensum emittebat. Ex opposito autem promontorio collis eiusdem tanta frigoris immanitas certatim nivis et grandinis sevientibus procellis rigebat, ut illo eatenus algore nichil penalius me conspexisse putaverim.» Es sind iibersteigerte Naturkrafte, denen die Sunder dort ausgesetzt sind, wenn sie «turbinibus ventorum, frigoribus nivium, et grandinum asperitatibus» gequalt werden. Von Damonen als Foiterknechten ist in diesem ganzen Kapitel keine Rede, aus- driicklich sind es diese schrecklichen Ortlichkeiten, durch die die Vergeltung im Jenseits geiibt wird. «Omnium qui illo loco cruciabantur ista fuit conditio, quod ad perficiendam purgationis sue plenitudinem, omnia illius loci a principio usque ad finem permeare coge- bantur spatia.»6S0 Andererseits (aber charakteristischerweise wieder viel kiirzer beschrie- ben) ist es auch im Paradies die Landschaft, die dem Visionar und den gereinigten Seelen unglaubliche Freude bereitet: «Hinc odoris fragrantia suavissimi nec multo post campi multimoda florum iocunditate vemantis amenitas incredibiliem nobis prestitit volup- tatem.»651 An der Vision Gottschalks lafit sich exemplarisch zeigen, wie intensiv die Seelen von der Landschaft des Jenseits ergriffen werden, von der ihr Leid und ihre Wonne abhangen: ihr ganzer Gefuhlszustand andert sich namlich mit dem Wechsel des Schauplatzes. Nachdem die Seelen «asperrimum illud iter»652 durch die verschiedenen Gefilde des Purgatoriums zuriickgelegt haben, kommen sie an einen Dreiweg, wo sie von einem Engel in die jeweils ihnen zukommende Richtung gewiesen werden, himmel- oder hollenwarts. «Hactenus res sub silentio... agebatur. Postquam vero primi illi viam illam acclivem... ingressi sunt, subito transfigurati in vocem exultationis et confessionis prorumpentes dulcisona nimis et altisona iubilatione gloriam et honorem domino afferebant... Agmen quoque illud media progrediens via, ...non mediocri claritate consone vocis in latitudine tante amenitatis ambulantes cantabant in viis domini... tot о tamen desiderio contemplabantur ammirabi- lem viam et viatorum gloriam per viam dextram ascendentium... At illi miseri... penam graviorem prioribus previdebant, infelicitatis sue cumulum querelosis gemitibus exagge- rantes luctuosum nimis clamorem vocibus confusis per totum illud execrandum iter suum horribiliter multiplicabant.»653 Die Korrelation Weg - Befinden ist hier eindrucksvoll dar- gestellt, indem das verschiedene Verhalten der drei Gruppen beschrieben wird, deren Aufierungen, Gesang und Klage, Spiegel ihres, je nach dem Ort, auf den sie zuschreiten, verschiedenen Empfindens sind. Dieses intensive Raumerlebnis der Visionare der ersten Gruppe, fur die mit dem betrete- nen Raum eine implizite oder explizite Gefiihlskonnotation gegeben ist, ist bei den Vertre- tem der zweiten Gruppe nicht mehr festzustellen. Die relative Belanglosigkeit des Umrau- mes, in dem sich die Vision abspielt, zeigte sich ja bereits an dem geringen Umfang, den die 650 Visio 17, Thurston, Eynsham 258 651 ibid. 49, ed. cit. 308 652 Visio A 7,2, Assmann, Godeschalcus 58 653 ibid. 18, ed. cit. 68 ss
Desinteresse am Raum 139 Beschreibung (oder besser: Erwahnung) der visionaren Ortlichkeiten besitzt. Wird auf diesen Raum weiter eingegangen, so erfolgen keine emotionellen Reaktionen der Visionare auf ihn, wenigstens keine, die aufzeichenswert erschienen waren. Der visionare Raum ist fur diese Gruppe, so hat man den Eindruck, die eher neutrale Kulisse, vor der sich die Beziehungen zu Personen der Uberwelt abspielen, auf welche es ihnen ankommt. Es gibt in Hadewijchs erster Vision einfach keine Erwahnung des Eindrucks, den dieses Gefilde auf sie gemacht hatte, in dem sie sich da findet. Sein Aussehen wird nicht geschildert, nur das der einzeben Baume, die die verschiedenen Tugenden symbolisieren. Oder die Stadt, die die Seherb in ihrer 12. Vision offensichtlich betreten hat: im Gegensatz zu den Visions- schilderungen des alteren Typs wird nichts von ihrem freudebringenden Aussehen berich- tet, keine Pforten und Mauem, keine Wohnstatten der Seligen erwahnt. Hadewijchs Vi¬ sion kreist vielmehr um das Antlitz des Geliebten und der mit 12 Tugenden gezierten Braut, als die sie sich selbst erblickt. Seuse erzahlt erne Vision «wie er ward gewiset in die vemunftigen schule zu der kunst rechter gelassenheit», in die er von einem Jibgling gebracht wird. Es ist «ein vernunftiges land, da was neiswaz sch6nes buses und daz was glich, als ob es geischlicher luten wonung weri».654 Das Adjektiv «schon» ist die ebzige, schwache Andeututng einer gewissen positiven Reaktion auf die neue visionare Umge- bung, die im iibrigen blafi und unreal bleibt, typischer «symbolischer» Raum der Visionare der zweiten Gruppe. Mechthild von Hackeborn wird vom Sohn Gottes zu einem visiona¬ ren Spaziergang eingeladen: «Die quadam... accepit: <Egrediamur in agrum>. Statimque visum est sibi quasi esset in campo magno, ubi diversae erant species rosarum, liliorum, violarum et aliorum florum.» Statt jetzt irgendwie anzudeuten, was sie beim Anblick dieser Blumen empfindet, werden diese sofort zu den Symbolen verschiedener Kategorien von Heiligen gemacht. Der Raum, die visionare Landschaft ist belanglos gegeniiber dem Sinngehalt. Von einer Erschiitterung oder Erquickung der Seele durch ihn ist keine Rede. Vielmehr wird die Beschreibung gleich auf den Gottessohn gelenkt: «Visus est etiam ibi ager pulcherrimi frumenti, in quo Dominus sedebat, ostensumque est illi quasi ager ille significaret omnem fructum qui de humanitate Christi Ecclesiae provenisset.»655 656 Zur Ver- deutlichung des Gegensatzes sei hier einmal direkt ein inhaltlich nicht unahnlicher Text aus der ersten Visionsgruppe danebengesetzt. Der visigothische Monch Maximus kommt unter der Fuhrung eines Engels des Lichtes «in amoenissimum locum, cujus venustissimi decoris speciem nulla hujus mundi pars, nec verno tempore potest habere similem, nec ulla cogitatio ejus comparationem potest adhibere ... diversarum namque herbarum totus ille jucundissimus pagus varia immarcescibilium florum specie erat picturatus; rosarum ruti- lante rubore, liliorum praemicante candore, purpureo, croceo, diversoque b discreto colo¬ re, cuncta praefulgebant corusco radiante decore ... Dum haec cuncta caeteraque inenar- rabilia, quae nec os meum sufficit ad loquendum, nec cor meum cogitationibus queat comprehendere, bsolito stupore mirarem, pervenimus in medium ejusdem siderei paradi- si...».*56 Wahrend also fiir diesen friihmittelalterlichen Visionar die Landschaft, der «wunderschone» Ort, ein Wert um seiner selbst willen ist, wahrend er sie (ausfiihrlicher, 654 Exemplar 1,119, Bihlemeyer 53 655 Lib, spec. grat. 3,16, Monachi, Revelationes 2,215 656 Valerius v. Bierzo, Opuscula 17, PL 87, 431s; PL: indiscreto
140 Visionar und Raum als hier zitiert) in Einzelheiten beschreibt, wahrend sie in ihm die Reaktion eines astheti- schen Ergriffenseins und ihm ungewohnten Staunens hervorruft, geht es der Mystikerin des beginnenden Spatmittelalters iiberhaupt nicht um den Raum, in den sie versetzt wird, er ist nur der unwesentliche Hintergrund fur die zentrale Figur des Menschensohns, auf den sich der ganze folgende Text bezieht, der Mechthilds Zwiesprache mit Gott enthalt. Die Schonheit der Blumen wird von ihr durch kein Beiwort angedeutet, sie nimmt sie blofi zur Kenntnis, reagiert aber nicht irgendwie auf sie, sondern entkleidet sie sofort von ihrem Schein, um sie als Sein (die Heiligen) zu interpretieren. Dem Maximus dagegen sind diese Paradiesesblumen Realitat, Sein, wachsend an einem Ort, an dem bleiben zu diirfen er den Fiihrerengel (vergeblich, wie in alien ahnlichen Visionen) ersucht. In eine vergleichbare Richtung geht die zitierte Vision Gertruds der Grofien, die einen umzaumten Garten schaut, in dem bunte Blumen prangen und Honig fliefit. Es ist unmog- lich, dies nicht als eine Kurzfassung der iiblichen Paradiesesdarstellung zu erkennen. Aber Christus lafit sie nicht etwa in diesem Garten verweilen, sondem - und hier setzt sich die personliche Beziehung gegemiber der zur visionaren Landschaft ganz ausdriicklich durch - stellt die Heilige vor die Frage, ob sie es ihm vorziehen wiirde, aus diesen Blumen Genufi zu schopfen. Leicht zu erraten, wofur sich Gertrud entscheidet.657 Nicht, dafi einer der friiheren Visionare nicht die gleiche Wahl getroffen hatte - das Wesentliche ist, dafi eben in der alteren Visionsliteratur eine solche Wahl gar nicht gestellt werden konnte, da die Gottheit viel zu erhaben und fern war, als dafi so direktes Hingerichtetsein auf sie moglich gewesen ware. Das beginnt ert im ausklingenden Hochmittelalter, in der Zeit einer Christi¬ na Mirabilis oder Ida von Nijvel. 6S7 Leg. div. piet. 3,4
DER VISIONAR UND DIE ZEIT Haben wir bisher auf das Verhaltnis des Visionars zum Raum geachtet und damit zwei deutlich voneinander absetzbare Gruppen von Sehern unterscheiden konnen, so ergibt die sich hier logischerweise anschliefiende Frage nach der Art der Zeiterfahrung keine so ausfiihrlich belegbaren Differenzen. Aussagen dariiber werden namlich innerhalb des vi- sionaren Erlebens nur recht selten gemacht, das subjektive Zeitempfinden wahrend der Ekstase wird nicht recht greifbar. Stellt man jedoch die Frage nach der «objektiven» Dauer der Visionen, wie sie von den Aufzeichnern mitgeteilt wird oder aus anderen Angaben erschlossen werden kann, so lassen sich wiederum die uns nun schon bekannten zwei Gruppen unterscheiden. Der erste Typ von Visionen hat eine Varianz von relativ kurzen Zeitspannen, bis, im langsten bekannten Fall, zu mehr als einem Monat. Der zweite Typ scheint dagegen eine Varianz von ebenfalls sehr kurzer Dauer bis zu circa zwei, drei Tagen zu besitzen. Im ersten Typ sind Visionen von mehreren Tagen durchaus das Obliche, im zweiten scheint der Durchschnitt nur bei mehreren Stunden zu liegen. Geben wir einige konkrete Daten in «chronologischer» Folge. Dauer der Ekstase Visiondr Quelle Vom ersten bis zum dritten Agnus der Mefifeier Christina Mirabilis Vita 1,8 Eine halbe bis eine Stunde Seuse Exemplar 1,1 Eine Stunde oder mehr Benevenuta Vita 4,40; 10,80s Zwei Stunden Osanna Vita P 10,145 Drei Stunden Zweiter Monch Hugo von Flavigny, von S. Vaast Chron. II, a.a. 1012 Einige Stunden Monch Konrad von Eberbach, Magn. Exord. Cist. 4,20 Einige Stunden Gerardesca Vita pass. Sechs Stunden Erster Monch Hugo von Flavigny, von S. Vaast Chron. II. a.a. 1011 Sieben Stunden Veronica v. Binasco Isidoro Isolani, Vita 5,1 Iй Sieben Stunden Gottfried Trithemius, Annales 2,150 Neun Stunden Bemold Hincmar von Reims, de vis. Bern. Zehn Stunden Juliana von Norwich Reynolds, Offenbarung 29
142 Visionar und Zeit Dauer der Ekstase Visionar Quelle Eine Nacht Salvius Gregor von Tours, Hist. Franc. 7,1 Eine Nacht Drycthelm Beda, Hist. Eccl. 5,12 Eine Nacht Wetti Heito, Vis. Wettini, Praef. Eine Nacht Eadulf Simeon v. Durham, Hist. Dun. eccl. 3,23 Ein Tag Rannveig Gudmunda Saga Arasonar 28 Ein Tag Lukardis Vita 15 Ein Tag u. erne Nacht Barontus Vis. Bar. 2 Ein Tag u. eine Nacht Thurkill Vis. Thurk., Introd. Zwei Tage Edmund Vis. Mon. de Eynsh. 6 Zwei bis drei Tage Elsbeth Achler Vita 9 Drei Tage Boso Simeon v. Durham, Hist. Dun. eccl. 4,9 Drei Tage Gunthelm Constable, Gunthelm 106 Drei Tage Heinrich von Ahorn DOnninger, Elemente 80 Drei Tage Tundal Vis. Tnugd. 1 Drei Tage William Helinand von Froidmont, Chron. a. a. 1146 Drei Tage Visionarin aus Carcassonne Roth, Handschrift 223 Funf Tage Gottschalk Vis. Godesch. A 1 Funf Tage Blasius Vita S. Bemardini [Append.] 36 Acht Tage Christine v. Stommein Vita Neun Tage Alberich Vis. Alb., Praef. Zwei Wochen Orm Vis. Orm 2 Zwei Wochen Olav Asteson Draumkvaede 2 Funf Wochen Nial Wulfstan von York, Homil. 43s (37) Bei den Charismatikerinnen der spateren Gruppe schwankt oft die Dauer ihrer Visio- nen. So scheinen sie bei Elisabeth von Schonau teilweise sehr kurz, teilweise doch langer gewesen zu sein; Hadewijchs Schauungen dauerten zwischen einer halben Stunde und drei Tagen658, von Elsbeth Achler wird einmal eine Ekstase von sechs Stunden berichtet, eine 658 Mierlo, Visioenen 2,70
Dauer der Entraffungen 143 andere mufi zwei bis drei Tage gedauert haben659; Ahnliches gilt fur Francesca v. Rom.660 Es ergibt sich also fur die Dauer der Visionen des ersten Typs eine Bandbreite von einigen wenigen Stunden bis zu mehreren Wochen, wahrenddem die Visionen des zweiten Typs von einigen Minuten bis zu wenigen Tagen andauem. Damit sind, wie ich betonen mochte, die Schwerpunkte schon eindeutig gesetzt: die Visionen der alteren Phase neigen zu teilwei- se wesentlich langerer Dauer als die der jiingeren; aber zwei Schwierigkeiten verhindern eine wirklich exakte Aussage auf diesem Gebiet: 1. wird, wie bemerkt, bei vielen Visionen keinerlei Angabe zur Dauer gemacht und 2. ist nicht unbedingt gesagt, dafi die Zeit der Ekstase in jedem Fall mit der der Schauung identisch sein mufi. Ist Alberich wirklich ganze neun Tage von Petrus durch die Jenseitslandschaften gefiihrt worden, oder gab es dazwi- schen nicht auch andere Stadien, vielleicht zeitweilige Riickkehr zu einem verminderten und daher in der Erinnerung gar nicht registrierten Tagesbewufitsein? Aus den mittelalter- lichen Quellen lafit sich eine Entscheidung daruber nicht fallen; grofiere Wahrscheinlich- keiten wird moglicherweise ein Vergleich mit modernen psychologischen Untersuchungen erbringen. Wendet man sich den sparlichen Bemerkungen der Visionare zu, in denen sie ihr Zeit- erlebnis erwahnen661, so fallt ihre Unsicherheit im Beurteilen der verflossenen Dauer auf. Dabei kommt es sowohl zu einem Uber- als auch zu einem Unterschatzen der vergangenen Zeit. Ein krasses Beispiel fur das Erstere bietet die Vision des dritten Raubers in den Franziskusakten. Von der Dauer seiner Entriickung heifit es dort: «Et non plus temporis fluxerat nisi a post matutinum usque ad ejusdem noctis auroram, quamvis sibi videretur esse per plures annos.»662 663 Die paar Nachtstunden erscheinen dem Visionar, der unter grofiten Schwierigkeiten den Weg zum Himmel gefunden hatte, wie viele Jahre. Ein Engel hatte ihn namlich uber die glatte und schmale Jenseitsbriicke gefuhrt, wo er ihn verliefi, mit seinen Fliigeln dem himmlischen Jerusalem zueilend. Dem Franziskaner, der solche Strafe wohl in seinem friiheren Rauberleben verdient hatte, wird der Ubergang dorthin nicht leicht gemacht: dreimal wachsen ihm Fliigel, die er jedoch anfangs immer zu rasch gebrauchen will, sodafi er wieder auf die Brucke zurtick stiirzt. Erst als er dann lange genug abwartet, das heifit, lange genug durch die Todesangst vor den unter der Brucke hausenden Drachen, Skorpionen und Kroten purgiert worden war, sind die Fliigel stark genug geworden, um ihn zu tragen. Schon bei dieser Gelegenheit heifit es «Et visum est sibi quod inter primam et secundam et tertiam emissionem alarum per annos centum quinqua- ginta et amplius exspectasset».6*3 Auch wenn es sich hier um eine ins Marchenhafte6638 gehende Ubertreibung handelt, verstandlich aus der besonderen Situation, so zeigt sich doch, wie grundsatzlich verschieden irdische und jenseitig-visionare Zeit erlebt werden konnen. 659 Vita 13; 9 660 Armellini, Vita pass. 661 dazu cf. auch G6rres, Mystik 2,276 662 Actus B. Franc. 29,60, Sabatier, Actus 105 663 ibid. 29,51, ed. cit. 103 6638 cf. Felix Karlinger, Das Zeitproblem bei der Jenseitsfahrt, Rev. de Dialectologia у Tradiciones populares 32,1967, 217-224
144 Visionar und Zeit Auch aus der alteren Vision des Iren Laisren lafit sich erschliefien, daf? der Visionar seinem Zeitgefiihl nicht trauen kann, denn er rechnet damit, dafi seit seiner Entraffung eine Seuche in seiner Heimat ausgebrochen ist, da er die Sunder der Insel am Holleneingang sieht. Tatsachlich ist es aber eine ungewohnliche Schau des zukunftigen Schicksals dieser Menschen, das aber noch durch ihre rechtzeitige Reue abgewandt werden kann.6*4 Lais¬ ren offenbar hat keine Vorstellung dariiber, wie lange er sich schon in der anderen Welt befindet und tendiert also zur Oberschatzung dieser Zeit. Ein Gegenbeispiel, namlich fur die Unterschatzung der tatsachlich verlaufenen Dauer, finden wir in Orm’s Vision. Er war ca. zwei Wochen in Ekstase gelegen. Befragt, ob er wiifite, dafi sein Leib auf Erden verblieben sei, gab Orm zur Antwort: «Totum me, inquid, ductum esse putabam, et una hora non mihi videbar in visione fuisse»664 665, was wegen der Stellung der Negation nicht ganz eindeutig ubersetzbar scheint, aber wohl soviel heifit, wie «nicht einmal eine Stunde meinte ich, in der Vision gewesen zu sein». Klarer ist es bei Thurkill, der etwa 24 Stunden im Jenseits gewesen war, und beim Aufwachen «Non enim tunc arbitrabatur se amplius dormisse quam per unam noctem».666 Die Zeitdifferenz ist hier allerdings relativ gering. Auch Edmund von Eynsham, der zwei Tage und Nachte in Ekstase lag, weifi nichts dariiber, sondem sagt «Moram quoque in visione ilia que michi ostensa est me aliquam fecisse non credidi; sed tantummodo sexte ferie matutinas tunc primum percantatas estimabam»667, das heifit, er meint immer noch an demselben Tag zur selben Stunde zu sein, da seine ekstatischen Schauungen begannen. Margery Kempe ist von ihren Gesprachen mit dem Herrn verstandlicherweise so fasziniert, dafi ihr dabei fiinf oder sechs Stunden wie eine einzige vergehen.668 In einigen Visionen wird auch darauf hingewiesen, daS der Charismatiker nicht in der Lage ist, wahrend der Vision selbst die Zeit einzuschatzen. So heifit es in der oben erwahn- ten Vision des Thurkill ausdriicklich «De distinctionibus horarum aut termino diei vel nocds vir ille ignorabat nisi a ductore edoctus».669 Und Gottschalk berichtet, «... dies ibi sine noctis interpolacione, sole scilicet ad occasum nunquam vergente, continuus fuit... Longitudinem vero dierum nostrorum consideracione animi tantum pensavi».670 Da in der anderen Welt, je nachdem, ewige Nacht oder ewiger Tag herrscht, sind schon von der Erwartung des Visionars her Holle und Himmel zeitlos, ewig, unmefibar. Wahrend der englische Bauer auf die Informationen von seiten seiner Fiihrer angewiesen ist, versucht der deutsche wenigstens eine Schatzung; aber der fur ihn wichtigste Zeitmesser, die Bewe- gung der Sonne, fehlt ihm. Was die Zeitebene betrifft, in die der Visionar versetzt wird, so handelt es sich in den allermeisten Fallen einfach urn die Gegenwart; Gesichte, die in der Zukunft spielen oder 664 Visio 7 665 Visio 7, Farmer, Orm 82 666 Visio Introd., Ward, Thurkill 444 667 Visio 57, Thurston, Visio 317 668 Book 1, 87 669 Visio 16, Ward, Thurkill 455 670 Visio В 24,3, Assmann, Godeschalcus 192ss
Subjektives Zeiterleben 145 auf diese Bezug haben (Ulrich von Augsburg, Dunstan, Gunther von Bamberg*71, Gerardes- ca671 672, Mechthild von Magdeburg673) kommen nur selten vor, haufiger ist wohl die Verset- zung in die Vergangenheit, da ja viele spatmittelalterliche Charismatikerinnen Zeugen der Lebens- und Leidensgeschichte des Herrn werden (Elisabeth v. Schonau, Gertrud d. Gr., Benevenuta, Agnes Blannbekin, Margery Kempe, Francesca von Rom, Veronica von Bi- nasco ...). Der Zeitpunkt des Eintritts der Ekstase scheint in der I. Gruppe ganz zufallig zu sein, wogegen die spateren Visionarinnen, die ja eine Vielzahl von Schauungen erfahren, sehr oft in Ubereinstimmung mit dem Kirchenjahr sind: Elisabeth, Gertrud, Veronica usw. So trifft, um nur eine der genannten Personen zu zitieren, Gertrud den heiligen Papst Gregor an seinem Festtag, den heiligen Ordensstifter Benedikt an dem seinen, den heiligen Johannes Evangelista an dem seinen, usf.674 Den ganzen Grundonnerstag schaut sie Chri¬ sms in hochster Todesangst, am Pfingstfest fliegt der Heilige Geist in Taubengestalt in das stifie Herz Jesu hinein, und am Kirchweihfest wird sie in das Herz des Heilandes gefiihrt, das wie ein zum Fest der Tempelweihe bereites Haus aussieht.. .67S Man muS sich das vollige Eingebettetsein der Klosterleute in die die Heilsgeschichte nachvollziehende Litur- gie mit ihrer Konzentration auf den jeweiligen Heiligen und die jeweiligen Ereignisse der Schrift vergegenwartigen: es ist, als ob an der Wiederkehr der heiligen Zeiten, dem Ge- dachtnis des «illud tempus», die Wand zwischen dem Seher und dem angesprochenen Jenseitigen dtinner wurde, die Kontaktaufnahme mit dem Driiben dann erleichtert ware, genauso wie dies auch am heiligen Ort der Fall ist (Inkubation; im Mittelalter z.B. im Purgatorium Patricii6753). Eine Einheit von kirchlicher, seelischer und himmlischer Liturgie676 offenbart sich bei diesen Mystikerinnen. 671 Lampert v. Hersfeld, Ann. s.a. 1056, MG SS rer. Germ. 38, 68; cf. Johannis de Ellenbogen v. Waldsassen, Descriptio quorundam miraculorum ... 5; 7; Pez, Bibliotheca 480 ss 672 Vita 1,10 673 vliss. lieht 3,1; cf. Tax, Mechthild 117 s 674 Leg. div. piet. 4,10 s; 4,34 675 ibid. 4,25; 4,38; 4,58 6753 weitere Beispiele: Saintyves, Marge 27 ss 676 cf. Besse, Mystiques 226
DER VISIONAR UND DIE PERSONEN DER ANDEREN WELT Distanz und Nahe Aus allem Obigen diirfte zur Geniige klar geworden sein, dafi die alteren Visionare eine eher intensive Beziehung zum Raum ha ben, in den sie wahrend der Ekstase gefiihrt wer- den, wogegen die der jiingeren Phase dem Raum meist indifferent gegeniiberstehen. Wor- auf dann konzentrieren sich ihre visionaren Erlebnisse? Sehen wir uns etwa einmal die Kapiteluberschriften eines fur diese zweite Gruppe typischen Visionsbuches an, des «Fliefienden Lichtes der Gottheit» der Mechthild von Magdeburg. Da heifit es gleich fur das erste Buch, Kapitel lOss: 10. «Der got minet der angesiget drin dingen.» 11. «Vier sint an dem strite gottes.» 12. «Die sele lobet got an funf dingen.» 13. «Wie got kumet in die sele.» 14. «Wie die sele got enpfahet und lobet.» 15. «Wie got die sele enpfahet.» 16. «Got gelichet die sele vier dingen.» ... usf.677 Das «vlies- sende lieht» besteht, wie die meisten dieser Werke, durchaus nicht nur aus der Beschrei- bung von Visionen, sondem ist eine Mischung aus Gebeten, Meditationen, Berichten, Aufzahlungen, Dialogen usw., die jedoch zu einem grofien Teil auf visionarem Erleben griinden und in Visionen Erfahrenes wiedergeben. Werden in diesen genannten Abschnit- ten auch keine visionaren Schilderungen gebracht, so nehmen doch mindestens 13. bis 16. auf visionare Situationen, wie das Zwiegesprach mit Gott, Bezug. Aber was aus diesen Uberschriften alleine schon deudich wird, ist, dafi es Mechthild um ihr Verbdltnis zu einer Person geht, hier zu der hochsten denkbaren, zu Gott. Vergleicht man dagegen die Kapiteluberschriften einer Vision des ersten Typs, zum Beispiel die der Vision Alberichs, so fallt nochmals der Unterschied, namlich der hier dominierende raumliche Bezug, auf: Alberich c. 9 bis 13: 9. «De locis tartareis et ore infernalis baratri...» 10. «De lacu igneo in quo sacrilegi cremabantur». 11. «De puteo flammas emittente...» 12. «De loco horrido tenebroso, flammanti serpentibus et eiulati- bus, draconibus et stridoribus pleno ...» 13. «De lacu aqua sulphurea et serpentibus ac scorpionibus pleno ... »*78 Die wesentliche, ja oft alleinige Orientierung der Visionare der zweiten Phase zielt also auf Personen und nicht mehr auf den Raum. Eine nur ganz kurz umrissene Vision der Els von Sehssencham aus dem Kloster Engelthal etwa zeigt dies exemplarisch: sie war einmal «in eim geistlichem gesiht und kom an ein wunnecliche stat. Da waz gar ein schonev junchfraw: da kom unser herre Jesus Christus in eins minneclichen kindelins weise und spilt allez mit der juncfrawen.» Und Els wurde von dem Wunsch ergriffen, hier auch mitspielen zu diirfen.679 Das Interesse der Visionarin geht nicht auf das himmlische Gefilde, sondern auf Maria und vor allem ihren Sohn, der Wunsch nach gemeinsamer Handlung mit den Jenseitigen ist Elsens hauptsachliche Empfindung, nicht ein Bezug zum Raum, der nicht weiter geschildert wird. 677 Morel, Offenbarungen 9 s m Inguanez, Cod. 84 679 Buchlein von der Genaden Oberlast, Schr5der, Engelthal 29
Christusvisionen 147 Charakteristisch ist hierfiir auch die Antwort, die Elsbeth Achler von Reute ihremBeicht- vater gibt, als er sie nach den Visionen in ihren Ekstasen fragt: «Und ich fragete su, wo su so vil zites wer gesin. Do seit su mir die ding, die ich nie gehorte und die alle vernunft dbertreffen. Under andem dingen sprach su, wenne ir geist also verzucket wurde, daz den Cristus des gesegneten gottes sun in menschlicher natur un sin gesegnet muter die jungfro- we Maria und alles himmelsch her mit groser wiirdikeit gegenwurticlich kem, und su nament iren geist und furtent in fur den spiegel der gotheit und der g6tlichen majestat. Und in dem selben schowen do verstummete ein ieglich creaturlich vernunft, daz su nit moht us sprechen die susigkeit und den lust, der do erschein.»680 Auf eine lokal gestellte Frage kommt hier als Antwort die Schilderung, mit wem sie in der Verziickung zusammen ist, und was die Himmlischen gemeinsam mit ihr machen. Dieses vor den Spiegel gefiihrt werden (Anspielung auf das Pauluswort, dafi wir «videmus nunc per speculum in aenigma- te, tunc autem facie ad faciem», 1. Kor. 13,12) - die Vision nimmt diese «visio beatifica», die sonst nur den Seligen nach dem Tode zukommt, vorweg —, ist wohl als Umschreibung der mystischen Vereinigung zu verstehen. Es sind durchgehend Maria und mehr noch Christus, um die die Visionen der Charismatikerinnen der zweiten Gruppe kreisen. Diese enge Verbindung zwischen Mensch und Gottheit wird in etwas krasser Form im «Gesandten» Gertruds zum Ausdruck gebracht, wo von einer ihrer Begegnungen mit dem Herrn geschrieben steht, er habe folgende Worte an sie gerichtet: «<Applica manus tuas manibus meis, id est, commenda mihi omnia opera manuum tuarum. Item applica oculos tuos oculis meis, singulaque membra tua coapta membris meis: id est in unione membro- rum meorum innocentissimorum commenda mihi singula membra corporis tui.. .> Quod cum faceret, videbatur velut quaedam zona aurea prodire de Corde Dei, quae circumcin- gens animam ejus, ipsam indissolubili vinculo amoris Domino constrinxit ... visus est Dominus de singulis membris suis velut uncos quosdam aureos emittere, et animam illam beatam in se concludere ... sicut gemma includitur in auro.»681 Eine Szene von solch personlicher Nahe ist in den friiheren Visionen undenkbar; was geschildert wird, ist die Vereinigung des Gottessohnes mit seiner Braut, der Nonne, ausgedriickt in seinem Befehl, Korperglied an Korperglied zu legen, nur leicht sekundar spiritualisiert. Die Beziehung Gott-Mensch ist iiberaus anschaulich durch den Giirtel aus dem Herzen Jesu (man erinnert sich hier besonders an den kaum in einer Trachtenlandschaft fehlenden Brautgilrtel) und die goldenen Haken aus seinen Gliedern verkorpert. Fast alle Visionare des Spatmittelalters, kann man verallgemeinernd sagen, erleben primar die Personen der Uberwelt, wogegen der Raum fur sie nur einen relativ unwichti- gen Hintergrund abgibt, wahrend fur die der friiheren mittelalterlichen Epochen die jensei- tige Welt ein essentielles und nicht zu vernachlassigendes Element ihrer Visionen ist, die Personen aber manchmal fast wie Zutaten, wie Staffagefiguren in diesem Raum wirken. Um das Bild nicht zu verzeichnen, mufi ausdriicklich gesagt werden, dafi so gut wie alle Visionare des ersten Typs durchaus auch Interesse und Beziehungen zu jenseitigen Perso¬ nen haben - Engeln, Heiligen, Seelen, Gott; jedoch ist dies ein Element ihrer Schilderun- gen, neben dem wenigstens gleichberechtigt die visionare Landschaft steht. In den Visio- 680 Vita 9, Bihlemeyer, Achler 104 681 Leg. div. piet. 5,27, Monachi, Revelationes 1, 585
148 Der Visionar und die Personen der anderen Welt nen des 2. Typs dagegen ist der Raum ein meist belangloses Akzidens, das auch fehlen konnte und nicht selten tatsachlich auch fehlt.682 In der ersten Phase also gibt es zwar fast keine Visionen, die vollig ohne Personenbezug auskamen (wenigstens der unvermeidliche Fiihrerengel ist dem Ekstatiker beigegeben), aber doch geniigend solche, wo dieser Bezug eine eindeutig sekundare Rolle im Vergleich zu der Wichtigkeit des Raumeindruckes spielt. Jedenfalls ist der Raum ein nicht zu vemachlassigender Faktor des visionaren Erlebnisses. In der zweiten Phase dagegen ist so gut wie immer eine Beziehung zu Personen da, die regelmafiig von grofierer Bedeutung ist, als die zum Raum. Der wird im Extremfall so sehr eine quantite negligeable, dafi seine Beschreibung unterbleibt, oder mit ganz wenigen Worten abgetan wird, obwohl eine Vision, das heifit also eine raumliche Versetzung des Sehers, erfolgt. Untersucht man die mittelalterlichen Visionen nach dem Verhaltnis des Visionars zu den Personen seiner Vision, so ergeben sich nach den Kategorien: Nahe - Feme, Intensitat — Akzessorialitat wiederum zwei Gruppen, deren zeitliche Verteilung mit den oben am Verhaltnis zum Raum gebildeten Typen I und II zusammenfallt. In der ersten Phase ist der Verkehr der Visionare mit den Oberirdischen distanziert, man steht im wortlichen wie iibertragenen Sinne nicht auf einer Ebene, meist kommt es zu keinem richtigen Dialog zwischen dem Entriickten und den Himmlischen, sondem der Visionar empfangt nur Informationen und Anweisungen fur sein weiteres Erdenleben. In der spateren visionaren Literatur dagegen ist das Verhaltnis der Uberirdischen zu den Mystikem oft ein sehr personliches, ja intimes. Nicht nur findet sich immer wieder ein Dialog, der ein richtiges Interesse am Gegenuber verrat und der haufig ein Liebeszwiegesprach zwischen Gott und der minnenden Seele ist, sondem es kommt sogar - wiederum undenkbar fur die Visionare der ersten Phase - zu gemeinsamen Handlungen miteinander. Wir haben das Gesagte nun zu belegen und wahlen einige Beispiele aus den visionaren Texten des friihen Mittelalters. Die Vision des Baldarius zeigt klar die uniiberwindliche Distanz zwischen Gott und Mensch: «... perduxerunt me ante conspectum majestatis Domini. Dum autem stupens et admirans cernerem eum in throno gloriae suae praesiden- tem, et innumerabili multitudine circumstante, interrogavi quis est iste tarn potens qui solus inter tanta agmina postestatum sedet? Et dixerunt: Ipse est Dominus noster Jesus Christus. Dum autem insolito stupore mirarem tantam ineffabilis et immensae pulchritudi- nis gloriam, cujus similitudinem nec possum cogitare, nec valeo enarrare, quia inaestima- bilis est, post haec igitur dixit Dominus illis qui me exhibuerant: Reducite eum ad corpus suum, quia nondum completum est tempus ejus.»683 Die Gottferne des Visionars druckt sich nicht nur dadurch aus, dafi er wirklich nicht mit dem auf seinem Thron Residierenden auf einer Ebene steht, sondern auch darin, dafi es gar nicht zu einem Gesprach kommt: weder wagt Baldarius, den Herrn direkt anzusprechen, noch lafit dieser sich herab, sein Wort an den Menschen unmittelbar zu richten, sondem wendet sich an dessen Fiihrer. Welch ein Gegensatz ist dieses grofie Staunen vor dem Numen zu der Vertrautheit der 682 Viele mystische Erfahrungen zum Beispiel der Helftaer Nonnen konnen nicht entweder als Erscheinungen oder als Visionen klassifiziert werden, einfach weil uber das «stage setting» keinerlei Aussage gemacht wird und der Inhalt auch keine Hinweise enthalt, cf. unten S. 134 ss m Valerius von Bierzo, Opuscula, PL 87, 436A
Distanz im Friihmittelalter 149 spateren Charismatikerinnen! Man beachte auch die Wortwahl: «praesidere, multitudine circumstante, potens» fiihrt uns eine himmlische «curia» vor Augen, der der Visionar als «pauper»684, wie der Gegenbegriff zu erganzen ist, sprachlos gegeniibersteht («ineffabi- lis»). Das Jenseits und seine Wesen als das ganz Andere, dem gegeniiber der Visionar keinen (irdischen) Vergleich finden kann. Etwa um die gleiche Zeit, Ende des 7. Jahrhunderts, zu der sich im Westgotenreich diese Vision ereignete, hatte in Northumberland der fromme Drycthelm seine Schauung, die auf ihre Art auch wieder fur die «Kontaktlosigkeit» der friiheren Visionare spricht. Ohne Worte von seiten des Sehers vollzieht sich der Weg zum Fegefeuer, die Kommunikation mit seinem Fiihrer beschrankt sich darauf, dafi dieser ihn kurz korrigiert, als er das Purgato- rium fur die Holle halt und das Paradies fur das Himmelreich: «Non hoc, inquiens, suspiceris; non enim hie infemus est ille, quem putas!» ... «<Non>, inquiens, <non hoc est regnum caelorum, quod autumas>.» Eine zum Abschlufi dem Visionar gegebene Erlaute- rung iiber die verschiedenen Orte des Jenseits aus dem Munde seines Fiihrers ist ganz sachlich, reine Informationsvermittlung, ohne dafi ein Dialog sich entwickeln wiirde. Drycthelm sagt ausdriicklich, dafi er keine Fragen (oder Bitten) zu stellen wagte: «Nec tamen aliquid ductorem meum rogare audebam.»685 Ein anderer englischer Visionar fragt seinen Fiihrer, «an inquirere auderet,» wer die Gestalten seien, die er in der anderen Welt trifft.686 Die beriihmte «Vision Wettini» fiihrt abermals plastisch die Distanz zwischen Gott und dem Visionar vor Augen. Der Mensch bedarf verschiedener Fiirsprecher, die zwischen ihm und der Gottheit vermitteln, eine direkte Kommunikation ist nicht gestattet. Wetti wird von seinem Engel zu den Scharen der heiligen Priester gefiihrt, und der Engel gebietet: «<Rogemus illos, ut tibi misericordiam apud deum impetrent.> His dictis supplices facti orabant eos intercessores fieri. Sancti vero sacerdotes sine mora surgentes perrexerunt ad thronum; et prostrati ante thronum misericordiam postulabant praedicto fratri. Ille vero angelus cum eodem simul fratre illis intercedentibus de longe in parte stetit Quibus ante thronum suppliciter misericordia postulantibus, vox de throno audita est in responsum eis data .. ,»687 Der Vorgang, der sich in ganz gleicher Weise in den nachsten Kapiteln mit den heiligen Martyrem und den heiligen Jungfrauen wiederholt, enthiillt drastisch die himmli¬ sche Hierarchie:688 689 der bittende Mensch, unterstiitzt von seinem (Schutz)-Engel, wirft sich in Proskynesis vor den Heiligen nieder, worauf diese dann die zeremonielle Demutsgebar- de vor dem Thron der Majestat wiederholen. Gott spricht nicht etwa zu dem Monch selbst, sondern zu den Bittstellern: «<Convocet,> inquit [vox de throno], <omnes ...> »**9 «Er moge alle zusammenrufen...» Gott ist der «deus absconditus», von dem nur die Stimme erfafibar ist; blofi die Jungfrauen, die dem Herrn offenbar lieber sind, als seine anderen 684 cf. Karl Bosl, Potens und Pauper, in: FS Otto Brunner (Alteuropa und die modeme Gesell- schaft), Gottingen 1963, 60-87; Dinzelbacher, Reflexionen 685 Beda, Hist. eccl. 5,12, Plummer, Baeda 1, 309. Ahnlich wechselt Aethelwulf in seinem Traum kein Wort mit seinem Fiihrer, cf. Kamphausen, Traum 105 s 686 Prudentius v. Troyes, Ann. a.a. 839, MG SS 1, 433 687 Vis. 16, MG Poet. lat. 2, 272 688 zu dieser cf. Dinzelbacher, Klassen 33,38 ss 689 ibid. 17, ed. rit. 272
150 Der Visionar und die Personen der anderen Welt Streiter, werden der Erscheinung der «maiestas domini» gewiirdigt, die sie wieder aufrich- tet. Nicht, dafi den spateren Visionaren die Fiirbitte der Heiligen fremd ware fur Gertrud zum Beispiel bitten alle Heiligen und Jesus selbst vor dem Vater um Vergebung ihrer Siinden690 —, aber ihnen ist, wie wir sehen werden, der direkte Kontakt zum hochsten Wesen oft und oft gegeben, oft und oft eine Nahe bis zur liebenden Verschmelzung mit ihm geschenkt. Auf welcher Ebene die Heiligen in den Visionen der ersten Phase mit den Menschen stehen, zeigt sich auch gut in einem Passus der Vision Gunthelms, wo dieser vom heiligen Benedikt vor Maria gefiihrt wird. Nach dem rituellen monastischen Grufi «Benedicite - dominus» «ait sanctus: Domina ecce nouicium adduxi, quern adduci iussistis. Et ilia: Exhibete inquit eum michi. Cui exhibito, regina intulit dicens: Dicito michi. Vis in domo mea ad seruiendum michi sicut coepisti semper perseuerare? Respondens autem nouirius, ait: Domina uolo, nunquam a tuo recedam obsequio. Et beata uirgo: lura inquit michi super altare praesens. Et accedens iurauit, et statuit custodire mandata Dei sui. Cum autem esset iuratum, dixit domina ad sanctum: Reducite eum».691 Es ist geradezu der Rechtsakt der «fidelitas», des Schwurs iiber den Reliquien oder auf die Heilige Schrift, die der Visionar hier Maria gegenuber vollzieht. Indem er der Gottesmutter die «Huld» leistet, verspricht er ihr sein «servitium», sein «obsequium» - alles termini technici des Feudalwe- sens.692 Es ist nicht anders, als wenn ein Lehensherr seinen Mann vor sich zitiert hatte, um ihn die Kommendation feierlich bekraftigen zu lassen. Genausowenig, wie sich iiblicher- weise der «dominus» und der «homo» in der irdischen Realitat gleichrangig gegeniiber- standen (wenigstens in der Praxis), genausowenig die Hochste der katholischen Heiligen und der Visionar in diesem Gesicht. Intimitat statt Distanz - das ist das Schlagwort, mit dem die Beziehungen Visionar — Personen der anderen Welt in der zweiten Phase gekennzeichnet werden miissen. Gott ist auf einmal ganz nahe, ja nahe in einer Intimitat, die es uns nach Freud Lebenden eine ziemlich eindeutige Interpretation nicht sogleich zu vermuten schwer macht. An die Spitze der Zeugnisse stelle ich eine Traumvision des beriihmten Abtes Rupert von Deutz, die er ganz arglos in seinen Matthauskommentar einflicht. Er vermeint, vor einem Bild des Gekreuzigten zu stehen, der die Augen auf den Abt richtet und seinen Gru8 freundlich empfangt. «Non satis hoc mihi erat, nisi in manibus apprehenderem, amplexumque deoscularer... Sensi enim ego, quia vouit, et nutu volunta¬ tis ejus ipsum altare per medium sese aperuit... apprehendi, quern diligit anima mea693, tenui ilium, amplexatus sum eum, diutius osculatus sum eum. Sensi quam graviter hunc gestum dilections admitteret, cum inter osculandum suum ipse os aperiret, ut profundius oscularer.694 Rupen erkart diese Szene naturlich sogleich symbolisch unter Verweis auf das 690 Gertrud, Leg. div. piet. 4,24 691 Constable, Gunthelm 107 692 cf. Francois Louis Ganshof, Qu’est-ce que la feodalite, Bruxelles 41968 u.o. (Feudalism, Lon¬ don 1952 / Was ist das Lehnswesen, Darmstadt 41975); Le Goff, essais 348-420 693 Cant. 3,1 694 Comm, in Matth. 12, PL 168, 1601; unter teilweiser Anderung der dort sinnstorenden Inter- punktion
Umbruch im 12. Jahrhundert 151 (von ihm iibrigens ebenfalls kommentierte) Hohe Lied; aber was er schildert, hat er so erlebt: Zungenkiisse mit Gott. Vergleichbare mystische Erlebnisse berichtet Rupert noch mehrmals: von einem ahnlichen Kufi des Gekreuzigten bleibt ihm der «gustus suavitatis ejus in ore animae ...» einen ganzen Tag iiber zuriick.695 Aber Visionen mit einer so intimen Beziehung zu Christus kommen ab dem 12. Jahrhun¬ dert stetig vor, es geniigte nicht, auf mogliche homoerotische Tendenzen dieses zolibataren Theologen zu verweisen, der sich ja auch (wie Bernhard von Clairvaux) gerade von dem Liebeslied des Alten Testamentes besonders angezogen fiihlte: vielmehr mufi das ganze Verhaltnis Mensch — Gott (in der Form des fleischgewordenen Sohnes) sich geandert haben. Hier einen Zusammenhang mit den grofien Frommigkeitsbewegungen des Hoch- mittelalters zu suchen, liegt nahe.696 Eben Rupert ist es, der an anderer Stelle das mystische Erlebis einer Zeitgenossin, eines Madchens, beschreibt. Es wurde nachtens in ihrem Bett von der Hand Christi besucht, der «manum suam miro modo pectori ejus, quasi per foramen injecit, et cor ejus intrinsecus apprehendit, tenuitque aliquandiu suavissime stringens, et gaudebat ineffabili gaudio cor illud intra manum illam subsiliens atque tripudians». Damit verbindet sich eine Vision dieses Madchens: sie glaubt sich in einer Kirche vor einem Cruzifixus zu befinden, der plotzlich zu leben beginnt. Die Kraft des Kreuzeszeichens reifit sie in die Hohe, «velocius atque facilius quam dici possit, manibus expansis ad manus illius confixas cruri, ita ut os quoque ori, totumque corpus admotum videretur ejus corpori...». Kein Wunder, dafi sie dann beim Erwachen «tremore dulci in lectulo aliquandiu tremuit, verumtamen, tremore blando nimiumque suavi».697 Ganz Ahnliches berichtet etwas spater Rainer von Liittich.698 Christus wird hier in Handlungsgefiigen erlebt, die vollig von dem vorgegebenen Stereotyp des biblischen Berichtes differieren (der ebenfalls erst seit dem 12. Jahrhundert visionar miterlebt wird). Wieder scheint es leicht, eine entsprechende sexualpsychologische Deu- tung zu geben; aber solche Berichte haben wir eben erst seit dieser Epoche. Es war moglich geworden, in der Vision die Erfiillung der Sehnsucht nach Gottesnahe und Gottesliebe zu erreichen, deren hochstes Zeichen die eben im mittelalterlichen Europa auch erst seit jener Epoche bezeugte «unio mystica» ist. Die ekstatischen Schauungen konzentrieren sich nunmehr nicht auf die Jenseitsland- schaften, sondern auf die Himmlischen. Das Sammelwerk Konrads von Eberbach iiber die Anfange des Zisterzienserordens enthalt sowohl Beispiele fiir Visionen der ersten als auch der zweiten Gruppe. Ein gottesfiirchtiger Bruder fallt wahrend der Messe in Ekstase: «tota in ipso liquefacta est anima eius igne divini amoris tantaque iucunditatis affluentia perfu- sus est, ut prae immensitate laetitiae seipsum vix caperet. Proinde totus in iubilum raptus totus extra se fuit solum Christum quasi praesentem cordis oculis intuens et brachiis ardentis fidei et pietatis amplectens.» Diese Empfindung eingegossener Freude, in ihrer hochsten, intensivsten Ausformung «iubilus»699 genannt, ist schon ganz auf den Menschen- 695 l.c., ed. cit. 1590D, cf. weiters die Vision l.c., ed. cit, 1594A 696 cf. unten S. 238 ss 697 Comm, in cant. cant. 5, ed. cit. 914 s 698 Lacrym. lib. 2,4, PL 204, 168D 699 cf. dazu Herbert Grundmann, Ausgewahlte Aufsatze III (MG Schriften 25,3), Stuttgart 1978, 130 ss
152 Der Visionar und die Personen der anderen Welt sohn gerichtet. Es folgt eine Christus-Erscheinung: «Statim namque praesentiam suam dignanter exhibuit dormienti... Dominus Jesus Christus cum dilecto sibi apostolo Johan- ne...»700 Obwohl hier keine richtige Vision vorliegt, sondem eher eine Erscheinung im «sopor Domini», zeigt dieser Text die Zielrichtung der neuen mystischen Erfahrung sehr gut: vor allem der fleischgewordene Gott, dann andere Personen der Uberwelt, wie sein Lieblingsj linger, fur den dieser Monch besondere Liebe empfand. Ein Wort in der Lebensbeschreibung der Bona von Pisa (ca. 1156-1207), der der Herr zum ersten Mai im Alter von sieben Jahren erschienen war, ist im Prinzip genauso fur eine grofie Zahl der visionaren Frauen des spaten Mittelalters richtig und kennzeichnend: «Ipse etiam Dominus Jesus Christus ex tunc adeo coepit ei esse familiaris 6c notus, ut ei omni vitae suae tempore appareret. Cujus jam apparentiae ac praesentiae assuefacta, cum eo familiariter loquebatur, ambulabat, 6c stabat, sicut unus homo cum alio solet.»701 Diese mystische Vertrautheit und ganz intensive Konzentration auf eine Person, die, da nicht dieser Welt zugehorig, nur in Erscheinungen und Visionen erfahren werden kann, fuhrt sogar dazu, dafi die charismatisch Begnadeten an dem Umgang mit den Menschen oftmals Uberdrufi empfinden, weil ihnen jede andere Beschaftigung, aufier die mit Gott, schmerzlich erscheint. So ausdriicklich u. a. von Gertrud der Grofien bezeugt.702 Wahrend von den Visionaren der ersten Gruppe nur selten Motivationen, auf Grund derer sie einen Blick in die andere Welt tun wollen, bekannt sind — meistens werden sie ja ganz unvermittelt in ihre Gesichte hineingerissen -, ist es bei den Charismatikerinnen der zweiten Gruppe ofters so, dafi ein unbandiges Gottverlangen Ursache und Anlafi fiir ihre Schauungen bildet. «Eins mols in eim advent», lesen wir in den Offenbarungen der Adel- heid Langmann, «do was si so voller gotlicher gnoden und siiezzikeit, ... do wart sie verzukt und ir was als we nach irem geminten lieb Jesu Chrisd, als ob ihr hertze presten wolt vor rehter minne nach im... sie sprach: <mir ist we... nach meim geminten einigen lieb Jesu Christi. wirt mir der nit, so muz ich sterben... meiner gepresten der ist vil, wann ich hon ein stund noch ein weile nie verzert noch seim lobe und mein hertz und mein sele begeret sein und riieft noch im. all mein sinne di sint betrubet, wann ich fiirht daz er zu mir niht wolle. do von muez ich iezunt vor leid noch im sterben.> »703 Zwei allegorische Jung- frauen fuhren Adelheid daraufhin zu ihrem Geliebten, und sie kommt zu der so ersehnten «unio». Diese ganz personen- (christus-)bezogene Erwartungshaltung, die hier in den Anfang der Vision hineingezogen ist, ist - trotz alter Frommigkeit - bei den Visionaren der friiheren Phase nicht zu finden. Wenn es bei ihnen vorkommt, dafi sie iiberhaupt eine Vision erwtinschen, so, weil sie eine Revelation iiber ihr eigenes Schicksal erwarten, wie Adam von Kendal, oder uber den «status» eines anderen etwas erfahren wollen, wie Sinuinus, aber nicht, weil sie mit der Person des Erlosers zusammensein wollen. Nicht einmal Edmund vqn Eynsham, der sich wirklich durch besondere Christusverehrung aus- zeichnete, hat in seiner Bitte um ein Gesicht irgend einen Bezug auf die jenseitigen Perso- 700 Konrad v. Eberbach, Magn. exord. Cist. 3,32, Griesser, Exordium 220 701 Vita 1,9, AASS Mai 7, 1688, 148C; die Formulierung klingt an an Ex. 33,11: «Loquebatur autem Dominus ad'Moysem ..., sicut solet loqui homo ad amicum suum.» 702 Leg. div. piet. 3,47 703 Strauch, Langmann 61 s
Christusminne 153 nen, sondern ihn interessiert, «que animarum corpore exemptarum post hanc vitam foret conditio»704, das heifit, wie die andere Welt denn beschaffen sei. Diese fiir die zweite Phase so typische Intensitat der Beziehungen zwischen dem Visionar und der Gottheit spricht sich nun in sehr konkreten Formen der Christusminne aus. Die Beziehung zwischen dem Himmelsbrautigam Jesus und der Seele als der Braut werden in Ekstase als «connubium spirituale» erlebt. Der Grad der hierbei erreichten Intimitat vari- iert selbstverstandlich je nach den verschiedenen Charakteren der Charismatikerinnen. Zu Gertrud der Grofien beugt sich der Herr in einer Vision liebevoll hinab, um sie auf seinen Schofi zu setzen, wie eine Mutter, die ihr Kind liebkost.705 Sie war es gewohnt, die fiinf rosigen Wundmale des Herrn zu kiissen706 und darf als Ersatz fiir die Kommunion aus seiner allerheiligsten Seitenwunde den Strom der gottlichen Wonne trinken.707 In einer anderen Vision wird sie vom Apostel Johannes zu Christus gefiihrt und darf sich wie dieser an seine Seite lehnen708, wo sie die Pulsschlage des hochheiligen Herzens erquicken.709 Mechthild von Hackebom schaut ihr eigenes Herz als Weingarten, in dessen Mitte der Brunnen mit dem Herzblut des Erlosers steht. Die von Maria aufgenommene Seele kiifit das Herz Jesu.710 Auch sie hat neben den die in Helfta bliihende Herz-Jesu-Verehrung711 bezeugenden Visionen solche, die die geistliche Brautschaft betreffen: so tritt sie in ein Haus ein, das Gottes Herzen symbolisiert, in dem Gott selbst auf einem Bett liegt. Mecht¬ hild legt sich zu ihm und schiebt ihrem Geliebten Kissen unter.712 Am bekanntesten sind hier ja die offenbar auch auf visionaren Erlebnissen beruhenden Formulierungen der Dich- terin Mechthild von Magdeburg, nach der «der ewig got zu der minnelustigen sele in dc nodich brutbette wil gan... vf er si mochte durchkussen und mit sinen blossen armen vmbevahen»713, «gewifi nicht nur Allegorie und Metaphorik, sondern erotisch-religioses Erlebnis».714 Das Erlebnis des Trinkens aus der Seitenwunde ist auch von Angela von Foligno be- kannt715, die auch von Umarmungen mit Chrisms berichtet: in Ekstase steht sie mit ihm in seinem Grabe, kiifit ihn und riecht seinen siifien Duft, worauf der Herr sie wiederum umarmt.716 Diese Tendenzen erfahren in anderen, verketzerten, aber von ganz der gleichen 704 Vis. 9, Thurston, Visio 246 705 Leg. div. piet. 4,13 706 ibid. 3, 47 707 ibid. 4, 13 708 Das auch besonders durch die Christus-Johannesgruppen des spaten Mittelalters bekannte Motiv entstand durch ein Mifiverstandnis der antiken Tischsitten aus Johannes 12,23; cf. auch Hofstatter, Mystik 37 ss (Ewald M. Vetter, Das Christus-Johannes-Bild der Mystik) und 53 ss 709 Leg. div. piet. 4,4 710 Lib. spec. grat. 1,22 711 cf. Richstatter, Herz-Jesu 75 ss 712 Lib. spec. grat. 2,27 713 Vliessendes liecht 6,1, Morel, Mechthild 175, cf. ibid. 1,44; 2,23 714 Grundmann, Bewegungen 431; zur Erotik bei den englischen Mystikerinnen cf. Riehle, My¬ stik bes. 63 ss 715 Doncoeur, Angele 12 716 ibid. 65
154 Der Visionar und die Personen der anderen Welt Spiritualitat getragenen Kreisen ihre extremste Steigerung, wenn mystisch veranlagte Frauen «dicunt se camaliter cognosci a Christo» bzw. vermeinen, mit dem Jesukind schwanger zu gehen und dieses dann mit ihrer Milch zu saugen.717 Aber abgesehen von dieser erotischen Komponente, deren Bedeutung an anderer Stelle zu untersuchen sein wird, erleben die beiden Helftaer Nonnen Mechthild von Hackebom und Gertrud immer wieder Visionen, in denen die Personenbeziehung auf die greifbarste Art ausgedriickt ist: vom Herzen Christi geht eine Schnur oder ein Seil oder eine Drom- mete zu den Herzen derer, die ihn lieben, Symbol der verbindenden Liebe.718 Bei Gertrud ist es eine Rohre, durch die ihr Christi Liebe auf Erden herabstromt719 oder durch die sie selbst seine Liebe den besonders Andachtigen zuleitet720 - eine Verbindungsart, die Jesus auch gebraucht, um seiner Mutter seine innige kindliche Liebe zukommen zu lassen, die die Vernachlassigungen der Visionarin gegeniiber der Himmelskonigin aufwiegt.721 Ein nicht unahnliches Bild taucht spater bei der Zisterzienserin Lukardis von Oberwei- mar auf: «et ecce vidit de corde suo scalam auream erectam et eius summitatem cacumen caeli attingentem; in cuius summitate vidit Christum dilectum suum innixum scalae et ad se inclinatum ac amabili visu se dulciter intuentem». Die Seiten der Leiter sinnbilden die «caritas» usw.722 Es ist wiederum das Herz, Sitz der Gefiihle, aus dem diese Verbindung zu Christus geschlagen wird. Das Bild der Himmelsleiter selbst ist seit der Genesis (Jakobs Traum) in der christlichen Literatur sehr beliebt und kommt in unendlich vielen Varianten vor723, hier ist aber wieder das Entscheidende und Zeittypische, dafi nicht der Aufstieg in den Himmel als das Wesentliche betrachtet wird, sondern die Verbindung vom Menschen- herzen zu der Person des himmlischen Geliebten. Neben der akdven Christusminne gibt es auch eine passive Form der Liebe, die dem leidenden Heiland entgegengebracht wird: Mitleid mit dem Passionschristus, dessen Schmerzen man an seiner Statt auf sich nehmen will. Ganz ausgepragt war dieser Zug bei Berchte von Oberriet im Kloster Adelhausen. Vor ihrem Tod hatte sie folgende Vision: «Vnd wz ir wie si vff ein velt gefiiret were, da wolte man Gotte marteren, vnd wart ein grosser ruff, den horte si: <Wil sich jeman fur Gott lassen henken vnd marteren?> Do ruffte si: <Ja ich gem>, vnd in demselben stiess si der tod an vnd bleib ir die andacht, vntz ir die sele vsgie.»724 Gertrud die Grofie zieht aus Mitleid die eisernen Nagel aus ihrem Kruzifix und ersetzt sie durch Gewiirznaglein725, Angela leidet iiber die Mafien bei der Vorstellung der Passion des Herm.726 Aus verwandter Gefiihlswelt entspringen «Devotio moderna» und das Thomas v. Kempen zugeschriebene «Buch von der Nachfolge Christi». 717 Grundmann, Bewegungen 412120, 414 s 718 Lib. spec. grat. 1,10; 1,13; 1,31; 2,18 719 Leg. div. piet. 3,67 720 Lib. spec. grat. 7,13 721 ibid. 4,51 722 Vita 56, Analecta Bollandiana 18, 1899, 341 723 Dinzelbacher, Jenseitsbrucke 141 ss 724 Anna v. Munzingen, Chron., K6nig, Chronik 159 725 Leg. div. piet. 3,45 726 Doncoeur, Angela 63 s
Gesprache 155 Es ist zu betonen, dafi das ekstatische Miterleben des Leidensweges Christi ein den Charismatikerinnen der zweiten Phase vorbehaltenes visionares Motiv ist (z. B. Elisabeth v, Schonau, Benevenuta de Bojanis, Agnes Blannbekin, Luitgard v. Wittichen, Margherita v. Cortona, Juliana v. Norwich, Margery Kempe, Veronica v. Binasco, Francesca v. Rom u.a.); und das, obwohl den Religibsen, die eindeutig die Mehrzahl der Seher der alteren Phase bilden, gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem ihre Visionen meistens eintraten, namlich in Todesnahe, die Passion des Heilands nach den Evangelien vorgelesen wurde.727 Trotz- dem sahen sie nicht das Sterben ihres Gottes sondern die Raume seines jenseitigen Reiches. Verbale Kommunikation Fragt man nach den Beziehungem der Visionare zu den aufierirdischen Personen, so bildet eine Analyse der visionaren Dialoge eine gute Methode, um Nahe und Feme zu konstatieren. Der Dialog gehort sicher zu den Grundformen der Kommunikation, seit die menschliche Sprache sich entwickelt hat. Seine Spannweite reicht von Informationseingabe (bzw. Befehl) und dessen Bestatigung bis zum intensiv gefiihlsbetonten Zwiegesprach Liebender, verbalen Liebkosungen gleichsam. Die mittelalterliche Visionsliteratur bietet diesen ganzen Spielraum. Der in beiden Klassen von Visionen am haufigsten vorkommen- de Typ ist der von «Frage und Antwort». Eine Gruppe von Visionaren fiihrt fast nur rein informative Dialoge, deren Inhalte auch ohne weiteres in bloSer Erzahlung hatten wiedergegeben werden konnen, ohne dafi We- sentliches verloren ginge. Eine andere Gruppe berichtet von stark affektiven Zwiegespra- chen, meist mit dem Gottessohn. Auch hier bestatigen sich also die beiden oben konstitu- ierten Gruppen von Visionaren genau; man konnte an Hand der verschiedenen Gesprachs- weisen von einer reinen Informationsbeziehung im Gegensatz zu einer personlichen Kon- nexion sprechen. In der ersten Phase gibt es charakteristischerweise Visionen, in denen es, obwohl regel- mafiig ein Ftihrer den Ekstatiker in die andere Welt geleitet, uberhaupt noch zu keinem Gesprach kommt. So in einer Vision, die von Bonifatius in einem Brief an die Abtissin Eadburg von Thanet aufgezeichnet wurde: Der Visionar bekommt zwar ab und zu von seinen Fiihrerengeln Informationen iiber die Statten des Jenseits und die darin befindlichen Seelen, bleibt selbst aber vollig schweigend.728 Das Namliche gilt fur Alberich von Settefra- ti: auch zwischen ihm und seinem Fuhrer, dem heiligen Petrus, entwickelt sich kein Zwie¬ gesprach. Oder Orm: er bekommt (wie nur wenige Visionare in dieser alteren Gruppe) die Gelegenheit, die Madonna und den Gekreuzigten zu schauen. Keine der Seherinnen der spateren Phase hatte sich hier des Mitleids und der Ansprache dem leidenden Herrn gegenuber enthalten konnen. Orm dagegen bleibt stumm.729 Zu seinen Zeiten ware ein anderes Verhalten immerhin schon moglich gewesen, Orm war schliefilich ein j lingerer Zeitgenosse Ruperts von Deutz. Aber chronologische Gleichzeitigkeit ist eben noch lange 727 72$ 729 So bestimmten es die Ordensstatuten, Gougaud, coutumes 80 Bonifatius, ep. 10 Vis. 3
156 Der Visionar und die Personen der anderen Welt nicht auch mentale Gleichartigkeit; verschiedene Entwicklungsstufen existieren zum sel- ben Zeitpunkt nebeneinander. Ein Nachhall dieser geringen Kommunikationsfahigkeit vieler Visionare der ersten Gruppe mag auch darin zu sehen sein, wenn Gottschalk berichtet, von den zwei ihn geleitenden Engeln sei es nur der zu seiner Rechten Gehende gewesen, «qui eciam solus illi se affabilem exhibuit». Nichtsdestotrotz wurde ein GroSteil des Weges «sub silentio» zuriickgelegt.730 731Nun ist es aber so, dadie uberwiegende Mehrzahl dieser Visionen des ersten Typs durchaus Passagen in Dialogform enthalt. Die Funktion dieser Dialoge besteht aber so gut wie immer in reiner Informationsvermittlung, die ebensogut in anderer Form gegeben werden konnte. Das gilt sogar fur die wahrscheinlich einzige diesem Typ zugehorige mittelalterliche Vision, die nahezu vollig in dialogischer Darstellung verfafit ist, namlich die eines Bruders des Klosters St. Vaast, die er 1011 erlebte. Mit ganz ungewohnter Fragebegierde fallt er dem ihn geleitenden heiligen Michael geradezu auf die Nerven. Der Engel mufi immer wieder sagen: «О anima, cessa... Anima, quare non cessas?... Tace, anima; omnia non debes scire... Quare non cessas? Non dico tibi.» etc.751, — lafit sich aber dann doch meistens zu einer Antwort erweichen. Dieses Verhalten legt der Visionar nun aber nicht an den Tag, weil er irgendeinen personlichen Bezug zu dem Engel hatte, sondem weil er wissen mochte, in welcher Gegend des Jenseits man sich gerade befindet, was die Zukunft bringen werde, - hier wird die vieldiskutierte732 Endzeiterwartung urn das Jahr 1000 stark greifbar -, wie es um die gesehenen Seelen bestellt ist usw. Zum Beispiel: «Angelus ... <Vides ilium magnum qui est ligatus catenis?> Anima. <Domine, video.» Ange- lus. <Ille magnus fuit Coloniensis episcopus. Anima. <0 domine, quis fuit?> Angelus. <Pa- stor fuit; non fuit pastor, sed mercennarius; ille lupus fuit.> Anima. <0 domine, misericor- diam; habebit indulgentiam?» Angelus. <Non...>»733 Auch fiir das auf einer hoheren Stufe stehende Zwiegesprach Tundals und seines Engels gilt im Grunde das Gleiche. Hier sind die Reden des Engels jedoch noch zusatzlich Mittel homiletischer und theologischer Beleh- rung, die des Ritters auch in starkerem Mafi Spiegel seiner Empfindungen. Man kann das Verhaltnis in dieser Phase der visionaren Literatur, was die Dialoge angeht, in etwa mit diesen Worten des Autors der «Visio Godeschalci»» wiedergeben, die, hier an einer bestimmten Szene der Fegfeuerwanderung gebraucht, gut die sich immer wieder wiederholende Gesprachskonstellation beschreiben: «Cum igitur Godeschalcus ra- cionem diversitatis huius [penarum] intente ab interprete suo quereret> diligenter quidem de omnibus ab eo est instructus.»734 Der Nachfrage folgt die Instruktion; eine daruber hinausgehende gefiihlsmafiige Beziehung ist nicht angedeutet.735 *730 Visio Godeschalci A 2, Assmann, Godeschalcus 54 731 Hugo v. Flavigny, Chron. 2, MG SS 8, 383 ss 732 cf. Georges Duby, Dan mil (collection archives 30), s.l. ”1975 733 Hugo v. Flavigny, Chron. 2, MG SS 8, 385 734 Visio Godeschalci A 20,6, Assmann, Godeschalcus 78 735 Dialoge zwischen anderen Personen, denen der Visionar nur passiv zuhort, kommen in 1 manchmal vor, namendich beim Streit der Engel und Teufel um die Seele (Furseus, Monch von Wenlock)
Mechthild von Magdeburg 157 Dagegen die Charismatiker des spaten Mittelalters! Die Offenbarungen der Mechthild von Magdeburg, urn das bekannteste Zeugnis voranzustellen, sind in ihrem «vliessenden lieht» zu einem Drittel in Form von Dialogen und Anreden aufgezeichnet.736 Gesprachs- partner sind die Seele und Gott, die Seele und andere iiberirdische Gestalten, die Seele und Personifikationen. Auch wenn oftmals keinerlei Hinweis auf die Umwelt gegeben wird, in der sich diese Dialoge abspielen, so ist doch anzunehmen, dafi sie wenigstens teilweise in Ekstase visionar erlebt wurden oder auch bei Erscheinungen der iiberirdischen Personen gefiihrt wurden. Das folgt daraus, dag es bei den Visionaren dieser Gruppe gewohnlich manche Gesprache ahnlichen Inhaltes gab, die einmal mit und einmal ohne Angabe des «stage setting» berichtet werden.737 Es geht bei diesen Gesprachen gar nicht mehr beson- ders um die Erklarung der jenseitigen Welt, sondern vorrangig um das eigene Schicksal der Seherin und vor allem um ihre Beziehung zu Gott. In einem «Von dem besmen [Zuchtrute] unsers herren» betitelten Abschnitt ihres Werkes iiberliefert Mechthild folgende Fragen von ihr und die Antworten Christi: «Lieber herre wc wiltu mit diser pine? Do sprach vnser liebe herre alsus: Alle dine wege sint gemessen, alle dind vosspor sint gezellet, din leben ist geheliget... Herre, warumbe ist min leben geheliget...?... Damitte... dc min beseme nie von dinem ruggen kunt. - Те deum laudamus, dc got also gut ist.»738 Dieses Gesprach zeigt zwar Mechthilds tiefste Demut, ist aber trotzdem ganz auf sie bezogen, egozentrisch.739 Nur um ihre Qualen auf Erden und deren Sinn geht es, um ihre Heiligung durch das Leid. Es ist iiberhaupt ein gerade in den Schriften der Mystiker immer wieder augerst stark hervortretender Zug des Christentums, das Leid im Sinne einer «via purgativa» besonders hoch einzuschatzen. Dieses fur das Wesen der Religion generell so wichtige Phanomen der «imitatio» des «Kultheros» ist bei den Mystikem intensiv auf den leidenden Christus bezogen.740 Doch davon spater. Der Inhalt dieses visionaren (?) Dialoges ist also letztlich eine Theodizee, der Herr rechtfertigt die Schmerzen seiner Braut als Mittel, durch das, wie er sagt, «min rich ist dir vil nahe».741 Ein zweites Kennzeichen dieser Dialoge ist neben ihrer haufigen Ich-Bezogenheit die emotionale Beziehung, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Hier ist die Dialogform ein wesentlicher Bestandteil der Darstellung, man konnte sie kaum in erzahlende Prosa ver- wandeln, wie das bei den Gesprachen der alteren Visionare meist ohne weiteres zu tun ware. «Eya vil lieber, wene sol dich des lusten des mich lustet? Alsust sprach ein ellendige sele, do antwurt ir der vil liebe und sprach, ass er nit wiste was si w61te. Wes lustet dich? Do sprach si aber: Herr, du kraft der gerunge hat mir benomen die stime der worten. Do sprach er: Die juncfrowen kSnent nit wol vrien, wan ir scheme ist von nature edel. Do klagte si: О we herre! Joch bist du mir alzelange vr&mde. K6nde ich dich, herre, mit zofere gewinen, dc du nit mShtest geruhen dene an mir. Eya so gienge es an ein minen ... M6hte mir das ze einer stunt geschehen, / Das ich dich nach mines herzens wunsche m6hte angesehen / Und mit armen vmbevahn, Din g6tlihen mine luste / Mussen dur mine sele 736 Tillmann, Studien 14 737 cf. unten S. 163 s 738 Vliessendes lieht 7,4, Morel, Offenbarungen 224 739 Ein Zug, der noch viel ausgepragter Hadewijch zukommt, cf. Dinzelbacher, Hadewijchs 740 Ober die Leidfreudigkeit des mittelalterlichen Christentums cf. unten S. 255 s, 260 741 wie Anm. 738
158 Der Visionar und die Personen der anderen Welt gan ... Was ich danach liden wSlte, / Das war nie von menschen ogen gesehen, / Ja tusent tSde weren zu lihte... »742 Es ist die Liebesklage einer gottsuchenden Seele, die sich aus den irdischen Banden endgultig losen mochte - aber zugleich der Aufschrei einer eiferstichtigen Frau. Liebeszauber wiirde sie anwenden, wenn sie es erreichte, daS ihr Ersehnter nur bei ihr liegen mochte! Man sollte trotz des Kontexts und des groSen Eindrucks, den das Hohe Lied auf die Dichterin gemacht haben durfte, irdische und himmlische Liebe nicht in zu grower Spannung auseinanderstellen! Wer erinnerte sich nicht der auf einen sterblichen Menschen bezogenen Worte Tristans «solte diu wunnecliche Isot / iemer alsus sin min tot, / so wolte ich gerne werben / umb* ein eweclichez sterben»?743 Beide Male werden Liebe durch Leid und Tod erkauft, wenngleich Mechthilds «tausend Tode» (Todesschmerzen) wenig sind gegenuber Tristans «ewigem Tod», der «mors secunda» der Theologen, der Holle. Diese intensive Beziehung zu Gott hat nun aber noch eine andere Folge: sie ermoglicht es dem Mystiker, «Caritas» zu tiben, sich fur arme Seelen in der Pein einzusetzen. Hier wird die Egozentrik nicht selten echt iiberwunden, Mitleid uberwiegt. Bestes Beispiel ist hier vielleicht die eigentiimliche Christina von St. Trond, mit Recht «mirabilis» zu- benannt. Neben vielen anderen weit ungewohnlicheren Charismata wird ihr auch eine Jenseitsvision zu Teil, in der sie Holle und Fegefeuer besucht. So unsagbar grauenhaft sind aber die Martem des Purgatoriums, dafi sie sich sofort entschlieSt, wieder in den Korper zuriickzukehren und dort fur die armen Seelen BuSe zu tun, obwohl der Herr ihr anbietet, sie durfe auch bei ihm im Himmel bleiben. «Respondi sine aliquae haesitatione, sub conditione mihi proposita [das heiSt Erlosung der im Fegfeuer Leidenden], velle reverti.»744 Kraft ihrer Liebe zu Gott und Kraft der Erwiderung dieser Liebe von seiten Jesu befreien viele Visionarinnen der zweiten Phase Sunder aus dem Fegfeuer, indem diesen vom Hei- land die restliche Strafe erlassen wird, der jeweiligen Mystikerin zu Liebe, um ihr zu Gefallen zu sein. Die Visionare der ersten Phase hatten wohl auch Mitleid mit den leiden¬ den Seelen, versuchten wohl auch, ihnen zu helfen, - aber auf ganz anderem Weg, nicht mittels «Beziehungen», sondem mittels auf Erden zu spendender Almosen, zu lesender Messen, zu sprechender Gebete. Um nur einen einzigen Text zu zitieren: Die «Visio cuiusdam pauperculae mulieris» berichtet, daS die Visionarin im Jenseits Karl den Grofien «in tormentis» vorgefunden hatte. Dazu wurde sie von ihrem Fiihrer folgendermafien instruiert: «Nam si Hlodovuicus, inquit, imperator, natus eius, septem agapes pro illo pleniter dispensat, resolutus est». Auch die Konigin Irmgard trifft sie dort, von drei Fels- blocken wie von Miihlsteinen bedriickt, die ihr befiehlt: «Vade et roga dominum meum imperatorem, ut me misellam adiuvare dignetur.» Als Erkennungszeichen teilt sie der Armen sogar mit, was sie und ihr Gatte insgeheim miteinander gesprochen.745 Karl also kann durch das, was sein Sohn Ludwig auf Erden fiir ihn tun soil, erlost werden; Irmgard durch die Hilfe, die ihr Gemahl Ludwig fiir sie in der Welt schaffen kann. 742 ibid. 3,23, ed. cit. 88 743 Gottfried v. Strafiburg, Tristan 314, 25-28 = 12503-6, Reinhold Bechstein ed., Gottfried’s von Strafiburg Tristan (Deutsche Classiker des Mittelalters 8), Leipzig 41923, 2,83 744 Thomas v. Chantimpre, Vita 1,7, AASS Juli 3, 1723, 652A 745 Houben, Visio 41
Mechthild von Magdeburg 159 Nun zuriick zu Mechthild von Magdeburg. Einmal wird ihr von Gott das grauliche Purgatorium gezeigt und die darin befindlichen armen Seelen. «Do sprach der geist [Mechthilds] jemerlich: / Eya vil lieber, nu 16se doch etliche. / Do sprach vnser herre: Wie vil wilt du ir? / Der geist sprach: Herre als vil als ich mit diner guti mag vergelten. Do sprach vnser herre: Nu nim tusent und bringe si war du wilt. Do huben sie sich vsser der pine, swartz, furig, phulig, brinnendig, blutig, stinkende ...» Um sie zu reinigen, schreibt Chri- stus der Seherin vor: «Du solt si baden in den mine trehnen, die da nu vliessent usser den ogen dines lichamen ... Da huben si sich mit einem swunge zemale in, und badoten in der mine klar als die suiie. Do enphieng des menschen geist vnzelliche wune und sprach: Gelobet siest du villieber...»746 Die Bitten der Mystikerin sind es, die auf einen Schlag Tausende aus den Qualen erlosen, wofiir man friiher unzahlige Messen und Opfer be- notigt hatte, ihre Liebestranen sind es, die sie abwaschen und ihnen den Aufstieg in das Himmelreich ermoglichen. Es ist die personliche Verbindung des Charismatikers, die Gott zu diesem Gnadenakt bewegt, es ist ihr Gefiihl - und nicht mehr das Werk, das die Erldsung bewirkt.747 Gott bringt das auch sehr anschaulich zum Ausdruck, indem er den so befreiten Seelen Minnekronen aufsetzt und zu ihnen spricht: «Dise krone sont ir tragen eweklich zu erkenende alien den in minem riche, das ir mit den minen trehnen erlSset sint nun jaren e dene uwer rehten zit.»748 Es ist wohl unnotig hier mit vielen weiteren Stellen die Liebesbeziehung zwischen Mechthild und Christus zu beweisen, allein die in den bisher zitierten Passagen vorkom- menden Anreden, «vil lieber, lieber herre», usw. sprechen for sich.749 An anderen Stellen apostrophiert die Seele Gott als «Schoner jungeling», nach dem es sie geliistet750, und als «herzeliep»751, als «lustliches lamp»752 und «sfisser Jesu»753, und er wiederum die Seele als «dilecta mea»754, «liebil tube»755, «min allerliebeste».756 Die Liebesgesprache, die sie mit Christus fuhrt, sehen etwa so aus: «Eya herre, mine mich sere und mine mich dike und lange; wande je du mich dikker minest, je ich reiner wirde; je du mich serer minest, je ich schSner wirde; je du mich langer minest, je ich heliger wirde hie in ertrich. Wie got antwurtet der sele. Das ich dich mine dikke, das han ich von nature, wan ich selbe die mine bin. Das ich dich sere mine, das han ich von miner gerunge, wan ich gere das man mich sere mine. Das ich dich lange mine, das ist von miner ewekeit, wan ich ane ende bin.»757 Freilich gibt es, wie bei alien Mystikern dieser Stufe, eine Fiille auch von Lehrdialogen, deren Ziel die Vermittlung von sachlichen Informationen und 746 Vliessendes lieht 2,8, Morel, Offenbarungen 35 s 747 Das mag theologisch anders gesehen worden sein — so erhellt es aber aus den visionaren Texten 748 wie Anm. 746 749 Zu den Liebesgesprachen cf. Tillmann, Studien 23 ss 750 Vliessendes lieht 1,44, ed. cit. 19 751 ibid. 4,18, ed. cit. Ill 752 ibid. 3,1, ed. cit. 60 753 ibid. 3,2, ed. cit. 62 754 ibid. 1,46, ed. cit. 25 755 ibid. 2,17, ed. cit. 37 756 ibid. 7,8, ed. cit. 227 757 ibid. 1,23 s, ed. cit. 13; cf. zum Beispiel noch ibid. 3,5; 3,24 usf.
160 Der Visionar und die Personen der anderen Welt nicht von Gefuhlen ist, etwa in der Form: «Ich vragete minen herren, wie ich mich s&lte halten an der jungesten zit mines endes. Do sprach vnser herre: Du solt dich also hal- ten... »758 Hier geht es oft um Verhaltensregeln, Mitteilungen iiber Gottes Gnadentaten, iiber das Wirken der Heiligen usw., oftmals mit Bezug auf personliche Interessen des Sehers. Aber auch diese dialogisierten Berichte und Weisungen enthalten durch die liebe- vollen Anredeworter noch ein Element gefiihlsmafiiger Zuneigung. Liest man die Visionsbiicher der beiden anderen Helftaer Seherinnen, so ist man genau- so erstaunt, auf welch vertrautem FuE sie mit Gott stehen und wie unterschiedlich ihr Verhalten gegeniiber dem der alteren Visionare sein kann. Gertrud etwa «exposuit Deo omnem defectum animae suae, sicutamicus amicosuo... orans... Ad quod Dominus tale illi blanditatis dedit responum: <Tu es ilia amabilis Hester, quae incredibili pulchritudine oculis meis est gratiosa; pete ergo quod vis, et dabitur tibi>»,7S9 «Wie ein Freund seinem Freunde»: das bezeichnet eine Gleichstellung mit dem Herm, eine Zutraulichkeit zu Gott selbst, wie sie mittelalterlichen Menschen, die nicht mit ahnlich mystischen Erlebnissen der Gottesnahe begnadet waren, hochstens tendenziell einem Heiligen oder der Gottesmutter gegenuber als menschlichen Vermittlern empfunden haben mochten. Es folgt in einer Paraphrase der Satze des funften Estherbuches der Vergleich mit der alttestamentlichen Konigin, die die Juden gerettet hatte, da sie durch ihre Schonheit Gnade vor den Augen des Perserkonigs fand. Wie nun Esther fur ihr Volk bat, so betet Gertrud daraufhin fur alle, die ihr empfohlen worden waren und die ihr Gutes getan hatten. Wie der Konig des Alten Testaments seine konigliche Gemahlin erhort, so auch der Himmelskonig seine Braut. Dabei umhiillt er sie liebevoll mit seinem Mantel und driickt ihr einen verstohlenen («oc- culte») KuS auf die Stim. Diese Vertraulichkeit Gertruds mit der zweiten gottlichen Person geht mitunter wohl doch ins Allzumenschliche. Wie eine verwohnte «vrouwe» laSt sie sich von ihrem Geliebten verschiedene Vorschlage machen, die ihr aber alle nicht genehm sind. In einer sonntaglichen Vision namlich fragt sie der Herr, ob er ihr nicht eine Messe singen solle und welche es denn sein diirfe. Etwa «in medio Ecclesiae»? Nein. Oder «Dominus dixit» ? Auch nicht. Eine Reihe anderer Vorschlage werden genauso abgelehnt. Schliefilich beginnt der Herr, ohne ihre Erwagungen weiter abzuwarten, samt alien Heiligen laut das «Gaudete in Domino semper» anzustimmen, worauf eine himmlische MeSfeier grofiten Gepranges und mystischer Wonnen beginnt.760 Auch von der Dritten der Helftaer Visionarinnen, von Mechthild von Hackeborn, liefien sich ahnliche Liebesgesprache anfuhren, die sich bisweilen in ekstatischem Stam- meln verlieren. Nachdem sie aus der Herzwunde Christi «pocula omnis dulcoris et suavita- tis plenissima» getrunken hat, entspinnt sich folgender Dialog: «Et Dominus ad earn: «adhuc prae omnibus unum a te fructum desidero.» Cui anima: «О mi dilectissime Deus, et quis est hie fructus ?» Et Dominus: «Ut omne cordis tui delectamentum in me solum effundas.» Tunc ilia: «О amator unice, quomodo hoc possum facere?» Quo respondit: «Amor meus in te perficiet.» Tunc ilia ex nimio affectu gratitudinis dixit: «Eia, eia: Amor, amor, amor!»761 758 ibid. 6,6, ed. cit. 181 759 Leg. div. piet. 4,35, Monachi, Revelationes 1,402; cf. oben S. 152 760 ibid. 4,59, Appendix 761 Lib. spec. grat. 2,16, Monachi, Revelationes 2,150
Margery Kempe 161 Man ersieht schon aus den hier zitierten Texten, dafi die visionaren Liebesgesprache der Helftaer Trinitat nicht einer gewissen Ahnlichkeit untereinander entbehren. Es sind nicht nur ihre Vorstellungen, die aus einem gleichen Reservoir entstammen, sondem es ist auch eine gleiche Empfindungsweise, aus der diese drei Nonnen leben. So konnte man an ihnen vielleicht besonders exemplarisch zeigen, welche Bedeutung der personliche Dialog in den Visionen des zweiten Typs besitzt. Dafi er fiir die spatmittelalterlichen Visionare wirklich als ein Charakteristikum gelten darf, kann natiirlich auch an anderen von ihnen erwiesen werden. Zwei Generationen spater als die genannten Zisterziensermystikerinnen, in der anderen Umgebung des Niirn- berger Klosters Engeltal, lebte die Dominikanerin Adelheid Langmann. Sie hat eine Drei- faltigkeitsvision, bei der ihr Interesse an einem Gesprach ganz deutlich wird. Sie betrach- tet, wie die drei gottlichen Personen zu einer einzigen verschmelzen. «si stund hinten in dem kor [in den sie diese Traumvision versetzt hatte] und gedoht, wirt er her gent, daz si denne weisleich mit im kond reden, und wes si in frogen wolt, und zehant ging er gegen ir... da sprach si... da sprach er...»762 Darauf gelangt sie zur «unio». Auch hier die vertrauten Anreden: «liber herre» sagt sie zu Gott, der sich ihr in Form des Menschgewor- denen zeigt, «mein gemintez lip» nennt der Herr sie und «mein zukersiiezzes lip, mein zarte, mein reine, ... mein kint ...»763 Begeben wir uns in eine spatere Zeit und einen anderen, wenngleich von der deutschen Mystik vielleicht nicht ganz unbeeinfluSten Kulturkreis. Das Todesjahr der Adelheid Langmann fallt fast mit dem Geburtsjahr der Margery Kempe aus Lynn in Norfolk zusam- men.764 Auch jene halt viele innige Zwiegesprache mit Gott, «Her dalyawns76S was so swet, so holy, and so devowt pat pis creatur myt not oftyn-tymes beryn it but fel down and wrestyd wyth hir body and mad wondyrful cher...»766 Die Kraft dieser mystischen Erleb- nisse ist so grofl, dag sie Jesus um Gnade bitten mug, da sie schon zu sterben vermeint. Diese Gesprache werden teils innerhalb, teils aufierhalb von Visionen gefiihrt. Margery erlebt ja viele Szenen des Neuen Testamentes nach, und dabei scheut sie sich nicht, die heiligsten Personen direkt anzureden. Etwa als sie in einer Vision die Grablegung Christi miterlebt hat und dann in das Heim Marias mitkommt, bereitet sie wie eine gute Mutter oder Freundin fiir die Madonna ein warmes Siippchen, um die in ihrem Schmerz zu Bette liegende zu starken und gibt, da sie nichts essen will, ihr den in einer solchen Situation heute nicht anders lautenden guten Rat «А, blissyd Lady, зе must nedys comfortyn 30wr- -self & cesyn of 3owr sorwyng»767, worauf Maria mit einem neuen Schmerzensausbruch antwortet: «А, dowtyr, wher xulde I gon er wher xulde I dwellyn wyth-owtyn sorwe?» An Margerys «Book» liege sich der gleiche liebevolle Dialogstil nachweisen768, wie oben am «vliesenden lieht» der Magdeburgerin; auch sie zeigt zwischen den Zeilen leise Zeichen von Eifersucht, namlich auf die Braute Christi, die Nonnen («thy holy maydens»), so dag 762 Strauch, Langmann 67 763 ibid. 47 764 Adelheid stirbt 1375, Margery wird wahrscheinlich 1373 geboren 765 = neuengl. «dalliance» (von altfranz. «dalien», sich spielerisch unterhalten) 766 Book 1,17, EETS OS 212, 40 767 ibid. 1,81, ed. cit. 195 768 cf. zum Beispiel 1,20 s; 1,74; 1,87
162 Der Visionar und die Personen der anderen Welt Jesus ihr, die ja wohlbestallte Ehefrau war, erklaren muS, «I lofe wyfes also... I lofe pe as wel as any mayden in f>e world».769 Die zentrale Figur in Margerys mystischen Erlebnissen ist wohl, wie auch bei den kontinentalen Visionarinnen, Christus. Regen Kontakt hat sie aber auch mit den anderen Himmelsbewohnern gehabt. «Sum-tyme owr Lady spak to hir... Sumtyme Seynt Petyr, er Seynt Powle, sumtyme Seynt Mary Mawdelyn, Seynt Kateryne, Seynt Margaret, er what seynt in Heuyn pat sche cowde thynke on... pei spokyn to J>e vndirstondyng of hir sowle, and enformyd hir how sche xulde louyn God... and answeryd to what pat sche wolde askyn of hem ...»770 Die namentlich Genannten gehoren unbedingt zu den volkstiimlich- sten Heiligen des Spatmittelalters, deren Bildnisse in so gut wie jeder Kirche zu finden waren. Worauf bei diesem Text aber noch besonders hinzuweisen bleibt, ist, dafi die Aktivitat zur visionaren Kommunikation hier wiederum bewufit von der Seherin auszuge- hen scheint: jeder beliebige Heilige, den sie sich nur denken konnte, stand fur die Konver- sation bereit, und was immer auch sie fragen wollte, wird Margery von ihnen beantwortet. Uber ihre Gesprache mit dem Gottessohn schliefflich heifit es in ihrem Buch: «Owr Lord of hys hy mercy visityd hir so mech and so plenteuowsly wyth hys holy spechys and hys holy dalyaumce pat sche wist not many tymys how pe day went».771 Zu welchen Teilen sie diese Begegnungen in Visionen beziehungsweise Erscheinungen beziehungsweise Auditionen ge¬ habt hat, lafit sich nicht ausmachen, doch diirften die letzten beiden Phanomene in der Mehrzahl sein, da aufier bei ihren neutestamentlichen Visionen, in denen der Gesprachsteil nicht tiberwiegt, sonst kein raumliches «setting» mitgeteilt wird. Nicht nur einer noch spateren Zeit, dem ausgehenden Mittelalter, sondem auch einer wiederum anderen Landschaft entstammt Osanna Andreasi von Mantua, ftir die iibliche Periodisierung eine Gestalt der Renaissance des Quattrocento. Auch bei ihr finden wir wieder Zwiegesprache mit Christus, die von einer personlich erlebten Liebesbeziehung zeugen. In einer Himmelsvision erbittet sie von Christus ein neues Herz, da ihr ihr eigenes zu wenig liebevoll erscheint. So sagt sie : «Flagrantissimum tui cor expeto, quod te solum amet, te solum cogitet, te solum loquatur. Turn Christus: Quoad, inquit, carissima filia, fictili cami jungitur animus, terreni quippiam sentiat necesse est... Plerisque ultro citro- que sermonibus habitis, dolor... paulo resedit...», bis sie sich sogar «immortalemque effectam putaret.»772 Ihre Forderung nach einem Herz voll Liebe nur fiir den himmlischen Brautigam konnte geradezu das Programm all dieser Mystiker sein; lange Gesprache, wenn auch, wie hier, nicht aufgezeichnet, werden also genauso von Osanna mit dem Heiland gefiihrt. Aus ihrer Vita wollen wir noch ein Beispiel anfiihren, dafi diese Visionarinnen in ihren Zwiegesprachen nicht nur Christus zum Partner haben. Bei Osanna ist es etwa auch der heilige Dominicus, dessen Orden sie ja als Terziarin angehorte. Sie befindet sich wiederum im Himmel, wo sie sich dem heiligen Ordensgriinder, sobald sie seiner gewahr wird, zu Fufien wirft, um fur ihr von ihr selbst als Stinde empfundenes Ungeniigen Vergebung zu erflehen, namlich «quod sanctissimum Praedicatorum Habitum indiga ferat, suaque opera 769 ibid. 1,21, ed. cit. 49 770 ibid. 1,87, ed. cit. 215; cf. ganz ahnlich ibid. 1,17, ed. cit. 39 771 l.c. 772 Franciscus Silvester, Vita 2, 3, 80, AASS Juni 3, 1701, 694E
Wortoffenbarungen 163 tantae Religioni minime respondeat. At filiam benignus senex laeta intuitus fronte, humo effert, blandisque verbis et patemo affectu interrogat, quid precari Deum velit... per medias Angelorum deducit catervas, comiterque cum ilia sermonem trahit. Inter loquendo autem circumspectat Osanna, Senensem Catharinam atque Columbam visere cupiens.»773 Diese sehr grofie Bedeutung, die der Dialog, oder besser die Rede iiberhaupt fur die Charismatiker des spaten Mittelalters besitzt, fiihrt nun dazu, daS bei einigen von ihnen die Visionen den Bildcharakter grofiteils oder ganz verlieren und wie blofie Auditionen gegeben werden. Die «Visionen» der Katharina von Siena, Birgitta von Schweden und andere sind eigentlich nicht mehr als solche zu bezeichnen, sondem bilden fast reine Wortoffenbarungen, die ihrem Inhalt nach auch zum Genre der Prophetie gehoren kon- nen. Diese Entwicklung beginnt ja durchaus schon bei einigen «Visionarinnen» des 12. Jahrhunderts, wie der uberhaupt einen Sonderfall darstellenden Hildegard von Bingen774, oder bei Elisabeth von Schonau775, die ihre Offenbarungen ja sowohl in «richtigen» Visio¬ nen als auch in Erscheinungen und Glossolallien erhalt. Wenn man die Entwicklung der Visionen am Grad der Bedeutung der in ihnen vorkom- menden Gesprache und Reden mifit, so lafit sich folgende Lime ziehen: es gibt Visionen, in denen das gesprochene Wort gegenuber dem visuellen Element nur geringe Bedeutung besitzt (fast alles des Typs I), Visionen, in denen es von grofiem Gewicht ist, Visionen, in denen es den Bildeindruck bis auf eine kurze Erwahnung verdrangt hat, und schliefilich «Visionen», in denen es ganzlich an Stelle des Schaubaren getreten ist. Die zweite hier genannte Stufe ware das Ubliche fur den Typus II, die dritte und vierte Moglichkeit sind quasi Ausartungen des akustischen Erlebens wahrend der Vision, so den Ubergang zur Audition bildend. Fiir die beiden letztgenannten Typen konnen wir u.a. in den «Revelationes» der heiligen Birgitta Beispiele finden. Diese bestehen zum groftten Teil aus reinen Wortoffenbarungen, die stereotyp eingeleitet werden von Formulierungen wie «Filius Dei loquitur», oder «Ma¬ ter loquitur». Aber in einigen Fallen wird doch ersichtlich, daman es vielleicht nicht nur mit Auditionen zu tun hat, sondem Birgitta auch ein visuelles Erleben zuteil wurde. Die ublichen Formeln finden sich namlich gelegentlich so erweitert: «Orante igitur ipsa domi- na Birgitta, apparuit ei Christus dicens: ...»776 Das in der sonstigen mystischen Literatur regelmaSig fiir eine Erscheinung verwendete Verb «аррагеге» deutet klar auf eine optisch erfafite Manifestation des Herm hin - nur ist sie dieser spatmittelalterlichen «Seherin» so unwesentlich, so sehr Begeiterscheinung zu dem Inhalt des Mitgeteilten, dag das Aussehen des Erschienenen uberhaupt keiner Beschreibung gewiirdigt wird. Bei Birgitta spielt die verbale Kommunikation eine solche Rolle, dag sogar Szenen, die sie anscheinend in echter Vision gesehen, nicht als solche beschreibt. Der tatsachliche visionare Bericht wird in einem Satz abgetan, die Vision dann innerhalb einer Rede geschildert. So heifit es einmal: «Christus ostendit sponsae, qualiter anima cuiusdam Monachi... expetebatur a nouem 773 ibid. 2,2,72, ed. cit. 692E 774 cf. z. B. die Stellen bei Oehl, Mystikerbriefe 84, 88, 91, 94 s 775 cf. zum Beispiel Lib. Vis. 3,13 ss, 22 ss usw. 776 Revel, extravag. 48, Hollmann, Extravagantes 163
164 Der Visionar und die Personen der anderen Welt Daemonijs ... Filivs Dei loquebatur ad Sponsam. Vidisti.. J11 anima monstrabatur tibi, quam Diabolus nouem iuribus possidet. Cuius iudicium, quia ostendi tibi prius, ideo eius nunc supplicium ostendere volo... Anima ergo illius cum peruenisset ad supplicium, statim septem Daemones occurrerent ei ante Principem suum dicentes. Haec anima nostxi iuris est. Primo Daemon superbiae dicbat. Ipsa est mea...» Nun foigen die prazisen Begrundungen der Damonen, warum die Seele ihnen anheimzugeben sei und die Antwor- ten des Oberteufels, wie sie zur Strafe in sie einfahren sollen.777 778 Was sonst in Visionen als Szene in der Unterwelt beschrieben wird, die der Charismatiker schaut, liest man hier als Worte, als Erzahlung, die Christus seiner Braut vortrdgt. Die Worte «sehen, zeigen, wei- sen» deuten wohl auf eine wie iiblich geschaute Jenseitsvision hin. Die Form in der sie mitgeteilt wird, ist aber die des verbalen Berichtes durch den Herrn, der noch ausfuhrliche theologische Erklarungen anschliefit. Es steht also zu vermuten, daS noch manches bei dieser Seherin, was auch ohne solche Hindeutung auf die visuelle Erlebnisebene innerhalb einer Rede erzahlt wird, im Kern auf ein echtes Visionserlebnis zuruckgeht. Birgitta verbrachte ungefahr zwanzig Jahre in Rom, wo sie auch ihr Leben beendete. Ahnliches kann man bei Birgittas Zeitgenossin, der ihr durchaus nicht ganz wesensfrem- den Italienerin Katherina von Siena konstatieren, die ebenfalls in der Heiligen Stadt nur wenige Jahre nach ihr aus der Welt schied. Auch sie schildert etwa die Jenseitsreiche nicht mehr als erlebte Vision, sondem innerhalb von Wortoffenbarungen779; dieses Vorwiegen des Gesprachselementes hat ja offensichtlich dazu gefiihrt, ihr «Libro della divina prowi- denza» betiteltes Werk auch unter dem Namen «Dialogo della divina dottrina» zu publi- zieren. Zum grofiten Teil handelt es sich jedoch nicht um Zwiegesprache, wie wir sie zum Beispiel von Mechthild von Magdeburg kennen, sondern um Ansprachen des Herrn an seine «carissima figliuola». Dieses ihr mystisches Hauptwerk macht zunachst einen sehr abstrakten Eindruck. Wann immer Worte aus dem visuellen Bedeutungsfeld vorkommen («vedere, mostrare, aspetto, occhio» ...), so sind sie in iibertragenem Sinn gebraucht und meinen ein intellektuelles Verstehen und Erkennen. Und doch scheinen, wie bei Birgittas Offenbarungen, auch manche Passagen des «Libro» Transponierungen von ekstatisch geschauten Bildem in von Gott gehaltene Reden zu sein. So wie es in diesen Reden Stellen gibt, in denen eindeutig Episoden aus Katherinas Leben erzahlt werden780, so findet man auch solche, denen «echte» Schauungen zugrunde liegen durften. Etwa, wenn Christus einmal zu ihr sagt: «Sai che Io alora ti mostrai me in figura d’uno arbore del quale non vedevi ne il principio ne il fine, se non che vedevi che la radice era unita con la terra; ... A’piei dell’arbore, se ben ti ricorda, era alcuna spina; ...»781 Auch wenn dieses Bild sicher metaphorisch zu verstehen ist, hat man doch den Eindruck, dafi der Herr die Heilige hier an eine ihr zu Teil gewordene Vision oder Erscheinung erinnert, in der ihr das Bild dieses Baumes (eine Variante des Lebensbaumes) gezeigt wurde. Doch ist dieses Bild, das sicher 777 Es folgt zunachst das Beispiel einer geretteten Seele 778 Revelat. 6,35, Turrecremata, Revelationes 2,63 s 779 Libro 38 ssfwir beschranken uns im Augenblick auf die von Katherina selbst verfafiten Quellen 780 z. B. Libro 142 781 ibid. 44, Meattini, Libro 124
Gemeinsames Handeln 165 schon bei seiner Schau von einer Audition begleitet war, vollig verblafit zum blofien Sinnbild einer verstandesmafiig zu erfassenden Wahrheit geworden. Gemeinsames Handeln Letzter und starkster Ausdruck aber dieser Nahe zur Gottheit ist es, wenn einige Charis- matikerinnen dieser zweiten Gruppe nicht nur Zwiegesprache mit den Himmlischen fuh- ren diirfen, sondem sogar mit ihnen gemeinsame Handlungen setzen. Dieses grofite Zei- chen von Zusammengehorigkeit ist jedoch auch in dieser Zeit nur wenigen von ihnen vorbehalten. Sehen wir von Bona von Pisa ab, die ja nicht als Visionarin zu bezeichnen ist - ihr wurden nur Erscheinungen zuteil -, die mit Christus «ging und stand, wie es ein Mensch mit dem anderen zu tun pflegt»782, so ist hier zunachst Mechthild von Hackebom zu nennen. Sie pflegt nicht nur den Herm vor ihren eigenen Handlungen, und seien sie auch noch so peripher, um seinen Rat zu fragen783, sondern handelt sowohl in Visionen als auch Erscheinungen gemeinsam mit dem Geliebten —, oder dieser sogar fur sie. So befindet sie sich einmal in Ekstase in einem Weingarten, der einerseits das Herz Christi ist, anderer- seits aber auch die Kirche symbolisiert. Mechthild soli diesen Garten wassern - und Christus als Gartner784 hilft ihr dabei, das Gefafi zu tragen.785 Es ist unschwer zu verstehen, was diese Szene bedeuten soil: Die Selige befordert durch ihr Wirken mit Hilfe des Erlosers die Christen; aber nichtsdestotrotz erlebt sie zunachst konkret die Aktion, auch wenn sie Niederschlag eines sinnbildlichen Denkens im Wachbewufltsein sein sollte, das dann so in der visionaren Realitat erfahren wird. Auch in Erscheinungen hilft ihr der Herr, wenn sie etwa vor lauter «fruitione magna et dulcedine»786 unfahig ist, ihre «lectio» am Pult zu lesen. Ja, dies geht so weit, dal? es einmal sogar sie ist, die den Gottessohn durch den Chor zu ihren Mitschwestem fiihrt787 - geradezu eine Umkehrung des herkommlichen Visions- motives, dafi der Charismatiker von einem Uberirdischen geleitet wird. Auch Margery Kempe setzt in ihren Visionen Handlungen, die in bezug zu den Heiligen stehen, mit denen sie auf diese Weise in Kontakt kommt. Wahrend nun Mechthilds Hand¬ lungen den jeweils augenblicklichen Situationen entwachsen, in der sie (oder ihr Konvent) sich eben befindet, also hier und jetzt in ihrer Gegenwart spielen, handelt die englische Mystikerin in Situationen, die sich 1400 Jahre vor ihrer Geburt zugetragen haben. Sie steht dabei den Personen der Heilsgeschichte gegenuber, in die sie direkt eingreift — sehr zum Unterschied von anderen Charismatikerinnen (wie etwa Luitgard von Wittichen), die dasselbe sehen, aber dabei passiv bleiben. Fur Theologen mufl dies, bei aller von Margery bezeugter Devotion, ein reichlich kiihner Gedanke gewesen sein. Es ist nicht auszuschlie- 782 cf. oben S. 152 783 cf. zum Beispiel Lib. spec. grat. 3,42 784 cf. Joh. 20, llss, wovon die im mittelalterlichen Theater so beliebte «hortulanus-Szene» der Osterspiele sich ableitet 785 Lib. spec. grat. 2,2 786 ibid. 2,5, Monachi, Revelationes 2, 141 787 ibid. 3,20
166 Der Visionar und die Personen der anderen Welt Sen, dafi das mit ein Grund war, dessentwegen sie mehrmals der Haresie beschuldigt und sogar mit dem Scheiterhaufen bedroht wurde, und nicht blofi der von ihr angegebene ihres mafilosen Weinens und Klagens.788 Den Inhalt dieser ihrer Visionen durfte man namlich weit und breit gekannt haben, denn immerhin waren sie so beriihmt, dafi man gleich fragte: «3yf J?at wer be woman of Inglond be which bei had herd seyd spak wyth God»789, als sie bei den Franziskanern im femen Jerusalem Station machte. Erst spater begann sie, mit der Mitteilung ihrer Gnadenerlebnisse vorsichtiger zu werden.790 Wie sieht nun ihr Handeln innerhalb einer Vision aus? Oben wurde zitiert, wie sie fur die um den Sohn trauernde Mutter Gottes eine starkende Bruhsuppe zubereitete; in einer anderen «contem- placyon» «went be creatur forth wyth owyr Lady to Bedlem and purchasyd hir herborwe euery nyght... Also sche beggyd owyr Lady fayr whyte clothy and kerchys for to swathyn in hir Sone ... she ordeyned beddyng for owyr Lady to lyg in ...».791 Eine andere Vision lafit sie die Flucht nach Agypten mitmachen.792 Ja, dies geht so weit, dafi sie diejenige ist, die die Personen der Heiligen Schrift uberhaupt erst dazu bringt, etwas zu tun! So fordert sie Maria auf, «А, blissyd Lady, risith vp and late vs folwe 3owr blissyd Sone as long as we may se hym ...», als Jesus sich anschickt, zum Olberg zu gehen, um seinen Vater zu bitten, diesen Kelch an ihm voriibergehen zu lassen. Erst dann «bei folwyd forth aftyr owr Lord and sey how he mad hys preyeris to hys Fadyr in be Mownt of Olyuete ...».793 Eine so Starke Aktivitat ist auch fur die Visionarinnen der zweiten Phase ungewohnlich; fur Mar¬ gery besteht die Begriindung darin, dafi die Madonna sie ja in einer Vision - aber eben auf ihre instandige Bitte hin — als Dienerin angenommen hat.794 Und tatsachlich gehort sehr vieles, was Margery innerhalb ihrer Schauungen mit und fur die Himmlischen tut, in den Bereich der hausfraulichen Tatigkeit und entbehrt jeder symbolischen Konnotation. Auch wenn man sich der Problematik von Volksstereotypen bewuBt ist795, mochte man im Vergleich mit den deutschen Mystikerinnen Margery Kempes Verhalten doch als Aus- druck der vielleicht weniger spekulativen angelsachsischen Wesensart, zu der das Schlag- wort vom «common sense» gehort, betrachten.796 Wiederum haben sich zwei Visionstypen herauskristallisiert, deren Trager und damit auch deren chronologische Verteilung jeweils den beiden durch die Analyse des Raumer- lebnisses gewonnenen Gruppen entsprechen. Fur die Mehrzahl der Visionen gilt folgende Relation: in der ersten Phase sind Beziehungen zum Raum und zu Personen etwa gleich relevant oder die Beziehungen zum Raum praponderieren, in der zweiten Phase ist die 788 cf. Book 1, 13, 46 ss, 62 s, 67 ss 789 ibid. 1,29, EETS OS 212, 73 790 ed. cit. 269 A. 26/9 791 Book 1,6, ed. cit. 19 792 ibid. 1,7 793 ibid. 1,79; ed. cit. 189 794 ibid. 1,6 795 cf. Hermann Bausinger, Volkskunde, Berlin, Darmstadt s.a. (1971), 105-123 796 Knowles, Mystik 53 s betont das «Urenglische», das die Texte der spatmittelalterlichen Mysti- ker seines Landes prage. Zum Verhaltnis kontinentaler und englischer Mystik cf. Riehle, Mystik 45 ss
Fordemde und schenkende Visionen 167 Beziehung zu Personen immer intensiver, als die zum Raum. Folgende Kennzeichen unter- scheiden die Personenbeziehungen des ersten, im Friih- und Hochmittelalter verbreiteten Typs vom zweiten Typ des Hoch- und Spatmittelalters: Wahrenddem in den alteren Schauungen Distanz zu den Jenseitigen herrscht und der Visionar sich unterlegen empfin- det, wie ein Knecht seinem Herrn gegeniiber, kommt in den spateren Nahe zwischen Mensch und Gott zum Ausdruck, die fast auf gleicher Ebene miteinander verkehren (was sich u. a. in gemeinsamen Handlungen manifestiert) und zwischen denen eine durchaus auch erotische Liebesbeziehung besteht. Die Gesprache, die die Charismatiker der ersten Gruppe fiihren, dienen vor allem dem Informationsaustausch, das Horen ist ihnen weniger wichtig als das Schauen. Umgekehrt die zweite Gruppe: nicht nur Wortoffenbarungen spielen dort eine hervorragende Rolle, sondern auch echte Zwiegesprache. Partner ist dabei vor allem Christus selbst, der nun auch - ein neues Motiv - wahrend seines Lebens- weges von der Kindheit bis zur Passion im Heiligen Land geschaut wird, wogegen in den fruheren Visionen den Engeln, Teufeln und Heiligen grofiere Bedeutung zukommt. Man konnte auch sagen, dal? in den beiden Visionstypen die Angste und Hoffnungen der Seher verschieden sind: die spateren fiirchten mehr als die Holle, von Jesus und den Himmli- schen nicht geliebt zu werden und die Begegnung mit Ihm wunschen sie sich lieber, als eine Paradiesesreise. Fordemde und schenkende Visionen Aus all den vorgebrachten Beispielen ergibt sich, dal? vom Inhalt her auch eine Typen- polaritat von fordemden und schenkenden Visionen existiert.797 Die einen dienen dazu, dem Charismatiker und seinen spateren Zuhorern einzuscharfen, dal? der Heilsgewinn durch die Befolgung gewisser Gesetze erreichbar ist, in den anderen erfahrt er vielfach eine (meist nicht als von ihm erworben empfundene) Heilswirklichkeit: diese «wird aus irratio- nalem Ratschlul? der Gottheit gnadenweise geschenkt».798 Anders formuliert: wird im ersten Fall das Christentum vor allem als eine normative Religion erlebt, in der das Prinzip von Lohn und Rache (bzw. Strafe) eine primare Rolle spielt, so im zweiten Fall als eine Gnadenreligion, die durch die den Menschen entgegengebrachte Liebe Gottes, konkret Jesus*, gepragt ist. Wird im ersten Fall dem Visionar das Paradies mit dem Hinweis gezeigt, dal? sein irdisches Wohlverhalten ihm dort nach dem Tode Eintritt gewahren kann, so ist im anderen in der Christusbegegnung die (theologisch nur den Seligen vorbehaltene) «visio beatifica» bereits vorweggenommen, ja geht diese oftmals in die hochste mogliche Stufe der menschlichen Beziehungen zur Gottheit, die «unio mystica» iiber. Die Aussagen der fordemden Visionen liel?en sich im Gegensatz zu den schenkenden immer in «wenn - dann» Satze kleiden: Wenn du in dieser Welt den Armen Kleider gibst, dann brauchst du in jener nicht erschauern. Wenn du hier eine Kuh schenkst, dann brauchst du dort nicht den Stol? des Stieres fiirchten. Wenn du jetzt den Armen Schuhe 797 Analog zur «fordemden und schenkenden Religion», cf. Mensching, Religion 82 ss 798 ibid. 87
168 Der Visionar und die Personen der anderen Welt schenkst, brauchst du dann nicht barfufi durch Dorngestriipp gehen.799 Wenn du bis an dein Lebensende Gutes tust, dann werden dich die Engel wiederum in den Himmel brin- gen.800 Wenn ihr nicht der von den Priestem verkundeten Lehre von der gotdichen Vergel- tung im Jenseits glaubt, werdet ihr nach dem Tode den schrecklichsten Martern ausgesetzt sein801, usf. Manche dieser Visionare, wie Tundal, Owen und die spateren Besucher des Purgatorium S. Patricii werden ja sogar gezwungen, die Fegefeuerstrafen am eigenen «Lei- be» zu erfahren, was einer im Wachzustand nicht vollzogenen, weil vemachlassigten Bufie entspricht. Die andere Gruppe bedarf dieser oft nicht- Ihre Visionen haben den Charakter von unaussprechlichen Begluckungen. «cum tanta dulcedine bona divina» ist eine von Angelas Traumvisionen begleitet, dafi sie zuerst «omnium mundanorum» und, weiterschreitend, «omnino sui ipsius» vergifit.802 Von Hadewijch, Mechthild v. Magdeburg, Margery Kem- pe, Heinrich Seuse ..., konnte man ein Beispiel um das andere bringen, das die namliche Aussage enthalt. Es ist bei ihnen weniger, wie in der ersten Gruppe, die Schau erfreuender, beseligender Paradiesesgefielde, sondem mehr ein Versetztwerden in den Zustand, in dem die Seelen der Geretteten sich bei Gott im Himmel befinden. Wie schon aus den zitierten Namen ersichtlich, ergeben sich hier also wiederum die beiden nunmehr bekannten Typen, in die die mittelalterliche Visionsliteratur zerfallt. Selbstverstandlich hat eine fruhmittelalterliche Himmelsvision auch den Aspekt des Gna- dengeschenkes an sich, hat eine spatmittelalterliche Fegfeuervision auch fordernde Funk- tion, doch sind die Schwerpunkte dieser beiden Typen schon durch die Haufigkeit der jeweiligen Inhalte in der angegebenen Weise verteilt.803 Bei jener Art von Visionen, in denen die Passion Christi miterlebt wird und die ab dem 12- Jahrhundert nicht selten sind, konnte man zweifeln, ob es sich um zur Imitatio auffor- demde oder das Miterleben des Erlosungsvorganges in illo tempore schenkende Schauun- gen handelt. Selbstverstandlich ist der erstgenannte Aspekt vorhanden. Elisabeth v. Spael- beck z. B. fiihrt diese Imitatio schon in der Ekstase durch, indem sie mit ihrem Korper alle Bewegungen des Gemarterten mitmacht, ja sogar auch die seiner Peiniger.804 Doch scheint der andere Aspekt substanzieller zu sein, da durch die Passion ja die Liebe, die der Herr zu seinem stindhaften Geschopf hegt, manifest wird. Francesca v. Rom schaut in einem Gesicht vom geschundenen Heiland diese seine Liebe als eindrucksvolle Lichterscheinung wie eine strahlende Kette vom Himmel kommen.805 Und Katharina v. Siena betet zum ans Kreuz genagelten Salvator: «Tu Verbo eterno, hi voluto essere levato in alto, unde ne hi mostrato nel tuo sangue Гатоге ... О passione desiderata!... О dilettabile, e molto dolce passione.»806 799 DraumkvaedeJ 19ss 800 Vita Fursei 23 801 Visio Godescalci A8, A19 802 Doncoeur, Angele 14 s 803 cf. oben S. 118ss «и Vita 4 805 Armeluni, Vita 20 s 806 Orazione 20, Meattini, Libro 595 s
ALLEGORIE UND ALLEGORESE DER VISIONAREN BILDER807 Die Welt in all ihren Manifestationen nicht nur als ein mittelbar Gegebenes zu betrach- ten, sondern hinter dieser Realitat noch andere Realitaten zu suchen, das Universum des Sichtbaren nur als einen Verweis auf die Sphare des Unsichtbaren zu deuten808, gehort zu den grofien Unterschieden zwischen dem Denken des Mittelalters und dem der Gegenwart. Diese Haltung zeigt sich an dem, was wir mit den Begriffen «Allegorie» und «Allegorese» zu erfassen suchen. Beider Tradition sei hier kurz skizziert. Allegorie, genauer: gestaltende, illustrierende Allegorie, allegorische Fiktion, «Versinnfalligung», meint die Verdingli- chung von abstrakten Begriffen, Vorgangen, Verhaltnissen ... in Wort und Bild, haufig unter Verwendung von Personifikationen. Allegorese dagegen (auch: hermeneutische Allegorie, allegorische Erklarung, allegorische Interpretation) ist die Ausdeutung eines Gegebenen (Ereignis, Text, Bild ...), die uber den unmittelbaren Bezug hinausgehend weitere Bedeutungen erschliefien mochte. Der anschaulichste Ausdruck dafur ist «imposed allegory»809, d. h. eine dem Gegebenen auferlegte Ausdeutung. Die allegorische Fiktion entwickelt sich nach Vorlaufern in der griechischen Dichtung (Tierfabel), von Lucrez abgesehen, besonders bei den augustaischen Poeten, um in der Spatantike einen Hohepunkt zu erreichen: neben Claudian wurden fur das Mittelalter vor allem Prudenz («Psychomachia»), Martianus Capella («De nuptiis Mercurii et Philolo- giae») und Boethius («De consolatione philosophiae») entscheidende Vorbilder. Die Viel- fait allegorischer Dichtung reicht im Mittelalter von den naturphilosophischen Epen aus der Schule von Chartres (Bemardus Silvestris, «De mundi universitate», Alanus v. Lille, «Anticlaudianus», «De planctu naturae») uber die vielfaltigen Streitgedichte (beginnend mit Sedulius Scottus’ «De rosae liliique certamine»), die Liebesallegorien (am bertihmte- sten: der Rosenroman), die symbolische Queste (Guillaume de Digulleville, Langland usw.) bis zu den Moralites und Moral Plays des Spatmittelalters (Nicolas de la Chesnaye «Condamnation de Banquet»; «Everyman»). Der Allegorese sind bereits die Werke Homers unterworfen worden, genauso wie die ganze antike Mythologie, schon seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert.810 Aus der helleni- stischen Kultur namentlich stoischer Pragung ubemimmt die neue Religion diese Methode. Auch hier steht besonders Paulus am Beginn der christlichen Tradition, wenn er einzelne 807 Zum Folgenden bes.: Laugesen, Middelalderlitteraturen 280 ss; Smith, Apocalypse 55 ss; Schultz, Seele 3,56 ss; Lubac, Esegesi 1203 ss; Chenu, Nature 99 ss; Lewis, Love, 44 ss; Hans Robert Jauss, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: id. ed., Grundrifi der romanischen Literaturen des Mittelalters 6/1, Heidelberg 1968,146-244; Joseph A. Mazzeo, Allego¬ rical Interpretation And History, Comparative Litterature 30, 1978, 1-21; LexMA 1,420 ss (Litera- tur!); Klopsch, Einfuhrung 101 ss, 168,173; Walter Haug ed., Formen und Funktionen der Allegorie, Stuttgart 1979; Maureen Quilugan, The Language of Allegory, Ithaca N. Y., 1979 808 cf. z. B. Henning Brinkmann, Die Zeichenhaftigkeit der Sprache, des Schrifttums und der Welt im Mittelalter, Zs. fur deutsche Philologie, 93, 1974, 1-11 809 Rosemond Tuve, Allegorical Imagery, Princeton 1966, 219 ss 810 Albin Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, Bern, Munchen J1971, 96
170 Allegorie und Allegorese Stellen des Alten Testamentes in einem ganz anderen als dem Literalsinn interpretiert und meint: «Quae sunt per allegoriam dicta.»811 Seit den Kirchenvatem ruht die von der Reaktion auf die ausfiihrliche Schriftallegorese des Origines angefachte Diskussion nicht mehr, welche Stellen der Bibel wortlich zu verstehen seien, welche im iibertragenem Sinn. Vor allem das Hohe Lied war in einer so dezidiert puritanischen Religion wie der chrisdichen nicht anders im Kanon zu halten, als nach einer allegorischen «Entscharfung», die bei manchen Autoren zur volligen Elimination des Wortsinnes fiihrte.8lu Das gleiche Verfahren ermoglichte die ungefahrdete Lekture der heidnischen «auctores», besonders des Vergil (Fulgentius, Bernardus Silvestris) und Ovid (Johannes von Garland, Chretien Legouais, «Ovide moralise» usw.). Nach einem Schwanken in der patristischen Zeit setzt sich im Mittelalter allgemein die vierfache Schriftauslegung durch, die iiber die Homiletik auch dem «Volk» nahegebracht wird. Die Allegorese wird jedoch durchaus nicht nur auf Texte angewandt: genauso gibt es eine Tierallegorese («Physiologus» und abhangige Lite- ratur), Pflanzenallegorese (z. B. Petrus v. Mora, «Rosa alphabetica»), Edelsteinallegorese (z. B. in den Werken Heinrichs v. Mugeln) usw. Beide Formen, Allegorie und Allegorese, finden sich in der Visionsliteratur. Sie finden sich — nicht aber sind sie das Wesen dieses Genres. Die Vision von der anderen Welt «statt sie wie bisher den erzahlenden Gattungen, z. B. der Legende, zuzurechnen, nunmehr als allegorische Form anzusetzen»812 ist ein verfehltes Unterfangen. Wenn ein Intellektueller des 14. Jahrhunderts, Dante, seine Jenseitswanderung, eine in der Tat allegorische Kunst- dichtung, als Trager eines «sensus ... polisemos, hoc est plurium sensuum»813 verstanden wissen will, so berechtigt dies keinesfalls, all die echten Gesichte der anderen Welt seit Gregor dem Grofien und Gregor von Tours nicht als Erlebnisberichte, sondem als Allego- rien anzusprechen. Die Autorin dieser These mufi selbst zugeben, dafi die Visionsliteratur «oft auch erzahlerische Elemente enthalt, ihr allegorischer Anspruch dagegen in den Dich- tungen selbst fast nie explizit zum Ausdruck kommt».814 Von den Worten Dantes zu behaupten, dafi sie «sich fur alle Visionen verallgemeinern lassen» und aus dem Fehlen ahnlicher Aufierungen (!) in alteren Texten auf die «Selbstverstandlichkeit allegorischer Interpretation»815, der sie unterzogen worden seien, zu schliefien, ist methodisch undisku- tabel. Eine Lekture gerade der hier angezogenen Jenseitsvisionen vom 6. bis zum 13. Jahrhundert zeigt vielmehr, dafi durchwegs meist in Ekstase erfahrene Gesichte geschildert werden, nicht aber fiktive Konstruktionen wie die «Comedia». Dai? diese Schauungen vom aufzeichnenden Kleriker einer Exegese unterzogen werden, ist durchaus unublich, immer geht es um eine getreue Wiedergabe des vom Seher Berichteten, nicht um dessen Interpre¬ tation.816 811 Gal. 4,24 811a z.B. Gottfried v. Auxerre (= v. Clairvaux f E. 12. Jh.), cf. Leclercq, Love 54 ss 812 Ebel, Formen 181 813 Epist. 13,7 ed. Luigi Blasucci, Dante: Tutte le Opere, Firenze 1965, 343 814 Ebel, Formen 182 815 ibid. 183 s 814 Dieser leider in ein Handbuch aufgenommene Artikel Ebels enthalt, abgesehen von seiner verfehlten Konzeption, eine Fulle sachlicher Fehler, auf die einzugehen sich eriibrigt (das Neue Testa¬ ment kenne aufier der Apokalypse keine Visionen 196; die «mittelalterlichen Jenseitsdarstellungen entstammen ausnahmslos» den klassischen und orientalischen Traditionen 197 s; vor dem 12. Jh.
Personifikationen 171 Erst die Visionarinnen vomehmlich des spaten Mittelalters (die die Autorin allsamt unberiicksichtigt lafit) berichten ausfiihrlich allegorisierte Visionen, wie wir gleich sehen werden. Allegorien und Personifikationen Dafi allegorische Figuren, Personifikationen also, in echten Visionen gesehen werden, ist weniger zu erwarten, da ja auch die Gestalten der Psychomachie und ahnlicher Texte kaum als materiell existierend geglaubt wurden. Tatsachlich finden sich eher selten Bei- spiele von aller Wahrscheinlichkeit nach wirklich erlebten Schauungen, deren Inhalt ohne traditionelle visionare Motive neugeschaffene Allegorien bilden. Eine eigenartige und iso- liert dastehende Mischung aus realem Jenseitsgeschehen und dem Auftreten von Verkorpe- rungen ist jene Vision des Monches aus Wenlock, die Bonifatius in einem seiner Briefe berichtet: in die ganz real geschilderte und in der Visionsliteratur so haufigen Szene vom Streit der Engel und Teufel urn die Seele werden auch die Laster des Monches redend eingefuhrt: «quasi ex sua persona in medium se obtulisse dicendo quoddam [sc. vitium]: <Ego sum cupiditas tua> ... <Ego sum mendacium>...». Nicht nur Abstracta, sondern auch Handlungen werden so verkorperlicht, wie das «otiosum verbum» oder das «iter otiosum». In ihren die Seele mit schrecklichen Anklagen iiberhaufenden Chor stimmen die Teufel ein, «et loca et tempora nefandorum actuum memorantes eadem, quae peccata dixerunt». Dagegen tritt nun «unaqueque virtue contra emulum suum peccatum excussan- do» auf, unterstutzt von den schiitzenden Engeln. NamentUch genannt werden aus einer grofieren Menge elf Laster und fiinf Tugenden.817 Man denkt natiirlich an Prudenz, doch kommt es weder zu einer tatlichen Psychomachie, noch sind die einzelnen Personifikatio¬ nen systematise!» aufeinander bezogen, wie in dem spatantiken Epos. Am merkwiirdigsten wirkt das Auftreten dieser Figuren in einer sonst ganz realen Schauung mit den gewohnten Jenseitsmotiven wie Flammenholle, Probebrucke, Pechstrom, verschieden tiefem Eintau- chen darin, ummauerter Himmelsstadt, Begegnung mit Bekannten, Auftrag an Lebende usf. «... the believer seems to have lost all power of distinguishing his allegory and his pneumatology ... All the actors and all the scenery are on the same plane of reality.»818 fanden sich Visionen «nut... innerhalb anderer Gattungen» 198; «Die eigendichen Visionen» stellten sich «nie in der Form eines Traumes dar» 202; mit demTundal sei «zum ersten Mab> eine Vision «auf Historizitat gegrundet» 208 usf.). Haubrichs, der sonst ausgewogen urteilt, hat hier diese irrige Meinung ubernommen, wenn er schreibt, «dafi der zutiefst figurale Charakter von Jenseitsvisionen in popularer Visionsliteratur oft in Vergessenheit geriet, so dafi nicht nur die Erfahrung des Visionars, sondern auch seine Beschreibung fur real gehalten wurde« (Offenbarung 263s8). Die mittelalterlichen Jenseitsvisionen waren von Anfang an nicht figural, sondern real. 817 Ep. 10, MG Ep. sel. 1,9 ss. Eine ahnliche Vision scheint dem Exempel bei Klapper, Erzahlun- gen nr. 42, zugrundezuliegen 818 Lewis, Love 86 s. Eine Parallele scheint die Vision Gottfrieds zu bringen, doch handelt es sich dort wohl um eine rhetorische Formulierung: «Omnia peccata mea ... adeo manifesta fuerunt & pa- tula, ut loqui & semetipsa quasi tumultarie in medium effere viderentur.» Trithemius, Annales 2, 151
172 Allegorie und Allegorese Auch wie man sich diese Allegorien korperlich vorzustellen hatte, wird in dieser, allerdings verkurzten Aufzeichnung nicht gesagt; vielleicht handelt es sich um die ekstatische Erinne- rung an Dlustrationen zur «Psychomachia», deren antike Ausgaben bereits bebildert wa- ren. Die Tugenden und die Laster erscheinen dort in mannlicher und in weiblicher Ge¬ stalt-819 Diese Vision des Monches von Wenlock aus dem beginnenden achten Jahrhun- dert scheint nicht unbeeinflufit zu sein von der alteren Furseus-Vision, in der man auf den ersten Blick zwar keine Personifikationen sehen konnte, wohl aber die Konkretisierung anderer Abstrakta: der irische Heilige Furseus (ca. 650) erblickt unter sich ein Tal, aus dem vier Feuer schlagen, «ignis mendatii, ... cupiditatis, ... dissentionis, ... impieta- tis».820 Vorschnell denken wir hier an Gestalt gewordene Abstracta821, etwa wie wenn wir das «Feuer der Leidenschaft»822 mit tatsachlich ziingelnden Flammen darstellen wollten. Hier handelt es sich aber vielmehr um das Fegefeuer im buchstablichen Sinne, das «se¬ cundum merita operum singulos examinat»823, was an den reinigenden Feuerstrom einer spateren irischen Vision erinnert.824 825 Das hindert nicht, dafi in den umfangreichen Reden der Heiligen, Engel und Teufel einige allegorische Formulierungen verwendet werden826, auch in bezug auf die Feuer.826 Dafi dieses aber nicht Symbol fur eine Untugend ist, sondem Strafwerkzeug, wird durch die Wunden bewiesen, die Furseus, aus der Vision erwacht, an seinem Korper, an Schulter und Wange, vorfindet: diese hatte ihm namlich die Beriihrung mit einem aus dem Feuer kommenden Sunder eingebrannt: «mirumque in modum, quod anima sola sustinuit, in came demonstratur».827 Die oben genannte Vision bei Bonifatius bleibt also, wie gesagt, ein isoliertes Zeugnis. «On se croirait deja aux personnifications du Roman de la Rose-»828 Die kurzen symbolischen Gesichte, die meist im Traum ohne Versetzung in einen anderen Raum gesehen werden, interessieren uns hier nicht.828a Erst von einem Heiligen des elften Jahrhunderts, Gebizo von Montecassino, werden Visionen berichtet, die allegorischen Charakter tragen, doch ist die Uberlieferung proble- matisch. Moglicherweise handelt es sich hierbei um eine literarische Erfindung.829 In seinen nachtlichen Traumgesichten erblickt Gebizo also, wie sich der im Chor aufsteigende Weih- rauchdampf beim Benedictusaltar sammelt. Als er uber dieses Bild nachdenkt, kommt ein 819 Evans, Drawings, PL 7 ss; Male, art 1, 206 820 Vita 9 bis, Heist, Vitae 41 821 So ubersetzt Leo Sherley-Price, Bede, A History of the English Church and People, Har- mondsworth 1955, 169 m.E. ungenau die Genetivi obiectivi mit Nominativen: «One of them is Falsehood ...» usw. Gemeint ist das Feuer zur Verbrennung der Falschheit usw. 812 wohl nach alttestamentlichem Sprachbrauch, cf. den «ignis zeli» Ez. 36,5, den «ignis impieta- tis» Is. 9,18 u. a. 823 wie Anm. 820 824 Ffs Adamnain 16 825 Vita 11, 15 826 ibid. 22 . 827 ibid. 23, Heist, Vitae 48 828 Labitte, Dante 718 828fl Beispiele bei Haubrichs, Offenbarung pass. 829 Gebizos Leben liegt namlich nur in der Beschreibung durch den ganz unzuverlassig bezeugten Paulus Diaconus (Grammaticus) vor, cf. Caspar, Petrus 73 ss
Personifikationen 173 Engel in Knabengestalt und erklart, es handle sich um die Gebete der Briider, die von Benedikt vor dem Gottesthron dargebracht werden sollen. Unmittelbar darauf folgt ein Predigteinschub, der die Monche zum Gebet auffordert: «Eia, fratres, quid dicimus de eo?»830 Dies ware wohl ein Fall von Bildailegorese. Eher als Allegorie zu bezeichnen ist das Bild einer zweiten Vision, das nur wegen seiner Symbolik gegeben wird: der selbe Engels- knabe bringt den Heiligen auf einen Weg, der ihn in ein Haus fuhrt, in dem eine Schlange in einem Scheiterhaufen umherkriecht. Verargert uber die Belanglosigkeit des Bildes kehrt der Seher um, um jedoch erfahren zu miissen, daE die Schlange keine Schlange sei, sondern die Frau eines Normannen, uber deren kirchenrechtlichen Status er sich Gedanken machte. Der Scheiterhaufen deutet aber auf das «futurum supplicium post vitae praesentis occa- sum« hin.831 Wiederum handelt es sich um eine Vision, mit der ein Ziel verfolgt wird: sie soil die Gultigkeit der Exkommunikation auch fur die Gattinnen der Betroffenen dartun, ein im Investiturstreit - in dieser Zeit entstand der Text jedenfalls - aufierst aktuelles Problem. Wahrenddem sonst Visionare auch noch lebende Personen bereits in der Unter- welt braten sehen (Monch von Wenlock, Laisren), wird hier ein symbolisches Bild ge- schaut, dem offenbar eine Eigenexistenz (wie der anderen Welt und ihren Bewohnem oder der erwahnten Klosterkirche) nicht zukommt. Dieser visionare Raum ist also gleichsam nur fur diesen einen Augenblick der Belehrung vom Engel geschaffen als Typos fur eine zukiinftige Situation. Sowohl Allegorie als auch Allegorese findet sich im visionaren Werk der beiden wohl eigenwilligsten Seherinnen des hohen Mittelalters, Hildegard v. Bingen und Hadewijch v. Antwerpen, deren Bildwelten einander nicht unahnlich sind, ohne dafi eine direkte Verbin- dung zu ziehen ware. Hildegards Offenbarungen, in fast jeder Hinsicht ein erratischer Block in der visionaren Landschaft des Mittelalters, zeichnen sich durch eine sonst unerreichte Komplexitat und Systematik symbolischer Bedeutungen aus. Ohne auf die Frage einzugehen, inwieweit diese ihr ekstaseloses Schauen als eingegossenes Wissen begleitet haben und inwieweit die theologischen Paraphrasen ihres Mitarbeiters Volmar erst bei der Niederschrift mit ihren Visionen verschmolzen worden sind832, sei beispielhaft nur eine ihrer gleichnishaften Schauungen zitiert, die man mehr der gestaltenden Allegorie als der hermeneutischen zurechnen mochte. Es ist eine «parabola», welche sie «in vera visione» geschaut hat: Eine schone Dame wohnt mit zwei Madchen in einem goldgeschmiickten Gemach, Geschenke austeilend, von vielen gelobt. Ein runzliges Weib lauft in alien Gegenden auf der Suche nach Lob und Ehre umher, wird aber allenthalben verjagt. Eine Handlerin sammelt das Unbekannte und Wunderbare fur die Menschen und lafit einen reinen Kristall durch die Sonne zum Lichtquell werden. Die erste Frau ist die christliche Liebe mit ihren Dienerin- nen Wohlwollen und Freigebigkeit, um sie muE man sich bemiihen, die Runzlige bedeutet die weltliche Liebe, die man fliehen mufi, und die Handlerin verkorpert die Philosophic, die den Glauben (den Kristall) erfand, durch den man zu Gott kommt.833 Sowohl die 830 Paulus Diaconus (Grammaticus), Vita 9, AASS Oct. 9, 1858, 401B 831 ibid. 10, ed. cit. 401DE 832 cf. Karrer, Hildegard 145 833 Epist. 135, PL 197, 363
174 Allegorie und Allegorese Bezeichnung als «Gleichnis» als auch die Verwendung von Personifikationen legen die Moglichkeit nahe, dieses Bild sei erst die sekundare Verdinglichung von vielleicht als «visio intellectualis» empfangenen Sachverhalten. Auch die aufeinander bezogenen, ein umfangreiches kosmisch-heilsgeschichtliches System darstellenden Schauungen der Bucher «Scivias», «Liber vitae meritorum» und «De operatione Dei» machen diesen Eindruck. Sich bei dieser naturwissenschaftlich hochgebildeten Intellektuellen das Umgekehrte vor- zustellen, namlich, dal? diese Gestalten (so wie bei dem Monch von Wenlock) Produkte des Unterbewufitseins seien, die erst nachtraglich allegorisch interpretiert wurden, ware allerdings in Analogie zu anderen Visionen ebenso denkbar. Am Beginn des letztgenannten Werkes sagt sie selbst, dal? sie ihre Vision «per septem annos scribendo vix consumma- vi».834 Die primare prophetische Erfahrung ist also mit der nachfolgenden Reflexion griindlich verschmolzen. Unter den Ekstatikerinnen finden sich die Personifikationen am ausgepragtesten bei der gebildeten Hadewijch. Nach alien Details ihrer Berichte zu schliefien, handelt es sich bei ihr um echte, bildhaft geschaute Visionen, in denen sie aber nicht nur Gott, Heiligen und Engeln begegnet, sondern auch - in denselben Raumen - allegorischen Figuren. In der funften Vision werden ihr die obersten Himmel gezeigt; Hadewijch fallt auf ihr Antlitz «met enen groten wee; Ende dat wee riep ouer lude: A A heylech vrient.. .».835 Also aus der abstrakten Umstandsbestimmung wird unvermittelt eine Personifikation, die selbst spricht, «das Weh». Diese Figur kommt weiter nicht mehr vor und wird auch nicht beschrieben, so dal? wir vielleicht nur eine extravagante Formulierung vor uns haben, kein richtiges Bild. So zu argumentieren ist aber bei anderen Verkorperungen ihres Seelenlebens unmoglich. In der neunten Vision erblickt Hadewijch im Geiste, wie eine gekronte Konigin in einem augengeschmiickten goldenen Kleid kommt, begleitet von drei Jungfrauen in rotem, griinem und schwarzem Purpur. Schnell kommt die Konigin auf die Seherin zu und setzt ihr den Ful? auf die Kehle. Diese Figuren aber sind Hadewijchs eigene Vemunft, begleitet von ihrer Furcht, Unterscheidungskraft und Weisheit. Nach einer Interpretation des funkelnden Kleides raumt die Vernunft das Feld und die gleicherweise personifizierte Minne umfangt die Charismatikerin. Spater werden noch die Tugenden genannt, die eine Braut (Hadewijch) zu ihrem Geliebten (Christus) fuhren, um gleich darauf als die Verzie- rungen ihres Kleides zu erscheinen.836 In der 13. Vision wird Hadewijch noch einmal mit der Minne konfrontiert, die aber nun apokalyptisch mit Feuerschwert ausgestattet, Blitz und Donner speiend so noch nie zuvor einem geschaffenen Wesen gezeigt wurde. Hade¬ wijchs Gesichte sind auch sonst durchwegs von symbolischem Charakter. Nicht nur, dal? sie bald den hi. Johannes, bald den hi. Augustinus, bald sich selbst als Adler erblickt837, auch sonst schwanken die Bilder oft und oft zwischen Symbol und Bedeutetem, gehen ineinander iiber, wechseln ihre Gestalt.838 Auch Hadewijchs etwas jiingere Zeitgenossin 834 PL 197, 741A 835 Mierlo, Visioenen 1,58; cf. Apoc. 9,12; 11,14 ■* Vis. 12 837 cf. Peter Dinzelbacher, Die mittelalterliche Adlersymbolik und Hadewijch, Ons Geestelijk Erf 54, 1980, 5-25 838 cf. oben S. 130
Personifikationen 175 Mechthild v, Magdeburg bringt in ihrem «Fliefienden Licht» solche Personifikationen, namentlich «Frowe mine», auch «die funf sinne», «die heilige cristanheit», «vro pine»839, doch kommen diese nur teilweise in ausdriicklich als Visionen bezeichneten Szenen vor, Mechthild verarbeitet ihre Gnadenerlebnisse ja auch zu Gebeten, Betrachtungen, Beleh- rungen, die Literatur in engerem Sinne sind und nicht Erlebnisbericht, und die Elemente der allegorischen Dichtung aufnehmen konnen. Die Minne, auch bei Hadewijch, ist aber ohnehin als Personifikation ohne das Ambiente der im dreizehnten Jahrhundert schon nach ihrem Hohepunkt stehenden Liebesdichtung nicht vorstellbar; und im Werk beider Mystikerinnen - Hadewijch hat auch verschiedene Gedichte verfaSt - konnten Anklange an die Troubadour- und Minnelyrik festgestellt werden.840 Vereinzelt finden sich allegorische Gestalten noch bei Gertrud d. Gr. (so wenn Maria ihre Gefiihle in Gestalt zarter Magdlein aussendet841 und bei ihrer Mitschwester Mechthild von Hackebom, die (abgesehen davon, dafi sie ihr eigenes Herz als Fisch im Herzen Christi, einer Lampe, schwimmen laSt), die Personifikationen der Demut, Geduld, Sanft- mut und Liebe als Jungfrauen schaut.842 Auch die durchgehend symbolischen Visionen ihrer osterreichischen Zeitgenossin Agnes Blannbekin werden nur selten von Personifika¬ tionen bevolkert. 1292 schaute sie in einem goldenen Palast zwei schone Madchen, von denen die eine zwei blanke Schwerter schliff, die ihr die andere immer wieder wegnahm und zerbrach, was sich unentwegt wiederholte. Das die Schwerter schleifende, heitere und emste Madchen war Gottes Gerechtigkeit, ihre lieblichere Widersacherin die gottliche Barmherzigkeit, die Schwerter der Strenge der gottlichen Bestrafung. In einer Erscheinung zeigte sich Agnes ein andermal ihr Glaube als gekronte und seidengekleidete Jungfrau, die den Altar der Himmelskonigin umtanzte.842* Im spateren Mittelalter scheinen solche Allegorien nur sporadisch in die visionare Welt einbezogen worden zu sein. So wird Adelheid Langmann von zwei Jungfrauen namens Spes und Karitas zu Bette gebracht, wo sie ihr «liep», Christus, erwartet.843 Man konnte an die beiden romischen Martyrerinnen Spes und Caritas zweifelhafter (aber im Mittelalter unangegriffener) Historizitat denken. Doch die Reden, die die beiden fiihren und in denen sich der entsprechende Begriff «minne» und Verheifiungen von des Geliebten «schon» gehauft finden, sowie der Weg, den sie gemeinsam zuriicklegen («durch all diss werlt»), sprechen fur ein aliegorisches Bild. Das Thema der Piigerschaft der minnenden Seele zu Christus, das ja auch in der damaligen Dichtung reiche Entfaltung fand und dessen Hohe¬ punkt Bunyans «Pilgrim’s Progress» werden sollte844, (die religiose Variante des Queste- 839 1,1; 1,44; 4,3; 4,12 840 cf. R. Kayser, Minne und Mystik im Werk Mechthilds von Magdeburg, The Germanic Review 19,1944, 3-15; Zeyde, Hadewijch 70 ss 841 Leg. div. piet. 3,19 842 Lib. spec. grat. 2,21; 3,22 M2a Vita 204,211 843 Strauch, Langmann 61 ss 844 cf. Marbel Dot Jones Schneider, John Bunyan’s «The Pilgrim’s Progress» in the tradition of the medieval dream visions, Diss. Nebraska, Lincoln 1970
176 Allegorie und AUegorese Motives845) ist hier in der Schauung konkretisiert und fiihrt zum Ziel, zur Vereinigung in der eindringlich beschriebenen «unio mystica». Wenn weiterhin allegorische Gestalten in Visionen auftauchen, so anscheinend bei Se- hern, die in ihrem ganzen Werk stark zu symbolischen Bildern neigen, wie etwa Alanus von Rupe.846 Man wird im Spatmittelalter auch die Einwirkung durch die «Moralitaten» des Theaters bedenken mtissen. Sollten das stauferzeitliche «Tegemseer Antichristspiel», in dem ja allegorische Figuren reichlich auftreten, und der «Ordo Virtutum» Hildegards von Bingen zu ihrer Zeit vollige Unika gewesen sein? Das sonstige lateinische Schauspiel bietet ja so frtih nur Umsetzungen realer biblischer Erzahlungen, mithin keine Personifikationen. Es sei aber abschliefiend betont, dafi die hier vorgefuhrten Beispiele fur Allegorie und Personifikation in den Visionen eher Einzelfalle sind, zu denen sich - im Gegensatz zu den sonst in diesem Buch zitierten Beispielen — kaum weitere Belege finden lassen. AUegorese Anders verhalt es sich mit der AUegorese. Diese trifft man ausgesprochen haufig in visionaren Texten - doch erst ab einer bestimmten Zeit, der zweiten Halfte des 12. Jahr- hunderts. Sie gehort damit zu den Charakteristika der Visionsgruppe II. Die Jenseitsland- schaften und Personen der fruheren Phase werden dagegen im allgemeinen weder vom Visionar noch einer der in der Vision auftretenden Figuren allegorisch interpretiert, sie bedeuten das, als was sie erscheinen.847 Wahrend die grofie Vision der Alten Kirche, der «Poimen» des Hermas, zentrale Passa- gen enthalt, die aus Auslegungen des Geschauten durch die personifizierte Kirche beste- hen, setzt die mittelalterliche Visionenallegorese erst zogernd im 11. Jahrhundert ein. Dabei interessieren hier nur Texte, in denen die AUegorese in der Schauung selbst vorge- nommen wird; den einmal mitgeteilten Bericht einer Schauung konnte natiirlich dann jeder Theologe einer Interpretation unterwerfen, die mit dem Erlebten so wenig zu tun hatte, wie jenes altjudische Liebeslied mit der Hochzeit der Kirche und Gottes. So ist schon Gregor d. Gr. teilweise mit den von ihm gesammelten Visionen umgegangen, doch sind weitere Belege unerwartet sparlich.848 Raheres Vision etwa wird da unter Zuhilfenahme von Schriftparallelen einer Exposition unterzogen, die entweder vom Verfasser seiner Vita, also noch aus dem spaten 12. Jahrhundert stammt, oder erst von dem Abschreiber und Obersetzer des friihen 15. Jahrhunderts. Zu einer Versifikation der Vision Drycthelms bemerkt ein Leser des 13. Jahrhunderts in margine anlafilich der Strafe des Wechsels zwischen Feuer und Eis «Iniquitas frigori comparantur [sic] quia peccantis mentem torpo- 845 Samuel Chew, The Pilgrimage of Life, New Heaven, London 1962, 201 ss u.o.; Owst, Pulpit 103 ss; cf. auch Nolan, Perspective 124 ss 846 Er sieht z. B. die verkorperte Justitia zu Pferd, Coppenstein, Alanus 152 847 Dies ist nochmals gegen Ebel (cf. oben A. 812, 816) festzuhalten 848 Wir sprechen hier von Allegoresen einzelner Texte, nicht von der bei Theologen vereinzelt zu findenden Meinung, die in solchen Gesichten geschauten «corporalia» mufiten generell «spiritualiter» verstanden werden. Cf. A. 853
Seltene Allegorese in der I. Phase 177 re constringit... » usw.849 Caesarius von Heisterbach deutet die ihm erzahlten Visionen gelegentlich symbolisch.850 Aber auffallender sind fast die Gegenbeispiele: Weder der Auf- zeichner der Jenseitswanderung des Ritters Owen greift zur Hilfe einer allegorischen Deu- tung, obwohl er fiber des Hugo von St. Victor Beurteilung der «corporalia» als bloSe «signa» fur den ja immateriellen Gehalt des Jenseits reflektiert851, noch der Prediger, der diesen Text als spannenden Aufhanger fur seine Ermahnungen beniitzt.852 Um ihre krasse Realitat zu wahren hat man an die Vision Tundals eine «Excusatio» angehangt, in der auf eine Reihe von Bibelstellen verwiesen wird, an denen Jenseitiges ebenfalls «per corporales similitudines» dargestellt wird.853 Exegetisch behandelt hat man diese Gesichte dagegen iiblicherweise nicht. Interessant ist hier die Antwort, die ein Visionar des 14. Jahrhunderts, Gottfried, auf die Frage gibt, ob die Strafen in der Unterwelt tatsachlich so konkret vollzogen wiirden, wie es andere «passi similia referunt, quemadmodum Tandalus, & ple- rique alij». Gottfried, der unaufhorlich die Abstraktheit und Unsagbarkeit seiner Schau betont, sagt dazu nur, dafi sich der Mensch vor jenem Unfafibaren eben gar nicht anders ausdrucken konne, als in ihm gelaufigen Worten. «Nihil est ibi carnale, nihil imaginarium, nihil sensui humano cognoscibile .. .».854 Sein Bericht wurde, um das Mindeste zu sagen, von einem theologisch geschulten Aufzeichner zu Papier gebracht, trotzdem also keine Andeutung, dafi die alteren Visionen einer Interpretation zu unterziehen seien, sondern die Distanzierung von ihrer Konkretheit blofi durch den Hinweis auf das inadequate Verhalt- nis von Erleben und sprachlicher Abbildung. Ein fruhes Beispiel fiir diese in die Schauung hineingenommene Methode bietet erst das Visionenbuch des Otloh von S. Emmeram (f ca. 1070): ein visionarer Regensburger Bett- ler wird u. a. in ein weites Feld gefiihrt, in dem sich ein Brunnen mit sehr wenig Wasser befindet, zu dem mehrere Wege fiihren. Da er nicht weii?, was das bedeuten soil («quid ... significet?»), wird ihm erklart, die jetzt kaum mehr begangenen Wege symbolisierten die friiher reichlicheren Almosen, der leere Brunnen, daS nunmehr die Armen Seelen kaum mehr gestarkt wiirden. Dann kommt er zu einem Kloster, zu dem ahnlich nur mehr eine frische Spur hinfiihrt, was den Sittenverfall der dortigen Monche bedeutet. Ein groSer, diirrer Baum schliefilich ist Sinnbild fiir einen Bischof, der «sicut arbor haec jam diu ex parte aruit». Bald wird ihn die Axt Gottes fallen.855 Das Bild mit dem Brunnen ist eher Allegorie als Allegorese, da es speziell zur Verdeutlichung einer Kritik erfunden zu sein scheint, ahnlich das mit dem Baum. Das Kloster dagegen ist nicht ein Symbol, sondern tatsachlich ein irdisches Kloster, dessen Namen der Bettler auch erfahrt. Was einer Allego¬ rese unterzogen wird, sind die zu ihm fiihrenden Spuren. Dieses zwischen erfindender und 849 Wagner, Tnugdali 83 s 850 z. B. Dial. mir. 4,53 851 cf. Spilling, Tnugdali 206 ss 852 Jenkins, Espurgatoire 86 ss, 90 ss 853 Schade, Tnugdali 23; cf. als ausgesprochen seltenes Beispiel eines nicht buchstablichen Ver- standnisses des «Tundal» die Bemerkungen des hi. Antoninus v. Florenz (f 1459) bei Spilling, Tnugdali 37 s 854 Trithemius, Annales 2, 153 s 855 Odoh, Lib. vis. 11, PL 146, 365 s
178 Allegorie und Allegorese interpretierender Allegorie schwankende Bild enthalt doch den Kern dessen, was wir spater so oft finden werden: ein gegebenes Reales enthalt noch ein tiber sich hinausweisen- des Unsichtbares (auch zu dem materiellen Kloster fiihrten Wege, sie werden aber hier noch gedeutet). Die ausfuhrliche Allegorese der Visionen beginnt mit Elisabeth von Schonau. Nament- lich nachdem sie Hildegards «Scivias» kennengelernt hatte, werden ihre Gesichte mit langen Erklarungen versehen, die sie als eingegossene Erleuchtung, als Glossolalie, als Audition empfangt. Bis zur achtfachen Lange des Visionstextes konnen diese Erklarungen anschwellen.856 Sicher hat sie ihr theologisch gebildeter Bruder, Abt Ekbert, dabei beein- flufit, der ja ihre Schauungen niederschrieb. Leicht war aus Elisabeth Gewunschtes heraus- zufragen.857 Aus ihren vielen symbolischen Gesichten nur ein Exempel: in einer sich noch zweimal wiederholenden Pfingstvision bringt der Engel die Nonne zu einer hochgelegenen, von einer goldenen Mauer quadratisch umgiirteten Stadt, in die zwolf Pforten fuhren. Sie sind aus verschiedenen Edelsteinen aufgebaut, wobei die mittlere, nach Osten weisende, besonders auffallt. Erleuchtet wird die ganze Stadt von einem hohen Turm aus «lux purissima», auf dem die Dreifaltigkeit thront. An einem Flu8 stehen verschiedene schone Baume, unter denen zwei besonders hervorragen. Auf der Hohe der Mauer, deren Schmuck von verschiedenfarbenen Edelsteinen detailliert geschildert wird, sitzen die lob- singenden Engelscharen.858 Dies ist, nicht zu verkennen, eine der von so vielen Charismati- kem gegebenen Beschreibungen des neuen Jerusalem nach dem einundzwanzigsten Kapitel der Johannesapokalypse mit fur echte Visionen charakteristischen Veranderungen einzel- ner Elemente. Nicht nur aus dem Bibeltext wird das von Elisabeth geschaute Bild resultie- ren, sondem auch aus den von der bildenden Kunst empfangenen Eindriicken, aus Fresken und Reliefs in und an den Kirchen, wohl auch schon aus farbigen Glasscheiben, aus Reliquiaren (wie die Kreuzkuppelreliquiare des Welfenschatzes) und Radleuchtern (Hil- desheim, Aachen, Groficomburg), alles Verkorperungen der Himmelsstadt. Es haben auch dem Тур I zugehorige Visionare diese Stadt geschaut, wie der Monch von Wenlock, Gunthelm, Gottschalk oder manch namenloser Visional*859: sie ist ihnen ein genauso realer und nicht uber sich hinausverweisender Teil der anderen Welt, wie die Landschaften der Straforte. Ihre Berichte bleiben bei der blofien Deskription stehen, Elisabeth aber (und die anderen Seher der zweiten Phase) fiigen zu dem Geschauten eine Auslegung hinzu. Elisa¬ beth sagt: «ex parte quidem ab angelo ductore meo partim a precursore domini instructa sum de interpretatione omnium, que videram.» Die Allegorese erfolgt also, verteilt auf zwei Sprecher, als Wortoffenbarung innerhalb der ekstatischen Vision, und zwar in Beant- wortung der von Elisabeth gestellten (wenn auch nicht ausgesprochenen860) Fragen. Es handelt sich also, wenn wir dem Text der Quelle glauben, nicht um spater hinzugefugte Reflexionen im Wachzustand, sondem um die Erlauterungen, die der bei ihr stehende Engel und der Taufer an sie richteten. Das machen auch die zwischendurch immer wieder 856 z. B. Lib. vis. 3,31 857 cf. unten S. 193 ss 858 Lib. vis. 3,1, Roth, Visionen 56 s., cf. 1, 34 s 859 z. B. bei Konrad v. Eberbach, Magn. Exord. cist. 3,7 860 Telepathie: «occurrit cogitationi mee»
Elisabeth von Schonau 179 eingeschalteten Bemerkungen klar, die zeigen, dag Elisabeth das geschilderte Bild andau- ernd weiter sieht: «Verti me ad flumen ...», «In his, que vides, ... significata est...», «Aspiciens ad angelos ...», «Et demonstrans eos ... aiebat...». Nun die Interpretation, die durchaus ins Detail geht: «Urbs, quam vidisti, ait ductor meus, est figura domini salvatoris. Et signum quidem preciose humanitatis eius est murus aureus,...» Der Turm bedeutet die gottliche Majestat, die zwolf Pforten die Apostel, durch deren Lehre die Auserwahiten zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen, das Weig der Schwellen das flecken- lose Leben, das Rot der Pfosten das Martyrium; die zwei Baume sind der Vater und der Sohn, der dazwischen stromende Flug der Heilige Geist. Besonders eingehend ist die Auslegung der «ordines gemmarum» als «diversi ordines fidelium». Sie entsprechen den himmlischen Hierarchien, welche dieser Seherin sonst in ihrer menschlichen Gestalt er- scheinen861 *, abermals von den Aposteln bis zu den konvertierten Blutzeugen reichend, die adaquat durch je einen schwarzen, weigen und roten Stein bezeichnet werden (Unglaube - Ubertritt - Martyrium). Der Unterschied wird deutlich, wenn man an einen Zeitgenos- sen Elisabeths denkt, Tundal, der eine ganz ahnliche Edelsteinmauer beschreibt, wobei er nicht weniger als 14 Steine beim Namen nennt, ohne aber irgendeine Verbindung zu den dann aufgezahlten Choren der seligen Geister und Heiligen zu ziehen.W2 Nach einem Jahr wiederholt sich iibrigens Elisabeths Schau der Himmelsstadt, um weitere auszulegende Einzelheiten vermehrt, auf die hier nicht eingegangen zu werden braucht. Es wird wieder manches aus Ekberts Kenntnissen dazugekommen sein, denn schon bei der ersten Vision erhielt Elisabeth den Auftrag, alles Geschaute und Gehorte dem Manne, «qui in hoc ipsum destinatus est tibi, ut scribat hec», also ihrem Bruder, zu erzahlen. Man wird sich das Zustandekommen dieser Allegoresen vielleicht am besten als Wechselspiel geschauter Bil- der und exegetischen Wissens (vermittelt via Predigt) von seiten der Charismatikerin und suggestivem Fragen, vielleicht auch ein wenig systematisierender Bearbeitung bei der Nie- derschrift von seiten des Aufzeichners her vorstellen konnen. Bei den weiteren hoch- und spatmittelalterlichen Visionaren gehort es dann geradezu zum Ublichen, dag sie noch in der Ekstase die Deutung der geschauten Bilder mitbekom- men oder diese in Audition spater nachgeliefert wird. Das Bild wird dabei fur sie weniger interessant als die Auslegung - eine Erscheinung, die in Ubereinstimmung steht mit der oben dargestellten Verlagerung vom realistischen zum abstrakten Raum, von der Bild- offenbarung zur Wortoffenbarung. Die extremsten Beispiele fur diese Tendenz, die Schau- ung zu entstofflichen, sie nur mehr als Abbild gelten zu lassen, finden sich wohi bei den beiden Helftaer Nonnen Mechthild von Hackebom und Gertrud d. Gr. Sie sind geradezu durch eine Allegorisierungssucht gekennzeichnet: wenn Mechthild auf eine paradiesische Wiese mit verschiedenen Blumen gefuhrt wird, so geniigt ihr dies nicht als Paradieses- vision, sondern die Rosen sind die Martyrer, die Lilien die Jungfrauen, die Veilchen die Witwen usw. Wenn dort Nachtigallen und Lerchen singen, dann sind dies die liebenden und freudig gute Werke vollbringenden Seelen; wenn Christus von vier Seiten von Getreide umgeben ist, so erfordert dies eine komplizierte Interpretation auf sein brennendes Herz, z. B. Lib. vis. 1,20 s W2 Vis. 23
180 Allegorie und Allegorese seine Milde, auf seine Heilkraft und seine Geduld, die sich als Tugenden auch in der Seherin wiederfinden.863 864 Wenn Chrisms dagegen auf einem baumbestandenen Berg thront, so symbolisieren die verschiedenen Materialien seines Sitzes seine Gottlichkeit, Liebe und Passion, der Berg selbst seine «conversatio», und die Baume seine Tugenden.1ш Wenn Mechthild einen Berg mit sieben Smfen ersteigt, so sind dies Demut, Sanftmut, Liebe, Gehorsam, Enthaltung, Keuschheit und Freude. Auf ihnen gelangt man zu sieben Brunnen, wo die verschiedenen Makel abgewaschen werden konnen.865 Sicherlich konnte man hier wie bei den anderen Interpretationen die Quelle gerade dieser Deumng unschwer heraus- finden866, fiir die Visionarin sind es aber in Ekstase erfahrene ubermenschliche Wahrheiten. Wenn Gertrud (wie so viele andere Mystikerinnen) Teile der Lebensgeschichte des Herrn miterlebt, so begniigt sie sich eben nicht mit dem Nachvollzug der biblischen Szenen, sondem deutet diese auch gleich aus: die zwei Tauben, die Maria fiir ihren Sohn im Tempel darbringt, sind Einfalt und Unschuld der Seele, welche bestandig nach Tauben- art reine Komer sammelt, d. h. die Beispiele der Heiligen nachahmt.8*7 Wenn Maria Mag¬ dalena durch goldene Blumen und Edelsteine geschmiickt erscheint, so werden jene so- gleich als Symbole der Giite und Milde bezeichnet, diese als Sinnbild der wurdigen Bufie8*8; wenn sie in eine Schatzkammer aus Edelsteinen gefuhrt wird, die mit goldenem Kitt zusammengefugt sind, so sind damit Vorbestimmung und Verpflichtung der Auserwahlten gemeint, die einander gegenseitig aus Liebe tragen.869 Die Grenze zwischen der Neuinterpretation aus der visionaren Tradition bekannter Bilder (Allegorese) und der Neuschopfung von Abstracta verkorpemden Bildem (Allego¬ rie) ist dabei manchesmal kaum zu ziehen. Den hi. Benedikt etwa haben auch andere Seher als ehrwtirdige Vaterfigur gesehen (z. B. Gunthelm), der Abtsstab gehort zu seiner Ikono- graphie. Gertrud aber sieht, wie aus seinen Gliedern Rosen hervorsprossen, aus denen wieder neue sich entwickeln usf., so dafi der ganze Heilige anmutig in Blute steht. Bene- dikts Kasteiungen und Tugendwerke werden durch diese Blumen bezeichnet, dann die Werke seiner Nachahmer.870 Wieweit hier der gedankliche Inhalt das Visuelle bestimmt, wieweit er nur eine Um- und Ausdeutung des Geschauten ist, mufi wohl unentschieden bleiben. Freilich gibt es viele Bilder, die uns als einigermafien gekiinstelt erscheinen. So stellt Beatrix v. Nazareth die Erlosung unter dem Bild eines Flusses dar, der von Gott Vater ausgestofien wird, und aus dem viele Flufichen entstromen, woraus die Glaubigen trinken. Der Flufi ist Jesus, die Flufichen aber sind keine anderen Personen (wie wir erwarten), sondem die «signa reparationis nostrae, stigmata scilicet passionis Dominicae» sowie die «dona gratiarum».871 Ahnlich Luitgard v. Wittichen, die diese Fliisse aus einer durchsichti- 863 Lib. spec. grat. 3,16 864 ibid 1,10 865 ibid 1,13 ш Beispiele fur symbolische Leitem bei Dinzelbacher, Jenseitsbriicke 142 s 867 Leg. div. piet. 4,9 868 ibid. 4,46 869 ibid. 4,58 870 ibid. 4,11 871 Wilhelm v. Afflighem, Vita 44, Henriquez, Virgines 137 s
Spatmittelalter 181 gen Marmorsaule stromen sieht, die vom Himmel zur Erde reicht, und von denen die Glaubigen mit verschiedenem Nutzen trinken.872 Dies erinnert auch stark an die eigentiim- liche Rohren-, Trompeten- und Seilsymbolik der Helftaerinnen.873 Ein anderes, etwas ge- sucht wirkendes visionares Bild ist das der goldenen Halskette, deren vier Teile fur Christi Gottheit, Seele, Leib und die Seele jedes Glaubigen stehen. Als Gertrud bei dieser Betrach- tung ein Gebet eingegossen wird, glanzen dessen einzelne Spriiche gleich herrlichen Edel- steinen an dem Schmuck.874 Ahnliche Beispiele ekstatischer Bildausdeutung liefien sich, ich wiederhole dies, von den meisten anderen Visionarinnen des spaten Mittelalters bringen, sei es nun Katharina von Siena, die die Bilder im allgemeinen gar nicht mehr schildert, sondem nur ihre Auslegung durch Gott erfahrt, sei es Francesca von Rom, die neben massiv realistischen Unterwelts- fahrten des ersten Typs auch allegorische Schauungen des zweiten berichtet, sei es Ursula Haiderin, bei der man nicht recht erkennen kann, ob sie ihre Allegorien als Schauungen empfangen hat, oder ob es sich um Reflexionen handelt, wie sie auch Teile des Werkes der Mechthild von Magdeburg bilden. Vielleicht verdeutlicht ein Vergleich der Behandlungen ein und desselben Motives durch verschiedene Visionare nochmals die Differenz zwischen den beiden Gruppen. Baum und Baumgarten gehoren wenigstens seit dem Alten Testament zu den konstanten Elementen der Paradieseslandschaft. Viele Beschreibungen liegen in der alteren Visionsliteratur vor: Maximus, Alberich, Gunthelm, Tundal, Thurkill... Des Letzteren Schilderung z. B. lau- tet so: bei einem hellen Quell sieht er eine «arbor pulcherrima mirae maginitutinis, immen- sae proceritatis, quae omnigenum fructuum abundantia ac specierum redolentia ubertim affluebat».875 Keinerlei Auslegung, wie auch iiblicherweise in den anderen Texten der ersten Gruppe876, sondern einfach die Erinnerung an den Paradiesesbaum. Dagegen die Baumsymbolik der Charismatiker der spaten Phase: gem bedeutet der Baum einen Monchsorden; seine Blatter sind die guten Werke, ein abgeschnittener Zweig die Vollkom- menheit des Wandels Jesu877, oder: seine Friichte sind die Ordensbriider, seine Hauptaste die Ordensprovinzen.878 Da gibt es Baume, aus denen die Friichte der Bufie wachsen879 oder in deren Zweigen die Herzen der Glaubigen in Form brennender Lampen hangen.880 Auch hier eine oft verwickelte Symbolik: Alanus schaut einen riesigen Baum in Form eines Dreisprofies881, jeder Sprofi hat fiinfzehn Zweige «&С in singulis Puer crucifixus», welcher 872 Berthold v. Bombach, Leben 79 873 cf. oben S. 147,153 s 874 Leg. div. piet. 3,66 875 vis. 22, Ward, Thurkill 458 876 Eine Ausnahme raacht nur die Visio Tundali 22, wo der Baum Typos der Kirche ist; cf. Spilling, Tnugdali 149 ss; eine Weiterentwicklung der Parabel in Math. 13,32? 877 Gertrud, Leg. div. piet. 3,74 878 Fioretti 48 879 Mechthild v. Hackeborn, Lib. spec. grat. 1,25 880 ibid. 1,17 881 eine Abkiirzung des Lebensbaumes, auch als heraldische Lilie, dreiflammige Kerze u.a. be- zeichnet
182 AUegorie und Allegorese erklart, dafi dies die einzelnen, homiletisch ausgelegten Worte des «Ave Maria» bedeute.882 Besonders Hadewijch interpretiert die von ihr geschauten Baume sehr sorgfaltig: sie wird (wie auch die Seher der ersten Gruppe) von einem Engel in einen Baumgarten gefuhrt, wo ein Baum mit verfaulter Wurzel und festem Kemholz steht: die menschliche Natur bzw. Seele; das Ganze: die Selbsterkenntnis. Ein zweiter Baum ist die Demur, seine schonen Blatter (die Tugenden) sind von verdorrten verdeckt (die Demiitigkeit), ein dritter die Kraft des vollkommenen Willens usf. Weder Farbe noch Form der Blatter bleiben von einer Allegorese ausgenommen.883 Es ist klar, dafi sich bei der zwar visionar erlebten, aber doch (irgendeinmal im Wachzustand aufgenommenen) systematischen Auslegung dieser Art Vorbilder im nichtvisionaren religiosen Schrifttum finden liefien und genauso Parallelen in den literarischen Traumvisionen. Man denke z. B. einerseits an (auch in Zeichnungen konkretisierte) Tugend- und Lasterbaume im «Speculum Virginum»884 oder andererseits den Baum, von dem die Gottin Fortuna die verschiedenen Menschen hinabstiirzt (bei Guillaume de Digulleville885). Es gibt einige Schauungen, die uns zeigen, wie der Ubergang von den rein «ereignishaf- ten» Gesichten zu den allegorischen vor sich gegangen sein mag. Eine solche ist die ander- warts ausfiihrlich analysierte Bruckenvision der Ida v. Nijvel886, eine solche ist auch die Vision eines jungen Franziskaners, der u. a. wegen der rauhen Ordenskleidung wieder in die Welt zuruckkehren wollte. In der Ekstase wurden ihm jedoch die Scharen der seligen Minderbruder gezeigt, die strahlend in kostlichen Seidengewandern einherschreiten. «Queste vesti di drappo, che si maravigliose vedi et ricche, ci sono date da Dio in cambio delle toniche aspre che pazientemente nelle religioni portammo al mondo.»887 Was hier noch als Vergeltung einer irdischen Tugend erklart wird, wiirde bei einem mehr zum Allegorischen tendierenden Charismatiker zum Symbol dieser irdischen Tugend werden, wie die Kleiderexegesen so vieler Mystikerinnen lehren.888 All diese Auslegungen beziehen sich nahezu ausschliefilich auf Gegebenheiten der jewei- ligen Gegenwart der Seherinnen. Typologisch gedeutet, also auf vergangene oder zukunfti- ge Personen und Ereignisse bezogen, werden die Bilder in richtigen Visionen kaum.889 Wenn etwa Robert von Uzes Visionen oder Traumvisionen sieht, die ausdriicklich proheti- schen Charakter haben, so entspricht das nicht dem Ublichen. Auch werden keine Bilder als Antitypen interpretiert, die auf einen heilszeitlichen Typus hindeuten wurden. Allerdings gibt es im Mittelalter reichliche Zeugnisse der Prophetic890, die aber ublicher- 882 Coppenstein, Alanus 146 ss 883 Vis. 1; cf. die glasemen Baume der gottlichen Barmherzigkeit, Geduld, Sanftmut... bei Mecht- hild v. Hackebom, Lib. spec. grat. 3,50. Die Allegorien Hadewijchs sind Gegenstand eine in Arbeit befindlichen Bonner Diss. von Esther Heszler 884 Evans, Drawings PI. 72 s, cf. 70 s m Patch, Elements 625 886 Dinzelbacher, Ida pass. 887 Fioretti 20, Axatri, Fioretti 97 888 cf. die Stellen oben Anm. 549 889 Ich spreche hier nicht tiber die literarischen Texte oder die Schauungen etwa einer Hildegard v. Bingen 890 cf. dazu Edward Le Roy Froom, The Prophetic Faith of our Fathers, Washington 1950; Robert
Umbruch im Hochmittelalter 183 weise als Erscheinung (oft Traumerscheinung), Einsprache im Geist, Glossolalie usw. geoffenbart wird, nicht in einer Vision mit Raumwechsel. Davon unberiihrt bleibt selbst- verstandlich die direkte verbale Mitteilung nicht gegenwartiger Dinge in einer Vision (z. B. bei Orm), die ja mit einer typologischen Auslegung iiberhaupt nichts zu tun hat. Was man an Heilszeitlichem schaut (nur bei Visionaren der zweiten Gruppe), ist unmittelbar die historische Lebensgeschichte des Heilands, nicht aber die dafur in der Bibelexegese behan- delten Typen. Es ist so, als ob seit dem Hochmittelalter die den Visionaren gezeigten Bilder als erlebtes Sein nicht mehr genugten, als ob man nun eine weitere hinter ihnen liegende Dimension eroffnen miifite. Ist die reale Jenseitsschilderung nicht mehr zeitgemafi? Das direkte Bild zu einfach, zu unmittelbar? Wo es friiher eine sehr konkrete und schmerzzufiigende Brucke ins Jenseits gab, ist diese bei Katharina von Siena nur mehr ein Symbol, ein Symbol fur die Wahrheit, Christus, als Mittier zwischen der gottlichen Erhabenheit und der menschlichen Niedrigkeit.891 Sehr richtig ist festgestellt worden, dafi «sich die Menschen in der Staufer- zeit iiber die Welt haufig in Bildem und Symbolen [verstandigten]; nicht in Diskursen also, sondern in mehr oder weniger ,plakativen‘ Zeichen ... weil die Bilder und Symbole fraglo- ses Einverstandnis zuliefien, eine Potenz der Identifikation, deren Gefiihlskraft nicht durch eine rationale Sprache eingeschrankt war».891a Wenn diese Bilder nun aber systematischer Erlauterung und Umdeutung bediirfen, wenn der unmittelbare Sinn solcher Schauungen nicht mehr genugt, dann vollzieht sich eine Entwicklung, die nicht ohne Parallelen in der Antike ist: als die Erzahlungen der archaischen Mythologie nicht mehr konkret verstanden werden konnten, wurden sie als bildliche Darstellungen abstrakter Inhalte betrachtet. Dies aber ist ein in der Geschichte der Religionen iiberhaupt bekannter Prozefi: «Die Entfer- nung von der Stiftungszeit der Religion, von ihrer Begriffs- und Anschauungswelt lafit das unmittelbare Verstehen nicht mehr zu. Die Symbole werden mehrdeutig. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Deutung. Beziiglich der heiligen Texte entsteht eine eigene Wissenschaft der Hermeneutik.»892 Eben dies scheint beim Ubergang in die zweite Phase zu passieren: die Allegorese hier nicht von Texten, sondern von visionaren Bildern, die die Seher vormals direkt verstanden hatten. Die «interpretatio allegorica» ermoglicht die Aktualisierung alterer Werke: es scheint, dafi mit der visionaren Bildwelt des Hochmittel- alters - d. h. beim Obergang vom alteren zum jiingeren Visionstypus - etwas Ahnliches vor sich ging: man distanzierte sich von der Realitat der Jenseitslandschaften, um sie gleichsam als Chiffren abstrakter Beziehungen weiterzuverwenden. Im fruheren Mittelalter scheint der Mensch den Machten der Vision als iiberwaltigter gegeniiberzustehen, ab dem hohen Mittelalter aber scheint er diese Machte bewaltigen zu wollen. Vielleicht ist die Allegorisie- rung ein unbewufit angewandtes Verfahren, ekstatische Erlebnisse quasi «in den Griff» zu E. Lerner, Medieval Prophecy and religious Dissent, Past & Present 72, 1976, 3-24; Bernard McGinn, Visions of the End. Apocalyptic Traditions in the Middle Ages (Records of Civilization 96), New York 1979; id., Apocalyptic Spirituality, 1980 [Endzeitprophetien]; Рои у Marti, Visionarios pass.; Alphandiiry, Prophetes pass. 891 Libro 22 ss; 49 ss 8914 Thum, Aufbruch 314 s 892 Mensching, Religion 326
184 Allegorie und Allegorese bekoramen. Das Aufhoren der «gegenstandlichen» Jenseitsvisionen des L Typs fallt auch kaum grundlos mit der Entstehung der fiktiven Jenseitsreisen (Raoul de Houdenc, Bauduin de Conde, Rutebeuf ...) zeitlich zusammen, deren andere Welt ja auch eine durchgehend allegorische ist. Der Seher ist dabei regelmafiig sein eigener Interpret: was etwa im Alten Orient haufig auf zwei Personen verteilt ist, den Empfanger der Offenbarung und den Deuter (z. B. Pharaos Traum und Jakobs Interpretation), erfolgt hier in ein und derselben Schau, der Erklarer ist nicht aufierhalb des Inspirierten, sondem es sind in der Vision Gott, Heilige, Engel, Stimmen, eingegossene Erkenntnis, die das Bild verstandlich machen, also Instanzen seiner eigenen Psyche, wie wir heute sagen wiirden.
DIE VISION IM LEBEN DES VISIONARS Spontanes und erwartetes Auftreten Es gibt im Mittelalter Menschen, die werden zu Visionaren, ohne dafi sie je daran gedacht batten, ein solches Charisma konnte ihnen geschenkt — oder liber sie verhangt werden. Tundal ist das Beispiel par excellence fur diesen Fall. Da besucht der durchaus nicht fromme irische Ritter einen Freund, um eine Schuld von drei Pferden einzutreiben. Jener freilich hat das Verlangte nicht «ad manum» und versucht, den Erziirnten wenig- stens durch ein gutes Mahl zu besanftigen. Unwiilig, aber doch setzt sich Tundal zu Tisch und will eben die Mahlzeit beginnen: «set prevenit divina pietas hunc appetitum. Nescio namque cita qua occasione percussus manum, quam extenderat, replicare non poterat ad os suum. Tunc terribiliter clamare cepit... Et tunc verbotenus corpus exanime continuo corruit, ac si nullatenus spiritus antea ibi fuisset. Assunt signa mortis ...»893 Die Ekstase und die in ihr erlebte Vision kommen vollig unerwartet und unvorbereitet, der Visionar wird von diesem Ereignis geradezu iiberfallen. Nichts ist Tundal, der sein Vermogen fiir Spafimacher und Schausteller vergeudet, anstatt den Armen davon Almosen zu geben, und der schon lange keine Kirche mehr von innen gesehen, ferner, da er gerade am Mittagstisch Platz genommen hat, als seinen Sinn jetzt auf das Uberirdische zu richten. Dieses erfafit ihn, ohne sein Vorwissen, ohne sein Zutun. Es gibt im Mittelalter aber auch Menschen, die dieses Charisma durchaus erwarten, ja sogar erbitten. In einer dunklen, geradezu in ihrem Drang nach mystischem Erleben bruta- len Stelle ihres «Twee-vormich tractaetken»894 klagt eine Mystikerin: «Ay wat mochtics dat ic redenen hadde ene oghe ute gesteken [sic!]. Dan soudic wassen zijn geholpen, Ende habben Ы wile zuetecheit, Ende zien bi wilen visioene. Ende dicke zijn in weelden, alse de gene doen Die op redene niet hachten.»895 Die Siifiigkeit der «unio mystica» ist es, die hier ersehnt wird, und mit ihr das Schauen von Visionen. Dieser Wille nach der visionaren Begegnung mit der Gotteswelt ist es, der die Visionare des zweiten Typs im Gegensatz zu denen der alteren Schicht kennzeichnet. Hadewijch spricht es auch am Beginn ihrer sech- 893 Visio 1, Wagner, Tnugdali 7 s 894 ed. Vercoullie, Werken 2, 189-203 (hiemach unser Zitat); Jan van Mierlo, Hadewijch, Mengeldichten, Brussel, Leuven 1912,161-172; id., id., Antwerpen usw. 1952,191-204. Dafi dieses Werk wirklich Hadewijch zugehort, ist allerdings nicht unbestritten: Mierlo spricht sich in seiner ersten Edition 1611 gegen ihre Autorenschaft aus, zieht seine Kritik jedoch in der spateren Ausgabe 185 ss zuriick und vermutet, der Text gehe auf eine Mitschrift einer Rede Hadewijchs zuriick. J. Reynaert, Attributieproblemen in verband met de Brieven van Hadewijch, Ons Geestelijk Erf 49, 1975, 225-247, 234 s beurteilt den Traktat als «een mystieke verhandeling die, hoewel vermoedelijk niet van Hadewijch zelf, naar inhoud, stijl en taal nog zo dicht bij haar aansluit». Jedenfalls entspricht die in der hier zitierten Passage zum Ausdruck kommende Stimmung sehr wohl der der nicht in Zweifel gezogenen Visionen Hadewijchs; auch ist der Traktat handschriftlich unter ihren Werken uberliefert [Fur bibliographische Hinweise danke ich Jan Andriessen von der Antwerpener Ruus- broecgenootschap]. Cf. J. Reynaert, De beeldspraak van Hadewijch, Tielt 1981, 428 ss 895 Vercoullie, Werken 2, 199 s
186 Die Vision im Leben des Visionars sten Vision klar und offen aus: «Doe haddic wille te onsen here te gane; ende ic was te dien tiden in begherten996 ... Zu alien Stunden, sagt sie selbst von sich, strebte sie nach Minne oder Offenbarungen997 («reuelacien») und anderen Gnadengaben. Welche andere Mystike- rin hat ihr Verlangen nach dem Geliebten, nach der Vereinigung mit ihm, so beeindruk- kend zu formulieren vermocht, wie Hadewijch? Man kann ihren gliihenden Worten in einer ex officio niichtemen wissenschaftlichen Betrachtung nicht gerecht werden; sie be- riihren, wie Weniges aus den so vielfach intensivstes Erfafitsein widerspiegelnden visiona- ren Texten, uns noch immer, so uns Mit-leiden gegeben ist. «ende mijn herte ende mijn aderen ende alle mine lede scudden ende beuden van begherten;... dat ic steruende soude verwoeden ende al uerwoedene steruen ... Die begherte daer ic doe in was die es ontsegg- heleke enegher redennen ocht yemens die ic kinne ...»896 * 898 Freilich ist es nicht das Bild, die Schauung, die das letzte Ziel ihres Sehnens ausmacht, sondem der Wunsch, Christus zu «ghesmakene»899, die Liebesvereinigung zu erfahren. Aber damit verbunden ist eben die Schauung, die Vision, die Revelation: in Folge dieser Stimmung hat Hadewijch zuerst die Erscheinung eines Adlers, dann des dreijahrigen Jesukindes, dann des Erlosers als jungen Mannes, der sie in seine Arme nimmt, dessen Glieder sie fuhlt und mit dem sie in Eins verschmilzt. Dies ist ihr aber kein Erlebnis, das sie unvermittelt iiberfallt, sondern eines, das sie erhofft und erwartet.900 Ordnet man also die Visionare danach, wie sie die Naherung des Gottlichen erfahren, so kommen wir wieder zu den bekannten zwei Gruppen: die erstere wird eher von der Schauung iiberfallen, die zweite erwartet und erbittet sie eher. So erzahlt Barontus ausdriicklich, als er nach der Matutin zu seinem Lager zuriickkehr- te, «tunc subito somno gravatus obdormivi».901 Und hier beginnt die Vision mit dem Auftreten der beiden Damonen und des Erzengels Raphael. Gleicherweise bemerkt der Aufzeichner dieser Vision als Augenzeuge902 903 ausdriicklich von dem Visionar, er sei «repen- te febre correbtus, ad extremum funere deductus ...»90J, wobei er die Gregor dem Grofien entlehnte Formulierung904 eben um dieses «plotzlich» erweitert. Ahnlich schildert Siagrius, der Verfasser der Vision Orms, den Beginn der Ekstase des kranken Kindes: «Verum subito corpus frigidum et inflecibile et simillimum mortuo effi- ciebatur, facies vero illius subito velut vivi hominis apparebat.. 905 Auch hier kein Wort von einem Wunsch des Knaben nach solchen Gnadengaben. Diese Visionare der ersten Gruppe werden auch, wie Tundal, bei verschiedenen Tatig- 896 Mierlo, Visioenen 1, 65 997 Vis. 10, ed. cit. 105 898 ibid. 7, ed. cit. 74 999 l.c., ed. cit. 75 900 Vom mittelalterlichen Visionar her wird ja kein Unterschied zwischen «Erscheinung» und «Vision» gemacht, daher zitieren wir hier diese Erscheinung - die einzige unter Hadewijchs «Visioe¬ nen», die sonst immer «richtige» Visionen sind 901 Vis. 3, MG SS rer. Merov. 5, 379 902 ibid. 20 903 ibid. 1, ed. cit. 377 904 Dial. 4,11 905 Vis. 2, Farmer, Orm 77
Oberfallenwerden von der Ekstase 187 keiten von der IJberwelt erfafit. Jener speiste gerade; der Monch Christian wird, wahrend einer Reise zu Pferde sitzend, auf einmal von der Ekstase iiberwaltigt und so nach Citeau versetzt, wo er die Engelschore zu den Briidem herabkommen schaut.906 Nicolaus de Guidonibus fallt in Katalepsie, wahrend er friedlich im Bologneser Franziskanerkloster umhergeht («cadde in terra di morte subitana, andando pel chiostro»907). Seine (nicht erhaltene) Vision diirfte eine Jenseitsreise des alteren Typs gewesen sein, denn er berichtete «molte cose nuove» von langst Verstorbenen und schaute «mirabili cose». Diese Men- schen sind ganz unvorbereitet, die Vision kommt iiber sie. So heifit es von dem Rauber, der sich den Minderhriidern angeschlossen hatte, dafi er schon mehrere Jahre lang ein Bufile- ben gefiihrt hatte, als ihn eines Nachts solche Miidigkeit iiberkam, dafi er weder widerste- hen noch beten konnte, und sich daher in sein Bett legte. «Statim autem ut posuit caput in lecto fuit ductus in spiritu ...»908 Es ist hier also keineswegs eine besondere seelische Situation, etwa die der Konversion, wie bei Augustins Audition, dem beruhmten «tolle- lege» Erlebnis909, sondem inmitten des alltaglichen Klosterlebens wird der Visionar in das Jenseits hineingerissen. Es ist ihm, und darin stimmen alle Berichte von Visionaren dieses ersten Typs (wenigstens e silentio) iiberein, unmoglich, sich diesem gottlichen Eingriff zu entziehen. Es soil nicht unerwahnt bleiben, dafi die Autoren der Vision des Eucherius von Orleans und die der des Kaisers Karl III., welche mit Sicherheit als Falschungen anzusehen sind910, ihre Visionare ebenfalls ganz plotzlich von der Ekstase iiberwaltigt werden lassen. Eucherius war «in oratione positus» und dabei schlagartig «ad alterum est saeculum raptus»911; Karl der Dicke wird nach seinem angeblichen Bericht von der Vision iiber- rascht, «dum irem repausationis cubitum, et vellem dormitionis carpere somnum».912 Wenn man annimmt, dafi gerade der Falscher sich besonders darum bemiihen wird, seinen Text eben mit den fur Originale charakteristischen Kennzeichen auszustatten, so kann man wohl sagen, dafi das jahe Auftreten der Visionen der ersten Phase auch durch diese Quellen bestatigt wird. Auch ist bei diesen Visionaren eine besondere Frommigkeit zwar oft gegeben, wie bei Sunniulf, Furseus, Orm, Edmund, Thurkill usw., aber nicht wesentliche Vorausetzungen: Tundal ist zur Zeit seines Gesichtes geradezu ein Gegenbild der christlichen Ideale, minde- stens genauso verwerflich war die Lebensfuhrung des Adam von Kendal; von dem armen Weib aus dem Gau von Laon wissen wir nichts liber ihre Religiositat, genausowenig liber die Alberichs oder Olaf Astesons. Von Heinrich von Ahorn heifit es zwar, er sei ein guter Mann «et iuxta modum secularem religiosus»913 (was doch ein wenig abschatzig klingt), 906 Konrad v. Eberbach, Magn. Exord. Cist. 1, 34 907 Bartholomaeo della Puglia (?), Hist. Misc. Bononiense a.a. 1300, Muratori, SS 18, 303D; fast gleichlautend Matteo de’Griffoni, Memoriale Hist. a.a. 1300, Rerum Italicalum SS218/2, 28 908 Actus B. Franc. 29,31, Sabatier, Actus 101 909 Conf. 8,12 910 cf. Levison, Friihzeit 240 ss; Dunninger, Elemente 18 s, 59 s. Ober die Frage der Echtheit der mittelalterlichen Visionen cf. oben S. 57ss 911 Additam. ad Capit. 297, MG Capit. 2,432 912 Hariulf, Chron. Centul. 3,21, PL 174, 1287C 913 Dunninger, Elemente 80
188 Die Vision im Leben des Visionars aber die gelobte Pilgerfahrt nach Santiago di Compostela hatte er doch nachlassigerweise aufgeschoben, so dal? der heilige Jakob ihn in einer durchaus nicht erbetenen Vision holen mufite. Von den Visionaren und vor allem von den Visionarinnen der zweiten Phase dagegen haben wir nicht selten Zeugnisse dariiber, dal? sie ihre Visionen sehr wohl erwarteten und erhofften. Beginnen wir mit einem etwas krasseren Fall. Caesarius von Heisterbach lobt einen Zisterzienserbruder von Himmerod ob seiner vielfaltigen monastischen Tugenden. Die- ser nun «coepit, non tam audacter quam reverenter a Domino precibus exigere, ut eum in festo suae sanctissimae nativitatis qualicunque consolaretur visitatione. Aderat iam vigilia Nativitatis Dominicae, et ille necdum ... a supradicta defecerat intentione, praesumens et praesagiens aliquid de divina dignatione». Dal? hier wirklich um eine Vision und kein anderes Charisma gebetet wird, geht klar aus den Gedanken hervor, die dieser Monch wahrend der Matutin bei sich hegt: «Petieras», sagt er zu sich, «ut aliqua tibi revelatio fieret. Et si modo fieret, quid potissimum videre eligeres? Utique Dominum Christum, vel dulcissimam eius matrem, aut certe ambos simul.»914 Der Wunsch nach der Vision war so stark, dal? er, als die Erfiillung nicht gleich stattfindet, von solcher «desidia»915 ergriffen wird, dal? er es nicht nur ablehnt, das Responsorium zu singen, sondern dal? er sogar am Leben selbst Ekel empfindet! Der Grund: er war «a desiderio suo frustratus». Diese seine scharfe Reaktion auf das Ausbleiben der erwiinschten Vision zeigt eine neue Mentalitat, die wir in Zusammenhang mit den alteren Visionaren nirgends finden. Ja, er beginnt fast, mit Gott zu rechten: «Ecce sic et sic habuisti; haec et haec petisti. Ubi nunc est ilia devotio, ubi spes ilia ...?» Und dann bekommt er plotzlich die Erfiillung seines Wunsches, indem er auf einmal die Madonna mit dem Jesusknablein vor sich sieht und sogar den heiligen Joseph hinter ihr, um den er gar nicht gebeten hatte. Und durch diese Erscheinung916 erlangte er zur selben Stunde seinen «spiritum bonum» wieder. Diese Schauung also kam in Folge seiner Bitten um sie, nicht aber als plotzlicher Einbruch von oben ohne Zutun des Menschen. Hinzuweisen ist noch darauf, dal? der Zisterzienser bei seinen Oberlegungen, was er denn nun sehen wollte, keineswegs um eine Jenseitsreise bat, um eine Schau der Orte der Abgeschiedenen, sondern um die Begegnung mit den himmlischen Personen, dem Erloser und seiner Mutter. Wir haben dies oben ausfuhrlich als Typikum fur die Visionare der zweiten Phase besprochen. Aus demselben Kloster berichtet Caesarius von einem anderen Monch, der ahnlich einen spezifischen Wunsch nach einer Vision hatte; «Habebat item in desiderio et tam humiliter quam vehementer optabat revelari sibi divinitus aliqua imagine vultum Salvato- ris ... Et Dominus qui hoc ei inspiravit desiderium, non fraudavit eum a desiderio suo.»917 Jetzt besteht die Erfiillung seiner Sehnsucht nicht nur in einer Erscheinung des Gekreuzig- 914 Dial. Mirac. 8,5, Strange, Dialogue 2, 84 s 915 Synonym fiir «acedia», dem OberdruS am religiosen Leben; cf. Reallexikon f. Antike und Christentum 1, 1950* 62 s 916 dafi die Wunscherfiillung hier durch eine Erscheinung erfolgt, ist fur unsere augenblickliche Fragestellung unerheblich, cf. oben A. 900 917 Dial. Mir. 8,13, Strange, Dialogue 2, 92; cf. Ps. 77,30
Herabwunschen der Vision 189 ten, sondern auch in dem vielfach erzahlten Mirakel918, dal? Christus sich vom Holze herabbeugt und seinen Diener an seine Brust zieht. Hier ist ebenfalls nicht nur das Herbei- wiinschen des Gesichtes an sich fur den spateren Visionar bezeichnend, sondern auch der Inhalt des Wunsches: es geht dem Monch, der gewohnt war, «semel in die adminus revolvere et recitare sibi sanctissima et dulcissima passionis Christi improperia», wie so vielen anderen Mystikem des Hoch- und Spatmittelalters, um den leidenden Christus, was sowohl Wunsch als auch Erfiillung lehren. Der Wunsch ist ja doch eine Schau des «Antlit- zes des Erlosers», also des Schweifituches der heiligen Veronika, eines typischen Passions- motives, das seit dem 12. Jahrhundert zunehmende Beliebtheit erlangte919, die Erfiillung die Umarmung des seinen Leidensweg am Kreuz vollendet habenden Heilands.920 Eine aufschlufireiche Quelle fur diese Haltung ist auch die Vita der Beatrix von Naza¬ reth. In ihr wird ihre Freundschaft mit einer anderen Visionarin, namlich Ida von Nijvel, geschildert.921 Ida, deren Schiilerin Beatrix war, hatte vom Heiligen Geist erfahren, dal? Beatrix zur «specialis sponsa»922 Gottes berufen war und der jungen Schwester ein mysti- sches Erlebnis zum Weihnachtsfest vorhersagt. Als dieser Termin ereignislos verstreicht, verschiebt Ida die Erfiillung ihrer Prophezeihung auf die Oktav nach diesem Fest. Beatrix reagiert darauf so, dal? sie «promissam gratiam tarn diebus quam noctibus, 6c precibus instanter expetiit: 6c magnis desiderij affectibus tempus suae visitationis humiliter expec- tauit».923 Und jetzt tritt nun tatsachlich das Verheifiene ein: «in excessu mentis suae conti- nuo rapta est. Viditque ... mentis oculis, sublimen 6c Deificam Trinitatem ... 6c Dauid cum cantoribus ... sanctorum spirituum agmina, caelestiumque virtutum ordinata colle¬ gia .. .».924 Eine Himmelsvision also ist ihr nun endlich zuteil geworden, die Gnadengabe, um die sie so intensiv gebetet hatte. Beatrix ist hier nicht so unbeteiligt an der Erfiillung ihres Verlangens, das ihre dieses Erleben schon aus eigener Erfahrung kennende Mitschwe- ster in ihr entziindet hatte: sie hat die Vision quasi «herabgebetet». Wie verstarkt ihre Spannung eben gerade dadurch war, dal? Idas Voraussage sich zunachst nicht bewahrhei- tet hatte, wie gerade diese Spannung ihr Gebetsleben intensiviert haben mul?, geht ja deudich aus der Beschreibung hervor: sie betet «Tag und Nacht», «eindringlich«, ist von «grofier Leidenschaft ihrer Sehnsucht» erfiillt. Das sprachliche Aquivalent dieser emotio- nellen Heftigkeit wird durch das «tarn - quam», das «expetiit», den Plural «magnis ... affectibus» gebildet. In mancher anderen Lebensbeschreibung der spatmittelalterlichen Mystikerinnen ist dieses Herbeiwiinschen von iibersinnlichen Erlebnissen mehr oder weniger explizit zum Ausdruck gebracht. Elsbet Stagel von Т61? berichtet es als einen schlichten Wunsch der Beli von Liebenberg: «Sy begert och als inneklich das sy etwas bekantnus m6chte haben von 918 Turbach, Index nr. 1375 919 cf. Kriss, Bilder 71 920 Weitere Beispiele in Exempelsammlungen: Klapper, Erzahlungen nr. 1,4,12,15,41 921 cf. D. A. Stracke, Over de mystieke ontmoeting tussen Hadewijch van Antwerpen, Ida van Nijvel en Beatrijs van Nazareth, Ons Geestelijk Erf 39, 1965, 430-439 922 Wilhelm v. Mechlin (?), Vita 10, Henriquez, Virgines 32 ss 923 l.c., ed. cit. 35 924 ibid. 11, ed. cit. 37
190 Die Vision im Leben des Visionars der hailigen drifaltikait.»925 926 Doch was darauf folgt, ist eine Paradiesesvision, in der ihr die Trinitat in Form eines Brunnens gezeigt wird. Sie wird unmittelbar an diesen Wunsch der Nonne angeschlossen, und man wird nicht fehlgehen, daraus auf das Verlangen nach einer Vision, sei sie korperlicher oder intellektueller Art, zu schliefien. Aber zitieren wir ein Zeugnis, das diese Sehnsucht nach der Schauung mit wunschens- werter Deudichkeit beleuchtet. Es ist ein Gnadenerlebnis, das in der Chronik des Villinger Klosters von Ursula Haiderin berichtet wird und sicherlich authentisch ist. Es widerfuhr der seligen Mutter, erzahlt die Autorin, dafi sie zu einer Zeit nicht zur gewohnten Andacht und Gebetsfreudigkeit kommen konnte, «nach welcher sie arbeitet die ganze nacht zuevor, aber alles umbsonst». Sie vernimmt jedoch bald eine Audition, in der Gott ihr verspricht, er werde ihr es geben, dafi sie ihn zu alien Zeiten sehen und horen diirfe. «Von disen worten entstuondt ein unsaglichs wunder in der seligen muotter... Sei vermainte auch, sie wurde villeicht etwas sehen. Da war ir geantwordt: <Nain, du wirst nichst sehen, als du vermainest. Dis ist, das ich von meinen freiinden clag, das sie mich alle zeit suechen sihtlich und biltlich, ... Aber das ich dir zue erkenen wil geben, das ist dir nuzer, dan alle biltnussen, die du ie sehen mohtest.... Dis ist dir nuzer und drogt dich neher und bosser in mich, als hettest du alle erscheinungen und gesichter, die alle menschen ie sahen,«ш Es ist also der Herr selbst, der in dieser Privatoffenbarung ausdriicklich das Suchen nach dem visionaren Erlebnis kritisiert, was nur moglich ist von der Voraussetzung her, dafi dies tatsachlich eine verbreitete Einstellung in gewissen damaligen Mystikerkreisen gewesen ist. Christus lehnt die Begegnung mit ihm in Form der Vision zwar nicht gerade ab, sie hat eine gewisse Berechtigung «durch grober leiit willen, die nit bossers verstehn», bringt jedoch mit sich die Gefahr, dafi ob der Bilder die dahinterstehende Gottheit, die sie geformt hat, vernachlassigt wird. Hier wird also einmal innerhalb eines mystischen Erlebnisses Kritik an der Suche nach aufierordendichen Gnadengaben geiibt, Kritik, die wir sonst auch gerade in den Werken der bekanntesten Mystiker des Spatmittelalters finden. Es ist nicht nur Meister Eckehart, der lehrt, man solle von dem Minneerlebnis lassen, auch wenn man «also in einem inzucke, als sant Paulus was», ware927, wenn man statt dessen tatigeNach- stenliebe iiben konne; auch Richard von S. Victor, Bonaventura, Gerson, Ruysbroeck u. a. haben sich vorsichtig bis nahezu ablehnend geaufiert.928 Sicherlich waren in Villingen, wo Ursula das Bickenkloster leitete, die Schriften Seuses und Taulers nicht unbekannt929, schon die georgrapische Nahe zu Konstanz und Straflburg macht dies wahrscheinlich. Tatsach¬ lich diirfte sich in den die bildhafte Vision abwertenden Worten Christi etwas von der Einstellung spiegeln, die Johannes Tauler in zwei Briefen an unbekannte Adressaten nie- dergelegt hat. Dort heifit es, der Mystiker diirfe nichts anderes suchen und verlangen, als allein Gottes Ehre und Wohlgefallen, nicht aber sinnliche Siifie, nicht aber Offenbarungen. Gewifi fanden sich Menschen, denen Gott herrliche Bilder zu schauen gabe - solche Gesichte seien nicht unbedingt etwas Boses —, doch von der hoheren und hochsten Stufe 925 Leben 6, Vetter, Tofi 31 926 Juliana Emestin, Chron. 42, Glatz, Villingen 135 ss 929 Trakt. 2,10, ed. Joseph Quint, Die deutschen Werke V, Stuttgart 1963, 221 928 Amort, Revelationibus 1, 34, 73 929 cf. Glatz, Villingen 4 s
Ursula Haiderin 191 noch iiberaus weit entfemt. Die Verleihung dieser Gnade - und hier trifft sich Taulers Ansicht mit den Worten, die Ursula geoffenbart werden - habe ihre Ursache hauptsachlich in der Schwache dieser Menschen.930 Diese Riige des Hem geht aber nicht zufallig gerade an die Haiderin. Ihre Schauungen sind zwar nur zum Teil erhalten, aber wir haben wenig- stens einen Text, aus dem hervorgeht, dafi auch sie solche Offenbarungen «herabzubeten» versuchte, wenn auch schlechten Gewissens. Als ihr einst ein lieber Mensch gestorben war, so berichtet sie selbst, «da hett ich recht herzlich gem gewisset wo sein seel wer, und ob ich im mit meinen armen werken zue hilf komen mocht, wan sie in der pein des fegfeurs ufgehalten wurdt... Doch forchtet ich mich gar hart, das mich nit villeicht die nattiirlich liebe mer zuge zum gebett, als die ehr gottes .. ,«.931 Als Antwort erfolgt dann alsbals eine trostende Erscheinung dieser Seele. So sehen wir in Ursula ganz gut den Zwiespalt, dem eine Charismatikerin ihrer Zeit ausgesetzt sein konnte: einerseits das Verlangen nach und die Hoffnung auf bildliche Schauungen, andererseits das Bewufitsein, dafi dies nach dem Zeugnis der verehrtesten Mystiker eine durchaus minder zu schatzende Gnadengabe sei. Vielleicht ist sowohl das Verloschen der so ausgepragt bildhaften Visionen des ersten Typs, als auch die abstrakte Tendenz der Visionen des spateren Typs nicht ohne Zusam- menhang mit dieser Kritik von seiten vorbildlicher Religiosen. Bei nicht wenigen erfahrenen Charismatikerinnen geniigt schon ein leises Wiinschen, um zur Vision zu kommen. So bei Mechthild von Hackebom. «Alia vice cum esset com- municatura, dixit ad Dominum: <Eia dulcissime Deus, doce me qualiter me praeparem ...>»932 Und schon («statimque») steht sie in einer Vision in einem grofien Haus mit goldener Tafel, worauf sich das Christus-Lamm befindet ... Bei so oft von Visionen bedachten Personlichkeiten gibt es ein gewisses Einschleifen von die Ekstase vorbereiten- den Verhaltensweisen, die fast wie eine Automatisierung von Wunsch und Wunscherful- lung wirken. «Item cum in oratione, ferventi corde, dilectum animae suae desideraret, subito divina virtue animam ejus in tantum sibi attraxit, ut videretur sibi ad latus Domini consedere.»933 Was in dem hier behandelten Zusammenhang das Wichtigste ist, ist, daS der Wunsch, mit Christus zusammenzusein, in seinem Gefolge eine Vision des Heilands be- wirkt, Mechthild ihre Schauung also als eine Antwort auf ihre eigene Sehnsucht erlebt, und keineswegs als etwas, das iiber sie als Unvorbereitete hereinbrache. Interessant ist die Einstellung Julianas von Norwich zu ihren «shewings». Sie hat diese, wie sie selbst bezeugt, als Gnade von Gott erbeten, zusammen mit korperlicher Krankheit und den «Wunden» der Reue, des Mitleids und des Gottverlangens. «I would I had been ... with Magdalen and with the others that were Christ’s lovers, that I might have seen, bodily, the passion that our lord suffered for me ... And therefore I desired a bodily sight ... Other sight or shewing of God desired I never none» ...934 Es geht Juliana also, nicht 930 Oehl, Mystikerbriefe 356, 359. Die Echtheit dieser Schreiben ist nicht unbezweifelbar, jeden- falls sind sie aber unter Taulers Namen gelaufen und im Mittelalter als ihm gehorig angesehen worden. 931 Juliana Ernestin, Chron. 39, Glatz, Villingen 126 932 Lib. spec. grat. 3, 22, Monachi, Revelationes 2, 225 933 ibid. 2, 17, ed. cit. 2, 152 934 Revelations 2, Walsh, Love 47
192 Die Vision im Leben des Visionars untypisch fur den Charismatiker der zweiten Phase, keineswegs urn eine Vision von der anderen Welt, sondem um ein Versetztwerden an den Ort und in die Zeit der Passion des Herm. Wiederum ist eine Beziehung zu der «menschlichsten» der drei gottlichen Personen, zu Jesus, das Verlangen der Reklusin. Ihr steht aber nicht der Brautigam, der Minne- Christus vor Augen, sondern der Passions-Christus, der leidende Erloser. Com-passio ist Julianas Wunsch - man erinnert sich sogleich daran, dafi sie zur Entstehungszeit des beliebtesten christlichen Erbauungsbuches, der «Imitatio Christi»935 lebte. Die Nachfolge Christi speziell in seinem Leben ist ja ein zentraler Gedanke der Frommigkeit dieser Epoche, auch die anonyme mittelhochdeutsche Vision von «Christi Leiden» bezeugt dies. Sein Kreuz auf sich zu nehmen und so dem Herm zu folgen ist nach der «Imitatio» der «Konigsweg» zu Gott.936 Juliana mufi aber, wie manche andere Mystikerin auch, kein besonders gutes Gefiihl bei diesem Wunsch gehabt haben: «If it be not thy will, good lord, be not displeased; for I will only as thou wilt.»937 Aber als ihr dann ihre andere Bitte, namlich die nach einer Krankheit, gewahrt wird, leugnet sie explizite ihr Verlangen nach Visionen, indem sie sich selbst widerspricht: «But in all this I desired never any bodily sights nor any manner of shewing»938, was wiederum auf ihre Unsicherheit hinweist. Doch eine andere Bemerkung gegen Ende ihrer ersten Vision macht deutlich, dafi eben die Vision in Wirklichkeit gerade das ist, was sie erstrebt: als die korperliche Schau namlich zu Ende geht, sagt sie, sie habe es ersehnt «to see more if it were his will, or the same sight for longer time.»939 So konnen die Aufierungen dieser englischen Mystikerin gut als Zeugnis fur die Erwartungs- und Wunschhaltung innerhalb der spateren Gruppe der Visionare diesem Phanomen gegeniiber betrachtet werden; es bleibt unbenommen, dafi ihr dabei das aufierordendiche Erlebnis, anders als ihrer Zeitgenossin und Landsmannin Margery Kem- pe, nicht Selbstzweck war, sondem blofi Mittel: «I desired never any bodily sight,... but only compassion.»940 Eine viel eigensinniger fordemde Ekstatikerin ist die aus vomehmer Familie stammende Benevenuta Bojani - man hat den Eindruck, dafi sie am liebsten der Gottheit ihre Erschei- nungsform hatte vorschreiben wollen: «inter alia quae postulavit a Domino hoc petivit, ut apparitionis quae apparuit Mariae Magdalenae dignaretur sibi formam et modum osten- dere»; «Et cum nox Nativitatis beatae Virginis advenisset... coepit vehementi desiderio quaerere hanc sibi largiri gratiam, quod posset earn in tali forma videre; et insuper cum instantia postulavit quod Dominus ... huic sancto desiderio satisfacere dignaretur.»941 Sie ist iibrigens die wohl einzige Visionarin, die sich, in den Himmel versetzt, weigert, dem Gebot der Madonna nachzukommen und in ihren Korper zuriickzukehren - womit sie, genau wie bei ihren speziellen Erscheinungswunschen, auch durchkommt. Erst nachdem 935 Edinonen und Literatur: KLL s.v. «De Imitatione Christi» 936 Thomas v. Kempen (?), De imit. Chr. 2,12 937 Revelations 2, Walsh, Love 48 938 ibid. 3, ed. cit. 50 939 ibid. 8, ed. cit. 60 940 ibid. 3, ed. cit. 50 941 Vita 6,51; 6,58, AASS Oct. 13, 1883, 163C, 166B. Cf. ibid. 6,52; 56; 62; 8,63; 65
Herabbeten von Visionen 193 sie die ganze himmlische Mefifeier bis zum Ende miterlebt hat, geruht sie, aus der Ekstase zu erwachen.942 Ganz klar wird uns diese hier als Typicum der spatmittelalterlichen Charismatiker besprochene Gesinnung bei der Lektiire der Biographie Osanna Andreasis. «Saepe insigni adhibita opera, animoque contemplationibus praeparato. optatam assequebatur exta- sim.»943 Ungeheuere Gebets- und Kontemplationsmiihe wendet die Selige auf, um die ersehnte Verziickung erleben zu konnen. Jedoch: «nonnumquam annitebatur [!] frustra.» Dafiir wurde sie aber des ofteren ohne solche eigene Vorbereitung «ad sublimes thalamos» erhoben. «Autumabat autem majori se affici voluptate, cum insperato ad tales provehere- tur delicias: quam cum ad id muneris eximiam et diligentem operam adhibuisset.»944 Aber dieses «unverhoffte» Auftreten der Vision ist zweifellos ein anderes, als es fur die Visionare der ersten Gruppe war, denn Osanna hat in ihrem Leben viele solche Erlebnisse gehabt, das heifit, erwartete eine Ekstase zwar nicht gerade in diesem oder jenem Augenblick, doch wenn sie davon erfafit wurde, war ihr das keine ganzlich neue und unerhorte Erfahrung, wie fur einen Alberich oder Tundal, sondern sie mufi ja auf Grund ihrer friiheren Gesichte jene neue Vision doch als die Erfiillung des von ihr Erbetenen empfunden haben. Gemeint ist hier vielmehr, dafi der «Mechanismus» des Bittens und der gleich darauf folgenden Erhorung bei Osanna oft nicht wirksam wurde; sich trotz ihrer vielen Visionen offenbar nicht so eingeschliffen hatte, wie vielleicht bei Elisabeth von Schonau oder den Helftaer Nonnen Gertrud und Mechthild. Doch auch diese kennen, seltener wohl, solche Verzoge- rungen. Bei Elisabeth’s ausfiihrlicher Beschreibung der verschiedenen Wege zum Heil, die die verschiedenen Stande zu beschreiten haben, und die der Nonne in einer Serie zusammen- hangender Visionen und Auditionen mitgeteilt wurde - auch hier taucht Ekbert als « Anre- ger» auf945 -, sehen wir die Seherin in intensivem Gebet begriffen, um zur Vision zu kommen. «... deprecabar dominum valida intentione cordis, ut secundum solitam beni- gnitatem suam disciplinam vie continentium, quam in spiritu videram, mihi aperire digna- retur.»946 Es geschieht nun auch, dafi der Engel, der ihr als Fiihrer durch die andere Welt und als Ubermittler der gottlichen «sermones» dient, sich verspatet, als es nach der Offen- barung des gerade genannten Weges der Enthaltsamen nun mit dem Weg der Pralaten weitergehen soil. Der gewohnte Rhythmus der Schauungen ist unterbrochen, und Elisa¬ beth setzt sogar ihre Mitschwestern ein, um wiederum den mystischen Gnaden teilhaftig zu werden. Nicht aus Eigeninteresse, wie sie sagt, sondern damit daraus dem Volk Gottes «aliquis fructus correctionis proveniat». Aber jedenfalls sehnt sie sich auch nach dem Kontakt mit der Oberwelt. Sie berichtet: als nun der Engel langer als gewohnt ausblieb, «anxiabar intra me, ac diligentius lacrimis et orationibus operam dedi9 et adiuvabat me conventus noster oratine communi.» Sie betet: «... obsecro, ne compescaris delictis meis, 942 ibid. 8,68 943 Franciscus Silvester, Vita 2, 1, 63, AASS Juni 3, 1701, 690A 944 l.c. 945 «Rogavit me germanus meus, ut sciscitarer ab angelo, quare ...», Lib. varium Dei 13, Roth, Visionen 103; cf. unten S. 194 s 946 ibid. 14, ed. cit. 105
194 Die Vision im Leben des Visionars aut cuiusquam alterius, quin hec, que nunc apud me iniciare dignatus es, propter bonita- tem tuam ad bonam consummationem perducas. De via rectorum ecclesie ... disciplinam nobis aperire dignare ... Adhuc me ista et similia in oratione loquente ecce angelus deside- rii mei subito apparuit coram me, et sermonem, quern desiderabam, his verbis iniciavit ...»947 Hier ist es nicht das Beten der einzelnen Mystikerin, sondern der massierte Gebets- einsatz aller Nonnen, der «sogleich» zum Erfolg fiihrt. Solche Vorfalle sind jedoch fur Elisabeth keineswegs die Regel. Dafi Wunsch und Wunscherfiillung nicht sofort aufeinander folgen, sondern bisweilen eine nicht unbetrachtliche Dauer der Prtifung dazwischen liegen kann, erwahnen jedoch von spatmittelalterlichen Charismatikerinnen bezeichnenderweise gerade solche, denen nur wenige Schauungen geschenkt wurden, vergleicht man die Zahl der von ihnen iiberlie- ferten Visionen mit der einer Elisabeth von Schonau oder Gertrud der Grofien. So die auch in anderer Hinsicht wunderliche Adelheid von Breisach in Adelhausen, iiber die Anna von Munzingen in der Klosterchronik schreibt, «Die selbe swester Adelheit hatte grofi leid vmb den magtum, wan si wz ein wittwe vnd weinde tag vnd nacht vmb den magtum. Do si dis vil jar getreib, do kam ein engel ...»948 Und nun erfolgt die Realisierung des von ihr Ersehnten: Engel nehmen eine Bluttransfusion an ihr vor und ersetzen ihr siindiges Blut durch «megde blut»: die hochstmogliche Angleichung an den verlorenen Zustand der Jungfraulichkeit - und auch diese eben nur innerhalb einer Vision moglich. Hier ist es, soweit zu sehen, ein nicht einmal direkt auf eine Vision gerichtetes Verlangen, das trotz- dem durch eine solche gestillt wird. Lange mufi auch Adelheid Langmann im Begehren nach einer Christusvision schmach- ten, ehe ihre «wegerung»949 Erfullung findet. «Si kom in ain wegerunge, daz ir als we was, daz si under herre umving... die wegerung het si mer denne ain jor, daz ez ir nie widervarn kond. Si waint dik und pat sein got mit rehtem emst. aines nahtes .. .»950 wird ihr dann eine Traumvision von solcher Intensitat zuteil - sie endet namlich in der «unio» mit dem Ersehnten —, dafi ihr Gott noch mehr als vier Wochen «gegenwertik ein irem hertzen» bleibt. Hier ist die Vision wiederum direkte, wenn auch sehr verzogerte Reaktion Gottes auf das Flehen der Klosterfrau. Im Zentrum von Adelheids Wiinschen steht abermals die Christusminne — das Vehikel dazu ist wiederum die Vision. Da nun die ekstatische Schauung fur die Religiosen der spateren Phase kein aus heiterem Himmel uber sie hereinbrechendes Ereignis mehr ist, sondern oftmals auf Grund ihres Bittens gewahrt wird, ist es verstandlich, dafi sich auch Menschen, die uber keinerlei aufiersinnliche Erkenntnismoglichkeiten verfiigten, an diese Visionarinnen wandten und sie dazu zu bewegen suchten, Visionen vom Himmel zu erbitten, die iiber diese Menschen interessierende Angelegenheiten Auskunft geben sollten. An erster Stelle mufi hier wohl Elisabeth von Schonau genannt werden, die namentlich von ihrem Bruder und anderen Klerikern wiederholt zu solchen spezielle Zeitfragen beantwortenden Gesichten bewegt 947 ibid. 15, ed. cit. Ill 948 KdNiG, Chronik 155 949 nicht «we/weigerunge» (Weigerung), sondern, wie oft im Oberdeutschen durch Vertauschung von b und w «begerunge» (Begehren) 950 Strauch, Langmann 67
Visionare Erkundigungen m wurde. Besonders war dies der Fall bei dem beruhmten Reliquienfund von Koln, bei dem Elisabeth die Echtheit der Gebeine bestatigen muEte, die als die Uberreste der elftausend Jungfrauen aus der Begleitung der heiligen Ursula angesehen wurden. Und die nicht nur zu ihrem Gluck mystisch so hervorragend begnadete Nonne lieferte die «revelationes, que expetebantur a me».951 Ungern, denn Ekbert mutfte sie — wie er selbst zugibt — geradezu zwingen. In einem Brief schreibt er: «renitentem propter linguas detrahentium magna instantia coegi.»9S2 Und so spricht die Heilige im Himmel mit den gesuchten Marty rem, erfahrt so von ihrem Leben, und hort die Berichte uber sie, die ihr ihr Engel iibermittelt. So hat sie, um nur ein konkretes Beispiel zu zitieren, etwa von dem heiligen Potentinus zu erfragen «quisnam fuisset aut qualis extitisset sanctitas eius aut sociorum eius .. .».953 Und diese bezweifelbaren Martyrer sowie Elisabeths Engel und besonders der heiligen Lau- rentius berichteten der Visionarin in mehreren Gesichten ausfiihrlich die gewiinschten biograpischen Details, ungeachtet dessen, dafi die den Reliquien beigegebenen «tituli» gefalscht waren, also diese neuen Heiligen vielfach nie existiert batten. Was Elisabeth sicherlich nicht ahnte — bewufite Falschung ihrerseits ist bei allem, was wir sonst uber sie wissen, kaum wahrscheinlich -, Ekbert, wenn er es ahnte, jedenfalls nicht wahrhaben wollte, bekam doch auch sein Kloster Schonau seinen Teil an dem Reliquienfund — wohl aber die «detrahentes», zu deren Mundtotmachung Ekbert eben seine Schwester gebrauch- te. Damit war das Schicksal der Skeptiker ubrigens besiegelt, und die Visionen Elisabeths haben der Legende von Ursula und ihren elftausend Jungfrauen im weiteren Mittelalter allgemeine Anerkennung verschafft.954 Dabei waren ubrigens noch einige andere ekstati- sche Gutachter von Bedeutung, mehr als hundert Jahre nach Elisabeth etwa Christine von Retters, die elf Jungfrauen aus der Schar der heiligen Ursula identifizierte955, und eine ahnliche Rolle scheint ein junger, visionar begabter Monch bei der Auffindung von Reli¬ quien der Thebaischen Legion in Bonn gespielt zu haben.956 Mit welchen Zweifeln eine Mystikerin zu kampfen hat, wenn sie nun, um den Wunsch eines anderen zu erfullen, Gott um eine Vision bitten soli, erfahren wir plastisch aus den Worten der Angela von Foligno. Ob wohl sie in vielem ein problematischer Charakter gewesen sein durfte - so widerruft sie sogar einmal tatsachlich ihre ganzen Visionen957 etc. - mufi sie sich in diesem Punkt gewifi ernste Sorgen gemacht haben: «Quadam uice eram rogata ut ego rogarem deum pro quibusdam rebus, quas uolebat scire frater C. de Mar- chia, ... Et ego non audebam rogare de illis deum nec poteram rogare. Quia, quamuis libenter uellem tunc ilia scire, tamen uidebatur michi superbiam esse et stultitiam rogare deum pro illis talibus que uolebat scire.»958 Einerseits will Angela also dem fragenden Monch gefallig sein, andererseits furchtet sie zu Recht, Gott zu versuchen, sich der Tod- 951 Liber revel. 4. Roth, Visionen 125 952 ed. cit. 135 953 l.c. 954 Dazu cf. G. de Schoutheete de Tervarent, La Legende de S. Ursula, Paris 1931 955 KOster, Christina 265; weiters AASS Oct. 9, 1858, 992 956 Caesarius v. Heisterbach, Dial. Mir. 8,65 957 Doncoeur, Angele 189 958 ibid. 51
196 Die Vision im Leben des Visionars siinde der «superbia», die die erste959 der «Vitia capitalia» ist, schuldig zu machen. Aber prompt kommt die Vision, und Angela erfahrt, anders als Elisabeth, «quod non erat licitum inquirere et uelle scire id quod uult facere diuina sapientia; quia est precedere earn».960 Nun ist das Anliegen des Fragestellers offenbar auch ein anderes gewesen; fur uns wichtig ist aber, dafi es fur die Charismatiker des Spatmittelalters ja durchaus diskutierbar ist, um eine Vision zu beten; Angela scheint es vor allem der Frage wegen («talia») nicht gewollt zu haben. Aber Elisabeth hat dies, wie wir gesehen haben, des ofteren getan (wenn auch mit schlechtem Gewissen), und andere wie Tommasuccio von Foligno oder Mechthild von Hackeborn, offenbar ohne weiteres Zogem. Diese ersucht ein ungenannter Monch zu erfragen «ubinam essent animae videlicet Samsonis, Salomonis, Origenis et Trajani. Ad quod Dominus respondit: Quid misericordia mea cum anima Salomonis fecerit volo homi¬ nes latere ... Quid etiam pietas mea cum anima Samsonis egerit volo esse ignotum ... Quid vero benignitas mea cum anima Origenis effecerit volo esse absconditum ... Quid autem bonitas mea cum Aritstotelis anima fecerit volo celare961... Quid insuper de anima Trajani liberalitas mea jusserit, volo hominem ignorare .. .».962 Das ist bedauerlich, denn gerade hier hatte der visionare Eingriff des Herrn echte Probleme losen konnen. Die Stelle wiirde ausfurlicheren Kommentar verdienen, hier nur soviel: Salomon (cf. 1 Reg. pass.) war dem Mittelalter besonders als der vorbildlich gerechte Richter bekannt, seine Weisheit war sprichwortlich (Hartmann von Aue lafit seinen Erec in so hohem Mafie Ruhm erwer- ben, «daz man begunde gelichen sin wisheit Salomone«)963, der Thron Salomonis als Typos zu Christus oder dem Schofi Mariens war in vielen Gemalden und Plastiken zu sehen964, und Salomo war eine in der Herrscherweihe angerufene vorbildliche Konigsgestalt965: genug positive Konnotationen also, um die Begegnung mit ihm in einer Himmelsvision erwarten zu konnen. Andererseits waren seine grofie Verfehlung, die ihm namentlich zolibatar Lebende in jener Zeit betont asketischer Ideale schwer zu vergeben mochten, seine «camalia peccata»966, das heifit, sein Harem. Ahnlich ist Samson durch seine Uberwindung des Lowen, das ist des Teufels, alttesta- mentlicher Vorlaufer des Erlosers und war durch sein Nasiraat ein Gottgeweihter. Seine darauf grundende Starke (Jud. 16, 17) war im Mittelalter gleicherweise sprichwortlich; 959 Bei Cassian, Coll. 23, 15, 2s noch an letzter Stelle, jedoch gilt sonst allgemein Augustins Auffassung «Caput omnium morborum superbia est, quia caput omnium peccatorum superbia», Trad, in Johannes 25, 16, CC 36, 256; cf. Thomas, Summa Theol. 2,2, 153,4t2: «Superbia ponitur communis mater omnium peccatorum: et ideo etiam vitia capitalia ex superbia oriuntur», ed. Petrus Caramello, Torino 1963, 662 960 wie A. 958 961 Diese Antwort iiberliefert nur ein Codex in margine; sie ist also der Zusatz eines theologisch gebildeten «scriptor» oder Lesers 962 Lib. spec. grat. 5,16, Monachi, Revelationes 2, 344 963 vs. 2815 s, Thomas Cramer ed., Hartmann von Aue, Erec (Fischer ТВ 6017), Frankfurt/M. 1972, 126 964 Kirschbaum, Lexikon 4, 21; Schiller, Ikonograpie 1, 33 s 965 nach 3 Reg. 1,38 ss 966 so die Formulierung des Herrn, wie A. 962
Fragen nach dem Jenseitsschicksal 197 auch ihm wird der zitierte Erec verglichen: «an sterke Samsones genoz».967 Andererseits war er auch durch seine Leidenschaft fur die Philisterin Dalila der Versuchung gerade des Weiblichen erlegen und konnte wegen seiner Rache nach der Blendung nicht als ein Beispiel des von Jesus verlangten Hinhaltens der anderen Васке968 interpretiert werden. Also abermals ein unentschiedener Fall. Bei Aristoteles war das Problem, dafi sein Werk einerseits ein Hauptfundament der hochmittelalterlichen Philosophic war, er selbst andererseits Heide; Dante wird ihn daher — eine Zwischenlosung — in den ersten Hollenkreis versetzen969, wo er zwar keiner besonde- ren Strafe unterworfen ist, aber auch keine Hoffnung auf den Himmel besitzt. Besonders interessant ist der Fall des Origenes: Origenes hatte sein Leben in Wort und Schrift der christlichen Religion geweiht und sogar Selbstkastration und Folter dafur erduldet; seine Schriften wurden im Mittelalter durchaus nicht nur ablehnend zitiert. Und doch war er wiederholt nach seinem Tode als Haretiker abgeurteilt worden, namentlich wegen seiner der Kirche zu versohnlich erscheinenden Apokatastasis-Lehre.970 In dieser Vision Mechthilds ist es seine angebliche Uberheblichkeit, auf seine «scientia» gegriindet, die Christus indirekt tadelt.971 Und was schliefflich Traian betrifft, so sehen wir die Seherin hier im Spannungsfeld zwischen Legende und Theologie. Nach letzterer miifite sein Schicksal unbedingt die Holle sein; Traian war nicht Christ geworden. Aber dem Mittelalter war er ein vorbildlich gerechter Kaiser gewesen — der «Novellino», um ernes der bekanntesten Exempelbucher zu Wort kommen zu lassen, versteigt sich sogar zu einem verstarkten Superlativ: «Lo impera- dore Traiano fu molto giustissimo signore»972; - sein Verhalten war Stoff eines Exempels geworden.973 Und doch sollte er zur Hollenpein verurteilt sein? So erfand man die Legende, Papst Gregor der Grofie habe ihn hartnackig aus der Holle losgebetet und zum Ersatz dafur schwere Krankheit auf den eigenen Leib genommen.974 «Е dicesi per evidente miraco- lo, che, per li preghi di questo santo Papa, l’anima di questo Imperadore fu liberata dalle репе dc\Yinferno e andonne in vita etema. Ed era stato pagano,»975 Theologisch unmog- lich. Und so lost auch Jesus diesen Widerspruch nicht, sondern begnugt sich mit der Zusammenfassimg der Antithese: «hie licet omnibus polleret virtutibus, Christiana tamen fide atque baptismo carebat.»976 Fragen von solch heilsgeschichtlicher Art konnte man also an Visionare mit der Bitte um Weitergabe richten; die Vision war im Mittelalter, wie noch 967 vs. 2818, wie oben A. 963, 126 968 Mt. 5, 39 969 Divina Commedia I, 4, 131 970 Cf. Kretzenbacher, Versohnung 20 ss; Dods, Dante 272 s 971 wie oben A. 962 972 c. 69, Manganelli, Novellino 80 973 Tubach, Index nr. 4989, 5267 974 ibid. nr. 2368; Kretzenbacher, Versohnung 30 ss; id., Feuerjenseits pass.; G. Paris, La legende de Trajan, Bibliothfcque de FEcole des hautes etudes 35,1878,261-298; Arturo Graf, Roma nella memoria e nelle immaginazioni del medio evo II, Torino 1883, 1 ss; Bautz, Holle 68 s 975 wie oben A. 972 976 wie oben A. 962
198 Die Vision im Leben des Visionars an anderer Stelle zu zeigen, geradezu eine Moglichkeit der damaligen historischen Me- thode. Wie Mechthild fur einen anderen um himmlische Offenbarung gebeten hatte, so zogerte Gertrud die Grofie auch nicht, alle ihre Affekte zu konzentrieren und Gott iiber das Schicksal einer ihr personlich nahestehenden Schwester oder jemand anderes zu befra- gen.977 Sie bedarf aber oft gar nicht einer ausdrucklichen Bitte um gottliche Nachricht tiber Verstorbene, vielmehr folgt regelmafiig, sobald sie fur sie betet, auch eine Vision oder Audition.978 Am Rande sei vermerkt, dafi die Mystikerinnen dieser Epoche auch fur andere Charis¬ mata als fur visionare Erleuchtung beten, oder beten lassen. Gertrud selbst hatte jemanden verpflichtet, taglich vor einem Kruzifix um ihre geistliche Stigmatisierung, die Durchboh- rung mit den Geschossen gottlicher Liebe, zu bitten. Dies fiihrte auch tatsachlich dazu, dafi ihr die Liebeswunde ins Herz eingedruckt wurde.979 Korperlicher ist der Wunsch der Tofier Schwester Mechthild von Stanz. «sy begen och von grund ires hertzen das er ir geb liplichen ze enpfinden etliches siner v minzaichen, das sy das ser durch sin liebi trug und im sines lidens ain klain da mit dankete.»980 Auch Benevenuta «cum instantia multa est Dominum deprecata, ut Passionis suae deberet senti- re dolorem»981, obgleich die Mutter Gottes ihr Solches bereits bei einer anderen Gelegen- heit untersagt hatte.982 Als ihr Wunsch aber erfullt wird, und sie die ganze Leidensgeschich- te des Herrn vom Letzten Abendmahl an miterlebt, bleibt ein so defer Schmerz in ihr zuriick, dafi sie weder essen noch schlafen kann und um Erleichterung flehen mufi, damit ihr wenigstens der Besuch der Messe ermoglicht wird. Was uns in alien diesen Fallen als der wesentliche Unterschied zu der Vision der ersten Phase erscheint, ist, dafi jetzt die Gesichte vom mystisch begnadeten Menschen herbeige- wiinscht werden konnen, wogegen sie vormals so gut wie stets ein spontanes Geschenk Gottes waren. Bei den Visionen alterer Pragung war zu betonen, dal? sie unvorbereitet, ahnungslos empfangen werden. Das kann nunmehr nicht der Fall sein, da ja fast alle Visionare der zweiten Gruppe nicht nur, wie friiher, eine einzige, dafur umfangreiche Vision haben, sondern mehrere, dafur kiirzere. Wie sollte denn jemand wie Elisabeth von Schonau, Hadewijch, Mechthild von Magdeburg, Agnes Blannbekin, Francesca von Rom, Osanna Andreasi, Veronica von Binasco usw. nicht mehr mit einer neuerlichen Vision rechnen, nachdem sie schon einige Male dieses Erlebnis erfahren hatten? Die Helftaerinner unterhalten sich so gelaufig mit Gott, dal? jeder neuerliche visionare oder auditive Kontakt schon fast (wenigstens bei Gertrud und Mechthild von Hackeborn hat man den Eindruck) zum taglichen Leben gehort. Und so linden wir in den Visionsbuchem dieser Frauen auch tatsachlich Formulierungen, durch die eben dies zum Ausdruck gebracht wird. Elisabeth: 977 Leg. div. piet. 5,1; 5,8; 5,12 978 ibid. Buch 5 pass. v 979 ibid. 2,5 980 Elsbeth Stagel, «Schwestembuch» 24, Vetter, Tofi 64; cf. weiters das Beten in Adelhausen, Koenig, Chronik 171 s 981 Vita 8,63, AASS Oct. 13, 1883, 167C 982 ibid. 6,56
Wirkungen der Vision auf den Lebensweg 199 «... vidi lucem, quam videre soleo, ...», «... et viderem visiones, quas dominicis diebus videre consuevi, ...», «Acddit..., ut caderet super me repentinus corporis languor, ut solet, et veni in mentis excessum», «eodem modo infirmata sum, vidi eandem visio- nem...», «vidi solito more gloriam...», u.a.”3 Auch andere Visionarinnnen bezeugen wiederholt, dafi fiir sie die Vision etwas Erwar- tetes ist. Hadewijch sagt von einem bestimmten Winter, sie habe zu alien Stunden auf auBerordentliche Minnegaben gewartet und nach «reuelacien»584 gestrebt. In Gerardescas Lebensbeschreibung heifit es beilaufig «quadam die, ut erat solitum,anima ejus portaretur in caelum».”5 Der Autor von Osannas Vita schreibt sogar ausdriicklich, «Fuisse igitur Osannam saepenumero raptam, omnisque sensuum usus expertem factam, nemo est qui diffiteatur, quando id universa Italia noverit.»”5 Wie hatte sie da nicht in einer steten Erwartungshaltung sein sollen? Und wie hatte eine Charismatikerin beim Verlust der visionaren Begabung nicht nach ihrer Wiedererlangung streben sollen?”7 Auswirkungen der Vision im Lebensweg des Sehers Betrachten wir die Lebensschicksale der mittelalterlichen Visionare: welche Funktion, welche Stellung hat ihre Vision fiir sie in ihrem Leben, wie reagieren sie auf diesen gottli- chen Eingriff? Zwei Moglichkeiten gibt es : die Antwort auf die Vision kann eine Umkeh- rung der bisherigen Art der Lebensfuhrung bedeuten oder sie kann das bisherige Verhalten bestarken. Dafi das Erfahren einer so sehr iiber dem Alltaglichen stehenden Beriihrung mit anderen Welten den Betroffenen kalt gelassen habe, ist so gut wie nicht belegt. Die krasseste denkbare Reaktion auf die Vision ist der Tod. Hier ist nicht von den Visionaren die Rede, die ihre Schaungen im Verlauf einer korperlichen Krankheit gehabt haben, die sich nach der Vision so sehr verschlimmerte, dag sie binnen kurzem ihrem Leben ein Ende setzte, sondern vom Tod eines Gesunden infolge der Ersdmtterung durch eine Vision. Der Fall Adam von Kendal steht gewifi vereinzelt in der Geschichte der mittelalterlichen Visionen, soweit sie aufgezeichnet worden sind; wahrlich ein «exemplum satis terribile», wie die Uberschrift im «Scotichronicon» lautet. Dieser Zisterzienserabt von Holmeculter war nach einer Visitation zu Recht abgesetzt worden und hatte sich daraufhin auf einen eher konfortablen Landsitz zuriickgezogen. Doch gab er seine kirchliche Laufbahn damit keineswegs verloren, sondern blieb, wie es ausdrucksvoll heifit «ad episcopatum hians». Diese Hoffnung erfullte sich nicht. Der Enttauschte. griff freventlich dazu, eine Vision durch seinen Diener Ralph mittels der sieben Bugpsalmen herabbeten zu lassen, um etwas iiber sein Schicksal zu erfahren. Waren Ralphs Schauungen darn schon bedrohlich genug, 983 984 985 986 987983 Elisabeth v. Schonau, Vis. 1,18, Roth, Visionen 10; 3,30, ed. cit. 79; 1,40, ed. cit. 20; 1,21 ed cit. 12; 1,76, ed. cit. 35 984 Vis. 10, Mierlo, Visioenen 1,105 985 Vita 4,34, AASS Mai 8, 1688, 171F 986 Franciscus Silvester, Vita 2,54, AASS Juni 3, 1701, 688B 987 cf. Pieller, Frauenmystik 445 ss (Jutzi Schultheii? in Tofi)
200 Die Vision im Leben des Visionars erlebte Adam selbst eine Traumvision uber seine Bestrafung nach dem Tode von solcher Schrecklichkeit, dafi er dem Monch nachher bekannte «Et sic mihi ipsi reditus, et a tarn terrifica visione revocatus, tanta moestitia et fluctatione cordis turbatus sum et distractus, quod fere non sustinens, in incredibilem desparationis voraginem devolutus sum... Heu, inquit, scio quod salvari nequeo. Et statim tremens ac stupens, mente captus est, et a spiri- tu malignissimo vexatus.» Nichts half es, ihn im Kloster in Ketten zu legen, er entkam und stiirzte in die Kirche, umschlag seinen dort die Messe lesenden Gefahrten mit dem Schrei «Adjuva, miserere! adjuva, miserere!» und hauchte alsbald seine Seele aus.988 Der Abt hatte in seiner Jenseitsvision den Platz gesehen, der ihm dort bereitet war: in einem Graben eingezwangt auf dem Rucken liegend hatte er das Fett aufzulecken, das in Schauem von daruberhangenden, schwefelig brennenden Speckseiten herabtroff. Dazu hatte ihm die Madonna schon das genaue Datum seines Ablebens vorausgesagt; und ihre Worte erfull- ten sich treulich. Es darf vielleicht einmal versucht werden, die mittelalterliche Beschreibung und eine mogliche modeme Interpretation gegeneinander zu stellen. Adam sagt von sich selbst, er «sei in den Strudel der Verzweiflung gestiirzt», Verzweiflung an der Moglichkeit seiner Rettung. Dies mufi nun nach mittelalterlicher Anschauung die wesentliche Sunde des Abtes gewesen sein, das Verbrechen des Judas989, der aus dem gleichen Grunde Selbstmord begangen hatte. Die Verzweiflung als Sunde wider den Heiligen Geist ist, so Thomas von Aquin, noch gefahrlicher als sogar Gotteshafi und Unglaube.990 Wie es von Judas ausdruck- lich heifit, «Mes se il eust crie, <Merci>, uncore avereit pardon», und daraus der Schlufi gezogen wurde «Nos ne devum pas desesperer abolution»991, so ermahnt ja auch die Madonna Adam, noch rechtzeitig Bufie zu tun - er aber hort eben gerade darauf nicht. Das «ich kann nicht gerettet werden», die Leugnung der Allbarmherzigkeit Gottes mufite den Zeitgenossen als das eigendiche Verbrechen erscheinen. Dies offnete dem Teufel die Tur, der in ihn wie in Judas einfuhr. Dafi dann bald ein boses Sterben dieses siindige Leben beendete (um nicht zu sagen: vollendete), konnte nicht uberraschen. «Stipendia enim peccari mors» steht schliefilich in der Schrift (Rom. 6,23). Wie ernst das genommen werden konnte, ersieht man z. B. auch aus der Reaktion eines der Teilnehmer an den Massakern von 1418 in Paris, der Selbstmord beging, da er von seiner Verdammung liberzeugt war.992 Wenn wir nun das tragische Ende dieses Abtes in eine unserem Weltbild entsprechende Sprache ubersetzen wiirden, konnte man es etwa so beschreiben: die intensive Frustration seiner Erwartungen loste in diesem ohnehin labilen und schon durch die Absetzung in eine Krise gestiirzten Charakter einen Verlust des Selbstwertgefiihls aus, der sich in jener Traumvision in Verkleidung der physischen Zerstorung (Graben/Grab) manifestierte. 988 Walter Bow[mak]er, Fortsetzung zu Johannis v. Fordun, Scotichron. 9,9 ss, Goodall, Fordun 12 ss 989 cf. Dinzelbacher, Judastraditionen 74, 82 s 990 Summa Theol. 2/2, 20, 3 c 991 Nancy Iseley ed., De passione Judas, University of North Carolina Studies in the Romance Languages and Literatures 2, 1941, 29 ss, 37 992 Chaput, condition 43
Adam von Kendal 201 Hierzu kommen in den Traum Strafphantasien hinein, die Adams Abweichen von den durch die christliche «Ideologic» als Norm gesetzten Werten im Gefolge fuhren mufite. Die Vision verstarkte nun die ohnehin schon im Gang befindliche depressive Entwicklung und erzeugte zusatzlich zur «Gewissens-Angst» (vor dem Uberich, das die moralischen Forde- rungen aufstellt) die auf die Lebensbedrohung (namlich Bedrohung des jenseitigen Lebens) reagierende «Real-Angst». Diese ist gekoppelt mit somatischen Symptomen, die im lateini- schen Text sogar angesprochen sind, wenn man die «fluctuatio cordis», was moglich ist, als konkret gemeinte kardiale Arrhythmie begreift. Nach der weiteren Beschreibung (Zit- tem, Erstarren, Geistesverwirrung) ist Adam dann das Opfer von Adams-Stokes-Anfallen geworden, die ja durch Herzrhythmusstorungen, Bewufitseinseintrubung und epilep- sieahnliche Krampfe - Besessenheit vom bosen Geist in mittelalterlicher Terminologie - gekennzeichnet sind. Letztlich mufi er wohl dem Herztod erlegen sein; trauriges Parade- beispiel von der Wirksamkeit psychosomatischer Beziehungen. Dies nur als eine kurze Abschweifung in eine (betont andere) Interpretationshaltung, die von unserem heutigen, naturwissenschaftlich-psychologischen Verstandnishorizont ausgeht. Ihr soli in einer spateren Arbeit ausfiihrlicher Rechnung getragen werden. Ist Adam von Kendal, wir sagten es, ein Einzelfall, so gibt es nun doch eine ganze Reihe von Visionen, die ohne Tragik doch im Leben derer, denen sie zu Teil wurden, eine tiefgreifende Veranderung hervorgerufen haben, die fur diese Menschen das grofie Bekeh- rungserlebnis geworden sind oder wenigstens «eine einschneidende religiose, den Men¬ schen wandelnde Vertiefung»993 zur Folge hatten. Wir nennen zunachst wiederum Tundal, uber dessen Leben wir einfach besser informiert sind, als uber das vieler anderer Visionare. Er war, wie berichtet, ein Kind der Welt im vollsten Sinne des Wortes, «cujus crudelitas», so Bruder Markus, der Verfasser seiner Jenseitsvision, «... nostro huic opusculo materiam dedit». Die Kirche Gottes hat er vernachlassigt, die armen Leute wollte er nicht einmal sehen, ja, nicht einmal vor Diebstahl ist er zuruckgeschreckt.994 Dann aber schaute er die schrecklichen Reiche Satans - und mufite dabei selbst manche Strafe auskosten - sowie die wundervollen Statten der Gottsfurchtigen. Sein Leben nahm daraufhin scharfe Umkehr: «omnia, que habuit, pauperibus dispersit et signum sancte crucis suis vestimentis ... superponi jussit. .. verbumque dei, quod ante nescierat, cum magna devotione et humili- tate ac scientia predicabat.»995 So wird der Bosewicht zum Bufier und Prediger.996 Ob er allerdings den gelobten Kreuz- oder Pilgerzug auch ausgefiihrt hat997, ist uns nicht uberlie- fert. Sein Zeit- und Standesgenosse Owen hat es jedenfalls getan, nachdem er weiter 993 Rahners Formulierung fur theologisch echte Visionen, Visionen 71 994 Vis. 1, Wagner, Tnugdali 4; Diebstahl: ibid. 8; cf. auch Spilling, Tnugdali 169 ss 995 ibid. 26, ed. cit. 55 s 996 Man wird hier wohl weniger an regelrechte Laienpredigt zu denken haben, die im 12. Jahrhun- dert «era stato uno dei tratti caratteristici dell’eresia» (Carlo Delcorno, La predicazione nell* et& comunale [Sansoni Scuola aperta 57], Firenze 1974,47), sondern daran, dafi in aller Demut («humili- tate») nunmehr Gottes Wort aus seinen Reden erklang, die sich zuvor um sehr weltliche Dinge gedreht hatten. 997 Das Anheften des «Signum crucis» ist eine symbolische Geste der Erfullung der Christusworte, wer ihm nachfolgen wolle, miisse das Kreuz auf sich nehmen. Schon im ersten Kreuzzug war es ublich, ein rotes Kreuz als Zeichen der Teilnahme an dieser bewaffneten Pilgerfahrt auf die Schulter zu nahen,
202 Die Vision im Leben des Visionars nordlich in Irland im Purgatorium des heiligen Patrizius gewesen war. Seine Erlebnisse - ihm selbst waren es keine Visionen, sondern reale Erfahrungen in corpore - fiihrten ihn dazu, dafi er «signo dominice crucis in humero suscepto. dominici corporis sepulchrum ierosolimis uisitare perrexit».998 Seine Schau der Straf- und Gnadenorte verursachte jedoch nicht mehr diese radikale Umkehr wie bei Tundal, denn Owen war bereits auf dem Weg der Beichte und Bufie seiner Sunden, sonst ware er ja uberhaupt nie in die unterirdische Hohle im Lough Derg hinabgestiegen. Dies war vielmehr seine selbstgewahlte Siihne.999 Tun dais Reaktion auf seine Jenseitsschau ist nun kein Einzelfall. Spektakular und viel- leicht fur manchen spateren Visionar beispielhaft war die radikale Lebensanderung, die Drycthelm so viele Jahre friiher vollzogen hatte. Der fromme Drycthelm war Familienvater, sowohl seine Frau als auch seine Kinder werden von Beda, dem wir die Kenntnis dieser Vision verdanken, erwahnt. Er hat sich die Worte seines Engels, «si actus tuos curiosius discutere, et mores sermonesque tuos in rectitudine ac simplicitate seruare studueris», dann werde die Belohnung nicht ausbleiben, unter dem Eindruck des Geschauten zu Herzen genommen: aus der Vision erwacht «Statimque surgens, abiit ad uillulae orato- rium ...», wo er gleich bis zum Tageserwachen im Gebet verblieb. Alsbald verteilte er all seine Habe an Frau und Kinder sowie an die Armen und begab sich ins neugegriindete Kloster Melrose. Es scheint, dafi man ihn dort aber zunachst gar nicht haben wollte (Einspruch seiner Familie? Zu geringe soziale Herkunft?), da seine Monchsweihe (offenbar erst) auf ausdriicklichen Wunsch des gelehrten Konigs Alfrid von Northumbria erfolgte, der von seiner Erzahlung so fasziniert war, dafi er noch offer zu ihm kam, um ihm zuzuhoren. Drycthelm nun, der im Kloster einen eigenen «locum mansionis secretiorem» bewohnte, begniigte sich nicht mit dem iiblichen monastischen Bufileben, sondern ver- brachte den Rest seiner Tage als rigoroser Asket. Er pflegte, sich bis zum Hals in die Fluten des nahen Flusses zu stellen und dort Psalmen zu beten. Davon konnte ihn auch die Kalte des Winters nicht abhalten: war das Wasser zu Eis gefroren, hackte er eben ein Loch hinein, in dem er den Korper untertauchen konnte. Fragte man ihn, wie er das aushalten konne, so pflegte seine Antwort zu lauten: «Frigidiora ego uidi» — namlich die Eispein der noch zu bessemden Seelen im Fegefeuer. Diese Bufie ist aber wohl nicht Drycthelms per- sonlicher Einfall; vielmehr war «die von vielen Heiligen berichtete Gewohnheit, den gan- zen Psalter (!) in kaltem Wasser stehend zu beten, im irischen Monchtum weit verbreitet» cf. z. B. Hans Wollschlager, Die bewaffneten Wallfahrten gegen Jerusalem. Geschichte der Kreuz- zuge (Diogenes ТВ 48), Zurich 1973, 16; die Schriftstellen: Matthaus 10,38; 16,24; Lukas 9,23; 14,27. Die Interpretation Spillings, Tnugdali 173539, hier sei «nur ein schutzendes Sich-Bekreuzigen gemeint» ist daher abzulehnen. Gerade dafi, wie sie selbst zitiert, Helinand und Vinzenz in ihren Epitomen dieses Textes den Vorgang mit «superaffigi» umschreiben, weist darauf hin, dafi hier jener Kreuzfahrerbrauch gemeint ist: «oben auf der Schulter anbringen lassen». Es erstaunt allerdings, dafi der deutsche Obersetzer Alber, der nur eine Generation nach Marcus schreibt (Wagner, Tnugdali L), ubersetzt: «er tet sich der werlde abe / er leite an geistlich gewant» (vs. 330 s, ibid. 131). Bedenkt man aber, welche Freiheiten sich Alber auch sonst bei der Nachdichtung genommen hat (was Wagner ibid. LI ss sehr schon gezeigt hat), so wird man der Stelle keinen Wert fur Tundals wirkliches Verhalten beimessen konnen. 998 Tract. 21, Jenkins, Espurgatoire 92 999 ibid. 4
Drycthelm 203 und finden sich auch Bufianordnungen, die im Wasser oder in abgelegenen Zellen zu schlafen, anempfehlen.1000 Aber immerhin hat man Drycthelms Verhalten im Mittelalter generell als so vorbildlich betrachtet, dafi es Stoff eines Exempels werden konnte.1001 Beda beschliefit sein Kapitel uber ihn mit den Worten «sicque ... corpus senile inter cotidiana ieiunia domabat, multisque et uerbo et conuersatione saluti fuit».1002 An Drycthelm zeigt sich, wie die Begnadigung mit der Vision alle normalen menschlichen Bande radikal zer- storen kann. Das Leben in der Familie, die Gattin, die Kinder sind auf einmal, schlagartig, Beziehungen minderer Qualitat geworden, die in Gedanken an das Jenseits so peripher werden, dafi sie aufzugeben sind. Was dem Erdenleben angehort, mufi zerstort werden («den Korper zahmen»), um die Seele frei fur den Aufstieg zu jenen Spharen zu machen, in denen der Charismatiker in der Vision so gerne verweilt ware. «Ganz allgemein lafit sich feststellen, dafi in friiheren Jahrhunderten der Heils- und Heiligungsegoismus der glaubi- gen Menschen starker entwickelt war, und sich in einer, fast mochte man sagen, brutaleren Form aufierte. Wer die innere Stimme horte, an wen der Ruf zur Heiligung und Rettung seiner Seele erging, dem fiel es leicht, Frau und Kinder zu verlassen, die Familie der Fursorge Gottes anzuvertrauen und in die Einsamkeit zu ziehen, um seinen Gott und der Schau der himmlischen Gesichte zu leben .. .»1003 Wird man Drycthelms strenge Kasteiungen in Reaktion auf seine Vision zu einem gewis- sen Teil auch im Rahmen der bufifrohen Mentalitat des irischen Monchswesen sehen konnen, so ist, wie seiner lakonischen Antwort zu entnehmen, die Furcht, den Qualen der Unterwelt zu verfallen, gewifi der hauptsachliche Antrieb fiir seine weitere Lebensfuhrung gewesen. In einem bei ihm vorauszusetzenden latenten Normkonflikt zwischen dem Leben fiir das «saeculum» (die Familie) und dem Dasein fiir Gott hat sich das christliche System der Weltabkehr durchgesetzt, gleichsam durch die ekstatische Erschutterung freigewor- den. Ahnlich spektakular war zu einer viel spateren Zeit (1321) auch der Fall jenes Gott¬ fried, eines Handwerkers aus Bruchsal, der als «conversatione mundanus, verbis levis atque scurrilis» gekennzeichnet, ein «vanitatum ... cursor atque sectator», nach einer betont abstrakten, aber nicht minder furchtbaren Jenseitsschau sein Leben vollig verander- te. Nur mehr vier Stunden Schlaf auf blofier Erde, Verzicht auf Schuhwerk, Bad, Fasten, Selbstgeifielung usf. machten aus dem friiheren Kneipbruder einen Biifier, der nach zwolf Jahren «non sine opinione sanctitatis» das Zeitliche segnete.1004 Auch fiir ihn war der vollig unaussprechliche Schrecken der Holle der Stachel zu seiner mit grofiem Erstaunen aufge- nommenen Umkehr. Doch ist er mit dieser Reaktion fiir das spate Mittelalter eher eine Ausnahme. Genau die umgekehrte Motivation ist es, die aus einer Nonne des Heiligen- Kreuz-Klosters in Poitiers eine lebendig eingemauerte Inklusin machte. Sie hatte eine Vi¬ sion gehabt, in der sie zum Brunnen des lebendigen Wassers gefiihrt und mit einem 1000 Bieler, Irland 67 s; cf. Gougaud, Devotions 155 ss 1001 Tubach, Index nr. 1818 1002 Beda Venerabilis, Hist. eccl. 5,12, Plummer, Baeda 1,303 ss 1003 Benz, Vision 65 s, der auf das Vorbild der um Jesus willen ihre Familien verlassenden Apostel hinweist. So wurde 1467 auch Nikolaus v. Flue gegen den Widerspruch seiner Verwandten Einsiedler, wozu er seine Frau und seine zehn Kinder verliefi. 1004 Trithemius, Annales 2,149,154
204 Die Vision im Leben des Visionars prachtvollen Kleid geschmiickt wurde, das ihr ihre Abtissin als Geschenk anlegte. «Haec cum puella vidisset, conpuncta est corde, et post dies paucos rogavit abbatissam, ut sibi in qua inclauderetur cellulam praepararet.» Was ihr gewahrt wird: und alsbald wurde die Tur zur Zelle hinter ihr zugemauert.1005 1006 Hier ist es also nicht Hollenfurcht, sondem Vor- freude auf das himmlische Hochzeitsfest, die einen doch auch gravierenden Wandel im Leben dieser Schwester hervorruft. Es ist nicht anzunehmen, dafi der Klosterdienst im Konvent der heiligen Radegundis unter der nun eben nicht ubertrieben strengen Regel des Caesarius von Arles zu den unangenehmsten Lebensformen der Merowingerzeit gehort hat. Die spektakulare Revoke der Cothilde und Basina1008 fand erst nach Radegundis Tod statt und diirfte durchaus auch andere Griinde als gewisse Unzulanglichkeiten des Kloster- lebens gehabt haben. So wird man in diesem Text kaum ein Zeugnis dafur sehen konnen, dafi hier eine Frau die innere Emigration gesucht hat, weil sie im taglichen Leben des Konvents Schwierigkeiten hatte - Gregors Worte bieten dazu keinerlei Anlafi -, sondem dem Autor glauben konnen, dafi hier ein religioses Erlebnis diesen Wechsel der Lebensfuh- rung bewirkte. Freilich, diese Frau hatte schon vor ihrer Vision die monastische Lebens- form gelebt; nun aber als Rekluse verbrachte sie ihre Tage in doch wesentlich anderer Form, als sie es im Zusammenleben mit ihren Mitschwestern getan hatte. Ahnliche Antworten auf den Anfruf Gottes durch die Vision sind noch von manchen anderen Menschen uberliefert. Es sind beruhmte (oder beriichtigte) Personlichkeiten, wie Adalbert von Bremen, von dem es heifit, sein arrogantes Verhalten sei durch eine Vision seiner bischoflichen Vorganger in der Kirche gebrochen worden, da er mit ihnen nicht die Messe mitfeiern durfte1007, und es sind, ofter noch, Unbekannte, deren Namen wir nur haben, weil man ihre Visionen aufgeschrieben hat. So Alberich, der auf Grund seiner Vision die Eltem verliefi und in das Benediktinerkloster Monte Cassino eintrat1008, so Petrus Tolosanus, den Gott vor seinen Thron holte, um ihm zu befehlen, sich zu seinem «servitium» zu bereiten, was er tat, indem auch er Monch wurde1009, so ein Mann, der in Clairvaux eintrat, nachdem ihn der heilige Johannes Evangelista und Heilige des dortigen Klosters geradezu dazu gezwungen hatten: denn nur unter dieser Bedingung hatten sie ihn aus dem Brunnen (man erinnere sich an den regelmafiig mit «puteus» bezeichneten Hollen- schlund!), in den er in seiner Traumvision gefallen war, befreit.1010 Freilich werden diese Geschichten oft mit einer sehr deutlichen propagandistischen Tendenz fur einen bestimm- ten Orden erzahlt, der sich seine hohe Selbsteinschatzung so durch himmlische Gesichte bestatigen liefi.1011 Der merkwurdigste Wandel eines Lebensschicksales, den aber eine Vision je bewirkt 1005 Gregor v. Tours, Hist. Franc. 6,29, AQ 2, 48 ss. Ahnlich reagierte im 12. Jh. Wemhar v. Petershausen auf seine Petrus-Vision 1006 ibid. 9,39 ss; 10,15 ss; cf. Georg Scheibelreiter, Konigstochter im Kloster, Mitteilungen d. Instituts f. osterreichische Geschichtsforschung 87, 1979, 1-37 1007 Adam v. Bremen, Gesta Hammaburg. eccl. 3, 69 1008 Visio 50 1009 Konrad v. Eberbach, Magn. Exord. Cist. 3,15 1010 ibid. 3,18 1011 cf. unten S. 217ss
Christina von St-Trond 205 hat, ist wohl der, den Christina von St-Trond erfahren hat. 17 Jahre lebte sie unbeachtet als arme Hirtin. Eine schwere Erkrankung fiihrte sie dann an die Schwelle des Todes und in eine Vision, die die Art ihres Lebens zu einem solchen Leiden verandem sollte, dafi man von ihr gesagt hat, sie erdulde das Purgatorium schon in diesem Dasein. Nachdem sie namlich durch Fegefeuer, Holle und Himmel gefuhrt worden war, stellte sie Christus vor die Wahl, entweder gleich bei ihm zu verbleiben, oder die Seelen aus dem Fegfeuer zu erlosen, indem sie selbst am eigenen Leib Qualen ertragen mufite. Christina entschied sich sofort fiir letzteres. Zum Bewufitsein zuruckgekehrt sagte sie schon in Erwartung des Kommenden: «Nunc ergo non conturbent vos ilia, quae visuri estis in me, quia super intellectum sunt ilia, quae Deus ordinabit mecum. Nec enim talia visa sunt inter morta- les.»1012 Tatsachlich folgte auf diese Vision sogleich eine Phase abstrusester Verhaltenswei- sen: Zunachst zog sie sich auf Baumkronen, Turmspitzen und Kirchendacher zuriick, was ihr den Ruf einer Besessenen einbrachte, sodafi sie, wie fiir diese Gruppe von Menschen ublich1013, in Ketten gelegt wurde, woraus sie aber regelmafiig entkam. Sie stiirzte sich in brennende Ofen und Feuer, setzte sich bis zu den Huften oder zur Brust in Kessel mit kochender Fliissigkeit, blieb bis zu einer Woche im eisigen Winterwasser der Maas, liefi sich vom Flufi zu einer Miihle treiben und iiber das Rad hinabstiirzen, ohne dafi ihr Leib Schaden genommen hatte. Auch hing sie sich ein bis zwei Tage neben gehangten Verbre- chem auf oder flocht sich selbst ins Rad. Neben der von den meisten Heiligen ihrer Zeit gem praktizierten Selbstgeifielung liefi sie sich auch von den Hunden des Ortes durch Dorngestriipp hetzen. Dies sind nur einige ihrer BuEtaten, die sie fur die Rettung der armen Seelen und die Besserung ihrer Mitmenschen darbrachte. Obwohl alle ihre selbstzu- gefiigten Wunden schnellstens wieder heilten, hat sie dabei furchtbare Schmerzen verspurt. Thomas von Cantimpre, der nur acht Jahre nach Christinas Ableben ihre Vita verfafite, sagt: «... cruciabatur incendiis velut aliquis nostrum, ita ut horrifice clamaret prae angu- stia.»1014 Was Christina getan hat, war, auf Grund ihrer Vision, ein Bufiwerk auf sich zu nehmen, wie es andere Heilige auch vollbracht haben; das Aufiergewohnliche an ihr ist, dafi sie einen Korper besafi, der ihr jecten Exzefi in dieser Richtung ermoglichte, Sie selbst hat ihren Leib in folgenden Worten angesprochen: «О dulcissimum corpus! quare verbera- vi te? ... Numquid obedisti mihi in omne opus bonum, quod Deo auctore aggressa sum facere? Tu tormenta, tu labores benignissime ac patientissime pertulisti, quae spiritus imponebat.»1015 Es ware wohl falsch zu sagen, durch die Vision selbst habe Christina diese aufierordentliche Fahigkeiten der Kasteiung bekommen, sozusagen als akzidentielle Cha¬ rismata, wie etwa Angela von Foligno die eingegossene Unterscheidungskraft. Sondern der Vorgang lief in folgenden Stufen ab: die Heilige schaute im Jenseits unter anderem die Torturen der Sunder in der Fegfeuerpein, sie empfand tiefstes Mitleid mit ihnen. Als Gott sie dann im Himmel fragte, ob sie diese durch ihr Leiden erlosen wolle, entschied sie sich frei dafur. In den Leib zuruckgekehrt, begann sie mit diesem bewufiten, beabsichtigten 1012 Thomas v. СЬапшпргё, Vita 1,8, AASS Juli 3, 1723, 652 1013 cf. Henri Huber Beek, Waanzin in de middeleeuwen, Nijkerk, Haarlem 1969; Chaput, condi¬ tion pass. 1014 Vita 1,11, ed. cit. 652D 1015 ibid. 5, 48, ed. cit. 658F
206 Die Vision im Leben des Visionars Leiden, wozu die korperliche Moglichkeit quasi als Instrument dazu - man sehe ihre eigenen Worte - von Gottes Gnaden als Voraussetzung dazu geschenkt wurde. Dieses Eingreifen des Herm durch Wunder, die an ihrem Leib vollzogen wurden, auiSerte sich ja auch im Heilen ihres Schienbeines, das mit einer Keule zerschmettert worden war, oder darin, daS sie sich von der Milch und dem Ol ihrer eigenen jungfraulichen Bruste zu emahren vermochte.1016 Sowohl diese Verletzung als auch das Fehlen von normalen Emah- rungsmoglichkeiten verdankte sie tibrigens ihren Verwandten, die zu den selbstgewahlten Schmerzen noch nach Kraften weitere hinzufugten, da Christina ihrer Familie verstand- licherweise ein Argemis war. Das Einsetzen ihres wundersamen Leidensweges datiert jedenfalls punktuell mit dem Erwachen aus der Verziickung, wo sie wie ein Vogel von der Totenbahre weg in die Dachbalken der Kirche klettert und erst durch die Beschworung mit dem Sanctissimum gezwungen werdenkann, herabzukommen.1017 Soweit einige Beispiele, an denen die radikale Veranderung eines Lebensweges durch den Einbruch des Numinosen in Form einer Vision gezeigt werden konnte. Die Erschei- nung, auch die Audition, haben noch ofter als die Vision in dieser Richtung gewirkt. Vor allem in ihrer Traumform; man denke an Franz von Assisi1018 oder Luitgard von Ton- geren1019. Eine weniger spektakulare Wirkung haben Visionen auch als Korrektiva im Sinne der Beibehaltung eines einmal eingeschlagenen Lebensplanes gehabt. Bonellus etwa hatte sich bereits «in arctissima retrusionis mancipatus clausura» befunden, also das Inklusenleben gewahlt. Eine Himmelsvision hatte ihn zu Verfolgung dieser Form von Gottesdienst er- muntert. Allein vergebens - der Monch verliefi einige Zeit spater seine Klause. Da uber- kam ihn zum zweiten Mai die Ekstase und eine um einiges langere und plastischere Hollenvision beeindruckte ihn so stark, dafi er dem Aufzeichner seiner Schauungen be- kannte: «Volo mihi talem facere retrusionem, quae solum meum habeat statum amplitudi- nis utraque parte, quia valde timeo ne in tarn pessima ruina ultra incidam.» Wozu ihn der Berichterstatter eindringlich ermunterte.1020 Auch hier wird die Vision geschenkt, um (wie bei Tundal zum Beispiel) das Seelenheil eines einzelnen zu fordem, nur dafi es sich nicht um den Neubeginn, sondem die Riickfuhrung auf die schmale Strafie, die zum Heil fiihrt, und die der Visionar ja schon betreten hatte, handelt. Caesarius von Heisterbach weifi auch von solchen Begebenheiten zu berichten, die er sinnigerweise in die Rubrik «de tentatione» eingeordnet hat. Etwa von jenem Novizen, dessen Versuchung «sola Dei revelatione sedata est». Am Vorabend des Tages namlich, da er den Konvent verlassen wollte, hatte er eine Traumvision: «in bivio» stehend hatte er zwischen dem linken, anganglich schonen, dann aber garstigen Weg und dem rechten, zunachst rauhen, dann aber angenehmen zu wahlen. «Via ad dexteram, vitam significat monasticam et spiritualem; via ad sinistram, vitam saecularem atqua camalem.» Die erste 1016 ibid. 2,17; 1Д; 2,19 1017 ibid. 1 1018 Thomas von Celano, Vita 1% 1,2; IIе, 1,2 1019 G. Hendrix ed., Primitive Versions of Thomas of Chantimpres Vita Lutgardis, Qteaux 29, 1978, 153-206 1020 Valerius v. Bierzo, Opusc. 20 ss, PL 87, 433 ss
Visionen als Korrektiva 207 Strecke entsprach jeweils dem irdischen, die zweite dem jenseitigen Leben. Der Jungling bekehrte sich ob dieses Traumgesichtes.1021 Es ist dieses beriihmte pythagoraische Symbol vom Scheideweg, das hier auftaucht, wie in so vielen mittelalterlichen Erzahlungen.1022 Die Auslegung lauft in alien Varianten darauf hinaus, dal? der Mensch fiir ein schones Erdenle- ben mit einer mehr als harten Bufie im Jenseits zu zahlen hat, wahrend der peinvolle Erdenweg mit der Aufnahme ins Himmelreich belohnt wird. Hier haben wir es mit der visionaren Vergegenwartigung dieses «bispels» zu tun, das ja oft genug Thema der Erbau- ungs- und Predigtliteratur war. Derselbe Caesarius hat noch eine andere Vision aufgezeichnet, durch die eine Reklusin vor dem namlichen Fehler, namlich der Veranderung des einmal eingeschlagenen Weges der Askese, bewahrt wurde. Dabei erfahren wir ein paar Details, die nicht nur fiir die Visionen, sondem fiir das religiose Leben der Epoche iiberhaupt von Interesse sind. Ein Madchen hatte es gegen den Widerstand der Eltern durchgesetzt, von jeder irdischen Ehe freizubleiben fiir den himmlischen Gemahl und sich in eine Zelle einschlief?en lassen. Nach wenigen Tagen der Einsamkeit schon war sie so sehr der «tristitia» verfallen - die vom Autor in Obereinstimmung mit der mittelalterlichen Moralphilosophie als teuflische Ein- gebung beschrieben wird -, dal? ihr der Grund ihres frei gewahlten Riickzuges aus der Welt nicht mehr verstandlich war und sie sogar an der Religion als solcher zweifelte! Dem visitierenden Abt gegeniiber (natiirlich ein Zisterzienser) versteigt sie sich zu solchen Fra- gen wie: «Quis scit, si Deus sit, si sint cum illo angeli, animae, vel regnum coelorum? Quis ista vidit? quis inde rediens visa nobis manifestavit? ... Nisi videam ista, non credam. Rogo ut sinas me exire, quia reclusionem hanc diutius sustinere non valeo.» Da auch der Abt den Ursprung dieser Verzweiflung kannte, bat er das Madchen, nur noch ein paar Tage Geduld zu haben, bis er wiederkehre. Als sie ihm dies zusagte, begab er sich in sein Kloster und liel? «orationes speciales» fiir sie beten. Die Bemiihungen der versammelten Monche hatten Erfolg. Als er nach einer Woche die Inklusin abermals besuchte, fand er sie vollig verandert und alien Unglaubens enthoben. Eine Himmelsvision hatte ihr namlich alle gewiinschte Gewifiheit geschenkt: «Pater, oculis meis vidi de quibus dubitavi... vidi sanctos angelos, vidi animas beatorum, vidi praemia beatorum.»1023 An diesem Text besta- tigen sich einmal zwei vorhin gemachte Feststellungen: im Spatmittelalter, an dessen Be- ginn wir hier zeitlich stehen, wird der Wunsch nach dem eigenen Schauen des IJbersinn- lichen starker als in vergangenen Epochen - man erinnert sich an die Parallelen auf anderen Gebieten in eben dieser Zeit, wie die Entwicklung des Sakramentshauschens, in dem das Allerheiligste dem Blick ausgesetzt wird usw. —, andererseits kann die Vision «herabgebetet» werden: gerade das ist der Erfolg der Andachten der Monche. Die Worte der Einsiedlerin aber, dieses betonte und wiederholte «videre», kann man als Wunsch nach einer solchen Vision auffassen. Ausdriicklich verlangt sie ja nach einem Zeugen, der in die andere Welt gekommen ist und zuriick auf Erden, um Kundschaft abzulegen - dies ist aber 1021 Caesarius v. Heisterbach, Dial. mir. 4,53, Strange, Dialogi 1,219 s 1022 Tubach, Index nr. 4113,4111; Wolfgang Harms, Homo viator in bivio (Medium Aerum 21), Munchen 1970 1023 Dial. mir. 4,39, Strange, Dialogi 1,206ss; cf. unten Anm. 1116b (Rosof)
208 Die Vision im Leben des Visionare genau der Vorgang einer Vision. Nach dieser gottlichen Bestatigung der Glaubenswahrhei- ten hatte sie keine Bedenken mehr, ihr Reklusentum weiter fortzusetzen. Fragt man, aus welcher Zeit die oben zitierten Visionen kommen, so sieht man, dal? es sich um solche des friihen bis hohen Mittelalters handelt, um Visionen, die alle die Charak- teristika des ersten Typs an sich haben, sieht man von der Christinas und den beiden letztgenannten ab, die zu der Ubergangsphase zwischen I und II gehoren. Daraus ergibt sich, da1? es die Visionen der ersten Gruppe sind, die auch ofters dadurch gekennzeichnet sind, dal? sie im Leben der Menschen, denen sie zuteil werden, eine tiefgehende Verande- rung bewirken. Gewifi gibt es auch viele Visionen dieses Typs, bei denen keine solchen Wechsel vermeldet sind; dabei ist aber zu bedenken, dal? gerade dieser Typus haufig relativ kurze Zeit vor dem Tod erlebt wird (u. a. Wetti, Orm, Gottschalk, der Rauber) oder oft nach der Vision nichts mehr von der weiteren Biographic des Sehers mitgeteilt wird (u. a. Barontus, Edmund, William, Sinuinus, Gunthelm). Es ist damit nicht gesagt, dal? eine dieser Visionen der ersten Phase nicht auch eine andere, namlich bekraftigende Wirkung haben konnte; so ist es zum Beispiel fiir Furseus. Doch scheint die Bestarkung im bisherigen Tun eher zu den Visionaren der spateren Gruppe zu gehoren. Fiir Frauen wie Elisabeth von Schonau, Gertrud die Grofie, Mechthild von Hackebom etc. brachte die erste Vision keine Lebensveranderung in dem Sinne, dal? sie von da an ihre Zukunft radikal anders gestaltet hatten, wie Tundal oder Drycthelm. Elisabeth war zur Zeit ihrer ersten visionaren «Heimsuchung» bereits zehn Jahre im Kloster, Gertrud schon zwanzig; Mechthild hatte dreiundvierzig in ihrem Konvent gelebt, ehe man daran ging, ihre Schauungen aufzuzeichnen. Unzweifelhaft haben ihre Begnadi- gungen auf korperliches und geistiges Sein dieser Visionarinnen tiefsten Eindruck gemacht — aber ihr Leben verlief genauso in den Bahnen monastischen Daseins, wie sie es schon langst vor der ersten iibersinnlichen Erfahrung geplant hatten. Im Leben dieser Charisma- tikerinnen hatte die Vision schon ihren festen Platz, sie wurde erwartet, begehrt, erbeten. Die grofie Zahl vieler kurzerer Schauungen hat sie im eingeschlagenen Weg intensivsten Lebens des Christentums bestarkt, wogegen die alteren Visionare durch die einmaiige, lange Offenbarung der jenseitigen Welt zu bisweilen radikaler Anderung ihrer Lebenswei- se bewogen wurden. Manchmal konnen wir diese verstarkende Funktion der Vision in der zweiten Gruppe nicht nur aus der vertrauensvollen Fortsetzung des eingeschlagenen Lebensweges erschlie- fien, sondem auch Hinweise in den Texten selbst finden. Hedwig von Lofenberch hatte eine Himmelsvision, in Anschlufi an die von ihr gesagt wird: «... illi ueritati illique etemi- tati, ad quam diuinitus ad horam assumpta fuerat, conformare se, in quantum potuit, nitebatur, agens profecto uitam sanctam deinceps et perfectam ...»1024 Das kann doch in diesem Zusammenhang nur heifien, dal? sie ihr Leben im Kloster noch weiter zu vervoll- kommnen, den bereits eingeschlagenen Lebensstil zu intensivieren suchte. Wir wissen von ihrem friiheren Leben nichts weiter, nur ihre Frommigkeit wird schon vor der Vision riihmend erwahnt. Keinen Hinweis gibt es, dal? dies etwa ihre Berufungsvision gewesen ware, vielmehr helfit es, dal? sie damals schon in den Orden eingetreten war. Deutlicher wird es bei einem der wenigen mannlichen Visionare aus dieser Phase, bei 1024 Katharina v. Gebwiler, Vitae 35, Ancelet, Unterlinden 440
Bestarkende Visionen 209 Heinrich Seuse. Die obenl0ZS schon zitierte Himmelsvision war offenbar sein erstes mysti- sches Erlebnis, sie widerfahrt ihm eindeutig nach dem «geswinden ker», der Annahme und Verinnerlichung des religiosen Lebens, das er nach aufienhin, dreizehnjahrig den Domini- kanern als Oblate ubergeben, schon fiirif Jahre dahingefiihrt hatte. Nachdem Seuse nach dieser Vision das gleiche Leben weiterlebt, konnen wir ihr keine andere Funktion, als eine der Bestarkung zuweisen, was auch fur seine anderen Visionen gilt. In seiner Selbstbiogra- phie sagt er von dieser Vision «disii stunde enmag von minem herzen niemer me komefi».1025 1026 Ganz klar sehen wir das schliefilich an Elsbeth Achler. Ihr Beichtvater schreibt von ihren Ekstasen: «Wan nu die vor genant jungfrowe wider zu ir selben kam ... do fing su glich wider an zu betrahten daz liden Cristi und mit groser begirde begerte su willenclich zu liden umb ewiges niesen ... Und also noch wenig tagen wart su aber verzucket.»1027 Es ist geradezu ein Zirkel: die visionare Begegnung bringt die Mystikerin dazu, sogleich wieder mit der Meditation uber die Passion zu beginnen, diese Meditation steigert sich ihrerseits wiederum zur nachsten Verziickung. Die Vision ist hier richtiggehend der Stimulus fur die Leidsehnsucht, die fur die hoch- und spatmittelalterlichen Heiligen, so sie einen Einschlag zum Mystischen zeigen, so typisch ist. Also wiederum: keine Umkehr, sondem Verstar- kung des bereits geiibten Bufilebens. Beschliefien wir diese Belegreihe mit Osanna von Mantua. Ihr erstes mystisches Erlebnis hatte sie bereits mit sechs Jahren. Damals erschien ihr der Gekreuzigte und beschenkte sie mit dem Gefiihl eingegossener Sufie. «Haud facile dictu est, in quantum Christi amorem puella exarserit...» sagt ihr Biograph dazu.1028 Hatte man nur diese Nachricht, so konnte man vermuten, daS dies AnlaS und Beginn ihres Gotteslebens gewesen ware. Aber nein, schon vordem, in diesem zarten Alter, war es ihr Brauch, sich in einsame Winkei des Hauses zuruckzuziehen und zu beten, «ob summum caelestium rerum ardorem, ob illam praesertim flagrantissimam caritatem qua Christum maximum summopere deperibat».1029 Die Christusminne in ihr wurde also durch jene Erscheinung keineswegs konstituiert, sie war viel eher die Ursache, dal? es tiberhaupt dazu kam. Zusammenfassend kann man also sagen, dal? den Visionaren der alteren Gruppe im allgemeinen nur eine einzige, oft aber langere Schauung zukommt, die unerwartet den Lauf ihres Lebens andem kann; denen der jungeren Gruppe werden mehrere, oft sehr viele, aber gewohnlich kiirzere Visionen zuteil, die nicht nur erwartet, sondem sogar erbeten werden, und die eher eine Bestarkung des schon eingeschlagenen Lebensweges bewirken. 1025 cf. oben S. 126 1026 Exemplar 1,12, Bihlmeyer, Seuse 11 1027 Vita 9, Bihlmeyer, Achler 104 s 1028 Franciscus Silvester, Vita 2,157, AASS Juni 3, 1701, 688F 1029 l.c.
VON DEN FUNKTIONEN DER VISION Der Einzelne und die Gemeinschaft als Empfanger der Offenbarung Jede Vision hat etwas von einer Theodizee an sich: die Guten werden im Jenseits belohnt, die Bosen bestraft, irdisches Leid (besonders freiwilliges) bekommt durch den Hinweis auf diese Vergeltung einen Sinn oder wird durch die Begegnung der Seele mit dem Seelenbrautigam vergolten. Dies gilt fiir den Einzelnen, dem die ekstatische Gotteserfah- rung zuteil wird, dies gilt fiir alle, denen der Bericht davon Kunde vom sonst unzugangli- chen Walten der Numina bringt. Fiir den Seher ist jede gottgesandte Vision primar eine personliche Auszeichnung, die Ubermittlung einer nur wenigen zuteil werdenden Gnade.1030 Das gilt auch fiir die schreck- lichen und wamenden Visionen, da durch sie genauso wie durch die verheifiungsvollen eine Lebenshilfe gegeben werden soli, indem der Herr ihn erleben lafit, was er bei einem siindhaften Erdenleben zu erwarten hat. Aber auch wenn eine Vision nur die Funktion hat, die Auftrage Gottes an andere Personen weiterzuvermitteln, wird der Seher dadurch zum Werkzeug des Himmels. Dal? die Vision als Charisma verstanden worden ist, beweisen schon die Formulierun- gen, mit denen uber sie gesprochen wurde. Als Gottschalk, von seiner Jenseitsreise zuriick- gekehrt, seinen Bericht beendet, sagt er: «Et hie visionis, quam michi gracia dominica videre concessit, ordo et finis est.»1031 Zum Schlul? einer der Visionen, die von Hendrik Mande uberliefert sind, heifit es von dem Charismatiker: «Hier mede quam die siel tot hoer selven, ende danckde onsen lieven Here van al dat sie ghesien ende ghehoert had- de.»1032 Auch eine wirklich grauenhafte Hollenvision rechnet zu den «divine gratie ... donate dallo supemo sposo», wie der Beichtvater der Francesca v. Rom es formuliert.1033 Auch der Schmerz nach dem Aufhoren einer Vision, bei der Konfrontation mit dem nunmehr weitergehenden Alltagsleben1034, oder die vielen unmittelbar nach der Vision einsetzenden Heilungen aus schwerer Krankheit1035 weisen darauf hin, dal? diese Erlebnisse 1030 Man rechnete auch mit vom Teufel eingegebenen Gesichten, die jedoch in der eigentlichen Visionsliteratur (anders als bei den Erscheinungen) keine Rolle spielen, obwohl manche Religiosen, wie die hi. Birgitta, dauernd in Furcht davor sind, cf. Benz, Ffihrung 139 ss. Auch teuflische Traum- tauschungen sind etwa in der mittelhochdeutschen Dichtung unbekannt, Speckenbach, Traum 177, cf. jedoch Schmitz, Traum 29; Haubrichs, Offenbarung 246 1031 Vis. В 23,2, Assmann, Godeschalcus 192 1032 Mertens, Mande 206 1033 Pelaez, Visiorn 371 1034 bes. eindrucksvoll Hadewijch am Ende der 5., 6., 8. und 10. Vision 1035 z. B. Alberich, Heinrich v. Ahorn, Orm, Edmund v. Eynsham, Elisabeth v. Schonau (Lib. vis. 2,9), Mechthild v. Hackebom (Lib. spec. grat. 2,3 s) usw. Benz, Vision 15 ss betont diesen Aspekt sehr stark
Personliche О ffenbarungen 211 als Gnadengaben empfunden wurden. Im spateren Mittelalter hat man sie ja geradezu herabgebetet.1036 Man wurde nach alien oben gemachten Distinktionen zwischen den beiden Visionsty- pen vielleicht erwarten, dal? Schauungen, die ohne direkten allgemeinen Bezug (theoretisch auf die gesamte Christenheit) sind und die ein begnadetes Individuum alleine betreffen, auf die spatmittelalterlichen Visionare bzw. den Тур II beschrankt seien. Tatsachlich lassen sich aber auch fur die Gruppe I geniigend Beispiele finden, die die allgemeine Geltung dieser Funktion der Visionen zeigen. Jene Nonne im Heiligenkreuzkloster in Poitiers, eine Zeitgenossin Gregors v. Tours, die sich auf Grund ihrer Schauungen einmauem liel?, hatte ein solches, ausschliefilich fur sie bedeutsames Gesicht gehabt. Sie wurde darin zur Quelle des Lebenswassers geftihrt, durfte davpn trinken, und wurde von ihrer Abtissin in konigliche Kleidung gehullt, die ihr Seelen- brautigam gesandt hatte. Gregor1037 interpretiert dieses Erlebnis nicht, er zieht auch daraus keinen homiletischen Nutzen. Auch wird nicht gesagt, dal? ihr Leben besonders tugendhaft gewesen ware, oder dal? die anderen Nonnen sie sich seitdem zum Vorbild genommen hatten. Man kann nur vermuten, dal? diese Schwester sich selbst die Moglichkeit nehmen wollte, zu siindigen und sich so der Teilhabe an dem Geschauten im Leben nach dem Tode zu berauben. Auch der Westgote Maximus, um noch ein Beispiel aus dem friihen Mittelalter zu zitieren, darf in einer ahnlichen Vision vom Wasser des Paradieses trinken, dann mul? er einen Einblick in den Hollenschlund tun und wird vor die Wahl zwischen den zwei Platzen gestellt. Als er sich, natiirlich, fur ersteren entschieden hat, sagt der Engel: «Bene. Vadens modo revertere in domum tuam, et si bene egeris,... in isto amoenitatis loco... permane- bis usque in aeternum. Si autem nequiter egeris ... statim in hujus pessimi inferni perpetuo praecipitaberis interitum.»1038 Ganz klar sind hier die Lohnverheifiung und die Strafdro- hung dem einen Individuum gegenuber als Verhaltensmotivationen fur sein Erdenleben vorgesetzt. Erst durch die Aufzeichnung dieses Erlebnisses und durch die ausdruckliche Verwendung zur Illustrierung der Lehre von der jenseitigen Vergeltung1039 konnte es zu einem, alien Horern zu denken gebenden paranetischen Exempel werden, konnte aus diesem einem Monch quasi ein Jedermonch werden und aus seiner ihm ganz personlich zugedachten Vision vielleicht ein Verhaltensagens auch fur andere. In der Schauung selbst angelegt ist dies jedoch noch nicht. Ohne jede «soziale» Relevanz ist auch die «Uisio Leofrici» aus dem 11. Jahrhundert. Der Earl von Mercia wird dort tiber die Jenseitsbriicke zum hi. Paulus gebracht, nur um zu erfahren, dal? er in den himmlischen Bereich eingehen werde, da er durch seine Bufie neu getauft worden sei. Ausschliefilich um Leofrics Schicksal dreht sich dieses «gesihde» im Halbschlaf.1040 Freilich hat man bei den Sehem der II. Gruppe generell starker den Eindruck, die ihnen 1036 cf. oben S. 188 ss 1037 Hist. Franc. 6, 29, cf. oben S. 203 s 1038 Valerius v. Bierzo, Dicta 17 ss, PL 87, 433A 1039 ibid., ed. cit. 43 IB 1040 Napier, Leofric 182
212 Funktionen der Vision zuteil werdende Schauung sei ein ganz personlicher Gnadenerweis des Himmelsbrauti- gams. Dies ist einerseits bedingt durch das haufige Erlebnis einer Begegnung mit dem Erloser selbst, die, wie oben beschrieben, sehr intime Formen annehmen kann1041, anderer- seits durch die geringe paranetische Verwertbarkeit dieser Visionen. Sie haben viel ofter den Charakter von Belohnungen fur ein intensives religioses Leben, als den von Wamun- gen und Bestrafungen. Die Schau der Jenseitslandschaften mit ihren Freuden und Qualen ermoglichte es leichter, einen Bezug zur Allgemeinheit herzustellen, da ja jeder Mensch an einen dieser Orte kommen mufite. Dies entsprach auch dem Dogma; dafi aber jeder Mensch Jesum als sufien Stein, nach himmlischen Wurzen schmeckend und mit ewigem Licht erfiillt, schauen werde (wie Mechthild v. Magdeburg dies tat1042), ware wohl viel schwieriger zu behaupten gewesen. Wir haben nattirlich genug direkte Zeugnisse fiir ein so rein personliches visionares Erleben auch in dieser Gruppe. Recht anschaulich sind die Formulierungen, die von Ivettas Biographen gefunden wurden. Er, der sein Wissen daruber aus dem Mund der Ekstatike- rin, seiner Verwandten, bezog, schreibt zur Zeichnung ihrer visionaren Beziehungen zu Jesus und Maria: «rapiebatur sancta Dei famula frequenter in spiritu, & de torrente voluptatis amborum bibebat, & inebriabatur ... Nunc matris, nunc filij fruebatur prae- sentia, aspectu, & alloquiis, nunc in pectore recumbebat Jesu, nunc Mariae iocundabatur amplexu. .. »1043 In diesem Erlebnis kommt Ivetta also vom Schauen («aspectus») zum Beriihren und vom Beriihren wohl zur mystischen Vereinigung. Dafi Visionen jenes II.Typs des ofteren mit der «unio» enden1044, was bei denen der ersten Phase nie der Fall ist, weist ja wieder auf die personlichere Art hin, in der sie erlebt werden. Diese kommt auch schon in Heinrich Seuses Fastnachtsvision zum Ausdruck: er fuhlt sich in eine Krankenstube versetzt, wo er dem wunderschonen Lied eines Schulerleins lauscht. «du solt wussen», wird er belehrt, «daz dise wolsingender knabe dir singet, und daz er dich meinet». Es ist Jesus, der ihm auch ein Korbchen voll Erdbeeren bringt. Von ihm sagt der Engel zu Seuse, «er hat dich furbaz gemeinet und geeret denn vil ander menschen».1045 Diese «gute vasnaht» ist ein Erlebnis, das dem Mystiker ganz allein zu- kommt, seine personliche Beziehung zum Sohn Gottes ausdrtickt und frei ist von fur die Allgemeinheit bestimmten religios-didaktischen Inhalten. Manche dieser Schauungen mufi man als sehr individuelle Wunscherfiillungen betrach- ten. Maria selbst, so iiberliefert es die Vita der Reklusin von Markyate, hat einem ihrer Engel aufgetragen: «Interroga Christinam quid querit, quia dabo illi quod pecierit.» Sie aber wunscht sich, die Zelle eines ihr nahestehenden Einsiedlers zu sehen. Und sogleich «uno [intui]tu vidit immensum mundum. At [ante] omnia cellam Rogeri.. ,».1046 Hier ist freilich kein besonderer Unterschied mehr zu gewohnlichen Traumerlebnissen, die die 1041 cf. oben S. 146 ss. 1042 vliessendes lieht 4,3 1043 Hugo v. Floreffe, Vita 22,66, AASS Jan. 1, 1963, 876 1044 cf. Dinzelbacher, Ida 181, 190 s ims Exemplar 1,11, Bihlmeyer, Seuse 31 s 1046 Talbot, Christina 110
Appell an den Einzelnen und die Gemeinschaft 213 gleiche Funktion erfiillen.1047 Als solch ein personliches visionares Thema, das sich durch das ganze Mittelalter hindurchzieht, kann die Himmelsschau vor dem Tode genannt wer- den. Sie hat ihr grofies Vorbild in der Apostelgeschichte 7,55ss, wo der Erzmartyrer Stephanus vor seiner Steinigung die Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes schaut. Ahnliches berichten viele Heiligenlegenden.1048 Gerne wird das Motiv zu einem richtigen Besuch der Statte, die fiir den Gerechten vorausbesdmmt ist, erweitert, wobei der Visionar den ihm dort vorbehaltenen Sitz1049 schauen darf. Es ist so, wie der Autor des Traktates iiber das «Purgatorium S. Patricii» am Beginn sagt, manche Seelen erfahren «multa de hiis, que ventura sunt super eas .. . per revelationes».1050 Leicht konnte man nun mit vielen Texten eine ganze Skala von Abstufungen darstellen, die von den eben besprochenen rein personiichen Schauungen iiber die Visionen, die zu verschiedenen Anteilen sowohl auf das Individuum als auch an seine Mitmenschen gerich- tet sind, bis zu denjenigen reichten, die nur zur Mitteilung des gottlichen Willens dienen, ohne dafi der «Empfanger» eine besondere Rolle spielen wiirde. Sicherlich die Mehrzahl aller Visionen, ganz besonders die der ersten Gruppe, erfiillen beide Funktionen, sowohl die der personiichen Ansprache, als auch die einer fiir alle giiltigen Botschaft. Die theologi- sche Dichtomie in mystische (personliche) und prophetische (allgemein belehrende) Ge- sichte1051 vereinfacht viel zu sehr. Es genugt, an Tundal oder Owen zu erinnern, die ja die Qualen der Unterwelt selbst erleiden miissen, wodurch sie ihre ganz personiichen Siinden abbiifien, deren Schauungen aber gleichzeitig detailliert offenbarten, was jeder Oberhebli- che, Dieb, Morder ... erleiden, was jeder Verteidiger der Kirche, Keusche, Martyrer ... als Belohnung empfangen werde. Nicht zufallig sind gerade diese beiden Texte die am haufigsten abgeschriebenen und iibersetzten gewesen, und wurde von ihnen auch in der Predigt Gebrauch gemacht. Ausdriicklich bezeichnet die Uberschrift einer Tundalus-Vi¬ sion diese als «Visio cujusdam militis ... ad edificationem nostram scripta».1052 Fiir die zweite Gruppe verdeutlichen vielleicht Juliana von Norwichs eigene Darstellun- gen dieses Nebeneinander von personlicher und allgemeiner Bedeutung am besten. Sie spricht davon, wie ihr von Gott die verschiedenen Grade von Seligkeiten im Jenseits gezeigt werden, wie sie selbst von Freude, Geborgenheit und Ruhe erfiillt wird, wie diese Gefiihle aber wieder abwechseln mit solchen seelischen Kummers und Leids. Doch unmit- 1047 Nach Freud ist die Wunscherfiillung eine Hauptaufgabe des Traumes 1048 z. B. die des Attala (f 627) oder des Wulsin (f 983) 1049 z. B. Tubach, Index Nr. 4215; Vita S. Thaisis, PL 73, 661 s; Jakob v. Vitry, Vita B. Mariae Oign. 2, 12,107, AASS Juni 4, 1707, 665C; cf. Acta S. Eberhardi Salisb. 3, 18, AASS Juni 4, 1707, 265E; cf. Willem Comelis van Unnik, Die «geoffneten Himmel» in der Offenbarungsvision des Apokryphons des Johannes, Zs. fiir Neutestamentliche Wissenschaft, Beiheft 30, 1964, 268-280. Haufig sieht der Visionar auch die Ruhestatten anderer im Himmel, z. B. Vita Gerardescae 176,55; Gertrud, Leg. div. piet, 5,6; Klapper, Erzahlungen nr. 135 u.s.w. Umgekehrt zeigt sich so auch der den Bosen in der Holle vorausbestimmte Platz, z. B. Beda, Hist. eccl. 5,14; D* Ancona, scritti 762 u.s.w. 1050 Prol., Jenkins, Espurgatoire 10 s, unter Bezugnahme auf die Visionen in den «Dialogi» Gre¬ gors d. Gr. 1051 cf. oben S. 84 1052 Albrecht Wagner, Zur Tundalus vision, Anglia 20, 1898, 452-462, 453
214 Funktionen der Vision telbar nach dieser Schilderung ihrer innersten Emodonen in der Folge ihrer Schauung fahrt sie fort, daS ihr diese zur Belehrung geschenkt worden sei, dafi es fiir alle Menschen notwendig zu wissen sei, wie der Herr Leid und Freude nach seinem Gefallen zuteile und beides aus Liebe. Juliana geht hier vom Singular zum Plural iiber, spricht vom Menschen iiberhaupt, wechselt von der Selbsterlebensbeschreibung zur Homilie.1053 1054Am anderen Ende jener Skala stehen dann also jene visionaren Erfahrungen, in deren der Seher blofies Vehikel der Offenbarung ist, ohne dafi eine Beeinflussung seines Lebens erfolgen soil. So die Vision jenes armen Weibleins aus dem Gau Laon, das gegen seinen Willen gezwungen wird, Ludwig d. Frommen vom Schicksal seines Vaters und seiner Gattin im Fegfeuer zu berichten, damit er fiir beide Messen lesen lasse; so die Wamungen, die ebenfalls Ludwig d. Fromme vom englischen Konig auf diplomatischem Weg zuge- schickt bekam, und die einem ungenannten Priester in einer die gesamte siindige Christen- heit betreffenden Vision zuteil geworden waren. Im 12. Jahrhundert manche der Offen- barungen, die aus der sensiblen Elisabeth von Schonau herausgefragt wurden, wie jene Vision von einer Heiligen, deren Gebeine man zwar aufbewahrte, doch ohne ihren Namen zu kennen, sodafi die Ekstatikerin als iibersinnliche Auskunftei fungieren mufite1034 oder die Schauung, die rund 50 Jahre spater der Vertraute des Abtes Adam von Kendal auf seinen Auftrag hin haben mufite. Wenn in der Gruppe II solche rein ubermittelnde Offenbarun- gen vorkommen, so sind sie eher in Form prophetischer Bilder und Szenen gegeben (wie z. B. bei Robert v. Uzes), weniger als Jenseitsvisionen. Doch mufi etwa auch Flothilde, die, obwohl im 10. Jahrhundert lebend, doch mehr eine Visionarin des zweiten Typs ist, solche Botengange auf Grund von visionaren Anweisungen hin tun1055 oder Birgitta Birgerstochter dem schwedischen Konig die Mahnung zum Kreuzzug gegen die Russen uberbringen.1056 Die die Vision charakterisierende Funktion ist die einer Offenbarung vordem unbe- kannter Inhalte an den Seher, die er entweder fiir sich behalten mufi1057 oder die er (oft unter Strafe) bekannt machen mufi.1058 Immer wiederkehrende Inhalte sind, generell ge- sprochen, Tadel, Wamungen, Lob und Verheifiungen. Sie richten sich an einen einzelnen, an eine Gruppe, oder, seltener, an alle Christen. So hat etwa ein Konverse des Klosters Melrose eine fiirchterliche Foltervision, in der einer seiner Mitbriider, Sinuinus, wegen verschiedener Stinden geschunden wird, die den Seher selbst aber nicht betrifft. Als Sinuinus nach der Wahrheit der ihm in diesem Gesicht vorgeworfenen Vergehen befragt wird, bekennt er und bereut. Gleichzeitig hatte er nam- lich am eigenen Korper die von jenem geschauten Martem erfahren. Die Aufgabe dieses Gesichtes also war es, das tadelnswerte Leben eines Monches einem anderen und damit der ganzen Gemeinschaft zu offenbaren. Erst sekundar, indem namlich der Abt dieses 1053 Revelation 9 1054 Ph. Schmitz ed.* «Visions» inedites de Sainte Elisabeth de Schonau, Rev. Benedictine 47, 1935, 181-183 1055 Duchesne, SS 2, 625A 1056 Revel. 8, 47 1057 z. B. Alberich das, was er im irdischen Paradies (?) schaute, Visio 41 1058 so die «paupercula»
Wamung und Lob 215 Klosters die Vision aufzeichnet und an andere Pralaten verschicken lafit, wird sie von einer ganz speziell auf ein Individuum gerichteten Mafiregelung zu einem «cunctis ad salutis exemplum, omnibus ad eteme uite profectum»1059 dienenden Lehrstiick. Wenn dagegen Alberich in der mysteriosen Kirche des heiligen Pandidus einen Kruzifixus vorfindet, der «cotidie plangit et lacrimatur peccata hominum ... quia iniquitates hominum increverunt vehementer»1060, so ist dies eine auf durchaus alle Glaubigen jedes Standee zu beziehende Kritik. Die Offenbarung einer Wamung, verbunden mit der Aufforderung zur Bufie und Besse- rung, ist der Zweck der meisten Jenseitsvisionen der ersten Gruppe. In der zweiten kom- men sie weniger vor, da diese sich ja seltener mit Fegfeuer und Holle beschaftigt.1061 Haufig ist diese Wamung an ganz bestimmte, namentlich genannte Personen gerichtet. So erfahrt jener ungenannte Monch, dessen Vision von 1012 Hugo von Flavigny iiberliefert hat1062, welche Qualen fur den Grafen Balduin vorbereitet werden. Sogleich bittet er den ihn geleitenden Engel, auf die Erde zuriickkehren zu durfen, um den Grafen zur Reue bewegen zu konnen, worauf jener aber keine Hoffnung mehr setzt. Ob diese sehr intensive Bot- schaft Balduin erreicht (und beeindruckt) hat, wissen wir nicht. «An alle» richtet sich dagegen die Wamung in der Vision Laisrens. Im Hollenschlund erscheinen ihm die Seelen aller, die Gottes Zom auf sich gezogen haben. Der Heilige soli ihnen (es sind so ziemlich alle Bewohner der Insel Irland) Bufie predigen, «for whoever shall make repentance and end in it shall not be in this place, but will be in a place of comfort.. .».1063 Die Mitteilung dieser Schauung ist offenbar der erste Schritt zur Verwirk- lichung des himmlischen Auftrages. Den Strafandrohungen gegeniiber stehen visionare Belobigungen und Verheifiung. Als allerdings schon zum Extremen neigendes «personliches» Beispiel ware hier die Laudatio zu nennen, die eine apokalyptische Stimme auf Hadewijch halt, als sie das Himmlische Jemsalem als Bild ihres eigenen Gewissens erblickt. Nicht nur, dafi sie dort, offenbar vom Erloser, als «Braut» und «Mutter» apostrophiert wird, sondem es werden ihr auch vollkommene Minne, Freiheit von irdischem Gift und Siegeskraft nachge- riihmt.1064 Vor allem ihre 14. und letzte Vision endet mit den apothesierenden Donnerwor- ten des Thronenden, der sie als «Starkste aller Streiterinnen» anredet, und ihr sagt «soe heeti coinste ende soe eest recht dattu mi te vollen kins».1065 Weil sie die «Kiihnste» ist, ist es recht, dafi sie Gott vollstandig (!) erkenne. In dieser Starke findet sich das Bewufitsein der Auserwahlung bei anderen mittelalterlichen Visionaren kaum wieder. Aber die im Prinzip gleiche Funktion erfiillen solche Schauungen, die das gottgefallige Erdenwallen einer bestimmten Gemeinschaft bekraftigen. Ein klares Bild zeichnet hier der englische Ritter Boso. Alle Monche der Abtei von Durham, «nusquam declinantes» (mit 1059 Farmer, letter 96 1060 Vis. Alberici 44, Inguanez, Cod. 101 1061 cf. oben S. 118ss 1062 Chron. 2, MG SS 8, 389 1063 Vis. 7, Meyer, Stories 118 1064 Vis. 10- 1065 Vercoullie, Werken 2, 180
216 Funktionen der Vision nur zwei Ausnahmen, die jedoch blofi «aliquantulum» abweichen) marschieren in ge- schlossener Prozession feierlich auf eine unuberwindlich scheinende Mauer zu und werden sogleich in das dahinterliegende Paradies versetzt.10*6 Man versteht, dafi diese Vision in einer Geschichte der Kirche von Durham uberliefert ist. In ihr manifestieren sich Lob fiir das bisherige Leben der dortigen Benediktiner und zugleich Verheifiung fur ihr zukiinf- tiges. Haufiger denn fur eine Gemeinschaft sind solche visionare Verheifiungen, die fiir einen bestimmten Menschen gelten. Zahllos sind Falle, in denen der Aufstieg der Seele einer heiligmafiigen (oder aus dem Fegfeuer erlosten) Person in den Himmel geschaut wird, und zwar in ersterem Falle regelmafiig im Augenblick des Todes.1066 1067 Dies gibt den Lebenden Kunde von deren jenseitigen «status», doch handelt es sich dabei meist um Erscheinungen. Beispiel fiir eine in Ekstase erfahrene Verheifiung der himmlischen Belohnung ist etwa die erste Vision des Furseus. Er wird von drei Engeln zum Himmel getragen, die jedoch bald wieder den Befehl erhalten, ihn zu seinem Korper zuriickzubringen. Als Furseus versucht, Einspruch zu erheben, erreicht er doch, dafi die Engel ihm versprechen, ihn nach einer Zeit weiterer irdischer Sorge wiederum abzuholen. Dann singen sie das seine zukiinftige «visio beatifica» (die Anschauung Gottes in der Ewigkeit) verheifiende «Videbitur Deus deorum in Syon».10*8 Solche Heilsgewifiheit wird auch Charismatikem der Spatzeit zuteil, wenn ihnen der Herr gleich das Angebot macht, bei ihm im Himmel zu bleiben, wie Christina Mirabilis1069 bzw. sie zu sich zu holen, wie Hadewijch.1070 Noch eine Vielfalt weiterer Funktionen der Vision, oft in Verbindung mit den vorge- nannten, Hefie sich aufzeigen. Die Vision als Vehikel der Befehlsiibermittlung, (wie die von Rahere geschaute, der vom hi. Bartholomaus angewiesen wird, eine Kirche in London zu errichten, wahrenddem er selbst vorgehabt hatte, ein Hospital zu stiften), die Vision als Mittel der Problemlosung (wie Ida von Nijvels Briickenvision, die sie lehrt, ihre iibermafii- ge Sorge fur eine siindhafte Frau zu lassen, da diese sie aus Eigenwillen nicht verdiente), die Vision als personliche Trostung (wie der Herr Gertrud die Grofie auf den Schofi nimmt und liebkost und mit goldenen Blumen schmiickt, als sie eine ihr teuere Person gekrankt hat1071 usw. Dazu kommt, dafi die Vision sich als Trager politischer Intentionen eignet, was zur Entstehung von Falsifikaten gefuhrt hat1072, dafi man durch sie Sozialkritik, Kirchenkri- tik, Personenkritik betreiben konnte, wenn man die Jenseitsstrafen ausmalte, die die Ober- schicht aufgrund ihres Verhaltens gegeniiber den Schwachen erwarteten (z. B. Anonymus von 1331), wenn man die Schau von der eschatologischen Verurteilung eines Papstes verbreitete (Kardinal iiber Innozenz IV.), wenn man einen machtigen Konig auf gliihen- dem Rofi durch die Unterwelt reiten Неб (Edmund von Eynsham).1073 Das konnte manch- 1066 Simon v. Durham, Hist. Dun. eccl. 4, 9, RS 75/1, 130 s 1067 z.B. Gertrud, Leg. div. piet. 5,6; cf. Saintyves, Marge 36s 1068 Vita 4 s, Heist, Vitae 39, nach Ps. 83,8 1069 Thomas v. Chantimpre, Vita 1,7 1070 Vis. 13 1071 Leg. div. piet. 3, 63 1072 cf. oben S. 58 ss 1073 Visio 42
pro-domo »-Visionen 217 mal in regelrechte Rachephantasien ausufern. Als die Normannen nach der Schlacht von Hastings Richtung Durham zogen, flohen die dortigen anglosachsischen Kleriker nach der Insel Lindisfame. Dabei wurden sie von einem Adeligen behindert und gebrandschatzt, den einer von ihnen, Eaman, bald in einer Vision in einem tiefen Tal von einer Sichel durchbohrt und vor ununterbrochenem Schmerz heulend erblickte. So hatte sich der Kir- chenpatron, der heilige Cuthbert, geracht. Einen krassen Fall berichtet Gregor von Cati- no1074 von einem Abt, der so unbeliebt war, dal? er mehrfach in Traumvisionen beim kannibalischen Verzehren eines Kindes geschaut wurde.1075 Umgekehrt konnte sich ein Charismatiker auch sehr deutlich fiir einen Fiirsten einsetzen, indem er Gottes Schutz fiir ihn in der Entraffung erbat: so Osanna v. Mantua fiir den Markgrafen Gonzaga.1076 Diese Funktionen kommen den Erscheinungen iibrigens in gleichem Mai? zu.1077 Auch theologische Themen konnten visionar umstritten sein: so die unbefleckte Emp- fangnis Mariens. Da er nicht daran geglaubt, soil sogar der hi. Bernhard einem Monch seines Klosters mit einem Flecken auf der Brust erschienen sein, und auf die hierin wider- spriichlichen Offenbarungen der hi. Katharina und der hi. Birgitta beriefen sich einerseits die skeptischen Dominikaner, andererseits die glaubigen Franziskaner.1078 «pro-domo»-Visionen Es hat auch immer wieder Visionare gegeben, deren Schauungen ganz oder teilweise die Funktion eines Selbstlobes der Gruppe, zu der sie gehorten, erfullten (sehr selten dagegen der eigenen Person). Es gibt keine Methode, hier bewufit erfundene Texte von den visiona- ren Reflexionen eines so erlebten Sendungs- und Auserwahlungsbewufitseins zu scheiden. Besonders in klosterlichen Gemeinschaften scheint man fur solche «pro-domo»-Visionen anfallig gewesen zu sein, auch auf Kosten anderer Zonobiten. Es mufi aber sogleich einschrankend vorausgeschickt werden, dal? viele wahrhaft demiitige Charismatiker weder sich noch ihr Kloster durch ihre Visionen erhoht sehen wollten. So bedarf es mehrmaliger Offenbarungen, bis Gertrud erkennt, dal? eine Verheimlichung ihrer Gnadengaben nicht Gottes Wunsch entspricht.1079 Auch die Oberen ihres Klosters Helfta teilen ihre Beschei- denheit: sie untersagen Mechthild von Hackeborn die Verbreitung ihrer mystischen Erleb- nisse, weil sie dann einen zu grofien Volksauflauf zu befiirchten batten.1080 Nicht tiberall also wunschte man aus der Popularitat des hauseigenen Visionars Kapital zu schlagen, 1074 Hist. Farfenses 13, MG SS 11, 564 1075 Dafi es nur personlicher Hafi ist, der sich in manchen ahnlichen Gesichten niederschlug, die deshalb nicht emst zu nehmen seien, erkannte man auch gelegentlich im Mittelalter; cf. Cas. monast. Petrishusensis 3, 19, Mone, Quellensammlung 1, 144 1076 Franciscus Silvester, Vita 2, 2, 75 1077 cf. das Material bei Le Loyer, Discours 617 ss 1078 Macculloch, Faith 104. Bernhards tatsachliche Einstellung ist in der Forschung iibrigens kontrovers, cf. Lexikon der Marienkunde 1,712 s 1079 Leg. div. piet. 3, 1 1080 уь spec. gj.at 5^ 18
218 Funktionen der Vision nicht iiberall setzte man sich wenigstens zu Lebzeiten so fur sein Bekanntwerden ein, wie dies Abt Ekbert von Schonau fur seine Schwester Elisabeth tat. Doch betrachten wir nun einige solcher «pro-domo»-Visionen anhand nur eines Textes aus der Klosterliteratur, dem «Magnum Exordium Cisterciense» des Konrad von Eber- bach.1081 In diesem Orden mehr als in anderen war ein (nicht immer nur homiletisches) Interesse an Wunder- und Visionsberichten lebendig. Zweierlei Moglichkeiten und Funk¬ tionen der «pro-domo»-Visionen lassen sich besonders gut an der genannten Sammlung zeigen: ihre Funktion kann die Selbstfeier einer Gruppe, hier einer monastischen «familia» sein, und man kann mittels dieses Phanomens sehr zielgerichtet Propaganda treiben. Die Voraussetzung fur die Selbstfeier ist schon damit gegeben, dafi man dieses von einem Zisterzienser fur Zisterzienser verfafite Buch fur die gemeinsamen Lesungen im Kapitelsaal oder Refektorium verwendete.1082 Um die sehr hohe Selbsteinschatzung des jungen Ordens zu zeigen, geniigt es, die Worte im Original anzufiihren, die der heilige Bernhard selbst (laut Herbert von Sassari und dem ihm hier folgenden Konrad von Eberbach) anlafilich einer Vision geaufiert hat. Ob wahr oder apokryph, das war es jedenfalls, was die Briider liber sich selbst zu horen bekamen: Ein besonders heiligmafiig lebender Frater war zu Clairvaux verstorben. In einem anderen Zisterzienserkloster, weit entfemt, hatte ein eben- falls sehr frommer Sterbender die Vision, dafi er schon an den Paradiesespforten alle Heiligen mit machtiger, geradezu kaiserlicher «deliciarum praeparatio» sich zum Empfang jenes Clairvaux’er riisten sahe. Als mran Bernhard diese Schauung (iibrigens mit einigen echt klingenden Einzelheiten wie Dauer der Ekstase, Katalepsie mit verminderter Atemta- tigkeit, Details der himmlischen Zuriistung) hinterbrachte, meinte er, ohne iibertriebene «humilitas» zu zeigen: «Et vos, fratres, ista miramini? Ego vero magis admiror in vobis incredulitatem et duritiam cordis ... Mihi siquidem luce clarius et vita, qua vivo, certius constat omnes, qui in ordinis huius puritate obedientes et humiles perseveraverint, mox ut carnem exuerint, ab omni miseria protinus exuendos et immortalitatis gloria vestiendos.» Kann man sich dann iiber die Reaktion der Briider wundem? «Audientes vero fratres ab ore tanti patris testimonium tale de puritate ordinis vehementer confortati sunt.. .»1083 Eine ungeheure Heilsgewifiheit spricht aus Bernhards Worten, die so weit geht, dafi er fur die braven Zisterzienser auch nur die Moglichkeit einer Fegfeuerpein explizit ausschliefit! Man vergleiche damit, fur welche winzigen Unkorrektheiten Monche etwa in der Vision Edmunds von Eynsham wie gequalt werden!1084 Fur das Selbstverstandnis des Zisterzien- sers gilt dagegen: «religio noster pro peccatis nostris est satisfaction1085 * Und wie schatzt Abt Robert selbst seinen Orden ein? Im «sopor Domini» sieht er, wie Engel im Chor der Kirche von Clairvaux Blumen verstreuen ... (2,23). Viele der Visionen, die Konrad (bzw. Herbert) aufgezeichnet hat, haben weniger eine 1081 ed. Griesser, Exordium; Konrad baut weitgehend auf Herbert v. Sassari, Libri mirac. (PL 185, 1271 ss) auf 1082 ed. cit. 6 1083 4, 20, ed. cit. 248 1084 Vis. 32, cf. 48 u. 6. 1085 Caesarius v. Heisterbach, Dial. mir. 4,1, Strange, Dialogus 1,173; die Begrundung dafiir Iiegt im Ertragen der Versuchungen
Visionare Zisterzienserlegenden 219 selbstbestatigende als eine propagandistische Funktion. Dabei wird das Anerkennen des Zisterzienserordens und das Leben in ihm visionar belohnt, das Schwanken oder gar der Abfall visionar bestraft. Wenn man dem Orden treulich angehorte, dann hatte man die Chance, beim Sterben vom heiligen Benedikt selbst gesegnet zu werden (3,17) oder von der allerheiligsten Jungfrau selbst mit Siifiigkeiten beschenkt zu werden (3,21). Aber die (Jber- welt greift auch beim noch nicht Konvertierten im Sinne des Ordens ein: einem Kranken wird durch eine Stimme vom Himmel Heilung versprochen, wenn er nach Clairvaux kame (4,6). So geartet sind die Belohnungen fur die Ordensangehorigen. Aber die Autoren haben auch die Bedrohungen keineswegs verschwiegen, die bei Mifiachtung der weifien Kutte zu erwarten sind. Schon die Uberschrift eines Kapitels macht dies deutlich: «Quanti periculi sit professum Cisterciensis ordinis ad alium ordinem declinare.» Das illustrieren Revelatio- nen.1086 Handgreiflich im wortlichen Sinn wird dies in einer nachtlichen Vision, in der die Ordenspatrone Malachias und Bernhard durch das Dormitorium schreiten und die Schla- fenden segnen. Da gab es freilich auch einen Bruder, der bei sich «apostare a Deo et pactum cum inferno facere, id est ad saeculum redire disponeret» (Bernhards Formulie- rung). Der Heilige heilte ihn wirksam: er verprtigelte ihn so lange, bis er, aus der Vision erwacht, ins Infirmitorium gebracht werden mufite und nun schon korperlich nicht mehr in der Lage war zu fliehen. Nicht unverstandlich, dafi es ktinftighin die Bemiihungen dieses Mannes waren, «cum timore et tremore cooperari».1087 Diese brutale Stabilisierung des Systems reicht bis zur (visionaren) Erpressung. In einer Traumvision befindet sich ein Mann in einem Brunnen («puteus» ist auch der iibliche Ausdruck fur Hollenschlund!), da erscheinen der Evangelist Johannes und Heilige aus Clairvaux. Sie sind natiirlich bereit, dem Ungliicklichen zu helfen - doch nur unter der Bedingung, dafi er in Clairvaux die Tonsur nimmt (3,18). Das geht fast bis zu einer Art Sippenhaftung: ein anderer Mann wird, wahrend sein Leib in scheintotem Zustand verharrt, vor das jenseitige Gericht gebracht und gewogen.1088 Als er fiir zu leicht befunden wird, interzedieren einige Heilige und erlangen die Erlaubnis fiir ihn, wieder zur Bufie auf die Erde zuriickkehren zu diirfen. Dafiir aber mufi sich seine Gemahlin verpflichten, den Schleier zu nehmen. Da sie dieses «Ersatzopfer» bringt, kann er diesmal eines endgiiltigen Todes sterben (4,33). Solche Visionen haben also auch regelmafiig ihren Effekt gehabt. Man mufi sich freilich die Formulierungen anhoren, mit denen davon Bericht gegeben wird. Ein Regularkanoni- ker war im Verlangen nach heiligmafiigerem Leben Zisterzienser geworden, aber bald schienen ihm die dortigen Brauche zu hart. Eine Weltgerichtsvision brachte ihn auf den rechten Weg zuriick, schaute er doch «praeclarum quendam ordinem ... seperatim ab illis consistere ... Cumque sacer ille conventus de statione sua moveret. .. ceteri ordines cum summa reverentia venientibus cedentes et per sese transeuntibus inclinantes praerogativae felicitatis eorum congratulari quodammodo videbantur ... ilia iustorum congretatio, quae tarn speciali praerogativa prae ceteris ordinibus a Domino meruit honorari... esset ordo Cisterciensis ...». Aus der Vision erwacht, fragt er sich, «Ut quid ergo miser otio torpeo et non festino me coniungere huic praeclarissimo coetui...?» Und bald «Cisterciensium 1086 Exord. Magn. 3, 12, ed. cit. 175 1087 4, 22, ed. cit. 249 s 1088 zum Motiv cf. Dinzelbacher, Klassen 22 (Literatur); Knud Banning, Michael Sjaelevejer, Kirkehistoriske Samlinger 1971, 25—45; Maury, Croyances 168ss; Saintyves, Marge 128 ss
220 Funktionen der Vision vero sacra instituta, quae, licet sint speculum iustitiae, factione tamen malignorum spiritu- um in aestimatione eius viluerant, toto mentis desiderio complexus est. . ,».1089 Welche Fiille von epitheta ornantia fur die weifien Monche! Wie sich die anderen Orden vor ihnen demiitigen miissen! (Die Augustiner und Benediktiner werden noch namentlich mit Seiten- hieben bedacht). Wie man sich «beeilen» mufi, in Bernhards Kongregation einzutreten (der die Seinen im Himmel zu Christus hinfuhrt). Dieses schnell noch unter den Schutz des Habits Fliichten, ehe das Weltende kommt — jede Generation des Mittelalters lebte aufs neue in der Erwartung der Erfiillung der Zeiten1090 - spricht auch noch deutlich aus der Reaktion des spateren Bischofs Johannes von Valencia (f 1146) auf seine Bekehrungsvi- sion: «relictis universis mundi vanitatibus ad domum Cistersiensem festinanter ac- cessit.. .»1091 Herbert und Konrad haben also Texte zusammengesammelt, die in einer selten auf- dringlichen Weise Eigenlob und Werbung fur diese Kongregation via Vision zum Aus- druck bringen. Auch in die den Orden in seiner Friihzeit so sehr beschaftigende Auseinandersetzung mit Cluny hat der Himmel selbst durch Visionen eingegriffen. Ein Zisterziensemovize kommt im Verlauf seiner Vision zu einem paradiesischen Gebaude, in das zwei Tiiren fiihren, eine alte, hafiliche und eine neue, viel schonere und mit blankeren Edelsteinen geschmuckt als die andere. Maria, die sich dem Monch als «patrona et protectrix ordinis tui» vorstellt, erklart ihm: die dunkle Paradiesespforte ist diejenige, durch die die Cluniazenser einzutre¬ ten pflegten, aber ob ihrer Nachlassigkeit verfallt sie von Tag zu Tag mehr. Die neue aber ist die der Zisterzienser, «pro quibus die ac nocte apud filium meum dominum Jhesum Christum intercedes non cesso».1092 So hat also auch die Visionsliteratur ihren Beitrag zu der von den beiden Abten Bernhard und Peter begonnen und von vielen Ordensbrudern in kritischen Pamphleten aufgenommenen Fehde1093 leisten miissen. Die Bettelorden haben die Verwendung der Visionen in diesem Sinne dann gerne iiber- nommen. Um nur ein Zeugnis dafur zu zitieren: im «Liber exemplorum Fratrum Mino- rum» des 13. Jahrhunderts lesen wir etwa von einem Traumgesicht, in dem die ganze Welt verdunkelt erscheint — nur uber der Kirche der Franziskaner strahlt Licht. Hermann von Mainz tritt in diesen Orden ein, als er in einer Traumvision die Wohnung der Minderbrii- der im Paradiesesgarten gelegen sieht. Ebendort schaut ein Dominikaner die Angehorigen der beiden Bettelorden - nur dafi die Sohne des hi. Franz sich an einem schoneren und erhabeneren Ort befinden und dazu noch in der Gesellschaft der Engel.1094 Ihre Heilsgewifi- 1089 4,30, ed. cit. 263 s 1090 cf. die Vision eines Zisterziensers, der sieht, dafi im Buch des Lebens nur mehr eine einzige Seite zu beschreiben ist, ehe das Jungste Gericht hereinbricht: Caesarius v. Heisterbach, Dial. mir. 7, 37 1091 Exord. Magn. 1, 35, ed. cit. 96 1092 Constable, Novice 97 s 1093 Giovanni Lunardi, L'ideale monastico nelle polemiche del secolo XII sulla vita religiosa, Noci 1970; David Knowles, Cistercians and Cluniacs, London usw. 1955; Philibert Schmitz, Geschichte des Benediktinerordens III, Einsiedeln, Zurich 1955,42 ss; Coulton, Centuries 1,324 ss. Pro-domo- Visionen gab es schon im alteren Cluny, z. B. Petrus Damiani, De var. mirac. narr. 9, PL 145, 582 Ds 1094 Lib. exempl. nr. 28, 74, 35, ed. Oliger, Liber
Visionslegenden der Bettelorden 221 heit ist nicht geringer, als die der Anhanger Bernhards: auch fur brave Minoriten gibt es kein Fegfeuer, wie ein wiedererscheinender Toter verkundet.1095 Solche visionaren Preisungen eines ganzen weltweiten Ordens finden sich vor allem in den jeweiligen erbaulichen Exempelsammlungen. Schauungen dagegen, die von einem uns als Personlichkeit greifbaren Charismatiker stammen, haben eher die kleine Welt des jeweiligen Konvents zum Inhalt. Luitgard von Wittichen erfahrt in einer ihrer Visionen, dafi alle Mitglieder der von ihr gegriindeten Gemeinschaft von Gott zur hochsten Voll- kommenheit und zum ewigen Leben gefiihrt werden wurden.1096 Die unwiderstehliche Heiligkeit der Schwestern des Dominikanerinnenklosters zu Weiler offenbart sich beim Tode einer der ihren gleich vier Nonnen zugleich; sie schauen, wie die Seele von Gott und seinen Heiligen mit grower Freude empfangen wird und wie die Engel die Teufel in die Flucht schlagen, die dabei «einander manten und sprachen: <flihet alle, flihent, man brin- get ein swester von Weyler>».1097 «Gehe nach Weiler ins Kloster» rat eine himmlische Stimme einem von steter Hollenfurcht geplagten Schmied, denn dort «sol nymmer kein mensch verlorn werden.»1098 Dieses eine Kloster mit seinen begnadeten Insassen erscheint hier als Ort des Heils, die Gesamtheit des Predigerordens haben diese schwabischen Mysti- kerinnen ob der intensiven Beschaftigung mit der eigenen Heilserwartung aus den Augen verloren. Und mehr als ein Klostervorsteher wird eine visionare Erscheinung eines Heiligen dazu beniitzt haben, den Eifer seiner Monche zu befliigeln, wie dies etwa aus dem Kloster St. Bertin iiberliefert ist.1099 Auch in der Vision eines Laien konnen gelegentlich solche Tendenzen anklingen. Der Bauer Gottschalk beispielsweise schaut in den Himmelsbauten eine ganze Reihe von Kano- nikern und Konversen seiner Heimatkirche1100 - vielleicht war es nicht ohne Belang, dafi eben die dortigen Kleriker seine Vision zu Papier brachten; sie werden sich natiirlich nach dem Schicksal ihrer verstorbenen Genossen erkundigt haben. Offenbarung und Belehrung also ist der hauptsachliche Sinn der Vision, wenn das Lehrhafte auch in den Jenseitsgesichten des I. Typs starker ist: an Himmelsfreuden und Hollenstrafen konnte leichter gezeigt werden, welches Verhalten alien Christen ratsam sei, als an den esoterischen Begegnungen der zweiten Art. Aus der Anerkennung dieser Bedeu- tung heraus sind Visionen aufgezeichnet und verbreitet worden. Vielfach bekommt der Ekstatiker den Auftrag, das von ihm Geschaute alien zuganglich zu machen. Am Ende seiner ausgedehnten Himmel- und Hollenfahrt findet sich Adamnan wieder im «Land der Heiligen». Schon meint er, wie so viele andere Visionare, er dtirfe dort verweilen, da 1095 «nullus vere servans regulam bead Francisci et sanctam paupertatem eius, purgatorii sustinet penas ...», ibid. nr. 73, ed. cit. 240 1096 Berthold v. Bombach, Leben 79 1097 «Nonnenviten» 29, Bihlmeyer, Weiler 85 1098 ibid. 24, ed. cit. 83 1099 Miracula S. Bertini 8, MG SS 15/1,513 s. Ein normannischer Abt pflegte seine Schreiber mit dem Visionsbericht eines Monches anzuspomen, der vor dem Jenseitsgericht begnadigt worden war, da er einen Buchstaben mehr geschrieben hatte, als die Zahl seiner Sunden betrug. Ordericus Vitalis, Hist. eccl. 3,3. 1100 Visio A 38 s
222 Funktionen der Vision vernimmt er die Engelsstimme, die ihm befiehlt, wieder in den Korper zurtickzukehren, «and to rehearse in courts and assemblies, and in the great congregations of laymen and of clerics, the rewards of Heaven and the pains of Hell, even as his guardian angel had revealed them unto him. This, then, was the doctrine that Adamnan continually taught to the congregations, from that time forth, so long as he remained in life».1101 Und jede visionare Schau, auch die personlichste, konnte prinzipiell didaktische Verwendung fin- den, indem sie durch die schriftliche Fixierung zu Literatur gemacht wurde, die bei der Meditation, der Tischlesung, der Predigt verwendbar war. Viele Aufzeichner visionarer Erfahrungen hatten ihre Arbeit ohne weiteres mit den Worten des Petrus Damiani iiber- schreiben konnen, der am Beginn einer Biographie, also eines historischen Werkes, sich als «non historiam texens, sed quoddam quasi breve commonitorium faciens»1102 schildert. Die Kategorie des Historischen (— und die Visionen waren auch den Geschischtsschreibem historische Fakten, da sie sie oft und oft in ihre Werke aufnahmen -) ist dem Mittelalter nichts, was um ihrer selbst willen zu betrachten ware, sondern immer unter dem Aspekt «littera docet».1103 Wenn schon die Ereignisse der Geschichte seit Augustinus exemplari- schen Wert in Hinsicht auf die Erdenpilgerschaft der «Civitas Dei» hatten, um wieviel mehr mufite ein solcher dann den visionaren Offenbarungen zukommen, die ein unmittel- bares Zeugnis gottlichen Eingreifens waren? 1101 Fis Adamnain 31s, Boswell, Precursor 44 1102 Vita Romualdi, Prol., PL 144, 954A 1103 cf. Lacroix, historien 167 ss
ZUR SOZIOLOGIE DER VISIONARE Die eingangs gestellten Fragen nach Herkunft, Stand, Alter ... der Visionare befriedi- gend zu beantworten, erweist sich wegen der Art der Quellen als nicht moglich. Abgesehen davon, dafi hierbei viele Texte nicht mehr herangezogen werden konnen, da die Bindung an eine als historisch zu betrachtende Personlichkeit nicht gesichert ist (z. B. Adamnan, Laisren und vor allem die ganzen Visionare in den Exempelsammlungen), fehlen bei vielen Berichten auch minimale Angaben zur Biographie. So konnten nur ganz grobe Zahlenver- haltnisse ermittelt werden, die aber immerhin einen nicht zu verzerrten Eindruck von der jeweiligen Gewichtung geben diirften. Schon iiber das Alter, in dem das erste (und oft einzige) Mai eine Vision geschaut wird, lafit sich jedenfalls fiir das friihe und hohe Mittelalter keine statistische Aussage treffen.1104 Betrachtet man die iiberlieferten Daten, so fallt aber doch eines auf: das visionare Charis¬ ma scheint eher in der ersten Lebenshalfte aufzutreten, als spater, ja sogar nicht selten in friihester Kindheit: Magdalena Beutler soil 3, Anskar 5, Osanna 6, das Madchen aus Carcassonne 8 Jahre gezahlt haben, als der erste ekstatische Kontakt mit dem Jenseits erfolgte.1105 Isabetta soil 9, Alberich 10, Blasius 11, Orm 13 und William 15 Jahre alt gewesen sein, als sie aus ihren Krankheiten in die andere Welt entrafft wurden; ihre Schauungen gehoren zum Тур I. Auch Baldarius, Agustinus, Anselm v. Canterbury, Robert v. Uzes, Seneca, Christine v. Stommeln, Flothilda, Luitgard v, Wittichen, Hildegard v. Bingen u. a. werden alle von friihester Jugend an («puerulus», «parvulus» u. a. —, also wohl vor dem 10. Lebensjahr) als visionar begabt geschildert; Bruder Klaus von Fliie will sich sogar an pranatale symbolische Gesichte erinnern. Kaum spater als ihre Vorganger beginnen die Mystikerinnen des II. Typs mit ihren Schauungen: Christine v. Stommeln mit 11, Mechthild v. Magdeburg wohl schon mit 12, Christina Ebnerin mit 14 und ihre Namensschwester aus S. Trond mit vielleicht 17. Hadewijch war hochstens 19, etwa gleich alt Seuse, ein wenig iiber 20 Margery Kempe. Von Elisabeth v. Schonau sind die ersten Visionen im Alter von 23, von Gertrud der Grofien im Alter von 25 bezeugt. Damit sind wir aber bereits in einer Altersgruppe, die man im Mittelalter nicht mehr zur Jugend rechnete. Wenn Edmund wirklich 26 und Juliana v. Norwich wenig iiber 30 waren, so waren sie erwachsen. Furseus, Drycthelm, Tundal, Owen u.v.a. diirften im vollen Mannesalter gestanden haben, als sie von der Vision ergriffen wurden, wenn auch der genaue Zeitpunkt nicht bekannt ist. In fortge- schrittenerem Alter dagegen scheint dieses Charisma nur mehr Menschen verliehen zu werden, die bereits friiher Visionen gehabt haben, wie denn das Leben vieler spatmittelal- terlicher Seherinnen von einem bestimmten Zeitpunkt an bis zum Tode mit Ekstasen und Gesichten begleitet war. Dafi aber jemand «provectae aetatis», wie Earnan oder Gottfried 1104 Vielleicht ist dies nach Durcharbeit der zahlreichen spatmittelalterlichen Mystiker-Viten fiir diese Epoche moglich t105 Ich gebe in diesem Abschnitt keine Einzelbelege, da es sich teilweise um erschlossene Daten handelt, die hier zu entwickeln zu lange ware. Die biographischen Abschnitte der Folgebande enthal- ten die notwendigen Nachweise
224 Zur Soziologie der Visionare (mit 53), (von denen Ahnliches sonst nicht berichtet wird) eine Vision erlebt, mufi als Ausnahme bezeichnet werden.1106 Es scheint jedoch nicht unbezweifelbar, dafi die friihe Kindheit wirklich das visionare Alter war, denn warum hatte man hier im Gegensatz zum sonstigen Fehlen dieser Angaben so oft das Alter genannt, wenn dies nicht doch als eher ungewohnlich empfunden worden ware? Sicher sagen lafit sich aber doch soviel: die Vision ist im Mittelalter haufig ein Kindheitsphanomen, dagegen aber kein Alterspha- nomen. Mit den Daten zur Herkunft unserer Charismatiker ist nun noch weniger anzufangen. Vor allem bei vielen Klosterangehorigen - und sie stellen die Mehrzahl der Visionare - wissen wir nichts iiber ihr Leben vor der Konversion. Auch fur den Mystiker ist der «Adel des in Christus vergotteten Menschen» wichtig1107, nicht der soziale Stand. Die Anzahl von aus adeligen Familien stammenden Sehern erscheint grofi, (z. B. Barontus, Heinrich v« Ahorn, Christine v. Markyate, Mechthild v. Hackebom, Robert v. Uzes, Elisabeth v. Schonau, Birgitta ...)1108, aber vom Hochmittelalter an kann man ihr eine kaum geringere an Biirgem entgegenstellen (Ida v. Louvain, Ivetta, Katherina v. Siena, Heinrich Seuse, Margery Kempe, Lidwina, Francesca, Ursula Haiderin, Isabetta). Geringer ist die Zahl der Ritter (Boso, Tundal, Owen und seine Nachfolger im Patrizius-Fegefeuer) und der aus ritterlichen Familien stammenden (Hildegard v. Bingen, Mechthild v. Magde¬ burg). Auch die Zahl der Bauem ist nicht iibermafiig, doch kommen einige der ausfiihr- lichsten Visionen aus diesem Stande: Drycthelm, Gottschalk, Thurkill; auch Nikolaus v. Flue. Kinder von (teilweise recht wohlhabenden) Bauem waren Christina v. Stommeln, Luitgard v. Wittichen, Dorothea v. Montau, Veronica v. Binasco; Christina Mirabilis hat ihre Jugend als Hirtin verbracht. Aus ausgesprochen armen Verhaltnissen kommen nur wenige, so die «paupercula» aus dem Gau Laon oder wohl auch die grofie Gertrud. Wie sollte man entscheiden, ob diese Schicht weniger begnadet oder, mit den mittelalterlichen Verhaltnissen ja nicht unvereinbar, weniger von den «literati», ohne die es keine Tradition gab, beachtet war? Das fur das Spatmittelalter aufgestellte Verhaltnis von der Herkunft der deutschen Mystiker zu einem Teil aus dem Adel, zum anderen aus dem Biirgertum1109 mufi fiir die Visionare also doch insoweit abgeandert werden, dafi eine (wohl kleinere) Gruppe bauerli- cher Charismatiker hinzukommt. Dafi die subtilen Fragen der spekulativen Mystik diesem Kreis fernblieben, leuchtet ein; dafi visionares Erleben und landliche Abkunft nicht unver¬ einbar waren, zeigen die Beispiele. Zweifellos war aber die klosterliche Lebensform die beste Voraussetzung fiir das Visio- nenwesen. Hier lafit sich eine echte Korrelation aufstellen. Die Zugehorigkeit der Visiona¬ re zum Laien- resp. Priester- resp. Mbnchsstand kann man namlich fiir das ganze Mittelal¬ ter in etwa folgendermafien angeben: Klosterangehorige, Tertiarier und ahnliche Formen 1106 Poulain, Handbuch 236 kommt auf Grund vorwiegend neuzeitlicher Quellen zu dem Urteil, mystische Gnaden wiirden bei Frauen meist zwischen 13 und 16, bei Mannem zwischen 16 und 19 einsetzen 1107 Benz, Adel 532 1108 cf. auch die Konzeption des «Adelsheiligen», LexMa 1,148 no? Zippel, Mystiker 5 s, cf. seine Tabelle
Monche und Laien 225 (Beginen z. B.) gut zwei Drittel, Laien knapp ein Drittel, dazu noch ein minimaler Anted an Weltpriestem. Wie immer die Zusammensetzung der europaischen Bevolkerung in jener Epoche angesetzt werden mag1110 - es steht aufier Frage, dafi die Monche und Nonnen im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevolkerung starkstens iiberreprasentiert sind, die Laien dagegen unterreprasentiert. Wenn man die Zahlen chronologisch aufsplittert, sieht das Verhaltnis etwa so aus: vom beginnenden 7. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts sind mir uberhaupt nur drei Laien bekannt: Drycthelm, die «paupercula» und Flothilde.1111 Dann, Ende des 11. bis Anfang des 13. Jahrhunderts erreicht ihre Beteiligung einen jahen Hohepunkt: ca. ein Drittel der Visionstexte nennt Laien als Charismatiker. Es ist hier auch zu bedenken, dafi sich die neuen Orden der Zisterzienser und Bettelmonche vorwiegend aus Erwachsenen rekrutierten, die bereits eine Zeit weldichen Lebens hinter sich hatten, wahrenddem die Benediktiner meist seit ihrer Kindheit als Oblaten im Kloster lebten. Im nachsten Jahrhundert sinkt die Zahl der Laien deutlich ab, um dann vom 14. Jahrhundert an wieder stetig zuzunehmen, sodafi gegen Ausgang des Mittelalters vielleicht ein ex aequo von Laien und Religiosen erreicht ist - wenn man den Stand auf die Zeit der ersten Schauung bezieht. Vollig anders schaut das Bild aus, wenn man bedenkt, dafi so gut wie alle Laien, die im Spatmittelalter Visionen gehabt hatten, sich friiher oder spater einer Kongregation anschlossen, sodafi sie ein unzuordenbares Element werden, denn nach der Konversion pflegte sich die visionare Begabung hochstens noch zu verstarken. Unter den Klosterangehorigen finden sich die Visionare ubrigens oft bei den Konversen (- eine Kompensation ihrer gegenuber den Chormonchen geringen Stellung?) Natiirlich ist sofort einwendbar, dafi bis ins hohe Mittelalter hinein die Schriftlichkeit ausschliefflich eine monastische Fahigkeit darstellte, und deshalb etwaige Laienvisionen des Friihmittelalters gar nicht in die schriftliche Uberlieferung eingehen konnten. Gewif? wird dies eine Rolle gespielt haben, aber wenn in fiinf Jahrhunderten auf drei Laien vielleicht das Doppelte an Priestern und das Achtfache an Monchen kommt, und sich dieses Verhaltnis dann so radikal andert, dafi im 12. Jahrhundert die monastischen Visio¬ nare nur mehr das zwei- bis dreifache derer aus dem Laienstand betragen, obwohl die Aufzeichner der Visionen damals durchgehend Monche und Priester bleiben, so mussen noch andere als uberlieferungsgeschichtliche Faktoren wirksam gewesen sein. Nimmt man dazu, dafi auch das biirgerliche Element erst seit dieser Epoche auftaucht, so wird man das Phanomen nicht anders als in Zusammenhang mit der sich allenthalben neu entwickelnden Laienfrommigkeit sehen konnen: «religio» heifit nicht mehr nur «Monchtum», auch aufierhalb von Kloster und Eremitenzelle will Christentum verwirk- licht werden.1112 Auf so vielen Gebieten erweist sich ja das Entstehen einer religiosen Kultur der Laien neben der des Klerus1113, sei es in der Pilger- und Kreuzzugsbewegung, sei es in der Ausbrei- 1110 Zahlen sind u. a. aus England fur die Zeit um 1300 bekannt: dort kommen auf ca. 3 Millionen Einwohner 7650 Benediktiner und Zisterzienser, 5350 Mendikanten, 3900 Regularkanoniker, 7000 Nonnen, d. h. ein Kleriker oder Monch auf 12 Manner im Erwerbsalter (Perjroy, vie 13 s) 1111 Vier, wenn die von Waningus berichtete Vision authentisch ist 1112 cf. Grundmann, Grundlagen 411 1113 cf. Heer, Aufgang 384 ss; Delaruelle, pi6te 176, 180 ss
226 Zur Soziologie der Visionare tung der volkssprachlichen Dichtung durch die «ioculatores» (in deren Repertoire ja auch eine Vielfalt von Heiligenlegenden gehorte), sei es in der dauemd steigenden Zahl der Bibelubersetzungen seit dem 11. Jahrhundert. Durch die Heilslehre abbildende Bauplastik an den Aufienwanden nimmt die Kirche genauso auf das Analphabetentum des «Volkes» Rucksicht, wie auf seine Unkenntnis der alttestamendichen Zustande, wenn sie die Gestal- ten der Heiligen Schrift in die Gegenwart versetzt: Elias als «evesches», Abner als «maistre cunnestables» und David als «bacheler».1113® Eindeutigere Angaben lassen sich iiber das Verhaltnis der Geschlechter machen. In der Zeit vom 6. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts ist die Vision fast reine Mannersache; wogegen dieses Charisma seit dem 13. Jahrhundert vorwiegend Frauen zuteil wird. Es diirfte wenige Phanomene in der Geistesgeschichte geben, namentlich in der des Mittelal- ters, in der ein so radikaler Wechsel der Tragerschicht zu verzeichnen ist: in den fiinf Jahrhunderten zwischen 500 und 1000 treten gegenuber einer Vielzahl von Mannem jeweils immer nur eine Visionarin auf (Nonne aus dem Hl.-Kreuz-Kloster, Aldegunde, englische Visionarin, paupercula, Flothilde).1113b In der zweiten Halfte des 12. Jahrhunderts sind es schon vier, im dreizehnten mag die Zahl etwa gleich der der Manner sein — die Zahl, nicht aber die Bedeutung. Welcher Seher liefie sich einer Hadewijch, einer Gertrud, den beiden Mechthilden an die Seite stellen? Im 14. Jahrhundert dominiert das weibliche Element bereits auch zahlenmafiig, nicht nur durch die vielen Visionarinnen der «mysti- schen Kloster» wie Unterlinden, Tofi, Weiler usf., sondern auch durch Personlichkeiten, die Geschichte gemacht haben, wie Birgitta oder Katharina v. Siena. Nur die (ausschliefi- lich) mannlichen Besucher des Purgatorium S. Patricii berichten noch von grofSen Schau- ungen, die aber stets nach dem Modell ihres Propugnators Owen aus dem 12. Jahrhundert geformt sind. Und was etwa einen Visionar wie Seuse angeht, wird, wer seine «Autobio¬ graphic» kennt, in ihr genugend Elemente finden, die mehr dem traditionell weiblichen Stereotyp zuordenbar sind, als dem mannlichen.1114 Aber er und seine vereinzelten Ge- schlechtsgenossen fallen in der von Frauen iiberschwemmten visionaren Landschaft dieser Epoche kaum auf. Auch im 15. Jahrhundert dominieren eindeutig Frauen sowohl was das Zahlenverhaltnis betrifft, als auch den Umfang und die Intensitat der Schauungen. Man kann die eher blassen Gesichte, die etwa einem Hendrik Mande zugeschrieben werden, oder die eher harmlosen symbolischen eines Nikolaus v. Fliie nicht mit den erschuttemden Visionen einer Francesca v. Rom vergleichen. Eine Grundlage dieser veranderten Situation ist sicher einfach die Tatsache, dafi der Manneriiberschufi des Friihmittelalters im 12. oder 13. Jahrhundert zu Ende geht und stattdessen die Frauen im spaten Mittelalter in der Oberzahl sind1114®: die geanderte Bedeu¬ tung der Frau in der Gesellschaft zeigt sich schon etwas fruher, nicht nur an ihrer Verherr- 11138 ibid. 186 тзь ^wei im 9. Jh., wenn man die kurzen Visionen Hathumodas mitrechnet 1114 als den «gemutreichsten» altdeutschen Mystiker bezeichnet ihn der hervorragende Kenner Oehl, Mystikerbriefe 368 s, seine Lyrik als «gefuhlsweich» 1114a David Heruhy, The Sorial History of Italy and Western Europe, 700-1500, London 1978, ix, 6 s; xiii, 10 ss
Manner und Frauen 227 lichung im Minnesang, sondern etwa auch an der Zunahme matronymischer Namensge- bung sowie dem Ersatz des Brautkaufes durch die weibliche Mitgift.in4b Stellt man die «demographische» Entwicklung des Verhaltnisses der Geschlechter bei den Visionaren der bei den Heiligen wahrend des Mittelalters gegeniiber - was man insofern kann, als beide Gruppen eines gewissen Mafies an Aufmerksamkeit von seiten ihrer Umwelt bedurften, um iiberhaupt in die Tradition einzugehen -, so ergeben sich bemerkenswerte Differenzen und Obereinstimmungen. Am auffallendsten: wahrenddem zwischen 500 und 1200 der Anted der Frauen an der Gesamtzahl der Heiligen nie so grofi war, wie in der 2. Halfte des 7. und im 8. Jahrhunderts (ca. jede vierte heiligmafiige Person war eine Frau* 1115), bleibt die Zahl der Visionarinnen bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts konstant und eine Quantite negligeable. Weder die neue Heiligengeneration der Reklusinnen des 10. Jahrhunderts, noch die «silent revolution» des 11. Jahrhunderts, die einen spiirbaren Riickgang der Zahl der «mulieres sanctae» bewirkte (in Folge der liturgischen, d. h. nur von Mannern wahrzuneh- menden Spezialisierung in den Klostem [Cluny!], in Folge der Aufwertung des Zolibates durch die Gregorianer verbunden mit einer verstarkt frauenfeindlichen Propaganda, und in Folge des Endes der Doppelkloster1116), scheint in der Aufzeichnung bei von Frauen stammenden Visionen Entsprechungen zu finden. Eine Parallele ergibt sich dagegen fur das hohe und spate Mittelalter. Die neuen Orden des 12. und vor allem 13. Jahrhunderts bringen nicht nur eine zunehmende Wurdigung weiblichen Strebens nach Heiligunglll6a, sondern auch ein starkes Anwachsen der Zahl weiblicher Seherinnen, von denen sich viele in den stadtischen Bettelorden finden.1116b Dort unterstehen sie der geisdichen Betreuung ihrer Mitbriider, ein Verhaltnis, das sich bei den Visionarinnen darin spiegelt, dafi fast alien ein «Seelenfuhrer» (oft ihr Beichtvater) zur Seite steht, der auch oft ihre Gesichte aufzeichnet. Freilich hat man nicht seiten den Eindruck, dafi eher diese Geisdichen unter der Fuhrung der Charismatikerin sind (Angela v. Foligno, Christine v, Stommeln, Frances¬ ca v. Rom...). Im Spatmittelalter entsprechen einander der Frauenuberschufi in den Stadten einerseits, die hohe Zahl der besonders von dort kommenden weiblichen Heiligen und die Dominanz dieses Geschlechts im visionaren Bereich andererseits. Da der Frau Priestertum, Predigt und andere аибеге Aktivitaten grofiteils verwehrt sind, entwickelt sich, so konnte man vermuten, eine Tendenz zur «inneren Emigration», zur praktischen Mystik, zur Vision. Das wird wohl fiir manche der visionaren Nonnen in den «mysti- 1114b ibid, vi, 93 s; x, 380; xiii cf. auch Thum, Aufbruch, 291 ss 1115 Jane Tibbetts Schuleburg, Sexism an the celestial gymnaeceum - from 500-1200, Journal of Medieval History 4, 1978, 117-133, 122; hieraus auch die folgenden Angaben 1116 In England gab es Ende des 7. Jahrhunderts mehr als 20 von Frauen geleitete-Klostergemein- schaften, 400 Jahre spater waren es weniger als 10, ibid. 124 1116a cf. zusammenfassend Brenda M. Bolton, Mulieres Sanctae, in: Susan Mosher Stuard ed., Women in medieval society, Pennsylvania 1976, 141-158 (= Church History Studies 10, 1973, 77-85); ead., Vitae Matrum, Studies in Church History/Subsidia 1,1978, 253-273 шбь j)er Anteii ^ег Frauenkloster betrug im Hochmittelalter nach englischen Quellen nur maximal 15% an alien Klostern, obwohl die Gesamtbevolkerung mehr Frauen als Manner zahlte, cf. Patricia J. F. Rosof, Anchoresses in twelfth and thirteenth century society, Diss. New York 1978,10,21 s. Um- so auffallender ist das so deudiche Anwachsen der Zahl der Visionarinnen auch unter den Nonnen.
228 Zur Soziologie der Visionare schen» Klostem gelten, gerade die bedeutendsten Charismatikerinnen, eine Hildegard, Birgitta, Katharina v. Siena haben aber durchaus auch ihre nahere und femere Umwelt aktiv mitgestaltet. Klausnerinnen, wie Christine und Juliana in England, Wilbirg in Oster- reich oder wie spater Dorothea in Preufien haben nicht gerade in ubertrieben auffallendem Mafie teil an der Zahl der Visionare. Man konnte weiter vermuten, dafi die weibliche «Visionsbewegung»1117, deren Beginn klar in die 2. Halfte des 12. Jahrhunderts zu datieren ist und mit den Namen Christina v. Markyate, Elisabeth von Schonau und Hildegard v. Bingen umrissen werden kann, eine Reaktion gegen die verstarkte Welle der Misogynie des 11. und 12. Jahrhunderts ist, - ein Zeitraum von 200 Jahren, wahrenddem nicht mehr als vier Frauen papstlicher Heiligspre- chung teilhaftig wurden. Umgekehrt wiirde das Fehlen weiblicher Seherinnen im Friihmit- telalter bei gleichzeitig grofier Zahl heiliger Frauen, davon iiberdurchschnittlich viele Ab- tissinnen, auf die damals noch grofiere Moglichkeit zu aufierer Aktivitat schliefien lassen. Doch sind dies Oberlegungen, denen nachzugehen wohl nur in Zusammenhang mit einer intensiveren Erforschung des Wandels im Verhaltnis und Verhalten der Geschlechter zu- einander und des Wandels in der Empfindungswelt des «mittelalterlichen Menschen» sinnvoll ware. 1117 ein in der flamischen Forschung gem benutzter Ausdruck, der aber an eine (nicht existente) Organisationsform denken lafit
ZUSAMMENFASSUNG Ergebnisse1118 Die phanomenologische Untersuchung verschiedener Aspekte der mittelalterlichen Vi¬ sion hat zur Bildung zweier Typen gefuhrt, deren jeweils haufigste Verteilung zwei in einander iibergehende Perioden konstituiert: friihes und hohes Mittelalter bis zum begin- nenden 13. Jahrhundert (I) und hohes sowie spates Mittelalter ab etwa der Mitte des 12. Jahrhunderts (II). Die Unterscheidungsmerkmale dieser beiden Gruppen seien hier in aller Kiirze tabellarisch zusammengestellfc I. vorwiegend U. vorwiegend Visiondre Manner Frauen Ordensangehorige Ordensangehorige und Laien (die aber im Lauf ihres spateren Lebens in Orden eintreten) Auftreten der Visionen plotzlich erwartet und erbeten Anzahl der Visionen eine (oft langere) mehrere (oft kurze) Reaktion des Visiondrs Beginn eines neuen (frommen) Lebens Bestarkung im bereits einge- schlagenen (frommen) Lebensweg Inhalt der Visionen Fegefeuer, Holle, Paradies, Himmel Himmel, symbolische Raume, Christus Erlebnisart ofter fordemd als schenkend schenkend intensiv, konkret alle Sinne affizierend blafi, abstrakt, mehr zum Intellektuellen tendierend Raumschilderung plastisch, detailliert; mehrteilige, konstante Raume undifferenziert ohne Einzelheiten; einteilige (veranderliche) Raume Verhalten im Raum aktiv, sich bewegend; emotio- nell auf den Raum reagierend passiv, ruhig; gefiihlsneutral dem Raum gegeniiber Personenbeziehung distanziert intensiv Dauer der Visionen sehr kurz bis mehrere Wochen sehr kurz bis mehrere Tage Verstdndnis des Geschauten als Reales als allegorisch Auszudeutendes 1118 cf. Dinzelbacher, Visionen 119 ss
230 Ergebnisse Ausdriicklich zu betonen ist, dafi mit diesen Unterscheidungen die fur jeden Typ charak- teristischen Tendenzen gemeint sind, von denen nicht immer alle fiir die Zuordnung einer Vision gegeben sein miissen. Auch existieren Schauungen, die Merkmale beider Typen vereinen, Zwischenformen verschiedenster Auspragung. Beispiele dafiir finden sich etwa in der Vita der Ida von Nijvel, im «Exordium» Konrads von Eberbach, den franziskani- schen Legendensammlungen usf. Eine Charismatikerin wie Francesca von Rom hat neben Hunderten von Visionen des Typs II auch zwei ausfiihrliche Jenseitsreisen des Typs I erlebt. Mechthild von Hackeborn, eine Visionarin der zweiten Gruppe par excellence, beschreibt unter unzahligen Himmelsgesichten auch einmal die Unterwelt in der fiir den ersten Typ bezeichnenden Form.1119 Man kann hier von «Survivals» eines alteren Erlebnis- typs in einer generell anders gepragten Mentalitat sprechen. Gerardesca von Pisa berichtet Visionen von einer an I gemahnenden Plastizitat und Greifbarkeit, deren Inhalte doch immer wieder die fiir II typische Gottesbegegnung ist. Sicherlich konnte man an dieser Stelle ein Kapitel «Retractationes» einfiigen und zu jedem der obigen Abschnitte das eine oder andere Gegenbeispiel bringen. So ist Aldegunde von Maubeuge, obwohl im 7. Jahrhundert lebend, offensichtlich eine Visionarin des zwei¬ ten Typs gewesen, und Blasius, obschon ein Mensch des 15. Jahrhunderts, hat eine Vision im Stile der alteren Phase erfahren.1120 Und speziell in den Viten sonst nicht visionar begabter Heiliger wird die eine oder andere (authentische?) Schauung berichtet, an der wenige Charakteristika ihrer Epoche zu verdeutlichen waren, sei es, dafi man sie nach einem alteren Modell (etwa aus den «Vitae Patrum») stilisiert hat, sei es, dafi der spatere Aufzeichner diese Erfahrung in der Erlebnisart seiner Zeit formuliert. Dies alles zugegeben, andert sich nichts daran, dafi die weit uberwiegende Zahl der Quellen sich eindeutig einem der beiden Typen zuordnen lafit, womit sich genauso eindeu- tig die besprochene Phaseneinteilung konstituiert. Dem Problem der «Vorlaufer» und «Nachzugler», das jede Periodisierung ad absurdum zu fiihren scheint1121, kann man viel- leicht mit der Oberlegung entgegentreten, daS I und II zwei verschiedenen, in alien Epo- chen existierenden Ekstatikertypen entsprechen, die jedoch in jeder Epoche in verschiede- ner Haufigkeit auftreten. Auffallend ist dabei, dag diese unterschiedlichen Arten von Itl9 Lib. spec. grat. 5,22 1,20 Ahnlich hat dies, wie ich nachtraglich sehe, nur Gad, Legenden 108 gesehen, der etwa Anskar, Birgitta und Katharina zusammenstellt: «Vaegten i deres visioner ligger ikke pi det konkrete og fortaellende, men pi den visionaeres oplevelse af inderlig fortrolighed med guddommen» 1121 worauf vor allem Benedetto Croce hingewiesen hat, cf. z. B. sein Buch: Die Geschichte als Gedanke und als Tat, Hamburg 1944,260 ss. Auf die theoretischen Probleme des Periodisierens kann hier nicht eingegangen werden; klar und knapp die Darlegung bei J.H.J. van der Pot, De Periodise- ring der Geschiedenis, ’s-Gravenhage 1951, 9-34. Die Notwendigkeit der Periodisierung schon von der (stets durch Kola rhythmisierten) Sprache her zugegeben, durfte doch Weinhandel, Nonnenle- ben 104 nicht zu widersprechen sein, wenn sie bemerkt, dag unsere Zeit «mehr religiose Sehnsucht als religiose Eigenerfahrung besitzt und diesen Mangel durch ein Psychologisieren, Klassifizieren, Typi- sieren, das weder ganz Wissenschaft noch ganz Dichtung ist, vergeblich zu verdecken und wettzuma- chen trachtet.» Cf. oben S. VII, 78 ss und zum Thema «Geschichtswissenschaft und Dichtung» F. P. Pickering, Augustinus oder Boethius?, I, Berlin 1967, 46 ss
Periodisierung 231 Visionen auch situationsabhangig sind, d. h. namentlich I meistens in krankheitsverur- sachter Todesgefahr auftxitt, II gem in der Folge religioser Meditation. Nur: beide Situa- tionen existierten genausooft vor und nach 1200 (um der Einfachheit halber eine Jahres- zahl als Croce’sche «Gedachtniskriicke» zu verwenden), und trotzdem sind visionare Re- aktionen auf sie jeweils unterschiedlich haufig tradiert. Man konnte die Periodisierung freilich auch auf die Auswahl von seiten der Aufzeichner verschieben und sagen, dafi vor 1200 sich die Schreibkundigen vor allem fur jene grofien Jenseitsvisionen interessierten, nachher dagegen mehr fur die «mystischen» Schauungen, wahrend beide Typen vielleicht tatsachlich stets gleich haufig waren, so dafi eine Aussage nur uber die im Laufe des Mittelalters sich andemde Haufigkeit der Niederschrift jeder der beiden Typen erreichbar ware. Auch dann wiirde allerdings ein Unterschied in der Mentalitat des alteren und des jungeren Mittelalters greifbar, wenn auch fiir eine andere Schicht, namlich die der «ama¬ nuenses». Da hier aber auch alle die Visionare einzubeziehen waren, die ihre Gesichte selbst aufzeichneten bzw. diktierten, ergibt sich eine gewisse Moglichkeit der Uberprufung der Koinzidenz des «Zeitgeschmacks» von Charismatikern und Schreibern. Danach zeigt sich fiir die Visionen der zweiten Gruppe, dafi sie im spateren Mittelalter eindeutig nicht nur bei der Aufzeichnung durch andere, sondem auch bei der Beschreibung eigenen Erle- bens dominieren. Fur die Zeit vor dem 12. Jahrhundert liegen Eigenaufzeichnungen zu wenig vor, als dafi man aus ihnen alleine einen Idealtypus konstruieren konnte. Da vom Тур I sowohl rein apokryphe Texte bekannt sind (Visio Pauli, Visio Esdrae), als auch durch den Einschub von Passagen aus alteren Visionen verunechtete (Fis Adamnain, Albe- rich), mufi bei dieser Gruppe eher mit dem durch ihre Formulierungen die Aussagen der Seher verzerrenden Einflufi der «amanuenses» gerechnet werden. Man wird hier auch nicht immer entscheiden konnen, ob es sich bei einzelnen Motiven um visionare Konfabu- lation handelt, oder um vom Aufzeichner beigesteuerte Assoziationen, die aus dessen Kenntnis der eschatologischen Tradition herruhren. Daher fassen wir im I. Typ nicht ausschliefilich eine ekstatische Erlebensart, sondem auch eine literarische Konvention, deren Einflufi auf das vorliegende Bild jedoch keineswegs zu hoch veranschlagt werden sollte, weil es einerseits wegen einiger nachweisbarer Ausnahmen noch keinen Grund gibt, an der oft beteuerten Wahrheitsliebe der meisten «amanuenses» zu zweifeln und anderer- seits wohl der eine oder andere Abschnitt ausgemalt worden sein mag, nicht aber die sich immer wiederholende Struktur von I ohne Existenz des entsprechenden ekstatischen Erleb- nisses erfunden sein kann. Schliefilich beweist das weitgehende Versiegen dieser Visionsart nach dem 12. Jahrhundert, dafi wir es wirklich mit einer Erlebnisform zu tun haben, denn diese Visionen werden vom 13. bis zum 16. Jahrhundert unvermindert fleifiig kopiert und bald auch in Druck gegeben; d. h. das Interesse an ihnen ist nicht geschwunden, wohl aber der «Nachschub» an neue Schauungen dieses Typs. Ein nicht vollig auszuschliefiendes Modell ware es allerdings auch, neben diesen beiden, das hauptsachliche Kontingent der mittelalterlichen Visionen darstellenden Gruppen, noch eine dritte einzufiihren, die moglicherweise kontinuierlich das ganze Mittelalter durchzieht: es ware die der «kleinen», speziell in Heiligenviten, Geschichtswerken, literari- schen Texten auftretenden Schauungen, deren Funktion zumeist nur die einer kurzen
232 Ergebnisse Befehlsiibermittlung und Informationsweitergabe ist.1122 Abgesehen von der oft recht zwei- felhaften Echtheit und der durch die hagiographische Tradition stark gepragten Form bildet auch ihre grofie Zahl ein Hindemis fur ihre Aufarbeitung. Hier miifite vor allem das Riesenwerk der «Acta Sanctorum» durchforscht werden.1*23 Fiir die vorliegende Arbeit konnte nur ca. ein Zehntel der Bande als Stichprobe herangezogen werden, worauf ich keine verbindlichen Aussagen aufbauen mochte. Meine Typenbildung erfolgte primar auf Grund der grofien Einzelvisionen und Visionscorpora. Um zu verdeutlichen, was ich unter diesem (hypothetischen) Typ III verstehe, erinnere ich nur an die zahllosen Schauungen, in denen ein Heiliger auf den «locum collocationis corporis eius» aufmerksam macht1124, die zu Ordens- und Klostergrundungen fuhrten1125 oder zur Etablierung neuer Feste.1126 In den meisten Fallen handelt es sich aber um Erscheinungen und nicht um Visionen. Vorstellbar ware vielleicht auch, es gabe uberhaupt nur archetypisches ekstatisches Schauen, dem erst in den verschiedenen Epochen und Kulturen jeweils spezifische Bedeu- tung beigelegt worden ware. So mag das Visionsbild an sich z. B. nur das mit einem Furchtgefuhl gekoppelte Erlebnis «Feuer» beinhaltet haben, das aber schon vom Seher in der Ekstase mit der dem Christentum adaquaten Interpretation, namlich «Jenseitsstrafe», identifiziert worden ware, im Detail je nach seiner personlichen Pragung und augenblickli- chen Situation. Vielleicht erfassen wir also nur kulturspezifische Deutungsweisen von an sich von alien Visionaren der Welt geschauten Bildinhalten? Schilderungen von solchen psychischen Erlebnissen in unserer eher agnostischen Gegenwart konnten darauf hindeu- ten. Da wir jedoch nicht hinter die Texte des Mittelalters zuriick konnen, und auch, anders als bisweilen in der Geschichtswissenschaft, unsere schriftlichen Quellen nicht anderwartig kontrollieren konnen (Archaologie, Namenforschung etc.), ist ein Beweis dieser Vermu- tung nicht zu fiihren. Grundsatzlich haben wir fiir das Mittelalter aber zwei klar dominierende Visionstypen festgestellt, deren chronologische Verteilung in reziprokem Verhaltnis steht: wahrend I vom sechsten bis zum zwolften Jahrhundert stetig durch mehr und langere Beispiele vertreten ist, um danach rapide zu einem eher vereinzelten, namentlich auf Italien be- schrankten Phanomen zu werden, ist II in der Zeit vor diesem Jahrhundert nur selten vorhanden, um dann in weitester Verbreitung aufzutreten.1127 Wahrend die Eingrenzung der ersten Periode (6. bis 12. Jh.) uns vom Material her gerechtfertigt erscheint (vor dem 6. Jahrhundert kommen in den Quellen Visionen nicht ausfiihrlich vor; man mufi hier in die Zeit der Martyer und des Hermas [2. Jahrhundert] zuriickgehen), ist fur die zweite Periode (ab 12. Jh.) nur Beginn und Aufbliihen im Spatmittelalter belegt worden. Wenn unsere 1122 Beispiele bei Zoepf, Heiligenleben 166 ss 1123 Interessenten seien darauf hingewiesen, dafi dabei im Register nicht nur die Lemmata «visio» und «revelatio», sondern auch: «raptus, ecstasis; caelum, paradisus, purgatorium, infernum» zu beriicksichtigen sind 1124 so die hi. Afra: Gerhard, Vita S. Oudalrici 47, MG SS 4,403; cf. Saintyves, Marge 50 ss 1125 z. B. Kloster Qandersheim 1126 z. B. Fronleichnam durch Juliana v. Liittich 1127 zwei andere Phasen unterscheidet Os, Visions 37,83: eine materialarme, kunstlose bis, und eine einfallsreiche, raffinierte ab 1000. Eher mufi man unter diesem Aspekt von einer stetigen Entwick- lung von I bis zur Bliite im 12. Jh. sprechen, der dann eben die Ablosung durch einen neuen Typ folgt
Typen 233 Untersuchungen mit dem friihen 16. Jahrhundert enden, so ist dies rein arbeitsokonomisch bedingt: ob sich II in die Neuzeit fortsetzt, ob I wieder starker auftaucht, ob vielleicht ein von beiden unterschiedlicher Visionstypus bestimmend wird, daruber mache ich keine Aussa- gen. Das neuzeitliche Material jedenfalls, von dem Gorres und Benz Stichproben gegeben haben, ist nicht weniger reichhaltig als das des Mittelalters und wiirde in vielen Punkten eine genauere und statistisch besser auswertbare Analyse ermoglichen. Hinzuweisen ist auf das «Doppelgesicht» des 12. Jahrhunderts, das einerseits die Bliite der visionaren Jenseitswanderungen des seit dem fruhen Mittelalter existierenden Typs erlebt, andererseits die ersten Visionen des in den nachsten Jahrhunderten dominierenden Typs. Seher, die Visionen der herkommlichen Art erleben, sind in dieser «Achsenzeit» gleichzeitig mit solchen, die Schauungen jener Art haben, die im weiteren Mittelalter dominieren sollte. Schon im 13. Jahrhundert finden sich nur mehr ganz wenige Visionare des alteren Typs. Die beiden visionaren Phasen scheinen weiters vielleicht iiberhaupt zwei Stufen der Religion, besser, zwei Typen von «homines religiosi» zu entsprechen. Wie der primar fordernden Observanzreligion die eher schenkende Gnadenreligion gegeniibertritt1128, so die plotzliche, bedrohliche, oft schmerzliche Jenseitsschau der Vergeltungsorte der erfleh- ten, beseligenden, freudigen Christusbegegnung. Die «Achsenzeit» dieses Umbruchs ist das zwolfte Jahrhundert, eine Zeit, in der auf alien Gebieten des europaischen Lebens - keines- wegs nur in der Geistesgeschichte - so viel Neues beginnt. Es mufi der spateren psychologischen Darstellung der mittelalterlichen Vision vorbehal- ten werden, die damaligen Beschreibungen mit den Ergebnissen der modemen Ekstase- und Sterbeforschung zu vergleichen. Auch im allgemeinen von der Volks- und Volkerkun- de behandelte Phanomene, wie insbesondere der Schamanismus, liefem auffallende Paral- lelen. An I erinnert die schamanistische Initiation, wo nach Krankheit, Scheintod, Jenseits- reise die Auferstehung und Geburt einer neuen Personlichkeit erfolgt; an II Funktionen und Gebaren des fertigen «Besessenheitspriesters»1129, der aus dem Jenseits Kunde bringt und das Irdische von dort beeinflussen kann und der mit okkulten Kraften ausgestattet ist. Die Visionen in der mittelalterlichen Geistesgeschichte Abschliefiend soli nun versucht werden, die von uns beobachteten Veranderungen im visionaren Erleben wahrend des Mittelalters vor den Hintergrund der allgemeinen geisti- gen Entwicklung jener Zeit zu stellen. Da der Umbruch zwischen den beiden Visionstypen im hohen Mittelalter erfolgte, miissen wir hauptsachlich einen Umrifi der Geistesgeschich¬ te vom spaten elften bis ins dreizehnte Jahrhundert zeichnen. Dieser kann nur essayisti- schen Charakter haben - es gelten hier in besonderem Майе die im Vorwort angesproche- nen Vorbehalte —, da ein einzelner keine gleichmafiige Ubersicht iiber alle Lebensgebiete 1128 Mensching, Religion 82 ss, 329 1129 dies der definitorische Terminus von H. Findeisen, Schamanentum (Urban Bucher 28), Stutt¬ gart 1957
234 Geistesgeschichte eines Zeitalters besitzen kann. Wenn dabei aus der Fiille der Erscheinungen einige zur Illustrierung epochenspezifischer Strukturen herausgegriffen werden, so bin ich mir dessen bewufit, dafi diese sowohl auf dem Gebiet, dem sie entstammen, als auch uberhaupt durch andere Themenkreise vielfach zu erganzen sind.1130 Nur ein ganz fragmentarisches Bild also werden wir skizzieren und dazu Vorschlage anbieten, wie die Visionen in dieses eingeord- net werden konnten. Unsere Fragestellung, namlich wo und inwieweit die Geschichte der Visionen Ziige einzelner ihre Ara aUgemein charakterisierender Tendenzen wiederspiegle, ist freilich ein Kind jener geschichtsphilosophischen Konzeption, derzufolge jede raum-zeitliche Einheit (Epoche, Kultur) in jeder beliebigen ihrer Hervorbringungen durch besdmmte Charakteri- stika nachzuweisen ware, mag man hier von «Zeithaltung», «Stileinheit», «leitenden Ten¬ denzen», «konvergenten Entwicklungen», «synchronen Zusammenhangsstrukturen», «Korrespondenz des Gleichzeitigen» oder Ahnlichem sprechen.1131 Diese aus dem Idealis- mus stammende und in der heutigen Kultur- und Geistesgeschichtsschreibung fast iiberall angenommene Konzeption birgt freilich die Gefahr in sich, gegenlaufige Stromungen un- absichtlich umzudeuten oder gar nicht wahrzunehmen. Womit wir wieder beim ungelo- sten Problem der Objektivitat in den historischen Wissenschaften waren.1132 Da schliefilich die Darstellung des Gleichzeitigen in Spaltentechnik (a la Arno Schmidt, «Zettels Traum») in den Geisteswissenschaften hochstens bei tabellarischen Ubersichten gebrauchlich ist, bleibt noch, auf die Verschiebung und Vereinfachung hinzuweisen, die eine synchrone Gesamtentwicklung durch die Auflosung in ein Hintereinander bei der Schilderung zwangslaufig erfahrt. Nachdem in den vorhergehenden Untersuchungen auch Kategorien wie Bewegung im Raum oder gegenseitiges Verhalten von Seher und Gestalten der Vision beriicksichtigt wurden, ware es gewifi aufschlufireich, die dabei festgestellten Entwicklungen nicht nur in den Rahmen der Geistesgeschichte zu stellen, sondern auch mit einer Beschreibung des Mittelalters nach der Methode der historischen Verhaltensforschung1132a zu vergleichen, die ihr Geschichtsbild u.a. aufgrund wechselnder Konfigurationen von Korpern im Raum und Wechselwirkungen von Personen aufeinander zeichnet. Dabei durfte sich, um ein Beispiel zu nennen, etwa fiir das 13. Jahrhundert eine Parallele ergeben zwischen dem (u.a. in der naturwissenschaftlichen Bewegungslehre zu konstatierenden) Sehnen nach Selbstverwirklichung durch Begegnung mit einer anderen Gestalt1132b und der Christusbe- gegnung und -verschmelzung in den Visionen der Mystikerinnen. Gerade das Einswerden in der «unio mystica» und die vorhergehende Imitatio Christi in der Askese konnen als Ausdruck der Vervollkommnungssehnsucht des Menschen interpretiert werden. Doch 1130 Dementsprechend sind in den Anmerkungen nur sehr beschrankte Hinweise auf die Sekundar- literatur moglich; wenn viele, auch wichtige Werke nicht zitiert werden, so bedeutet dies weder, dafi sie der Autor nicht schatzen, noch notwendigerweise, dafi er sie nicht kennen wurde 1131 cf. z. B. Nitschke, Handeln 9 ss; Bosl, Gesellschaftswandel 6; Hans Joachim Schoeps, Was ist und was will Geistesgeschichte, Gottingen usw. 1959 u.o. 1132 cf. oben S. 78 * II32a cf. A. 355 und A. 1165 1132b Nitschke, Handeln 113 ss, 170 ss
Friihmittelalter 235 wiirde es angesichts der erst in geringer Zahl vorliegenden Publikationen zur historischen Verhaltensforschung den Umfang dieser Arbeit weit sprengen, zunachst eine Gesamtdar- stellung des Mittelalters auf dieser Basis zu erarbeiten. Geistesgeschichtliche Veroffentlich- ungen uber die mittelalterliche Epoche existieren dagegen durchaus in hinreichender An- zahl. Bleiben wir hier bei der konventionellen, aber nicht unanfechtbaren Dreiteilung ge- schichtlicher Perioden1133, um kurz die Situation des Fruhmittelaltersnna anzudeuten: In der Spatantike und der Volkerwanderung wandelt sich das Leben trotz vieler kontinuierlicher Erscheinungen grundlegend. Die Stadte ziehen sich auf einen Bruchteil ihrer fruheren Ausdehnung zuriick und geben ihre Kulturfunktionen an die Kloster ab, Inseln der Bildung in einem Meer von Analphabetdsmus. Daher ist die schriftliche Tradition, die wir von jener Zeit haben, intensiv monastisch gepragt. Aus dem Wechselspiel keltischer, romischer und germanischer Elemente entstehen in Verbindung mit der christlichen Religion neue Le- bensformen, die man geme als «archaisch»1134 bezeichnet. Vulgarisierung und Barbarisie- rung dominieren auf alien Gebieten des Lebens, wie es sich z. B. besonders deutlich im Sprachlichen zeigt: der «sermo plebeius (quotidianus)» verdrangt den «sermo urbanis»; seine einfachere Syntax und sein anderer Wortschatz werden zu den romanischen Spra- chen fiihren. Neben diesem Durchbruch der gesprochenen (nicht geschriebenen) Sprache des Volkes macht sich der Einflufi des alten keltischen Substrates und des neuen germani- schen Superstates namentlich im Wortschatz bemerkbar: der Beitrag der «Barbaren»; dazu kommen Griechisch und Hebraisch im Kirchenlatein.1135 Morphologische Neuforma- tionen und lexikale Neologismen beweisen die Lebenskraft der die so verschiedenen Vol- ker wenigstens in ihrer Intelligenzija verbindenden lateinischen Koine (karolingische Re¬ naissance!). Die aufiere Situation extremer Unsicherheit in der Epoche der Volkerwanderung und der Konsolidierung neuer Reiche, das Nebeneinander sehr unterschiedlicher Volker und sehr unterschiedlicher Religionen (Bonifatius schreibt in seinen Briefen andauernd uber schlecht oder noch gar nicht getaufte Germanen) fordert neben einem kriegerischen Hel- denideal das Verlangen nach Sicherheit. Dies spiegelt sich in der Bedeutung recbtlicber Formerly in denen auch die Beziehung zwischen dem Gott-Herrscher und dem Menschen- Knecht gesehen werden. Hierarchisch vertikal wird auch das Verhaltnis zwischen den Menschen («potentes versus pauperes»)1136 gesehen, Herr und Gefolgsmann stehen nicht auf gleicher Stufe, selbst wenn sie im «ganzen Haus» zusammenleben. Rat in unruhiger Zeit 1133 Sie ist nicht das Ergebnis von wissenschafdichen Untersuchungen, sondem einer irrationalen Vorliebe fur Trinitaten, die sich geradezu als «Menschheitsgedanke» weitestgehend nachweisen Iiefie пзза yon ^еп ^а8 ganze Mittelalter behandelnden Darstellungen verweise ich nur auf Friedrich Heer, Mittelalter (Kindlers Kulturgeschichte des Abendlandes 9/10), Munchen 1977; id., Europaische Geistesgeschichte, Stuttgart 1953; Johannes BOhler, Die Kultur des Mittelalters, Stuttgart 31941 u.o.; Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt/M. 1973 u.o. 1134 cf. z. B. Karl Bosl, Die Grundlagen der modemen Gesellschaft im Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 4), Stuttgart 1972, 1,47 ss 1135 cf. z. В. Laugesen, Middelalderlitteraturen 73 ss 1136 cf. oben Anm. 684
236 Geistesgeschichte wird man bei den Erfahrenen suchen, also bei den Alteren, sodafi man wegen der Hoch- schatzung dieser Gruppe das Fruhmittelalter als Ara der «senectus» gekennzeichnet hat.1137 Die bildende Kunst1138 dieser Zeit gibt uns deudiche Hinweise auf die Selbsteinschatzung des Menschen. Tendenzen, die sich schon in der Kaiserzeit anbahnen, verstarken sich im Zusammentreffen mit den Bildvorstellungen der «Barbaren»: es kommt zu dem, was wir — von unserem Standpunkt aus! - als Zurucktreten der Realitdt des Diesseitigen bezeich- nen konnen. Erreicht wird es durch die Eliminierung des Raumes (man kontrastiere etwa die pompeianische Wandmalerei mit der in Natums [8. Jahrhundert]1139: Verlust der Per- spektive), die Eliminierung des Details (Oberflachenrelief eines romischen Portrats im Gegensatz zum Oberflachenrelief des Gesichts der Essener Goldenen Madonna [um 1000]1140, Ersatz der natiirlichen Proportionen durch die Betonung des spirituell Wichtigen (beliebige antike Korperdarstellung im Vergleich zur Sitzplastik der hi. Fides in Conques [10. Jahrhundert]1141: iibergrofi das [spatantike] Haupt, betont noch durch die leichte Neigung nach oben bei streng geradem Oberkorper und Unterschenkeln, im Haupt wie- derum iibergrofl die starren Augen), Verlust der zwischenmenschlichen Beziehungen (mit romischer Portratplastik und -malerei ist ein Augenkontakt moglich, nicht mehr mit den den Blick iiber den Betrachter ins Ungreifbare wendenden Personendarstellungen bis in die Spatromanik; dem entspricht, da6 in mehrfigurigen Darstellungen der Antike Blickkon- takt zwischen den Figuren vorkommt, wogegen die spateren stets aneinander vorbeise- hen1142; schliefilich Einbetten des Menschen in grofiere Strukturen, in denen er ornamental «eingeebnet» fast verschwinden kann (besonders im Irischen, Book of Kells etc.) und Unterordnung in einer Hierarchie (z. B. im Thema des von den kleinen Apostelgestalten flankierten thronenden Christus in der Mandorla).1143 Sehen wir uns nun die fruhmittelalterlichen Visionen der ersten Phase daraufhin an, inwieweit sich in ihnen Elemente der genannten Tendenzen wiederfinden lassen, so gibt es einige, die in den zeitgenossischen Schauungen wenig oder gar keine Rolle spielen - jeden- falls keine charakteristische. So durfte es kaum moglich sein, das «senectus»-Ideal an ihnen deutlich zu zeigen, kaum scheinen Spuren der heidnischen Religionen auf (z. B. die 1137 BOhler, Kultur 81 ss, der aufgrund literarischer Quellen den «senex» als Ideal dieser Zeit bezeichnet. Mit dem tatsachlichen Durchschnittsalter der Herrschenden stimmt dies nicht unbedingt uberein. 1138 Die Bemerkungen zu diesem Thema beruhen hier und im folgenden primar auf eigenen Beob- achtungen 1139 Abgebildet z. B. bei Walter Myss, Benedikt Bosch, Die vorgotischen Fresken Tirols, Wien 1966, 35 ss 1140 Abgebildet z. B. bei John Beckwith, Die Kunst des fruhen Mittelalters, Munchen, Zurich 1967, 141 1141 Abgebildet z. B. bei Henri Focillon, Art d’Occident (Livre de Poche 1922), Paris "1972, 1,174 s 1142 Ausnahmen gibt es in der ottonischen Malerei 1143 Die zitierten fruhmittelalterlichen Kunstwerke sind nattirlich absichtlich solche, in denen die Andersartigkeit im Vergleich mit der Antike besonders greifbar wird; aber auch an der stark klassisch orientierten kiinstlerischen Produktion namentlich fur den karolingischen Hof liefien sich dieselben Merkmale, wenn auch abgeschwacht, aufzeigen
Friihmittelalter 237 Regenbogenbriicke in der Vision einer englischen Frau1144) und schon gar nicht jene Elimi- nierung des Raumes, die fur die bildende Kunst so bezeichnend ist. Es sind zwar eschatolo- gische Raume, die die Seher beschreiben, und nicht irdische, aber sie sind fiir sie wichtdger als fiir ihre Nachfolger in der zweiten Phase der Visionsliteratur, wenn auch eine gewisse Sparsamkeit im Detail bei der Offenbarungsliteratur genauso festzustellen ist, wie im ubrigen Schrifttum vor dem beginnenden Hochmittelalter.1145 Dafiir aber wird der Kom- plex jener Zeit ausreichend deudich, der als Schilderung der zwischenmenschlichen (und menschlich-gottlichen) Beziehungen in rechdichen, einer strengen Hierarchie und Distanz entsprechenden Formen umschrieben werden konnte. Wir haben oben gezeigt1146, wie gering und sachlich die Kommunikation zwischen dem Ekstadker und seinem als Engel oder Heiligen ja weit liber ihm stehenden Fiihrer durch die andere Welt ist, wie etwa ein Visionar des siebten Jahrhunderts als «pauper» vor der «potens maiestas Domini» erstarrt (Baldarius), ein Reichenauer Monch der Karolingerzeit sich in Proskynesis vor den Heili¬ gen verdemutigt, ohne von der angebetenen Gottheit einer direkten Ansprache gewiirdigt zu werden (Wetti), ein spaterer Seher der Gottesmutter sein feudales «servitium» und «obsequium» gelobt (Gunthelm). Der Abstand zwischen den Himmlischen und den Menschen ist sehr grofi: das Verhal- ten des jungen Agustus zeigt das exemplarisch. Seine Reaktion auf die Personen des Paradieses ist sofort und unverlangt eine Demutsgebarde: er kiifit alien Anwesenden die Fu6e. Als der Herr ihn anblickt, wird er von heftigem Zittern erfafit . ,.1147 Und auch zwischen den Gestalten der anderen Welt selbst ist kein vertrauter Kontakt festzustellen. Viele Visionen dieser Phase bis hin zum Tundal beginnen mit einem Kampf der guten und bosen Engel um die Seele (Stephanus1148, Barontus, Monch von Wenlock, Wetti, Laisren usw.). Dabei erfolgt jedesmal ein richtiggehender Rechtsdisput mit dem Tenor, dal? die Damonen den Sunder «гейт ... iuris eorum et condicionis indubitanter» besa- fien.1149 1150 Es ist eben auch dieses Rechtsdenken, das aus so vielen anderen Quellen erhellt, und nach dem der Mensch tiberhaupt durch Adams Versagen der gottlichen «Huld» verlustig gegangen ist, des «zwischilis dodis scbuldig»1,so, bis Christus ihn durch seinen eigenen Tod aus der Gewalt des «wetbil» (Gerichtsboten des gottlichen Zorns, d. h. Luzifers) erlost. Da mul?te der Teufel herausgeben, «daz er e von scbuldin mochti ha- bin.»1151 Diese Vorstellung von der «unter der lex peccati, unter der Kausalitat von Siinden- schuld und Folge»1152 stehenden Menschheit ist allgemein verbreitet. Genauso ist die Sunde 1144 Bonifatius, Ep. 115; cf. Dinzelbacher, Jenseitsbrucke 105 s 1145 cf. oben S 121 ss 1146 S.148 ss 1147 Paulus v. Merida (?), Vit. patr. Emer. 1,1,7, Garvin, Vitas 140 ss 1148 Gregor d. Gr., Dial. 4,36 (37) 1149 So die typische Formulierung der «antiqui hostes» in der Vision des Monches von Wenlock, Bonifatius, Ep. 10, MG Epp. sel. 1,10 1150 die «Mors secunda» der Apokalypse 20,14, d. h. die Holle 1151 Summa Theologiae (Anfang 12. Jh.) 117 ss, Th. Schauffler ed., Althochdeutsche Literatur (Sammlung Goschen 28), Berlin, Leipzig 31921, 152 s 1152 Paul Th. Hoffmann, Der mittelalterliche Mensch gesehen aus Welt und Umwelt Notkers des Deutschen, Gotha 1922, 266
238 Geistesgeschichte des einzelnen (des Visionars) ein Rechtsbruch, durch den fur den Teufel ein Rechtsan- spruch auf ihn begriindet wird. Betrachten wir die literarische Form der frtihmittelalterlichen Visionen, dann sehen wir sie durch ganz verschiedene Medien tiberliefert. In Briefen und Heiligenviten, in erbauli- chen Sammlungen und historischen Werken sind sie zu finden, in Prosa und Dichtung. Soweit fiir uns greifbar, existiert die Visionenliteratur als ein eigenstandiges Genus, also tradiert nicht innerhalb irgendwelcher anderer Werke, seit dem spaten siebten Jahrhundert («Visio Baronti»). Eben aus dieser Zeit ist auch die erste Sammlung der Gesichte einer Seherin bezeugt, wenn auch nicht erhalten (Aldegunde); eine Form, die gegen das Spatmit- telalter zu die charakteristische werden sollte. Die haufige Aufnahme in biographische und geschichtliche Darstellungen beweist, wie sehr dieses Charisma als ein real-historisches Ereignis im Gang der Heilsgeschichte gait. Dal? neben die meist kurzen und unselbstandi- gen Texte, mit denen fiir uns die Visionsliteratur im sechsten Jahrhundert beginnt, auch ausfuhrlichere und unabhangige treten, deren Zahl gegen das Hochmittelalter zunimmt, entspricht der Entwicklung der mittelalterlichen Literatur, die allgemein immer beredter und detailreicher wird. Allein die Sprache, genauso wie der Stand der Aufzeichner und der Propugnatoren, verweist auf ein monchisch gebildetes Publikum; gelegentlich aber werden auch, sogar mit gefalschten Texten, Konig und Hof angesprochen. Mit einer weiteren Verbreitung wird schwerlich zu rechnen sein, zumal im frtihen Mittelalter die Predigt noch keine so wichtige Stellung in der Volksseelsorge einnimmt, weshalb es auch noch keine Exempelsammlun- gen gibt. Dal? sich im Hochmittelalter tiefgreifende Veranderungen in der materiellen, sozialen und geistigen Kultur Europas vollziehen, haben viele Einzeluntersuchungen sowie Gesamt- darstellungen zusammenfassender und interpretierender Art erwiesen.1153 Wenn wir versuchen wollen, in den vielfaltdgen neuen Tendenzen, die sich ab der zweiten Halfte des 11. Jahrhunderts zu zeigen beginnen, sich im 12. Jahrhundert auspra- gen und im 13. konsolidieren, einige gemeinsame Grundstromungen zu erkennen, dann sollten zwei Vorbehalte bewufit bleiben: Erstens, dal? das Neue, sobald es aufkommt, nicht schlagartig das Alte ersetzt, sondern dieses parallel oder dialektdsch neben dem Neuen weiterexistiert, wenn auch schwacher werdend und sich mehr und mehr auf das «Volk» 1153 Friedrich Heer, Aufgang Europas, Wien, Zurich 1949 (grundlegend; cf. die Besprechung von Theodor Mayer, Das Hochmittelalter in neuer Schau, Historische Zs. 171,1951,449-472); id., Die Tragodie des Heiligen Reiches, Wien usw. 1952/3; id., Mittelalter, Zurich 1961; Julius Schultz, Wandlungen der Seele im Hochmittelalter, Breslau 21940 (materialreich); Karl Bosl, Gesellschafts- wandel, Religion und Kunst im hohen Mittelalter, Munchen 1976; id., Armut, Arbeit, Emanzipation. Zu den Hintergriinden der geistigen und literarischen Bewegung vom 11.-13. Jh. in: Knut Schulz, ed., Beitrage zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters (FS Herbert Helbig), Koln, Wien 1976, 128-146; JaquesTE Goff, Das Hochmittelalter (Fischer Weltgeschichte 11), Frankfurt/M. 1965 u.o.; Henry Adams, Mont-Saint-Michel & Chartres (Anchor A 166), New York "1959; Sidney R. Packard, 12th Century Europe, Amherst, Mass. 1973 usw. Eine vielseitige regionale Darstellung bietet Bernd Thum, Aufbruch und Verweigerung. Literatur und Geschichte am Oberrhein im hohen Mittelalter, Waldkirch i.Br. 1980
Hochmittelalter 239 (im Sinne der Volkskunde1154) beschrankend. Zweitens, dal? viele der hier angesprochenen Veranderungen im geistigen Bereich auch durchaus in dem der materiellen Kultur nachzu- weisen waren (so z. B. die fortschreitende Differenzierung an dem Obergang von einteiliger Schlupfkleidung zur bis heute tiblichen zweiteiligen Kleidung im Spatmittelalter; die star- kere Betonung individueller Verschiedenheiten durch korpernah geschnittene, taillierte Gewandung in der Gotik; oder, auf einem anderen Gebiet, der Ausbau bzw. Ersatz von Motte und Donjon durch die vielteilige Burganlage mit Vorwerk, Zwinger, Mauertiirmen, mehrfachem Bering usw. als Zeichen der Differenzierung im hohen Mitteialter). Wenn wir hier neue Tendenzen nur im Bereich der Geistesgeschichte beschreiben, so heifit dies nicht, dal? damit eine zeitliche und kausale Prioritat dieser Phanomene vor denen der materiellen Kultur, der Wirtschafts- und Sozialentwicklung intendiert ware. Handel, Stadt, Geldwirt- schaft stehen in untrennbarer Wechselwirkung mit dem Denken der Intellektuellen (beson- ders greifbar etwa bei dem im Hochmittelalter aufbltihenden Armutsideal.11543) Wir mochten nun vier dieser neuen hochmittelalterlichen Tendenzen darstellen, von denen es scheint, dal? sie sich auf verschiedenen Lebens- und Denkbereichen nachweisen lassen, um sie mit der Entwicklung in der Visionsliteratur zu vergleichen: es sind die Phanomene der Differenzierung, der Individualisierung und Humanisierung, der Emotio- nalisierung und der Rationalisierung. Sie mussen in der historischen Analyse zwar einzeln dargestellt werden, gehoren aber zusammen zu den Elementen des hochmittelalterlichen Umbruchs, sind Aspekte eines Syndroms. Diese Begriffe mogen nicht mifiverstanden wer¬ den; sie sind hier nur in der unten jeweils genannten Bedeutung gemeint und haben mit etwa der Humanisierung und Rationalisierung der jtingsten Zeit nichts zu tun. Dal? sich Leben und Reflektieren im Lauf der Zeiten stetig in immer weiter unterteilten und komplizierteren Formen abspielen, ist uns durch die Vorstellung des Christentums eines sich liniear fortentwickelnden Geschichtsablaufes, verstarkt durch das Evolutions- denken seit der Industrialisierung, gelaufig. Wenn auch dahingestellt bleiben moge, ob diese Differenzierung seit dem 11. Jahrhundert kontinuierlich zunahm1155, oder ob es nicht auch immer wieder gegensatzliche Wellen der Vereinfachung gab, so ist diese Tendenz fiir das hohe Mitteialter selbst jedenfalls uniibersehbar. Differenzierung meint, dal? an die Stelle weniger grofierer Einheiten mehrere kleinere treten. Die bildende Kunst bietet die augenfalligsten Beispiele: Je spater die Romanik, desto lieber verzichtet sie auf die den ganzen Kirchenraum umfassende, vereinheitlichende Holzdecke zugunsten der den Raum in viele Einheiten zerlegenden gewolbten Joche. Die Kreuzrippengewolbe der Gotik wer¬ den ab der Mitte des 13. Jahrhunderts weiter in stem- und netzformige Flachen geteilt («figurierte Gewolbe»), die dadurch wieder eine (die Renaissance prafigurierende) raum- iibergreifende Funktion erhalten. Das einfache Radfenster wird zur vielspeichigen Rosette. 1154 cf. die Begriffe des «vulgus in populo» und «vulgus in individuo» als Bewahrer alterer Verhalt- nisse, Adolf Bach, Deutsche Volkskunde, Heidelberg 31960, 61 s; Erich, Worterbuch 871 ss, 877 ss I1S4a Man denke an die Polemik Bernhards und Abaelards gegen die reichgewordenen Monche und Weltgeistlichen 1155 Eine solche Lime zeichnet z. В. Norbert Elias, Ober den Prozefi der Zivilisation (suhrkamp ТВ W158/9), s.l. "1977 fur das immer mittelbarer werdende Verhalten in sozialen Situationen an Hand von Benimmregeln u.a.
240 Geistesgeschichte Durch die Verdrangung der Chorschranken durch den hohen Lettner wird der Sonderbe- reich der Kleriker noch deutlicher aus dem gemeinsamen Kirchenraum ausdifferenziert. Wahrenddem die Hochromanik nur einzelne Bauteile durch Skulpturen hervorhebt, ver- vielfachen sich die Anbringungsmoglichkeiten bei den spatromanischen «Schmuckkir- chen». In den Endgerichtsdarstellungen der Tympana des 12. Jahrhunderts driickt sich dieser Wille zur Differenzierung in streifen- und segmentformigen Gliederungen der ver- schiedenen vordem ungetrennten Gruppen aus, sich in der Gotik zum «klassischen» Sche¬ ma entwickelnd und erstarrend. Die langen Bahnen gotischer Fenster ermoglichen die Aufnahme von vielfigurigen, tibereinandergestellten Szenen an Stelle der einen formatfiil- lenden Person der Romanik (Augsburg). In der Musik1156 zeigt sich diese Differenzierungstendenz sehr deutlich in der Entwick- lung der Polyphonie, indem der einstdmmigen gregorianischen Melodie parallele und schweifende Zusatzstimmen beigegeben werden. Bereits um 1200 komponiert Perotin drei- und vierstimmig! Wenn wir uns dem religiosen Leben zuwenden: welche Vielfalt bliiht hier seit dem spaten 11. Jahrhundert auf! Statt des einen Ordens des hi. Benedikt treffen wir auf Kartau- ser, Pramonstratenser, Zisterzienser1157, zu denen im friihen 13. Jahrhundert noch die Bet- telmonche kommen. Diese bleiben in der katholischen Kirche. Ihr «Einparteiensystem» wird freilich von mehr und mehr Menschen in Frage gestellt, die ein alternatives Christen- tum (die Hetero-doxien) oder eine kaum mehr christliche Lebensanschauung (manche Vaganten) praktizieren wollen. Die Tendenz zum «Mehrparteiensystem» wird greifbar, das sich innerhalb des Christentums in der Reformation, als Moglichkeit neben dieser Religion in der Aufklarung durchsetzen wird. Immerhin stellt um 1240 Albertano von Brescia die «vita contemplativa» des Einsiedlers als gleichwertig mit der «vita activa» des Burgers hin.1158 Wie in der Realitat des 12. Jahrhunderts sich nunmehr verschiedene Herrschaftsformen nebeneinander finden, etwa die «civitates» neben der bischoflichen eine eigene Regierung bekommen oder Territorialherrschaft mit Landesrechten die personale Herrschaft und die Volksrechte verdrangt', so wird auch die Sozialtheorie der Zeit vielfaltiger, wenn auch nicht ohne die wirklichen Verhaltnisse weiterhin zu vereinfachen: die binaren Gegensatz- paare «clericus-laicus» und «potens-pauper» werden durch Dreiergruppen ersetzt: «orato- res-bellatores-laboratores», «maiores — mediocres - minores».1159 Berufliche Gruppen wer¬ den nun in grofierer Vielfalt aufgezahlt.1160 Schliefilich der tiefe Umbruch in Sprache und Literatur: aus recht unterschiedlichen Dialekten werden literaturfahige Volkssprachen (Ubergang vom Alt- ins Mittelhochdeut- 1156 Gustave Reese, La musica nel medioevo, Firenze 1960 (Music in the middle ages, New York 1941); Alec Robertson, Denis Stevens edd., The Pelican History of Music I, Harmondsworth 1960 u.o. 1157 um exakt zu sein: ein benediktinischer Zweigorden, der jedoch in der Praxis mehr als selbstan- dig auftrat 1158 De amore et dilectione dei et proximi et aliarum rerum et de forma vitae, Firenze 1610 u.o. 1159 Georges Duby, Les trois ordres ou I’imaginaire du feodalisme, Paris 1978; O. Niccoli, I sacer- doti, i guerrieri, i contadini. Storia di un’immagine della societa, Torino 1979 1160 Le Goff, intellettuali 60 s
Hochmittelalter: Differenzierung 241 sche usw.)1161, neben die mittellateinische tritt eine okzitanische, franzosische, deutsche Dichtung, die aufgezeichnet und vorgelesen wird (statt der alteren mundlichen Tradition), Der Vielfalt der nunmehrigen Literatursprachen analog ist die Vielfalt der Genera des Schrifttums, von denen manche in dieser Zeit (wenigstens fiir uns) ihre Geburt erleben, wie Minnelyrik und Roman, Wenn in so vielen Lebens- und Denkbereichen das Hochmittelalter durch eine Tendenz zur Differenzierung gekennzeichnet ist, wie steht es hier mit dem Visionswesen? Zwei qualitativ ganz verschiedene Phanomene sind zu nennen: Die Visionen des alten Typs treten im zwolften Jahrhundert in eine Phase des Luxurierens, nach der sie (fast gemafi biologischer Gesetzmafiigkeit1162) verbliihen. Die grofien Jenseitsreisen des Alberich, Owen, Tundal, Gottschalk, Edmund, Thurkill und wohl auch Olav haben an Umfang, detailreicher Beschreibung und Zahl der «Wegstationen» keine Parallelen im Fruhmittelal- ter. Sie zeugen ungeachtet ihres furchtbaren Inhalts von einer lebhaften Erzahlfreude, wie sie auch fiir die meisten anderen Werke der Literatur wahrend der «Renaissance des zwolften Jahrhunderts» kennzeichnend ist. Fast konnte man sie die aszetischen Gegenstiik- ke der hofischen Romane nennen, was sich u. a. am gemeinsamen Thema der gefahrvollen Reise sowie an Einzelmotiven1163 erweist. Die neuen Visionen dagegen sind ja betont kurz und entbehren einer differenzierten Raumschilderung. Nicht in ihrer Erlebnisart liegt ihre Vielfalt, sondem in ihrer Erlebnis- haufigkeit. Wahrend in der ersten Phase dem Visionar jeweils nur eine einzige Schau gewahrt wurde, fallen die Visionarinnen ab dem zwolften Jahrhundert fast an alien wichti- gen Tagen des liturgischen Jahres in Ekstase, konnen sie im Laufe ihres Lebens oft auf Hunderte von Offenbarungen zurtickblicken. Diese erscheinen folgerichtig nicht mehr als einzelne «visiones» in andere Werke inkorporiert, sondem bilden Sammlungen, in die auch Berichte liber andere Charismata aufgenommen werden konnen, Reflexionen, Gebe- te, Homiletisches (Mechthild von Magdeburg z. B.). Wenn die Visionen, wie auch im Fruhmittelalter, innerhalb einer Vita aufscheinen, so bilden sie aber auch dort nicht selten ein eigenes corpus, indem sie nicht jeweils an ihrem chronologischen Platz erzahlt werden, sondem zu einem eigenen Kapitel «Revelationes» zusammengefafit werden (z. B. Beneve- nuta). So ist das formale Element der Darstellung eine Funktion der Erlebnisweise, Der allgemeine Trend zu starkerer Differenziemng manifestiert sich also etwa gleichzei- tig in Тур I durch szenenreichere (und damit langere) Schauungen, in Тур II durch die Vielzahl der (kurzen) Schauungen selbst. Dieses Kennzeichen bleibt ihm dann bis in die Neuzeit. Es sei angemerkt, dal? sehr bald nach dieser Differenzierung (wohl als Reaktion) nicht selten Zentralisierungsbestrebungen auftreten, in der Baukunst ausgedruckt etwa durch die Hallenkirche und das Interesse an Zentralbauten.1164 In der politischen Geschichte ist bekannt das Entstehen straff zentralisierter Monarchien in Frankreich, England und Skan- 1161 Philippe Wolff, Sprachen, die wir sprechen, Munchen 1971 (Les origines linguistiques de l'Europe occidentale, Paris 1971) 1162 cf. Otto Konig, Kultur und Verhaltensforschung (dtv 614), Munchen 1970, 57 ss, 149, 151 1163 z. B. die Brucke, Dinzelbacher, Jenseitsbrucke 107 ss, 176 1164 Wolfgang G6tz, Zentralbau und Zentralbautendenz in der gotischen Architektur, Berlin 1968
242 Geistesgeschichte dinavien, angekiindigt durch den normannischen Beamtenstaat. In der politischen Theo- rie, z.B. im Thomas Becket gewidmeten «Policraticus» des Johannes v. Salisbury1164®, zeigen sich schon die beiden dialektischen Stromungen, indem der Autor den Staat zwar dem menschlichen Korper mit seinem Zusammenspiel der einzelnen Organe vergleicht, die harmonisch zusammenwirken sollen (Differenzierung), gleichzeitig aber betont, dal? Kle- rus und Fiirsten als Haupt und Seele den Organismus von oben bewegen und lenken (Zentralisierung). In den Naturwissenschaften1165 zeigt sich wieder eine starkere Neigung, das Weltall und die Geschopfe hierarchisch auf Gott hinzuordnen, der direkt das Weltge- schehen bewegt, ein Aspekt, der im frtihen zwolften Jahrhundert zuriickgetreten war. Wollte man auch hier eine Parallele bei den Visionen ziehen, so lafit sich sagen, dal? die Seherinnen des dreizehnten Jahrhunderts sich starker auf eine Person, namlich Christus, konzentrierten als die im zwolften (man vergleiche z. B. Gertrud d. Gr. mit Elisabeth v. Schonau). Auch die Bedeutung der «unio mystica», nach der die Ekstatikerinnen des drei¬ zehnten Jahrhunderts so intensiv verlangen (Hadewijch!), weist in diese Richtung. Als ein weiteres bestdmmendes Moment der von uns betrachteten Zeit lafit sich, so bei der sich rasch vergrofiemden Schicht der Intellektuellen1166, eine bisher unerhorte Wertung der eigenen, verntinftigen Uberlegung isolieren. Viele Gebiete des Lebens werden nach und nach starker als bisher, der «ratio» des eigenen «ingenium» unterworfen, nach den Prinzi- pien der Logik geordnet, statt nur von den herkommlichen Ansichten der «auctores» bestimmt zu werden. Dieses Phanomen sei hier als Rationalisierung bezeichnet. Auch die neuen stadtischen Handler und Handwerker «wurden geleitet und angetrieben von den Ideen des Nutzens und Profits, der Arbeit und Rationalitat oder Praktikabilitat, durch einen neuen Realismus und rationalen Trend (im Sinne Max Webers)».1167 In der Kunst spricht sich dieser Rationalismus klar in dem einem logischen Aufbauprinzip unterworfe- nen gotischen Konstruktionssystem aus, mit seinen nach Triangulatur und Quadratur erstellten Mafien, seinem den ganzen Bau von den Pfeilerbasen bis zum Gewolbescheitel einheitlich durchstrukturierenden statischen Gerippe. Die romanische Addition eher aut- arker kubischer und tonnenformiger Elemente weicht einem systematischeren Bauwillen. Ahnlich systematisch werden andere Bereiche durchdacht, so der des Rechts, das, von einem neuen Berufsstand verwaltet, eine erste Rezeptionsphase des spatantiken romischen «corpus Iuris» auch aufierhalb der Kirche erfahrt.1168 In der stark von arabischen Wissen- schafdem beeinflul?ten Naturbeschreibung und -erklarung erscheint Ordnung als so pri- mare Kategorie, dal? ein anfangliches (biblisches) Chaos abgelehnt wird.1169 Am bekannte- sten ist diese Erscheinung aber auf dem Feld der Philosophic und Theologie. 1,64a cf. Wolfgang Sturner, Die Gesellschaftsstruktur und ihre Begrundung bei Johannes von Salisbury, Thomas von Aquin und Marsilius von Padua, Miscellanea Mediaevalia 12, 1979, 162-178,163 ss; Tilman Struve, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittel- alter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 16), Stuttgart 1978, 123 ss, 146 ss 1165 August Nitscqke, Naturerkenntnis und politisches Handeln im Mittelalter, Stuttgart 1967; id., Revolutionen in Naturwissenschaft und Gesellschaft, Stuttgart 1979 1166 Jaques Le Goff, Gli intellettuali nel medioevo, Milano 1979 1167 Bosl, Gesellschaftswandel 22 1168 Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte I (го го ro Studium 8), Reinbek 1972, bes. 239 s 1169 Le Goff, intellettuali 54; Nitschke, Handlen 90, 99
Hochmittelalter: Ratio 243 Es ist die gleiche Methode, die so verschiedene Denker wie Anselm von Canterbury (von dem sein Biograph iibrigens mehrere Visionen berichtet) einerseits, Berengar von Tours, Roscellin von Compiegne und Peter Abaelard andererseits verwenden, wenn auch in ver- schiedenen Abstufungen.1170 Wahrenddem Anselm rationales Forschen zwar praktiziert und speziell auch mit einem Blick auf die Unglaubigen vorfiihrt, dieses Vorgehen jedoch klar den Autoritaten und dem Glauben unterordnet1171, vertritt Abaelard mit bitter bezahl- ter Kiihnheit eine Denkweise, die auch die (im Sinne Bernhards formuliert) tiefsten und unergrundlichsten Geheimnisse der katholischen Theologie einer von jeder «auctoritas» unbeeindruckten rationalen Analyse unterzieht.1172 Mit dem «Sic et Non», das die alten Autoritaten gegeneinander ausspielt, hat Abaelard Europa einen ersten «Discours de la Methode» gegeben.1173 Dal? es Nominalismus und Aristotelismus sind, die sich im spateren Mittelalter durchsetzen, ist ein Zeichen dieser (von unserem Standpunkt) irdisch-realitats- naheren Denkweise. Ihre ordnende und systematisierende Seite wird sichtbar in den enzy- klopadischen Sentenzenbiichem, denen sich dann die grol?en Summen des dreizehnten Jahrhunderts anschlieSen. In der erregten Atmosphare der ekstatischen Schau wird man schwerlich Ziige rationa- ler Natur erwarten. Dennoch sind solche zumindest in der Form sichtbar, in denen diese Gesichte aufgezeichnet wurden. Nicht nur, dal? geme das Gliederungsprinzip des Kirchen- jahres das zeitliche Gertist fur sie abgibt - besonders die auf Vollstandigkeit zielenden allegorischen Auslegungen machen mehr den Eindruck iiberlegter Interpretationsschemata denn spontaner Eingebung. Speziell die Helftaerinnen und Agnes Blannbekin (im Spatmit- telalter aber eher noch starker Katharina von Siena und Birgitta von Schweden) zeichnen sich durch solche Allegoresen aus, die die urspriingliche Schau um ein Vielfaches an Umfang iibertreffen.1174 Wo man dagegen vergeblich nach rationalistischen Einschlagen suchen wird, ist das Gebiet der personlichen Beziehung von Seher und Personen der Uberwelt. Hier manifestiert sich viel mehr die vielleicht geschichtlich wichtigste Neuerung des hohen Mittelalters, die man die Entdeckung der Liebe nennen konnte. Sie gehort zusammen mit einem Phanomen, das man als Humanisierung und als Individualisierung umschreibt. Ihm, da in den Visionen der neuen Phase besonders eklatant, wollen wir uns ein wenig ausfiihrlicher zuwenden. Die «Geburt des Individuums» im spaten elften und zwolften Jahrhundert ist besonders in der Forschung der letzten Jahrzehnte von verschiedenen Gesichtspunkten aus registriert 1170 Hermann Ley, Geschichte der Aufklarung und des Atheismus 2/2, Berlin 1971, 17 ss; Heer, Aufgang 165 ss; LexMa 1,7 ss (s.v. Abaelard, dazu: M. Teresa Beonio-Broccieri, Introduzione a Abelardo [IFilosofi 21], Roma, Bari 1974) 1171 «rectus ordo exigit ut profunda Christianae fidei prius credamus, quam ea praesumamus ratione discutere...»,«... si quid dixero quod maior non confirmet auctoritas - quamvis illud ratione probare videar ... interim ita mihi videtur, donee deus mihi melius aliquo modo revelet», Cur Deus homo 1,1; 1,2 ed. Franciscus Salesius Schmitt, Munchen 1956, 10, 14 1172 «Petrus Abaelardus ... totum quod Deus est humana ratione arbitratur se posse comprehende- re.» So Bernhard v. Clairvaux, Ep. 191, Leclercq, Opera 8,41 1173 wie Le Goff, intellettuali 48 es formuliert; das Verfahren lal?t sich kontinuierlich bis Augusti¬ nus zuruckverfolgen, die Systematik der Dialektik ist abaelardisch, cf. auch KLL s.v. «Sic et non» 1174 cf. oben S. 176 ss
244 Geistesgeschichte worden.1175 Gemeint ist damit, dal? allenthalben unsere Quellen mehr und mehr ein Interes- se fiir das Personliche und den Einzelnen zu erkennen geben, wogegen sie vordem starker Ausdruck eines im Kollektiven eingebundenen Denken, Fiihlen und Handeln waren. Die¬ ses Interesse kann vielleicht als der komplementare Aspekt zum Phanomen der Differenzie- rung begriffen werden, insofern diese ja in einem Nebeneinanderstellen von Einzelnem jeweils eigenen Wertes besteht. Realitat wird in grofierer Vielfalt erlebt und gestaltet. Werfen wir einen Blick zunachst auf sachliche Quellen, etwa auf den Kirchenbau ab dem spaten elften Jahrhundert. Hier werden statt der einen grofien, umfassenden Apsis im Osten geme eine Reihe isolierter Altarraume geschaffen, indem man einen platten Chorab- schlufi und die Ostwand des Querschiffes nach innen durch Mauerzungen in Kapellen gliedert (Hirsau, spater die Zisterzienserbauten wie Citeaux, Maulbronn usw.), oder einen Kapellenkranz an die Hauptapsis anfugt (Cluny III), oder diese in Kapellen aufteilt (Clair- vaux III), Das Ergebnis ist jedesmal das namliche: eine Privatisierung des heiligen Euchari- stieraumes, eine Riicksichtnahme auf den einzelnen Zelebranten, ein Schritt weg von der Gemeinschaftsliturgie. Sehr deutlich wird diese Tendenz zum Individuellen in der Art, wie Maler und Bildhauer nunmehr die Welt wiedergeben. Man hat in dieser Hinsicht die europaische Kunstge- schichte von der Antike bis zur Moderne in zwei Abschnitte eingeteilt: «die Leitvorstellung des ersten, etwa vom 3. bis 12. Jahrhundert reichenden ist das Symbol, die des zweiten, der mit dem 19. Jahrhundert zu Ende geht, die Nachahmung».1176 Man vergleiche etwa die Baumdarstellungen romanischer Miniaturen mit der «naturalistischen» Pflanzenwelt in den Kapitellen gotischer Kathedralen. Vor allem aber vergleiche man das romanische Menschenbild mit dem gotischen: der Typus wird durch das Individuum ersetzt, Starrheit durch Verlebendigung (die Relieffigur lost sich zur Rundplastdk, Proportionen und Bewe- gungen nahern sich dem Natiirlichen, doch idealisierend, ohne es erreichen zu wollen). Das Antlitz wird zum Spiegel der seelischen Gestimmtheit. «Die gottlichen und menschli- chen Gestalten werden immer menschennaher, immer natiirlicher, bis zum Schlul? eine Annaherung an die antike Gotter- und Menschenwelt eintreten kann.»1177 Dazu wiirde es freilich gut passen, wenn man auch die Entstehung des personlichen Portrats in dieser Zeit konstatderen konnte. Doch ist eine Formulierung wie die folgende schon das Aufierste: «Bildnisgeschichtlich bedeutet das romanische Zeitalter den ersten Schritt vom Idealbild zum <Charakterkopf>. In zunehmendem Mafie, aber nicht ohne Ruckschlage, werden indi- viduelle Zuge beachtet und festgehalten.»1178 Die realistische, auf Ahnlichkeit zielende Personendarstellung ist erst eine Schopfung des vierzehnten Jahrhunderts.1179 Fur den Bereich der Musik haben wir schon auf das Organum hingewiesen, in dem sich 1175 zusammenfassend: Heer, Aufgang pass.; Morris, individual pass.; Walter Ullmann, Indivi¬ duum und Gesellschaft im Mittelalter, Gottingen 1974; C. B6rub£, La Connaissance de I’individuel au moyen age, Paris 1964 1176 Werner Hofmann, Bildende Kunst II (Fischer Lexikon 22), Frankfurt/M. 1960 u.o., 7 1177 Hans Sedlmayer, Die Wende der Kunst im zwolften Jahrhundert, Vortrage und Forschungen 12, 1965/7, 425-440, 439; cf. id., Verlust der Mitte (Ullstein ТВ 39), Berlin 1955, 167 ss 1178 Paul Ortwin Rave, Bildnis, RDK1,639-680, 648; cf. Wolfram v. d. Steinen, Homo Caelestis, Textband, Bern, Munchen 1965, 103 ss 1179 cf. Anm. 1271
Hochmittelalter: Individuum 245 eben aus der kollektiven Monodie ein Neben- und Gegeneinander mehrerer Individual- stimmen entwickelt. Die Selbstandigkeit der begleitenden Stimme beweist sich dadurch, dafi sie einen anderen Text auf sich nimmt - dies ist der Ursprung der Motette. Am Beispiel der Musik sei darauf hingewiesen, dal?, wenn hier etwa von «Individualismus» die Rede ist, - wie bei alien anderen unserer Kennzeichnungen der Entwicklung durch einen Begriff! - selbstverstandlich spezifisch der Individualismus des hohen Mittelalters gemeint ist, der bestenfalls einen Schritt in Richtung eines spateren, dessen der Renaissance, bedeutet (der seinerseits wieder mit dem der jiingeren Neuzeit nicht identisch ist). Das Wesen der Grego- rianik des Fruhmittelalters besteht darin, dafi ein Sangerkollektiv eine einzige Melodie auf gleicher Tonhohe vortragt, eine einzige Stimme scheint so vielen Monchen gemeinsam zu sein. Ab dem 9. Jahrhundert begleitet die Choralstimme eine Zusatzstimme, zunachst ganz parallel gefuhrt, ab dem 11. Jahrhundert jedoch in Gegenbewegung, worin sich ein vorher ungekannter Individualismus manifestiert: zwei unterscheidbare Einzelstimmen treten an die Stelle der einen Kollektivstimme. Diese beiden „klanglichen Individuen" sind allerdings aufeinander bezogen - was wohl oft auch fur die Individuen auf anderen Gebie- ten im Hochmittelalter gelten diirfte (Bernhard v. Clairvaux: Seele - Gott; Chretien: Erec - Enide; Troubadour - Dame...). Im spaten Mittelalter singen mehrere Stimmen mit- und gegeneinander und verflechten sich im Hoquet; also eine Ausdehnung auf mehrere Indivi- dualstimmen. In der Renaissance dagegen zeigt sich der Individualismus in der neuentwik- kelten Monodie, bei der die Musik aus instrumental begleitetem So/ogesang besteht und sich noch dazu dem Affektgehalt des Textes, also Aussagen eines Individuums iiber sich selbst, unterordnet. Die logische Fortsetzung wird die Arie der Oper sein. Streifen wir auch die Gebiete von Politik und Recht: ohne auch hier nur die Frage stellen zu wollen, ob der Investiturstreit mehr Ursache oder Ausdruck (oder eher beides) des beobachteten Umbruches ist, erweist sich jedenfalls in der Betonung, mit der «regnum» und «sacerdotium» als Institutionen eines jeweils eigenen Wesens und Rechtes angesehen werden1180, die Aufgabe der vormals allgemein geglaubten und gelebten inneren Einheit der Christenheit, in der der Konig noch priesterahnliche Stellung innehatte («rex et sacerdos», «vicarius Dei» usw.)1181 In dieselbe Richtung weist auf anderer Ebene die Wichtigkeit, die ab dem zwolften Jahrhundert der eigenen, nationalen Heimat zugemessen wird (nament- lich in der Begriindung eines aus Vaterlandsliebe gefuhrten «iustum bellum»).1182 Nationa- le Ressentiments waren eine wesentliche Ursache fiir das Scheitem der Kreuzziige. Die Hinwendung zum Individuum wird in furchtbarer Form in der hochmittelalterli- chen Strafrechtspflege manifestiert. Wahrend im friihen Mittelalter die Volksrechte eine 1180 cf. z. B. Albert Brackmann, Die Ursachen der geistigen und politischen Wandlung Europas im 11. und 12. Jahrhundert, Historische Zs. 149, 1934, 229-239; Karl Jordan, Das Zeitalter des Investiturstreits als politische und geistige Wende des abendlandischen Hochmittelalters, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 23, 1972, 513-522 1181 cf, J. Gaudemet, Anointing in the Middle Ages, in: The New Catholic Encyclopedia 1, 1967, 566 ss; C.A. Boumann, Sacring and crowning, Groningen, Djakarta 1957; E. MOller, Die Anfange der Konigssalbung im Mittelalter und ihre historisch-politischen Auswirkungen, Historisches JB 58, 1938, 317 ss 1182 Bosl, Gesellschaftswandel 20 s
246 Geistesgeschichte Bufigerichtsbarkeit vorschreiben, wird diese seit den Gottes- und Landfriedensordnungen des elften Jahrhunderts in eine Blutgerichtsbarkeit umgewandelt, d. h. die Siihne ist nicht mehr durch Geldzahlung zu leisten (Kompositionsverfahren), sondern wird an Haut und Haar, an Hals und Hand vollzogen.1183 Wo vordem ein Wergeld zu zahlen war, werden nun grausamste Verstummelungsstrafen und Hinrichtungsarten vollzogen, die sich gegen das Individuum richten (Blendung, Zunge ausreifien, Glieder abhacken ...). Im alteren Recht konnte ein Mensch von einem Kollektiv, seiner Sippe, bei Zahlungen und Eiden entlastet werden, aber die Verstummelung nunmehr konnte ihm niemand abnehmen. Andererseits konnte er kraft seines Standes, also wieder der Zugehorigkeit zu einem be- stimmten Kollektiv, fur ein und dieselbe Tat in Kategorien verschiedener Bul?fahigkeit fallen1184; nunmehr werden diese Unterschiede nivelliert und die namlichen Korperstrafen auf alle Tater angewandt. Der Mensch als Individuum hat also Vorrang vor dem Men- schen als Mitglied einer Gruppe. Dazu kommt etwa ab der Mitte des dreizehnten Jahrhun¬ derts die systematische Anwendung der Tortur nicht als Strafe, sondern zur Erzwingung von Gestandnissen. Im Friihmittelalter konnte sie legal nur gegen Sklaven gebraucht wer¬ den, der Folter speziell des spatmittelalterlichen Inquisitionsverfahrens war prinzipiell jedermann verfallen. Am klarsten aber tritt das Individuum in den literarischen Denkmalem seit dem spaten elften Jahrhundert hervor, sowohl in denen lateinischer Sprache als auch in der neuen volkssprachlichen Dichtung. Das Thema ist fiir den weltlichen Bereich, der in der ganzen Oberlieferung rapide an Bedeutung gewinnt, eingehend untersucht.1185 Dabei fallt auf, dal? die Dichter nunmehr immer wieder Einschiibe in ihre Erzahlungen machen, in denen sie iiber sich selbst als Kiinstler und ihre Art zu schreiben reflektieren (besonders deutlich Gottfried von Stral?burg). Personliche Vorworte werden haufiger, was dem vermehrten Auftauchen von Kunstlerselbstbildnissen in illuminierten Handschriften seit 1100 ent- spricht («Imago pictoris et illuminatoris huius operis»): «the performing selv is one of the most important stylistic innovations of that fruitful time in the art of narration both in literature an in the visual arts... the emergence of the artist in his own work during the 12th century was a revolutionary event».1185® 1183 cf. Nitschke, Handeln 215 ss 1184 So wurde, ein beliebiges Beispiel, nach der Lex Alam. Hloth. 38 ein Knecht, der das sonntagli- che Arbeitsverbot nicht beachtet hatte, schon beim ersten Mai mit Kniitteln gepriigelt, ein Freier aber hatte drei Verweise gut und mufite erst beim vierten Mai ein Drittel seines Erbgutes zahlen 1185 R. Bossard, Uber die Entwicklung der Personlichkeitsdarstellung in der mittelalterlichen Ge- schichtsschreibung, Diss. Zurich 1944; Rudolf Teuffel, Individuelle Personlichkeitsschilderungen in den deutschen Geschichtswerken des zehnten und elften Jahrhunderts, (Diss. Tubingen) Dresden 1914 (= Hildesheim 1974); H. Troll, Personlichkeitsschilderungen in der Literatur der Stauferzeit, Diss. Miinchen 1947; Peter Dronke, Poetic Individuality in the Middle Ages, New Departures in Poetry 1000-1150, Oxford 1970; Robert W. Hanning, The Individual in Twelfth-Century Roman¬ ce, New Haven, London 197?; E. Cleo McNelly, The Individual in History: A Study of the «Histo- ria Novorum» of Eadmer and the «Historia Novella» of William of Malmesbury, Diss. New York 1978 ii«5a Martin Stevens, The Performing Selv in 12лсептгу Culture, Viator 9,1978, 193-212,193, 207
Hochmittelalter: Individuum 247 Am Beispiel des hofischen Epos, der sich in Nordfrankreich entwickelt, lassen sich etwa folgende eindeutig individualistische Ziige veranschaulichen: die Handlung als Ganzes hat die Entwicklung eines Individuums (Erec, Parzival) gegen innere und aufiere Widerstande auf seine Selbstverwirklichung hin zum Vorwurf. «The romance plot lacks any context larger than the lives of its protagonists.»1186 Die Wandlungen in ihrem Selbstbewufitsein wirken sich fast immer auf sie (oder nur auf ihre nachste Umgebung) personlich aus, nicht wie im Epos, auf eine ganze Armee (mogen es auch uberpersonliche Probleme des Men- schen sein, die im Mittelpunkt der Handlung stehen1187). Weniger in einem Verband kampft der Held nunmehr, sondern im Einzelgefecht oder als Einzelner gegen Viele. Sind die Geschicke zweier Ritter geschildert, so verweist die synchrone, von einem zum anderen wechselnde Handlung auf ihre Gleichwertigkeit. Nicht mehr durch aufiere, «objektive Konstellationen» wird den Helden ihr Schicksal bereitet (wie im germanischen Helden- lied), sondern es «ist das Schicksal in das Innere des Menschen gelegt».1188 Die Personen der alteren Dichtung batten eine gewisse Sicherheit in ihrem Verhalten, die Ursachen fur Leid lagen aufierhalb von ihnen — in den Romanen des spaten zwolften Jahrhunderts kommt dieses Leid aus ihnen selbst (Parzival!). Dem entspricht es genau, wenn in der zeitgenossi- schen Hagiographie nicht mehr ein fertiger Heiligentypus gegeben wird, sondern ein Mensch, der auch in sich das Bose bekampfen mufi.1189 Aus der personlichen Perspektive seiner Helden beschreibt der Dichter nunmehr die Aufienwelt (der anreitende Ritter sieht die Burg aus verschiedener Entfernung).1190 Die einzelnen Personen haben auch unterschiedliche Beziehungen zu den Dingen, ihre jeweilige «private awareness».1191 Besonders herausgearbeitet wird der eine, subjektiv erlebte kleine Augenblick, in dem lebensbestimmende Entscheidungen gefallt werden mussen. Auch das Seelenleben der Helden wird nun Gegenstand der Dichtung, ihre rationalen Uberlegungen, ihre Emotionen. Ein Ausdruck dieses neuen «psychologischen» Interesses ist etwa das Selbstgesprach. Namentlich in den Versromanen des Chretien de Troyes gibt es viele Szenen, die im alteren Heldenepos noch nicht denkbar gewesen waren. In der Minnedichtung bringt die hochmittelalterliche Literatur ein Genus hervor, das gleicherweise ein neues Erleben des Einzelnen voraussetzt. In ihr, wie formalisiert, wie hofisch und schulmafiig gebunden sie auch immer sein mag, geht es doch primar um die Selbstanalyse eines Individuums in bezug auf ein Gegeniiber, wozu die hofische Umwelt Hintergrund ist. In ihr wird ein historisches Ereignis manifest, das man «die Entdeckung 1186 Hanning, Romance 60 1187 so bei Hartmann, Wolfram, Gottfried im Unterschied zu den mehr am rein Individuellen interessierten Chretien, Ulrich v. Zatzikhoven, Moritz v. Craun, cf. Josef Sz6v£rffy, Bruch mit der Tradition: «Subjektivierende» Tendenzen in der Epik des 13. Jh., in: Karl Bosl ed., Gesellschaft, Kultur, Literatur, FS Luitpold Wallach (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 11), Stutt¬ gart 1975, 209-222, bes. 210 ss 1188 Wolfgang Mohr, Wandel des Menschenbildes in der mittelalterlichen Dichtung, Wirkendes Wort Sonderheft 1, 1952/3, 37-48, 46 1189 Schmitz, Traum 44; cf. auch Rosemarie Wolfert, Wandel der religidsen Epik zwischen 1100 und 1200, Diss. Tubingen 1963 1190 Hanning, Romance 163, 189 s, 275 1191 ibid. 89
248 Geiste$geschichte der Liebe im Hochmittelalter»1192 nennen kann und das auch in vielen anderen Bereichen dieser Zeit erfafibar ist. Die personlichste Regung des Inneren wird als geradezu lebensbe- herrschende Macht gezeichnet «Ben es mortz qui d’amor no sen / al cor cal que dousa sabor»1193 (Der ist doch tot, der in seinem Herzen nichts vom siifien Geschmack der Liebe fuhlt). «Swem von guoten wiben lieb geschiht, der hat alier saelden wol den besten teil.»1194 Dazu, wenigstens gleich oft beschrieben, das Leid der unerfiillten Liebe: wieder ein sich Offnen des Einzelnen, auch wenn die Form vielfach in gepragten Wendungen besteht. Nach der Sicht der Liebesdichtung ist es die personliche Hingabe des Mannes oder der Frau, die das emotionale Verhaltnis begrundet und dem die meist aus wirtschaftlichen und politischen Grtinden eingegangene Ehe ideologisch zu Opfer fallt. Nicht zu Unrecht hat man in der Liebeslyrik des Hochmittelalters den eigentlichen Bruch mit der klassischen Tradition gesehen. «Compared with this revolution the Renaissance is a mere ripple on the surface of literature.»1195 Mit dem Thema der Liebe, das ja auch andere Gattungen beherrscht, die lateinische Vagantenpoesie genauso wie den hofischen Roman, sind wir offenbar in einen Bereich geraten, der von dem der Individualisierung nicht zu trennen ist, namlich den der Emotio- nalisierung. Haufiger und ausfiihrlicher als bisher liest man in den Quellen von personli- chen Gefiihlen und ihrem Ausdruck, insbesondere von Zuneigungsemotionen. Die ganze Gefuhlsskala von defer Innerlichkeit bis eher aufierlicher Sentimentalitat wird nunmehr beschrieben, wohl kaum, weil dies blol? einer neuen dichterischen Konvention entsprach, sondem weil dem Menschen in seinem Verhalten offenbar neue Ausdrucksmoglichkeiten zur Verfugung standen. Wie oft werden die kiihnen Ritter so bewegt gezeichnet, dal? sie in Tranen ausbrechen.1196 Oder die Bedeutung des Herzens nunmehr als Sitz von Willen und Gefiihlen.1197 Die anthropologisch-psychologische Literatur seit Anselm von Canterbury wendet sich dementsprechend besonders den «affectus» und «affectiones», die den Men¬ schen leiten, zu.1198 Zeichen fur diese betonte Emotionalitat ist auch der nun nach der Welle der Freund- schaftsbriefe aus der Karolingerzeit wieder aufbliihende Freundschaftskult, an dem fast 1192 so der Titel meiner Antrittsvorlesung (Stuttgart 12.2.1980), erscheint Saeculum 32, 1981. Cf. Hennig Brinkmann, Geschichte der lateinischen Liebesdichtung im Mittelalter, Halle/S. 1925; Leo Pollmann, Die Liebe in der hochmittelalterlichen Literatur Frankreichs (Analecta Romanica 18), Frankfurt/M. 1966; Annemarie und Werner Leibbrand, Formen des Eros I (Orbis Academicus Sonderband 3/1), Freiburg, Munchen 1972; Leslie Thomas Topsfield, Troubadours and Love, Cambridge 1975 usw. 1193 Bernard v. Ventadour 31, 9 s zit. Morris, individual 116 1194 Meinloh v. Sevelingen 13,1, Gunther Schweikle ed., Die mittelhochdeutsche Minnelyrik I, Darmstadt 1977, 134 1195 Lewis, love 4 1196 Schultz, Seele 2, 175 ss; Heinz G. Weinand, Tranen. Untersuchungen iiber das Weinen in der deutschen Sprache nnd Literatur des Mittelalters (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Litera- turwissenschaft 5), Bonn 1958 1197 Morris, individual 136 s; Horst Wenzel, Frauendienst und Gottesdienst (Philologische Stu- dien und Quellen 74), Berlin 1974; cf. Trutpeter Hohes Lied 53,21 ss 1198 Morris, individual 183 (Register s.v.)
Hochmittelalter: Liebe 249 alle bedeutenden hommes de lettres des zwolften Jahrhunderts beteiligt sind, vor allem naturlich der hi. Bernhard. Hand in Hand damit geht ein verstarktes Interesse fur Ciceros spaten Dialog «Laelius de amicitia».1199 1200 Diese Sehnsucht nach Freundschaft richtet sich beim homo religiosus naturlich auf Gott - Aelred von Rievaulx stellt den Aufstieg der Seele von der Christenfreundschaft zur Christusfreundschaft dar in «De spirituali amici- tia»,2fl0 —, und seit Bernhard findet sich der Ausdruck «Gottesfreund» immer wieder, bei einzelnen wie bei Gruppen (oft ketzerischer Pragung1201). Damit betrachten wir bereits das geistliche Schrifttum ab dem spaten elften Jahrhun- dert, in dem der Zug zur Individualisierung und Emotionalisierung mindestens ebenso scharf hervortritt, wie in den von Laien stammenden Quellen. Wo man auch ansetzt, es ist eine Stromung unter vielerlei Formen. So der Wandel des Gottesbildes. «Cur Deus homo», fragte Anselm, und antwortete: «... necesse est ut de hominibus perficiatur ilia supema civitas (d. h. durch die Menschen soli die Zahl der gefallenen Engel im Himmel ersetzt werden), nec hoc esse valet, nisi fiat praedicta satisfactio (d. h. Suhne fur die Erbsunde), quam nec potest facere nisi deus nec debet nisi homo («denn der Suhnende mufi aus dem Geschlecht des Sunders stammen. Die germanische Grundlage: Rache — Blutrache — sip- penrechtliche Bindung wird hier klar ersichtlich. ... Christus ist nun zur Siihneleistung besonders befahigt, weil er der einzige Edelfreie, Vollfreie ist... sein Tod ist nicht ein Tod in der Horigkeit des Teufels1202, sondem ein Sterben aus eigener Macht»)1203: necesse est ut earn faciat deus-homo.»1204 Gott also wird Mensch, um seine Rechtsordnung wiederherzu- stellen, da sein Geschopf alleine nicht die Kraft zur Siihneleistung besitzt. Es gilt, den «honor» des Gotteskonigs zu emeuem: «Deshalb ist die Inkamation, die Tat des Gott- menschen Christus auf Grund der religios-politischen Erfordernissen des Himmelsstaates notwendig.»1205 Cur Deus homo dagegen bei Bernhard: «ut camalium videlicet, qui nisi carnaliter amare non poterant, cunctas primo ad suae carnis salutarem amorem affectio- nes retraheret, atque ita gradatim ad amorem perduceret spiritualem.»1206 Nicht mehr die verletzte Rechtsordnung des Gottesreiches erscheint also als Motiv, sondem: Liebe. Die vollig andere Argumentation weniger als ein Menschenalter nach Anselm spricht deutlich genug fur sich selbst.1207 Diese Liebe Gottes zu den Menschen, der Menschen zu Gott, der Menschen untereinander bildet ein Leitmotiv im Werk des grofien Liebenden (seine Briefe 1199 ibid. 97 ss; Schultz, Seele 2,204 ss 1200 cf. LexMa 1/1, 181 s 1201 cf. Anna Groh Seesholtz, Friends of God. Practical Mystics of the fourteenth century, New York 1934, 28 ss 1202 «Stipendia peccati enim mors» Rom. 6,21 1203 Heer, Auf gang 177 ss 1204 2,6 ed. Franciscus Salesius Schmitt, Munchen 1956, 96 1205 Heer, Aufgang 177 1206 Serm. in cant. 20, (V)6, Leclercq, Opera 1,118; cf. 20 (11)3; cf. unten Anm. 1220 1207 Deswegen hat Bernhard die alte rechtliche Motivierung nicht fallengelassen (Heer, Aufgang 185), diese Widerspruche sind typisch fur seinen Charakter. «Bernhard tragt zwei Menschen in seiner Brust: den religios-politischen Kirchenfiirsten alten Stils und den Fiihrer einer neuen spiritual-humani- stischen Bewegung» (ibid. 182)
250 Geistesgeschichte an Freunde!) und Hassenden (namentlich den Peter Abaelard).1208 Und letzterer — ein «Feindbruder» Bernhards — lehrt genauso, dal? die Menschwerdung ihren Grund nicht in der Notwendigkeit der Versohnung Gottes durch das Opfer des Sohnes findet, sondern in der Liebe Gottes.1209 Das Zuriicktreten des starr-rechtlichen Kompensationsschemas bei der Erklarung der Inkamation, sein Ersatz durch die Vorstellung von der bewegenden Gottesliebe findet eine Parallele z. B. in dem ganz anderen Bereich der menschlichen Ethik. Auch hier wird ein aufierlich-rechtliches System, das fur eine sundhafte Handlung auch dann eine bestimmte Bufileistung auferlegt, wenn sie ohne Willen des Taters geschieht1210, durch ein solches ersetzt, in dem die Emotionen der Seele Kriterien fur Schuld oder Unschuld sind. Nicht mehr die Siinde, sondern der Sunder steht im Vordergrund, d. h. seine Intention und bei der Bufie seine innere Herzenszerknirschung, und nicht mehr die offentliche Ausfiihning der kirchlichen Bufiriten. Die Handlung selbst ist neutral, auf den inneren «consensus» kommt es an. So die abaelardische Gesinnungsethik des «Scito te ipsum».1211 Andererseits genugt der freie Entschlufi, das «liberum arbitrium» zu einer guten Tat1212, wodurch wie- derum ein im Inneren des Menschen gelegenes Moment betont wird, statt der von aufien wirkenden Gnade. Auf anderem Gebiet, aber vergleichbar im ethischen Konzept, hatte sein alterer Zeitgenosse Guibert von Nogent festgestellt, dal?, wer vor unechten Reliquien oder mit den falschen Formeln betet, doch von Gott nach seiner «intentio» beurteilt werde.1212* Dal? dies nur besondere Formulierungen einer allgemeinen Tendenz sind, zeigen etwa die ab dem 11. Jahrhundert auch in der ersten Person verfafiten Bufigesange oder die steigende Haufigkeit und Wichtigkeit der Beichte, die ja die Seelenerforschung voraus- setzt.1213 Der letzte Komplex, auf den wir hier hinweisen wollen, mit den vorgenannten unlosbar verbunden, ist der, dal? der Mensch beginnt, Gott und die Welt immer mehr als auf ihn hingerichtet zu sehen, als ihm entsprechende, ihm zugangliche. In diesem Sinn wollen wir hier von Humanisierung sprechen.1213a Die Weltschopfung, so schreibt Wilhelm von Conches in der ersten Halfte des 12. Jahr- hunderts, ist wegen des Menschen geschehen: «proper hominis indigentiam [Deus] cetera creavit.»1214 Andere Autoren bestatigen dies.1215 Die Natur bekommt fur den Menschen 1208 cf. zuletzt Leclercq, love 121 ss 1209 Leif Grane, Peter Abelard, London 1970, 101 ss 1210 so stellt - ein Beispiel - der unter dem Namen des Egbert v. York laufende «Poenitentialis liber» 4 die unkontrollierbare Pollution im Traum unter eine Strafe von sieben Psalmen mit Kniebeu- gen sowie einem Fasttag (PL 89, 428A) 1211 cf. Odon Lottin, Psychologie et Morale aux XIIе et XIIIе 81ёс1ез, Gembloux 21957 ss, 4,309 ss; Heer, Aufgang 282 ss 1212 was den 6. Anklagepunkt gegen ihn auf dem Konzil von Sens bildete, H. Denzinger, Cl. Bannwart edd., Enchiridion symbolorum, Freiburg/Br., 171928, 169 s 12128 De pignoribus Sanctorum, PL 156, 607-680, 628 ss 1213 cf. Morris, individual 71 ss 1213a darin ist also die Bedeutung «sittliche Verbesserung» nicht eingeschlossen 1214 Comm, in Tim. Plat., zit. Nitschke, Handeln 9880 1215 Le Goff, intellettuali 55
Hochmittelalter: Der Mensch im Zentnun 251 wieder Wert, sei es im Erleben (Natureingang der Minnedichtung), das im Fruhmittelalter auf die keltische Welt beschrankt gewesen zu sein scheint, sei es als Objekt wissenschaftli- cher Forschung um seiner selbst willen bzw. als Medium der gotdichen Offenbarung (Schule von Chartres).1216 In ihrer Gesamtheit («Universitas») ist die Natur fur den Men- schen von Interesse, da er sich als Mikrokosmos in diesem Makrokosmos spiegelt.1217 1218Humanisierung vor allem des Gottesbildes: in der Bauplastik vielleicht am auffalligsten: der «rex tremendae maiestatis» (Autun), der unzugangliche, weit iiber den winzigen Men- schen stehende Richtergott wird abgelost vom «deus-^ото», vom menschlichen, menschenahnlichen Gott, vom «Beau Dieu» (Amiens). Als Gekreuzigter ist Christus nun nicht mehr der gekronte Gott aufgerichteten Hauptes und offenen Auges, sondem der leidende Mensch, dessen Haupt schwer zur Seite fallt, mit den geschlossenen Augen des Toten.12ie Dem hier augenfallig Gemachten liegt eine theologische Entwicklung zugrunde, die sich exemplarisch an den Gottesbildem zuerst des grofien Spiritualen Johannes von Fecamp (t 1078) und dann dem des Mystikers Bernhard von Clairvaux aufzeigen lafit. Fiir Johan¬ nes ist Christus vor allem der «pontifex et rex noster», dem der Mensch als Knecht - ein betontes Motiv - unterworfen ist: «Quae maior potest dari gloria, quam ut ... servus regnet cum Domino}» Gott ist «timendus et amandus» (Reihenfolge!). Beim Endgericht, dem «tremendum examen», kommt er schrecklich herab und wenn der «Christus Domi- nus» interpelliert, so nicht aufgrund seiner Menschennatur, sondem als «sacerdos in caelis».1219 Bernhard dagegen erlebt Christus vor allem von seiner menschlichen Seite her.1220 Er betrachtet ausfuhrlich Christi Erdenleben von der Wiege bis zum Kreuz1221, weil sich dabei Tugenden offenbaren, die dem Menschen nachzuahmen moglich sind - der gottliche Mensch als Vorbild fur den (im Sinne der spateren Mystik gesprochen) zu vergot- tenden Menschen. Als Mensch kommt Christus - Bernhard verwendet kennzeichnender- weise immer wieder den personlichen Namen des Menschen, Jesus («Jesus meus»), - zum Gericht: «Pater Deus dedit Filio iudicii potestatem, et non quia suus, sed quia Filius 1216 cf. Wolfram von den Steinen, Natur und Geist im zwolften Jahrhundert, Die Welt als Ge- schichte 14,1954, 71-90; Nitschke, Handeln 79 ss; Tina Stiefel, The 12th century looks at Science, Diss. New York 1972 1217 cf. Chenu, Nature 4 ss 1218 Wie sehr wir in dieser Obersicht zu vereinfachen gezwungen sind, zeigt sich z. B. daran, dafi es schon in der vorromanischen Kunst Kruzifixe mit den fur die spatere Zeit beschriebenen Merkmalen gibt (am bekanntesten das Kolner Gero-Kreuz 969/76), andererseits sich der Typ des triumphierenden Christus weit in das 13. Jh. hinein fortsetzt (bes. in kulturellen Randgebieten) 1219 Conf. Theol. 2,14; 2,6; 2,3 ss, Jean Leclercq, Jean Paul Bonnes edd., Un maitre de la vie spirituelle au XIе s., Jean de F6camp, Paris 1946, 141, 127, 124 ss 1220 J.-Ch. Didier, La devotion & la humanite du Christ dans la spiritualite de saint Bernard, Vie Spirituelle 23, Suppl. Aout-Septembre 1930, [1-19]; id., Limitation de l’humanite du Christ selon Saint Bernard, ibid. 25, Suppl. Octobre 1930, [79-94]; id., L’ascension mystique et Punion mystique par Phumanit6 du Christ selon Saint Bernard, ibid. [140-155]; M.-Amatus Van den Bosch, Dieu rendu accessible dans le Christ d’apres S. Bernard, Collectanea Ordinis Cisterciensium Reformatorum 21, 1959, 185-205 1221 Linhardt, Mystik 190 ss
252 Geistesgeschichte hominis est.1222 О vere Patrem misericordiarum! Vult per hominem homines iudica- ri.. .»1223 Denn zwischen Christus und der Seele herrscht nicht Furcht, sondern Liebe. «Honoret sane qui horret, qui stupet, qui metuit, qui miratur; vacant haec omnia penes amantem ... Quam quaeris aliam inter sponsos necessitudinem vel connexionem praeter amari, et amare?»1224 Dies ist eine neue, humanistische Gottesschau, die nun neben die (und im Laufe der neuzeitlichen Geschichte: an die Stelle der) alten Schreckensvisionen des unnahbaren Rachers an jenem Tage tritt, die dem Heiligen natiirlich genauso gelaufig sind.1225 Aber er spricht eben ein Wort iiber den Erloser aus, das friihere Generationen so wohl weder dachten noch zu denken gewagt batten: «Frater tuus est et саго tua.»1226 Diese Hervorhebung der menschlichen Seite der Christusnatur12260 bringt es mit sich, dafi man Jesus mehr als historische Personlichkeit zu erfassen beginnt. Man wird sich dessen bewufit, dafi er zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Platz lebte, der dadurch eine spezifische Heiligkeit gewann: dies ist die Voraussetzung der Kreuzzugsidee und des vor dem 12. Jahrhundert unbekannten Begriffes «terra sancta».1227 Auch das sprunghafte Ansteigen der Heilig-Grab-Bauten in der Stauferzeit gehort hierher1228, auch die Armutsbe- wegung, insofern sie sich auf das reale, geschichtliche Zusammenleben der Apostel berief und so dem Evangelium als historischen Bericht neuen Modellwert gab.1229 Humanisierung, um noch ein Beispiel herauszugreifen, auf einem anderen Gebiet, dem der Bibelauslegung, insbesondere der Hohenliedexegese: «Scheinbar ursprungslos, sicht- bar von wenigen Geistem gefiihrt, bricht ein neues religioses Leben auf, dem das Hohelied zum erweckenden Symbol geworden ist.»1230 Unter ihnen ist die zentrale Gestalt Rupert von Deutz, der mit der erstarrten, von Beda dominierten Tradition, nach der die Braut die Kirche symbolisiert, bricht, und an Stelle der personifizierten Abstraktion einen historischen Menschen setzt: die Gottesmutter. Dies mufi zusammen gesehen werden mit dem Zug der Historisierung, da Rupert seine Exegese «ganz einem einheitlichen Gesichtspunkt, namlich dem der Menschwerdung Christi unter- ordnet»1231, und sein Werk Teil der neu aufbliihenden Marienverehrung bildet. Diese Welle des Interesses fur das Liebeslied des Alten Testaments - im 12. Jahrhundert entstehen mehr Kommentare dazu, als in den tausend Jahren vorher1232 - ist iibrigens ein Beweis 1222 2 Cor. 1,13 1223 Serm. in Cant. 73,(11)5, Leclercq, Opera 2,236; cf. ibid. 6,6 1224 ibid. 83,(1)3, ed. cit. 2,300. Weitere eindrucksvolle Belege bei Heer, Aufgang/Komment. 106 ss 1225 cf. ibid. 106218-2 1226 Nat.B.M.V. 7, PL 183, 441C 12260 cf. J. A. Jungmann, Der religiose und geistige Umbruch um das 12. Jh., in: L. Carlen, F. Steinegger edd., FS N. Grass I, Innsbruck 1974, 213-225 1227 cf. Dieter Bauer, Terra Sanaa, Diss. Stuttgart (in Vorbereitung) 1228 Hermann TOchle, Die Kirche oder die Christenheit, in: Die Zeit der Staufer [Ausstellungska- talog], Stuttgart 1977, 3, 165-175, 171 1229 zu historisierenden Tendenzen der Theologie cf. Chenu, Nature 162 ss 1230 Friedrich Ohly, Hohelied-Studien (Schriften der wissenschafdichen Gesellschaft an der Jo¬ hann-Wolfgang-Goethe-Universitat Frankfurt/M., Geisteswissenschaftliche Reihe 1), Wiesbaden 1958, 305 1231 ibid. 125 1232 ibid. 305 s
Hochmittelalter: Gott-Mensch und «homo interior» 253 mehr fur die neue Anziehungskraft, die das Thema «Liebe» jetzt ausstrahlt.1233 Humanisie- rung meint aber auch: Konzentration auf den «homo interior», den inneren, verinnerlich- ten Menschen. «Inde quicumque sunt vere Christiani, sic tori circa interiorem hominem sunt occupati ... ut de exteriori nullam vel minimam assumant curam.»1234 Man beginnt wieder verstarkt, Autobiographien zu schreiben (Guibert von Nogent, Reiner von Luttich, Peter Abaelard ...) und man erinnert sich des antiken yvoriH оваитбу, das einer Reihe speziell monastischer Schriftsteller Reflexionsargument wird.1235 Humanisierung, die sich nicht zuletzt darin erweist, dafi das Wort «humanitas» selbst, Ausdruck bisher fur die menschliche Gebrechlichkeit, nun die urspriingliche, positive Bedeutung wiedererhalt.1236 Der neue Mensch der Renaissance des 12. Jahrhunderts findet nach einer Zeit cluniazensi- scher Zerknirschung1237 zu einem eigenen Selbstbewufitsein zurtick: er beruft sich auf sein «ingenium» (Abaelard), «engin» (die franzosischen Romane) im Gegensatz zum «usus».1238 Symptomatisch fur diesen Aufbruch der Intelligenzija ist die Klage Adelards von Bath, dafi man eigene Ideen, um Schwierigkeiten mit den Vertretem des alten «aucto- ritas»-Denkens zu entgehen, am besten einem arabischen Gewahrsmann unterschiebe.1239 Der Mensch begibt sich aus Schutz und Vormundschaft rein traditioneller, kirchlich insti- tutionalisierter Denkbahnen - nicht zufallig beginnt die eigentliche Ketzergeschichte Euro- pas in jener Zeit. Schliefilich die «Renaissance des 12. Jahrhunderts»: allenthalben wird die Antike, die heidnische wie die christliche, «als Hilfsmacht gegen .. . den Druck der feudalen <romani- schen> Welt»1240, gegen die archaischen Strukturen berufen: in Sprache und Dichtung, Recht und Histone, Kunst und Philosophie (Aristoteles!).1241 Wir brauchen ihre Entwick- lung hier nicht mehr zu beschreiben, mochten aber nur auf die Zusammengehorigkeit mit dem Komplex «Humanisierung» hinweisen. Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung, Humanisierung, Emotionalisie- rung, Historisierung: mit diesem sprachlich unschonen, aber hoffentlich aussagekraftigen Begriffskonvolut haben wir versucht, wesentliche Elemente des Umbruchs der hochmittel- 1233 cf. auch Leclercq, love 27 ss 1234 Abaelard (?), Ep. 6, PL 178, 223 1235 Newman, somnium 295 ss; Morris, individual 65 ss; Pierre Courcelle, Connais-toi toi- шёше de Socrate & S. Bernard, Paris 1974/5; A. Maiorino Tuozzi, La conoscenza di se nella scuola cisterziense, Napoli 1976 1236 Morris, individual 10; allgemein cf. Schultz, Seele 3, 66 ss 1237 «Der Grundton der Literatur des Hochmittelalters war das Memento mori; vom Ende des zwolften Jahrhunderts an [richtiger: elften - Troubadoure!] war es das Memento vivere.» Ullmann, Individuum 80; ausfiihrlich Erb, Geschichte 501 ss u.o. 1238 Hanning, Romance 29 ss; 105 ss 1239 zit. Le Goff, intellettuali 58 1240 Heer, Aufgang 265 1241 Charles Homer Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century. Cambridge, Mass., London 1927 u.6.; Schultz, Seele 2,148 ss; P. Trambley, La renaissance du 12c sifcde, Paris 1933; Maurice de Gandillac, E. Jeauneau edd., Entretiens sur la renaissance du 12e siecle (Decades N.S. 9), La Haye, Paris 1969; S. K. Seher, The Renaissance of the 12th Century, Providence 1969; Marshall Clagett u.a. edd., Twelfth-Century Europe and the Foundations of Modem Society, Madison 1961
254 Geistesgeschichte alterlichen Ага hervorzuheben. Im Verlaufe der vorhergehenden Kapitel haben wir sehr oft darauf hingewiesen, dal? auch die Geschichte der Visionen hier ihre «Achsenzeit» erfahrt. Wie sehr die auf so vielen Gebieten nun festgestellten Tendenzen auch fur die ekstati- schen Schauungen charakteristisch sind, hat speziell der Abschnitt tiber das Verhaltnis des Visionars zu den Personen der anderen Welt bewiesen.1242 Es wird geniigen, hier an die hauptsachlichen Kennzeichen der zweiten Visionsphase zu erinnem, Natiirlich sind auch die Schauungen in der ersten Phase absolut personliche, nur einem Individuum zugehorige Erfahrungen (kollektive Erlebnisse gibt es hochstens auf dem ver- wandten Gebiet der Erscheinung, die bisweilen auch von mehreren wahrgenommen wer- den kann1243). Aber die Aktivitat, die die Seherinnen entwickeln, ihr Selbstbewufitsein im Umgang mit dem Numinosen, zeigt deudich einen dem modernen Individuum verwandte- ren Seelenzustand, als die Passivitat der alteren Visionare. Das war ja schon in der Art des Auftretens dieses Charismas evident: kein unvorbereitetes Ubermanntwerden mehr, son- dem ein aktives Herbeisehnen und -beten der visionaren Offenbarungen, in der Vision selbst kein passives und stummes Umhergefuhrtwerden, sondem eine Zwiesprache mit Gott und den Heiligen «von Mensch zu Mensch», Individuum zu Individuum. Es wird weniger erzahlt, was man aufier sich fur Raume und Wunderdinge gesehen, sondem, was man in der Seele erlebt und wie man reagiert hat. Die haufige Verkniipfung des visionaren Charisma mit dem der Prophetie, Einsprache, Glossolallie usw. (Elisabeth von Schonau, Hildegard von Bingen, Robert von Uzes u. a.) erweist, verbunden mit den Erlebnissen eingegossener Siifie (Angela, Seuse) und namendich der bildlosen «visio intellectualis» (Angela, Nonnenviten), dafi das Schwergewicht auf der pneumatischen Erleuchtung in der Seele des Einzelnen liegt, nicht so sehr im Erlebnis der geschauten anderen Welt. Diese hatte einen viel starkeren Bezug auf die Allgemeinheit, da sie von jedem Menschen nach dem Tode betreten werden wtirde, als die sehr individuellen Bildinhalte der П. Gruppe.1244 Wenn Gertrud d. Gr. etwa aus dem Herzen Jesu eine honigstifie Fliissigkeit in ihr eigenes Herz traufeln sieht1245 1246, so dies eine absolut private Vision; wenn dagegen Tundal, Owen, Olav ... iiber die Jenseitsbriicke gehen miissen, so besitzt diese Schau einen hoheren Grad an Objektivitat, insofern dies eine Probe ist, der alle Menschen unterworfen sein werden. Wahrenddem der Visionar des ersten Typs oft und oft eine Interaktion zwischen dem eschatologischen Raum und den Seelen der Verstorbenen beobachtet, wird diese Interak¬ tion ab dem zwolften Jahrhundert nicht mehr blofi passiv beobachtet, sondem selbst erfahren: vom Raum her in Тур I (Tundal, Gottschalk ...), von den Personen der anderen Welt her in Тур II. Die Vertrautheit im Gesprach mit den Oberirdischen, in der Beriihnmg - letztlich in der mystischen Vereinigung - ist eine Beziehung zwischen zwei formal gleich- wertigen Personlichkeiten, einer menschlichen und einer gottlichen. Im Zeiterlebnis steht jetzt der subjektive Moment des Zusammenseins mit Christus im symbolischen Raum - «dat es die corte vre die alle langhe vren uerwint»124* - anstelle der Zeitfolie vom Engelsfall 1242 s. oben S. 146 ss 1243 Beliebiges Beispiel: Caesarius v. Heisterbach, Dial. 8,17 1244 s. oben S. 212 1245 Leg. div. piet. 4,38 1246 Hadewijch, Vis. 8, Mierlo, Visioenen 1,85
Hochmittelalter: Christusliebe und -mideid 255 (Erschaffung der Holle) bis zum Endgericht (Aufhoren des Purgatorium) bzw. bis in die Ewigkeit des Himmelreiches. Und wie der ubertriebene Individualismus in der Laienkultur eine Herausforderung zur Kritik war - es ist dies die Geschichte von Erec, der sich «verliegt» -, fordert auch die ubertriebene Abschliefiung des Visionars Kritik heraus. Die beriihmten Worte des Meister Eckhardt, die tatige Nachstenliebe sei weit hoher zu achten, als die Hingabe an die Verziickung1247, zielen wider den sich auf sein individuelles Gluck konzen- trierenden Ekstatiker, der, wie Erec, seine Pflichten der AuSenwelt gegenuber vergessen hat. Die Emotionalisierung der Visionen des Spatmittelalters noch einmal nachzuweisen, ist wohl nicht notig; wir haben oben ausfiihrlich Belege geboten.1248 Zwischen der entriickten Seele und dem Herrn: welch ein Neigen von Herzen zu Herzen, ein Minnen und Kussen, ein Tandeln und Umarmen. Die «unio mystica», die jetzt vielen Visionaren als Kronung ihrer Schau geschenkt wird, ist keine Vereinigung des Verstandes, sondern eine des Ge- ftihls und sie wird auch geme in der Sprache der Erotik umschrieben. Irdische und himmli- sche Liebe bedienen sich desselben Vokabulars, Salomos Hoheslied und die Lyrik der Troubadours sind nicht so weit voneinander entfernt. Wahrend es aber in der Exegese dieses biblischen Textes zu einer volligen Eliminierung des Literalsinnes kommt, fiihrt ihn der praktische Mystiker wieder in seine urspriingliche Sphare zuriick. Stark positiv emo- tionell besetzt ist nicht nur das Erleben der Vision selbst, sondern, in anderer Form, auch das Warten auf sie. Wie die Visionen und Erscheinungen nun in der Flamme erfullter Liebe stehen, so die Zeit vor und nach ihnen unter dem Seelenschmerz der Sehnsucht. «Nirgends ist dieses Sehnsuchtsmotiv so stark wie in der Mystik, die gerade dadurch zum starksten Ausdruck des Zeitalters wird. Man suchte, eine direkte Beziehung zwischen Ich und Gott herzustellen, ja, das Ich in Gott aufzulosen.»1249 Die Trostlosigkeit, in die Hadewijch und manche andere nach ihren Visionen sturzen, ist den Ekstatikem der ersten Phase unbekannt, einfach, weil sie nie diese intensive Erful- lung in der Gottesbegegnung erleben durften. Das Thema des Mitleidens und Miterlebens der Passion des Erlosers ist ebenfalls in der ersten Phase noch unbekannt, und noch Elisabeth von Schonau, mit der dieses Motiv beginnt, schaut sie, ohne besondere Reaktio- nen erkennen zu geben1250, dann aber wird das Mitleid ein zentrales visionares Thema, und zwar ab dem dreizehnten Jahrhundert. In nichtvisionaren mystischen Texten, wie dem «Trutpeter Hohem Lied» (Mitte 12. Jh.)1251 wird schon friiher auf den Schmerz des gemar- terten Erlosers hingewiesen; sein Leid am Kreuz, seine Wunden, sein Mitleid haben schon in der bemhardinischen Christologie Bedeutung.1252 Auch der Aspekt der Historisierung 1247 Traktat 2,10, cf. Anm. 929 1248 s. S. 150 ss 1249 Rudolf Kayser, Minne und Mystik im Werke Mechthilds von Magdeburg, The Germanic Rev. 19, 1944, 3—15, 5. Ob dies auf die «Lockerung aller bisherigen Machtverhaltnisse» und eine neue Freiheit = soziales Verlorensein des Individuums zuriickgefuhrt werden kann, mochte ich dahinge- stellt sein lassen 1250 Liber vis. 1,42; 1,46 ss 1251 48,8, cf. Zingel, Passion 22 ss 1252 Linhardt, Mystik 195 ss
256 Geistesgeschichte wird hieran deutlich - auger der Passion wird ja die ganze Lebensgeschichte Jesu geschaut, was eben eine starkere Besinnung auf seine geschichtliche Person voraussetzt. Der im Spatmittelalter so verbreitete Herz-Jesu-Kult erscheint gleicherweise als Folge der Beto- nung von Christi Menschheit; im Visionenwesen besonders der Helftaer Nonnen kommt diesem Aspekt ja grofie Bedeutung zu.1253 Einflufi auf die Visionare haben moglicherweise die immer beliebter und ausfuhrlicher werdenden Passionsspiele gehabt, die das Erden- wandeln des Salvator ab dem zwolften Jahrhundert «imaginaliter»1254 vorstellen. Wie das zwolfte Jahrhundert die Entstehungsepoche der abendlandischen Mystik theo- retischer Pragung ist1255, so auch die des Auftretens der ersten praktischen Mystiker. Fur beides Voraussetzung ist die Humanisierung des Gottes- und Menschenbildes, die erst Schopfer und Geschopf auf eine gemeinsame Kommunikationsebene stellt. Was etwa bei Bernhard in Reflexion liber das Hohelied greifbar wird: die Sehnsucht des Menschen nach der Gottesvereinigung, kommt bei Rupert als faktisch Erlebtes zum Ausdruck. Was er von sich und anderen berichtet, Kufi und Umarmung des Gekreuzigten ist eine Vorform der richtiggehenden «unio mystica», die erst ab der Wende zum dreizehnten Jahrhundert verbreitet zu sein scheint.1256 Sie ist vielleicht intensivstes Zeugnis der Emanzipation einer elitaren Schicht tief religioser Menschen aus den alten archaischen Strukturen. Oft und oft wird sie als AbschluS einer Vision gewahrt (Ida von Nijvel, Ivetta, Gertrud d. Gr., Hade- wijch, Seuse ...)• Altestes Beispiel scheint eine spatestens 1153 zu datierende Vision eines Monches aus Savigny zu sein (das ab 1147 zisterziensisch war!), von dem es heifit «Solus cum solo iocundabatur, homo Deum sed in homine contemplabatur ... Celebrato denique tarn amicae congratulationis gaudio, rediit ad se .. .»1257 Die vom Aufeeichner - er kannte den Ekstatiker personlich - verwendeten Worte verdeutlichen hinreichend, was mit Hu¬ manisierung in der visionaren Mystik gemeint ist. Das haufigere Auftreten der Unio erst ab dem dreizehnten Jahrhundert mag ebenfalls in eine allgemeine Bewegung einzubeziehen sein, da man seit dem spaten elften speziell in der Naturbeobachtung, aber auch auf politischem Bereich und anderswo festgestellt hat, der Mensch begegne «in seiner Umwelt Wesen, die sein Handeln verursachen und ein Streben in ihm wecken, sich innerhalb eines gegebenen Raumes diesen hoheren Wesen anzugleichen.»1258 Die Mystik geht uber die Angleichung hinaus zur Verschmelzung. Die nunmehr vermenschlichte Gottheit pafit sich in ihren Erscheinungsformen den Regungen der Seele an, sie erscheint als Wunscherfullung gemafi den Stadien des Kirchenjahres und bemuht sich, der Seherin zu Willen zu sein.1259 Entlarvend scharf - mochte man fast sagen - hat dies Bernhard erkannt: der Geschmack 1233 s. oben S. 147,153 s Ш4 Gerhoch v. Reichersberg, De inv. Antichr. 1,5, MG Lib. de lite 3, 315 s i2ss als Stromung der Geistesgeschichte verstanden; Eriugena ist eine Einzelerscheinung 1256 Stephanus Axters, De «unio mystica» voor de Brabants-Rijnlandse mystiek van de dertiende en veertiende eeuw (Mededelingen van de Koninkl. Vlaamse Academie voor Wetenschappen ... Klasse der Letteren 11/6), Brussel 1949. Rupert: oben S, 150 s 1257 Constable, Gunthelm 113 me Nitschke, Revolutionen 51 1259 cf. z. B. oben S. 192
Hochmittelalter: Oberlieferung der Visionen 257 der gottlichen Anwesenheit wandelt sich «pro variis animae desideriis».12*0 Das ist vom Menschen her gedacht! Man erinnert sich an die Szene des Gottesurteils im «Tristan», die Gottfried mit den Worten kommentiert (fast Zerrworten des Bernhard-Zitates), man sehe, «daz der vil tugenthafte Krist/ wintschaffen alse ein ermel ist:/... er’st alien herzen bereit,/ zu dumahte [Treue] und zu trugeheit».1260 1261 Und man konnte diesen Gedanken bis zu seiner «Vollendung» bei Feuerbach verfolgen. Besehen wir die Visionen als literarisches Genus, so ist in puncto Oberlieferung einmal ein Weiterbestehen der schon im Fruhmittelalter bekannten Traditionsmedien wie Vita, Geschichtsschreibung, Brief usw. zu verzeichnen, die freilich nun ihre eigenen, zeitspezifi- schen Zuge haben. Sowohl zahlreicher als auch umfangreicher sind die als selbstandige Literaturwerke iiberlieferten Jenseitsfahrten im hohen Mittelalter; sie bilden ein eigenes Genus. Dieser Тур I, den man in der profanen Literatur am ehesten mit dem Epos verglei- chen konnte, erlebt ein starkes Luxurieren was Umfang und Detailfreudigkeit betrifft, um im 13. Jahrhundert abzusterben. Dieser Typ wird aber in etwa in den symbolischen Traumvisionen, die Erzeugnisse eines Dichters sind, und nicht auf ekstatischem Erleben basieren, weitergefiihrt. Visionen der ersten Art werden zu Exempeln verkurzt und in die vielen Sammlungen besonders des 13. Jahrhunderts aufgenommen (Caesarius von Heister- bach, Stephan von Bourbon ...). Das «bispel» ware also eine neue Form der Uberliefe- rung fur Visionen auch des alteren Typs. Dementsprechend kommen ja im weltlichen Bereich neben der Epik die Kleinformen mehr und mehr zu Geltung (Schwank, Novelle, Fabel...). Nicht neu, aber haufiger sind nunmehr die Zusammenstellungen vieler Schau- ungen eines Sehers zu Visionsbiichem (Hildegard von Bingen, Elisabeth von Schonau). Neu sind die Autobiographien, in denen auch visionares Material enthalten sein kann (Girald von Wales, Guibert von Nogent). Das literarische Publikum ist einerseits noch immer stark klosterlich, Latein pravaliert weiterhin, doch ersieht man aus der steigenden Zahl der Obersetzungen in die Vulgarspra- chen, da£ andererseits immer zahlreicher laikale Kreise angesprochen werden. So begriin- det Marie de France ihre Ubertragung des «Purgatorium S. Patricii» mit den Worten: «Pur amender la simple gentJ Voeil desclore ceste escripture»12*2 (Ende 12. Jh.) und wenig spater sagt Alber in seiner Tundalubersetzung: «Nu schribe wirz zu diute [Erklarung]/ durch die ungelerten liute.»1263 Interesse fur diese Themen war ihnen sicherlich auch durch die Pre- digt entstanden, die sich ja der Exempel, auch der visionaren, bediente. Die grofien Jenseitsvisionen des 12. Jahrhunderts teilen mit der iibrigen lateinischen Literatur eine neue Lebendigkeit und Aufmerksamkeit dem Stoff gegeniiber. Hier ragen die Texte aus dem anglo-irischen Bereich hervor, in Deutschland besonders die Vision Gottschalks in ihrer langeren Fassung. Auf eine besondere Parallele der Gesichte des j linger en Typs mit der zeitgenossischen hofischen Romandichtung sei noch hingewiesen: auf die Verwendung symbolischer Raume. Wahrend sie in den Visionen noch am ehesten 1260 Serm. in Cant. 31,(111)7, Leclercq, Opera 1,223 1261 24,15739 ss, ed. cit. (Anm. 743) 2,187 1262 Espurgatoire 46 s, Jenkins, Espurgatoire 10 1263 vs. 63 s, Wagner, Tnugdali il
258 Geistesgeschichte einen paradiesisch-himmlischen Charakter besitzen1264, sind sie in der weltlichen Dichtung vielfach doppelsinnig: das Land Gorre in Chretiens Lancelot1265 ist einerseits ein doch irdisches Konigreich, andererseits eine unheimliche Jenseitsregion, von der niemand zu- ruckkommt. Der Baumgarten im «Erec»1266, ein verzauberter Platz auf Erden einerseits, ist andererseits ein Symbol des Lebens, das man nur durch das Wagnis des Todes erringen kann. Die Minnegrotte im «Tristan»1267 ist real eine von Riesen errichtete Hohle in der Wildnis, allegorisch ein weltlicher Sakralraum, der Tempel der Minne, das der Gesell- schaft enthobene Refugium der Liebenden. Und erinnert nicht auch die gotische Kathedra- le, das neue himmlische Jerusalem im uberirdischen Licht ihrer Glasfenster an die Affini- tat, die die symbolischen Raume der Visionare an das Paradies haben? Auch die Personifi- kationen in der nichtvisionaren Dichtung1268 1269 konnten derjenigen bei manchen Ekstadkerin- nen (Mechthild von Magdeburg, Hadewijch) verglichen werden. Bei alien Veranderungen scheinen Hoch- und Spatmittelalter1169 doch nicht so verschie- den voneinander zu sein, wie Frtih- und Hochmittelalter es gewesen sind. Vieles, was zu den Neuerungen des 12. Jahrhunderts gehort, bleibt bestehen oder eher: entwickelt sich weiter. Dies gilt zunachst fiir die materiellen Verhaltnisse: die Form, die der Feudalismus in der Mitte des 12. Jahrhunderts erreicht hat, bestimmt «iiber Jahrhunderte die landliche Gesellschaft und die landwirtschaftliche Produktion»1270; die zu Anfang des hohen Mittel- alters erwachende Stadtkultur differenziert sich nach Quantitat und Qualitat weiter aus. Gleiches gilt etwa fiir die Territorialstaaten in der Politik. Die furchtbare Zasur in der Bevolkerungsentwicklung des 14. Jahrhunderts durch den Schwarzen Tod begrundet si- cher ein verstarktes Bewufitsein irdischer Hinfalligkeit und deshalb vielleicht auch ver- starkte Zuwendung nicht nur zum jenseitigen, sondern auch zum diesseitigen Leben, einen Umbruch wie den im 12. Jahrhundert begrundet sie aber wohl nicht. Tendenzen, die ich versucht habe, fiir das Hochmittelalter aufzuzeigen, laufen weiter und verfestigen sich: so die der Differenzierung: die Scholastik mit ihrem Bemiihen, die Welt und Gott systematisch in ihren grofien Summen einzufangen und zu definieren, so wie Jacobus von Voragine «alle» Heiligenviten in seiner «Legenda Aurea» sammelt und Dante die Fiille der eschatologischen Schriften, namentlich die Visionsliteratur, in seiner «Comedia» verarbeitet. Im Bereich des Weltlichen konnte dem cum grano salis die Biiro- kratie verglichen werden, die im Verlauf immer weiter verbreiteter Schriftlichkeit das Leben immer mehr im Detail erfafSt und obrigkeitlich regelt. An der Gesetzgebung der Stadte ersieht man dies z. B. und an den immer umfangreicheren Akten des Reichstages. 1264 s. oben S. 115ss 1265 vs. 639, 6121 1266 vs. 5739 ss 1267 vs. 27, 16683 ss 1268 cf. Chenu, Nature 18 ss 1269 Fur die Kultur des 14, Jh. wichtig: Legner, Parler 3, (dort besonders der anregende und vielseitige Artikel von Reiner Dieckhoff, antiqui-modemi 66-123) und die dort 92 s genannte Literatur; fur die Philosophie: Gordon Leff, The Dissolution of the Medieval Oudook, New York 1976; fur das 15. Jh.: Huizinga, Waning pass. 1270 Friedrich-Willhehn Henning, Das vorindustrielle Deutschland 800-1800, Paderbom 21976, 13
Spatmittelalter 259 Dazu parallel geht die Entstehung der geordneten Buchfiihrung (und doppelten Buchfiih- rung in Italien) im merkantilen Bereich. Differenzierung in der Kunst: man denke an das fein untergliederte, flamboyierende MaSwerk in Bau- und Goldschmiedekunst, die Um- wandlung des einfachen Kreuzrippengewolbes in Netzgewolbe, die Ausbildung der gro- Sen, hunderte Figuren umfassenden Altarretabeln in den Niederlanden, weithin exportiert. In der Musik ist dementsprechend ein Fortschreiten der Vielstimmigkeit zu beobachten, zu der eine Kombination verschiedener Rhythmen in der «Ars Nova» tritt. Das Organum stirbt ab, die Motette beginnt nicht nur im geistlichen, sondem auch im weltlichen Musi- zieren zu herrschen. Differenzierung, um noch ein Beispiel anzufiihren, im Genus des religiosen Dramas: tagelang dauern die vielfigurigen Schauspiele, die Adam-, Propheten-, Passions-, Oster-, Fronleichnam-, Weihnachtsspiele, die Miracle Plays, Moralities und Interludes mit ihren vielfaltigen Themen. Die individuelle Lebenshaltung setzt sich gleicherweise verstarkt durch. Aus der Mitte des 14. Jahrhunderts besitzen wir die ersten authentischen Portrats - bei denen Kaiser Karls IV. lagt sich durch den Vergleich mit zeitgenossischer Beschreibung und die Untersu- chung seines erhaltenen Schadels nachweisen, «daf? die iiberlieferten realistischen Darstel- lungen nicht einen allgemeinen Portrattypus wiedergeben, sondern das tatsachliche Ausse- hen«.1271 Die Ketzer, die ein Christentum predigen, das mit dem von der Amtskirche praktizierten nicht zu vereinbaren ist, haben, sozialrevolutionare Stromungen aufneh- mend, immer starkere Einwirkung auf den Verlauf der Geschichte (Wycliff, Hus, Lu¬ ther ...). So viele Beispiele lieSen sich noch fur den Individualismus des Spatmittelalters bringen - Humanismus und Renaissance setzen ihn voraus -, in der Literatur (Briefe, Autobiographien, Reisebeschreibungen, Naturbetrachtung ...), der Architektur (die Pri- vatoratorien im religiosen, das Gehause des Studiolo im weltlichen Gebiet), dem Frommig- keitsleben (Devotio Modema; die grof?e Beliebtheit des Kartauserordens mit seinen Einzel- zellen)... Vergleicht man friihneuhochdeutsche Obersetzungen mit den lateinischen Ori- ginalen, so sind sie im allgemeinen anschaulicher, objektnaher, genauer als ihre Vorlagen. Das Interesse fur das Individuum erweist sich u. a. daran, daf? indirekte lateinische Reden in direkte umformuliert werden, oder daf? allgemeine Ausdriicke (Pronomina, weitlaufige Zeitangaben ...) in konkrete (Nomina, exakte Zeitangaben ...) verwandelt werden.12713 Nur ein Punkt sei noch angesprochen: die Wichtigkeit, die nunmehr den Reflexionen iiber den einen subjektiven Moment des Sterbens neben denen fiber das ewige Jenseits zu- kommt. Die vielen (fruh gedruckten) Sterbebuchlein, die jene Stunde vorbereiten helfen, die «ubi sunt»-Gedichte und die Zwiegesprache mit dem Tod, deren bekanntestes der «Ackermann aus Bohmen» ist, weisen darauf hin. Sein Autor beendet es typischerweise mit einem litaneiartigen Gebet fiir eine besondere Person, fur seine jung verstorbene Gat- tin, deren Verlust Johannes von Saaz Anlal? fiir dieses Klagebuch war. Helinand von Froidmont dagegen, der die ewige Macht des Todes fast genau zweihundert Jahre vorher besungen hat, geht nicht vom Tode eines ihm lieben Menschen aus, sondern will alle seine 1271 Anton Legner, Ikon und Portrat, in: id,, Parler 3, 217-235, 222 12713 cf. Friedrich Wilhelm Gehring, Die Leistung deutscher Prosabearbeiter im Rahmen der Gei- stesgeschichte des 15. Jh., Euphorion 34, 1933, 271-293
260 Geistesgeschichte lebenden Freunde rechtzeitig warnen.1272 Dem umfangreichen Schrifttum uber die «Ars Moriendi»1273 entspricht die Haufigkeit des personifizierten Todes in der Ikonographie namentlich des 15. Jahrhunderts (vorher nur vereinzelt) und die Darstellung des Verstor- benen als verwesender Leichnam, als Skelett, von Kroten und Schiangen umgeben, seit der Mitte des 14. Stark entfaltet sich auch der Rationalismus: die Ubemahme der Sic-et-non-Methode in die orthodoxe Scholastik, die zweite Welle der Rezeption des «ius Romanum» sprechen dafiir, der Sieg des Aristotelismus (Thomas von Aquin) uber den Platonismus. Mit der «via modema» der occamschen Philosophie siegt auch der Nominalismus iiber die realistische Auffassung, siegt die Realitat (im heutigen Begriffsverstandnis), siegt das Individuum iiber das Allgemeine: die Universalien sind nicht vor den Dingen. Entschiedener noch als Duns Scorns trennt Occam Glauben und Wissen, Theologie und Philosophie. Dogmen wie das der Trinitat und der Inkamation sind widerverniinftig, konnen nur geglaubt, nicht aber bewiesen werden.1274 Als zwei Chiffren der spatmittelalterlichen Rationalitat seien genannt die Astrologie, die ein (im damaligen Verstandnis streng wissenschaftliches) System von Beziehungen zwi- schen Lebensdaten und Sternenbahnen aufgestellt hat, sowie die neue Form der Zeitmes- sung, die mit der Einfiihrung der mechanischen Uhr ihre «modeme» Unbarmherzigkeit erreicht hat. Durch sie, wie durch die neue Buchfuhrung der Friihkapitalisten, kann das Leben exakt verplant, mit einem Wort «rationalisiert» werden. Die einmal freigesetzte Emotionalitdt bleibt (Weinen, Liebesdichtung, Herz-Jesu- Kult...), verstarkt sich vielleicht. Daf! speziell im Andachtsbild ikonographische Themen entwickelt werden, die zur gefiihlsmafiigen Teilnahme richtiggehend herausfordem, spricht dafiir: Christkind und Christkindwiege, der an Christi Brust ruhende Johannes, Christus an der Geifielsaule, Ecce Homo, Christus im Elend, Kreuzschleppung, das «My- stikerkruzifix», die Pieta .. ,1275 Einzelszenen aus dem Erloserleben, besonders aus seinem Leidensweg, werden hier zur Meditation vor Augen gestellt, nicht anders als im Passions- schauspiel des religiosen Theaters, in den Prozessionen, in der geistlichen Literatur. Der Aufruf des Salvator: «О man unkynde/ Hafe in mynde/ My paynes smert»1276 ist so oft befolgt worden, da8 es eher schwierig erscheint, Autoren zu finden, die die Passion nicht beschaftigt hat, als Beispiele fur Passionsdichtungen. Dem spaten Mittelalter kann man, sicher gefordert durch die grofien Epedemien, eine richtiggehende Leidfreudigkeit nicht absprechen. Das manifestiert sich ja nicht nur im Passionsthema, sondem auch im Umgang der Menschen miteinander und mit sich selbst. 1272 cf. KLL s.v. «Vers de la Mort» 1273 cf. LexMa 1/6, 1039 ss 1274 Ober die konkrete Verbreitung des Occamismus herrschen kontroverse Ansichten; Huizinga, Waning 196 ss betont die Prasenz des Realismus, Georges Duby, Die Grundlegung eines neuen Humanismus 1280-1440, Genf 1966, 35 sieht das ganze abendlandlische Denken nach der ersten Halfte des 14. Jh. von Occam durchdrungen (um nur zwei bedeutende Mediavisten zu zitieren). 1275 cf. Hofstatter, Mystik 52 ss 1276 Imitator Richard Rolles, Querela Div., ed. Frances M.M. Comper, The Life of Richard Rolle ... London 1928 = New York, London 1969, 317
Spatmittelalter 261 Sadistische Regungen in Folter- und Hinrichtungstechniken erscheinen starker als im Hochmittelalter, latenter Masochismus bricht durch in der Geifilerbewegung. Die Pein- lichkeits- und Schamschwelle ist anders gelagert als heute; einer der nicht zu zahlreichen sympathischen Herrscher des Mittelalters war Kaiser Karl IV,, hochgebildet, kunstsinnig, im Verkehr mit Humanisten. In seiner Autobiographic erzahlt er ungeruhrt, wie er, auf bloSen Verdacht hin, einen Mann drei Tage lang foltern Ией, bis dieser natiirlich das gewiinschte Bekenntnis ablegte.1277 D. h. Grausamkeit ist nicht wie fur uns tabuisiert, sondern kann ohne weiteres, solange nicht die «maze» iiberschritten wird, zum Charakter- bild einer integeren Personlichkeit gehoren. Wo gab es damals einen Seneca, der sich dem Vergniigen einer offentlichen Hinrichtimg entzogen hatte? - Dem Leiden kommt im Spat¬ mittelalter eine verstarkte Faszination zu, was auch an den tibertriebenen Formen der Askese ersichtlich ist. Viele Heilige und Selige haben ein systematisches Zugrunderichten des Korpers betrieben, die Methoden sind z. B. in Seuses Vita im Detail beschrieben. Manchesmal bedurfte es einer Vision, um die Kasteiungen auf ein nicht mehr lebensgefahr- dendes Май herabzusetzen.1278 Sicherlich wiirden sich im spaten Mittelalter auch noch andere Tendenzen feststellen lassen, doch ware es schwierig, solche zu finden, bei denen sich keine hochmittelalterlichen Wurzeln nachweisen Нейеп. Ein gewisser Zug zur Demokratisierung etwa (heftig be- kampft von oben freilich), der sich in Bauernaufstanden und Konziliarismus genauso ausspricht wie in der Nivellierung der Totentanzdarstellungen oder der Standesatiren, oder auch in der Verbreitung des geschriebenen Wortes durch die schwarze Kunst, ist zuerst greifbar in der hohen Zeit des Rittertums und der aufbluhenden Stadte. Jenes namlich umfafite Personen adeliger, freier und unfreier Herkunft, diese machten den 1 an¬ ger in ihnen Lebenden frei. Um zum Vergleich mit den Visionen zu kommen: wahrenddem das 12. Jahrhundert als Ubergangsperiode erscheint, Spatphase des ersten Typs und zugleich Anfang des zweiten, machen die Schauungen von (vergrobernd) 1200 bis 1500 einen eher homogeneren Ein- druck. Setzt man die Visionen etwa aus der Zeit der Helftaer Seherinnen denen aus der Zeit Francescas gegeniiber, so stellen sich Unterschiede mehr als individuelle Variationen dar, denn als epochenspezifische. Die in der zweiten Halfte des 13. Jahrhunderts gefunde- nen Formen haben im Prinzip die namliche Charakteristika aufzuweisen, wie die am Ende unseres Untersuchungszeitraumes: Kontakt zu Personen der anderen Welt, dafur wenig Interesse fur den Raum, emotionelle Reaktionen, allegorischer Gehalt, Trager vorzugswei- se Frauen usf.1279 Immerhin gibt es etwa im 15. Jahrhundert viele Visionen, die Raume, Personen, besonders die Vorgange der Heilsgeschichte mit grofierem Interesse fiir das Stoffliche beschreiben, als es bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts ublich ist. Man denkt an den Verismus der spatgotischen Malerei - davon ist die Visionsliteratur aber meist weit entfemt. Der Zug zum Abstrakten wird hochstens bei Passionsschilderungen richtig iiber- wunden, die Raume sind nach wie vor meist nur durch ein paar hingeworfene Striche 1277 Vita 4, Pfisterer, Vita 14; cf. ibid. 14, ed. cit. 50 1278 z. B. bei Benevenuta, Vita 1,7 1279 Auf die «atavistischen» Visionen alten Typs einerseits in der Nachfolge Owens, andererseits in Italien habe ich schon oben S. 201, 226 hingewiesen
262 Geistesgeschichte angedeutet. Тур П, kann man vielleicht sagen, wird gegen das Ende des Mittelalters zu wieder mit einem etwas grofieren Realismus angereichert; doch das Thema der Jenseits- wanderung bleibt ihm weitestgehend fremd - wenn Bewegung, dann in symbolischen (Nikolaus von Flue) oder historischen (Margery Kempe) Raumen. Die Kongruenz der ekstatischen Erfahrungen mit denen des normalen Lebens der Zeit ist durch die allenthal- ben ausffihrliche Quellenlage vielleicht noch evidenter. Zur Differenzierung mag bemerkt werden, dafi es eine Reihe sehr umfangreicher Vi- sionscorpora gibt (Birgitta von Schweden namentlich), daf? (eben gerade in der Verfolgung des Erdenlebens Jesu) auch viele personengebundene Einzelheiten berichtet werden, was man aber mit gleichem Recht auch fiber die Gesichte des 13. Jahrhunderts sagen kann. Auch dfirfte etwa Gertrud d. Gr. nicht weniger Ekstasen erlebt haben als Birgitta oder Katharina von Siena. Wobei sich eine grofiere Differenzierung in der Behandlung von moralischen und theologischen Fragen zeigt, das sind die die Vision oft begleitenden und dominierenden Wortoffenbarungen. Ihre systematische Vorgangsweise Punkt ffir Punkt erinnert fiberhaupt an die Darstellungsmethode der Scholastik. So scheint hier der status quo des 13. Jahrhunderts in etwa gehalten. Der Individualismus tritt weniger in der Form der Aufzeichnungen hervor - die Zahl der mystischen Autobiographien steigt nicht besonders, oft wurden sie auch noch von anderen zu Papier gebracht1280 - sondem im Inhalt, oft sehr personlichen Begegnungen mit den Himmlischen. Doch kann auch hier wiederum nur wiederholt werden, was fiber den Тур II im ausgehenden Hochmittelalter gesagt wurde. Sicher starker ist jetzt die Konfrontation mit dem leidenden Heiland, manche Visionarinnen (so Juliana von Norwich1281) erbitten gerade dies in ihren Gebeten. Wie individuell diese Christusbegegnungen oft zu sehen sind, ergibt sich nicht nur aus der Art der Gesprache und Liebkosungen, sondem auch aus dem Umfeld, in dem sie geme stattfinden: es ist dies ein symbolischer Raum, der nach aufien abgekapselt wirkt, von dem kaum etwas beschrieben wird, der nur ffir Braut und Brauti- gam da ist: ein Raum der Zweisamkeit, der Intimitat (- wie die Minnegrotte bei Gottfried von Strafiburg, doch ohne Guckfenster!). Am deutlichsten wird dies wohl, wenn dieser Raum das Herz, sei es das Jesu* oder des Sehers, ist. So erblickt z. B. Seuse in seinem Herzen seine Seele mit der «Ewigen Weisheit» kosen, trunken vor Liebe an das gottliche Herz gedriickt.1282 Doch scheint es (so bei italienischen Visionarinnen nach Angela von Foligno) eine gewisse Wendung mehr zu einer Art von Schauungen zu geben, die weniger abstrakt, sondem mehr deskriptiv (Leben Christi, Marias, die himmlische Kurie) sind. Der Hohe- punkt der intimen Christusbegegnung liegt eher im 13. Jahrhundert. Jedenfalls aber bleibt die damals schon voll entwickelte Bedeutung des Herzens als Zentrum des Individuums in vielen Visionen erhalten (Margarete und Christine Ebnerin, Adelheid Langmann). Bei der grofien Vielfalt spatmittelalterlicher Visionen entsprechend der grofien Zahl der 1280 Elsbeth Stagel schrieb so Seuses Leben, Philippine das Doucelines, Birgitta liefi ihre Revelationen von Peter v. Alvasmuund Matthias v. Linkoping lateinisch aufzeichnen, der «Libro» Katharinas dagegen wurde unmittelbar nach ihrem Diktat von Stefano Maconi aufgeschrieben 1281 Revelation 1 1282 Exemplar 1,1,5; cf. oben S. 52s (Seelenschau)
Spatmittelalter 263 Charismatiker und der noch ungeniigenden quellenmagigen Erschliefiung dieses Berei- ches1283 mochte ich keine iiber das bisher Gesagte hinausgehende Charakterisierung «der» Vision dieser Epoche geben, sondem nur noch darauf hinweisen, dag die Beschaftigung mit der personlichen Sterbestunde unerwarteterweise keine Visionen zur Folge gehabt zu haben scheint, in denen der Tod selbst auftrate. Nur auf dem Gebiet der Erscheinungen gibt es Beispieie.1284 Vielleicht sollten wir auch das Phanomen zum Individualismus rechnen, dag viele Cha- rismatikerinnen im Spatmittelalter heftigste, ununterbrochene Kampfe mit den Damonen auszustehen haben, gegen die die Erlebnisse des heiligen Antonius ein nur schwaches Vorspiel genannt werden mussen. Die Viten der Francesca von Rom oder der Veronica von Binasco sind voll davon. Es ist, als ob die Heiligen jetzt ihre eigenen Teufel bekamen, die sie schon im Leben auf wusteste Arten qualen, wahrenddem der Teufel in den fruheren Visionen der I. Phase ja erst beim letzten Austritt der Seele aus dem Korper sichtbar angriff. Durch diese Verschiebung ist aus dem Ansturm der Damonen beim personlichen Gericht, dem ja alle Menschen ausgesetzt sind, eine ganz personliche Marter im Leben geworden, wofur dann auch regelmagig ein sanfter Tod im Herm geschenkt wird. Den rationalistischen Einschlag des Spatmittelalters wird man naturgemag nicht gerade bei den Ekstatikem besonders ausgepragt finden; immerhin gehort die systematische Auf- teilung des «Libro» Katharinas und der «Revelationes» Birgittas in die Nahe der Schola- stik, auch die Systematik, mit der Visionen und Auditionen in einigen Viten behandelt werden (z. B. Veronika von Binasco), doch ist hier mit der Einwirkung der Amanuenses zu rechnen, von denen manche eine gute theologische Ausbildung hatten. Die oft eher sche- matischen Allegoresen geschauter Bilder gehoren auch zum Thema «Rationalismus«. Das fangt freilich, wie gezeigt, in der Mitte des 12. Jahrhunderts an1285 und findet sich im 13., auffallend z. B. bei der Auslegung der Herztone Christi durch Mechthild von Hacke- bom.1286 Vielleicht kann man auch das Durchdringen des Nominalismus in Beziehung setzen zu der aktiven, politisch interessierten Lebenshaltung einer Reihe von Visionaren, die doch etwas Neues ist. Katharina von Siena, Birgitta von Schweden, Klaus von Flue, Savonarola sind hier wohl die bekanntesten Namen. Schlieglich die Emotionalisierung: auch die Gefuhlswelt der spatmittelalterlichen Cha¬ rismatiker ist hingerichtet auf den Menschensohn, in Liebe, mehr noch in Mitleid. Die Emotionalitat des 13. Jahrhunderts konzentrierte sich eher auf die «fruitio Dei», den Liebesgenug, die Verschmelzung, die Brautmystik (Hadewijch, Mechthild von Magde¬ burg, Ida von Nijfel, Gertrud ...). Mit Agnes Blannbekin erreicht sie wohl einen Gipfel der dem Mann Jesus geltenden erotischen Sehnsiichte. Danach scheint fast noch starker das Gefiihl der «compassio» die Beziehung zu ihm zu bestimmen. Freilich gibt es Seherin- nen, die weiter ganz in der Liebesmystik umfangen sind, wie Adelheid Langmann, doch «Christi Leiden, in einer Vision geschaut», so der Titel einer anonym iiberlieferten (ech- 1283 cf. oben S. 79 s 1284 s. oben S. 77 1285 s. oben S. 178 s 1286 Lib. spec. grat. 1,5; cf. auch P. Boeynaeme, Mechthild v. Hackebom’s waameming van de 3e en 4e harttoon, Scientiarum Historia 6,1964, 25-29
264 Geistesgeschichte ten?) Vision um ca. 1400, ist fast zeittypischer. Vielfach treten auch beide dieser Gefuhls- richtungen neben- und miteinander auf; wir haben dies z. B. bei Margery Kempe gese- hen128*; bei anderen konzentrieren sich ihre Schauungen auf die Lebens- und Leidensge- schichte des Salvator (Margarete Ebner, Veronica von Binasco, Clara Bugni. ..). Hier nun konnte man ins Detail gehen, und die reichen Parallelen zwischen bildender Kunst und meditativem Schrifttum aufzeigen. Es herrscht eine lebhafte Wechselwirkung zwischen den einzelnen Genres. Besonders die Gesichte der hi. Birgitta werden fur ikonographische Neuformulierungen als Quelle beansprucht.1287 Doch handelt es sich meist um die Umset- zung eines schon bekannten Bildthemas in die Vision, deren Verbreitung dann wieder die Verbreitung jenes forderte. Das Schutzmantelthema z. B. kommt seit dem spaten 13. Jahr- hundert vor, Birgitta nimmt es in ihren Revelationen (3,17) auf, im 15. Jahrhundert istes weithin Allgemeingut. Das Wechselspiel zwischen Kunst und Vision erhellt vielleicht be¬ sonders anschaulich daraus, dafi Bruder Klaus eine Trinitatsvision seiner ersten Einsiedler- zeit malen lieG und fast taglich in seiner Zelle in Betrachtung davor stand.1288 Ohne vorgrei- fen zu wollen1289 nur ein Vergleichsbeispiel: minutios schildert Juliana von Norwich die Zuge des Gekreuzigten: sein blutleeres Antlitz, besonders die Lippen, werden blauliches, totes Fleisch, die Nasenfliigel schrumpfen ein, die Schwere dieses Hauptes und des ausge- bluteten Korpers lassen die Nagelwunden einreifien.1290 Dieser Vision von 1373 stelle ich als eine Plastik unter vielen moglichen einen gleichzeitigen schlesischen «crucifixus doloro- sus» gegenuber: «Der Kunstler konzentriert die emotionale Spannung, den Schmerz - ma¬ ximal gesteigert - im Antlitz des Gekreuzigten ... Die grundierten, Arme und Beine umwickelnden Schnure imitieren heraustretende Adern ... Das Korperkolorit ist in weiG- grauer Tonung mit grunlicher Schattierung erhalten.. .»1291 Blutstiirze treten aus den Handwunden aus, krafi zeigen die hervorstechenden Rippen den ausgebluteten Leib, das Antlitz ist schmal eingefallen. Leid als Thema der ekstatischen Schauung, Leid als Thema der bildenden Kunst, Mit- leid also einmal als Erlebnis, einmal als Potenz eines Kunstwerkes, das ja geschnitzt wurde, um die Menschen die Passion mitfiihlen zu lassen. Die literarischen Traditionsformen der spatmittelalterlichen Visionen gleichen denen des Hochmittelalters weitgehend. Die Verwendung der Volkssprache hat sich, namentlich bei der Selbstaufzeichnung mystischer Erlebnisse, weiter durchgesetzt. Doch ist die Ge- wichtung wohl eine andere: neben den Visionssammlungen treten die mystischen Viten in den Vordergrund, die oft die spirituellen Gnadengaben mit groGerem Interesse verzeich- nen, als die «vita exterior». Eine Neuheit sind die auf den deutschen Raum beschrankten Schwesternviten, wie sie im 14. Jahrhundert fiir eine Reihe «mystischer» Konvente aufge- zeichnet werden (Engelthal, Katharinenthal, Weiler, ToG, Otenbach usw.). Die Konzentra- tion auf den sudwestdeutschen Raum laGt eine enge Kommunikation unter den Klostern !2«a s. oben S. 161s, 165 s 1287 cf. Kriss, Bilder 62, 84; dort iiberhaupt eine vorzugliche Darstellung der Passionsfrommigkeit (vomehmlich der Neuzeit) 1288 Oehl, Mystikerbriefe 616 1289 «Vision und Kunst» mochte ich noch separat untersuchen 1290 Revelation 10 1291 Anna Pankiewicz in: Legner, Parler 2,496 s
Spatmittelalter 265 vermuten. Hier werden eine Reihe von Kurzbiographien fast ausschliefilich uber die Cha¬ rismata der Begnadeten zusammengefafit, ubrigens ein Zeichen der oben erwahnten De- mokratisierungsbestrebungen. Diese Gattung verloscht jedoch im 15. Jahrhundert wieder. Auffallend ist, dafi aus der Zahl der Handschriften und der Inkunabeln ein deutliches Interesse fur die Visionen des Typs I sichtbar wird, namentlich fur den «Tundal». Viele Friihdrucke seiner Obersetzungen machen ihn zu einem Volksbuch. Dies hangt im Norden zusammen mit der Devotio Moderna, im Siiden mit der monastischen Reform von Kastl und Melk.1292 Auch in grofien kompilatorischen Werken, wie z. B. denen des Dionysius von Rijkel, werden Visionen des alten Typs ausfuhrlich zitiert. Es scheint, dafi man diese Texte in die Nahe der beliebten Mirakelliteratur riickte, in denen Erscheinungen ja kerne kleine Rolle spielen. Auch in Manuskripten, die Abenteuer- und Reiseliteratur a la Mandeville sammeln, findet sich die «Visio Tnugdali».1293 Wie andere Texte konnen natiirlich auch die Visionen im Laufe ihrer Uberlieferungsge- schichte manche Veranderungen erfahren, die zeittypisch sind, sei es durch Obersetzung, sei es durch Versifizierung oder sonstige Umgestaltung. So wird etwa die aus den friih- christlichen «Vitae patrum» stammende Jenseitsvision eines Madchens einerseits in getreu- en Abschriften bis in die Neuzeit bewahrt, andererseits in Bearbeitungen ausgeschmiickt oder ihrer Zeit angepaSt: sind die Eltem, die das Madchen in Himmel und Holle besucht, ursprunglich nicht weiter gekennzeichnet, so werden sie im Frankreich und England schon des 13. Jahrhunderts zu Biirgern und das Ganze zum Exempel eines ungleichen Ehepaares, ein Motiv der damaligen Schwankliteratur. Signifikant ist der Ersatz des ursprunglichen «sie sah» durch das skeptische «hur thougt» im «Alphabet of Tales» des 15. Jahrhunderts, was auch die subjektive Einstellung jener Epoche verrat.1294 Die spatmittelalterliche Literatur ist wohl noch mehr als die des vorhergehenden Zeit- raums von einer Vorliebe fur Allegorien ausgezeichnet, die fast wie eine Gegenbewegung zum Occamismus wirkt. Es genugt an die ungeheure Beliebtheit des «Roman de la Rose» zu erinnem, an all die allegorische Liebeslyrik, an die Moralitaten, Preisgedichte, Tierfa- beln, Homilien, Satiren... Diesen Trend macht, wie berichtet1295, die Visionsliteratur stark mit, indem der Wiedergabe der Schau eine Allegorese angehangt wird. Durch die grofie Zahl der ekstatischen Visionen einerseits und durch die vielen allegorischen Traumdich- tungen andererseits hat die visionare Literatur in verschiedener Gestalt einen nicht unbe- trachtlichen Anteil am geisdichen und moralischen Schrifttum der Zeit, dem von der Trias Humanismus, Renaissance, Glaubensspaltung auf vielen Gebieten ein Ende gesetzt werden wird. Reformation und Barock haben dann fur die Visionen des Mittelalters nur ein eher begrenztes Interesse, wo sie sie nicht uberhaupt ignorieren. Die Vision als Erlebnisphano- men freilich gibt es bis in die Gegenwart. Finis Libri Sed Non Finis Quaerendi Bernhard von Clairvaux, De consid. 5,1432 1252 Palmer, Translations pass., bes. 17 s 1293 z. B. ibid. 277 1294 Frederic C. Tubach, A Girl’s Vision of Heaven and Hell, Laographia 22, 1965, 576-580 1295 s. oben S. 179 ss
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REGISTER Zahlen in Klammem verweisen auf die Anmerkungen der betreffenden Seite; fettgedruckt sind bei haufiger vorkommenden Lemmata die Hauptstellen; die Lebensdaten sind in vielen Fallen nur nahe- rungsweise bekannt. Nicht erfafit sind die Namen der einzelnen Visionare und Visionarinnen in den Sammelviten und Exempelsammlungen. Abaelard (1079-1142) 65, 91, 243 Abraham 105, 110, 115 Achler, Elisabeth (1386-1420) 22, 43, 127, 142s, 147, 209 Actus b. Frandsd 19, 49, (116), 143, (187) Adalbert v. Bremen (1000-72) 15, 118, 204 Adam v. Bremen (f 1081) 15, 117s, (204) Adam v. Kendal (f 1223) 18, 199s Adamnan (f 704) 15, 34, 113, (172), 221s Adelgunde —> Aldegunde Adelhausen 20, 125, 151, 194, -» Anna v. Munzingen Aelred (1110-67) (120) Aethelwulf (9. Jh.) 14, (149) Aethicus Ister (7./8. Jh.) 98 Agius (9. Jh.) 14 Agustus (7. Jh.) 13, 130, 237 Ailsi (12. Jh.) 16 Aisling 69 s Alanus ab Insulis (v. Lille) (1120-1202) 26, 68, 70, 76 Alanus de Rupe (1428—75) 23, 167 Alber (12. Jh.) (202), 257 Alberich v. Settefrati (12. Jh.) 8,16,59 s, 72 ss, 104,114,118,123 s, 128,137,142,155,204, (210), 215 Alberich v. Trois-Fontaines (13. Jh.) (94), (96) Alchemie 50 Alcuin (730-804) 14 Aldegunde (f 684) 14, 49, 80s Alexander d. Gr. 97, 106 Allegorien 68 s, 169ss, 265 Angela v. Foligno (1248-1309) 19, 85, 87, 127, 130, 134,136, 153 s, 168, 195 s Anna v. Munzingen (14. Jh.) 20, (52), -> Adel¬ hausen Anno v. Koln (1010-75) 15 Anonymus v. 1331 20, 216 Antichrist 85 Antoninus v. Florenz (f 1459) (177) Antonius Eremita (f 357) 36 Ansellus (11. Jh.) 15, 61 Anselm v. Besate (11. Jh.) 26, 72ss Anselm v. Canterbury (1033-1109) 16, 249 Anskar (f 865) 14, 43, 104 Apocalypsis Goliae 25 Apokryphen 12, 62, 108, 113 Archipoeta (12. Jh.) 25, 66 Arisleus 50 Aristoteles 196 s Armes Weib —> paupercula Amald v. Foligno (13. Jh.) 19 Arnald v. Villanova (1240-1311) 40 Artus (5. Jh.) 94 Askese 202 s Assembly of Ladies 28 Asteson, Olav (13. Jh.?) —> Draumkvaede Athanasius (295-373) 36 Audition 85, 162ss, 187 Audradus (9. Jh.) 14 Augustinus (354-430) 57, 83, 92, 98, 101, 137, 174, 187 Augustus —» Agustus Avalon (106) Baldarius (7. Jh.) 14, 148 s Barlaam u. Josaphat 25 Barontus (7. Jh.) 13, 51, 99, 142, 186 Bartholomaus, hi. 216 Basil 62 Battista Camilla Baudri (1046-1130) 70 Bauduin de Conde (13. Jh.) 25 Baum 61, 164, 177, 181s Beatrijs 76 Beatrix v. Nazareth (1200-68) 19, 180, 189 Becket (1118-70) 25, 69, 102 Beda (672-735) 13, (96), (99), 109, 203 Beheim (f 1476) 44 Benedikt v. Nursia (6. Jh.) 12,150,172s, 180, 219
282 Register Ben(e)venuta (1255-99) 19, 141, 155, 192, 198, (261) Berg 94 ss, 108, 112, 115, 180 Bernhard v. Clairvaux (1090-1153) 55,217ss, 249 ss Bernhard v. Petershausen (11. Jh.) 16 Bemhardin (1380-1444) 23 Bernold (9. Jh.) 14, 61, 141 Berthold v. Borabach (14. Jh.) 21 Beutler, Magdalena (1407-58) 23 Birgitta (1303-73) 21, 85, 163 s, (210), 214, 217, 264 Blannbekin (t 1315?) 20, 85, 155, 175 Blasius (t 316) (117) Blasius (t 1450) 23, 142 Blumen 139s, 179s, 216 Boccaccio (1313-75) 27, 63 Boethius (480-524) 72, 76 Bougouin (15. Jh.) 26 Boillet, Coletta (1381-1447) 23 Bonav. Pisa (1156-1207) 152 Bonaventura (1217-74) 190 Bonellus (7. Jh.) 14, 136s, 206 Bonifatius (672-754) 14, 31, (107), 155, 171, (237) Bonus (8./9. Jh.) 75 Boso (11. Jh.) 16, 142, 215 s Brandan (484-577) 95 ss, 103 s, 106 Brautmystik —> Christusminne Breudwyt Ronabwy 26 Brucke 70, 107, 112, 114, 127, 132s, 143, 183, 211 Bmn v. Querfurt (974—1009) 15 Bugni, Chiara (1471-1514) 23 Burg 109,112 Caesarius v. Heisterbach (1180-1240) 18, 49, (93 s), 177, 206 s, (220) CamiUa (1458-1524) 22 Chaucer (1340-1400) 27, 65, 69s Christi Leiden 22, 192 Christina v. Markyate (12. Jh.) 17, 141, 212 Christina Mirabilis v. St.-Trond (1150 bis 1224) 17, 158, 205 s, 2t6 Christina v. Retters (1269-91) 195 Christina v. Stommeln (1233-1312) 19, 142 Christine de Pisan (1365-1430) 28 Christus 131, 139, 146ss, 251s, - ais Apfel (76), - als Berg 115, 212, - Beschnei- dung 33, - ais Brucke 183, - Crudfi- xus 47, 150s, 154s, 181, 188s, 209, 215, 264, - Eucharistie 46, - als Gartner 165, 192, - Hollenfahrt 61, - Kind 55, 146, 181, 186, 212, - Minne 150ss, 174s, 212, - Nachfolge 192, - Passion 145, 154s, 168,191s, 198,209,255 s, 260, Herz-Jesu, unio mystica Coletta -» Boillet Columba (1467-1501) 23, 34, 163 Corraac (12. Jh.) 121 Damonen -* Teufel Dagobert I. (f 639) 94 Dante (1265-1321) 8, 27, 69, (91), 101, 108, 170 David 189 David v. Augsburg (1200-72) 60 Death & Life 26, 66 Descensus Christus Dionysius, hi. 75 Dionysius d. Kartauser (1402-71) 23 Dominicus (1170-1221) 59, 162 Dominikanervisionare 220 Dorothea v. Montau (1347-94) 22 Doucelina (1214-74) 19 Draumkvaede 8,19, 100, 119,133 s, 142, 168 Dream of the Rood 25 Dreifaltigkeit —» Trinitat Drycthelm (7. Jh.) 6, 13, 62, 99, 111, 125, 142, 149, 202 s Dunbar (1460-1525) 26 Dunstan (t 988) 15, 144 Eadmer (1055-1124) 16 Eadulf (11. Jh.) 16, 142 Eaman (12. Jh.) 15, 217 Ebner, Christine (1277-1356) 20s, (124) Ebner, Margarete (1291-1351) 21 Ebroin (f 680) 94 Ecclesia 60s, 176, (181) Eckebert -* Ekbert Eckhart, Meister (1260-1327) 190 Edmund v. Eynsham (12. Jh.) 17, 39, 81,104, 119, 128, 137s, 142, 144, 152s, (210), 216 Einwik (f 1303) 19
Register 283 Ekbert v. Schonau (f 1184) 178 s, 193 ss Ekstase 29 ss, 47, 49ss, 142 ss, 185 ss Elias 124 Elisabeth v. Schonau (1129-64) 7, 9, 11, 17, 37, 44, 47, 60, 85, 114, 120, 142, 155, 163, 178 s, 193 ss, 199, 208, (210), 214 Elisabeth v. Spaelbeck (13. Jh.) 19, 168 Encomium Guntharii 76 Endzeit 219 s Engel (33), 34, 37, 42s, 49, 68, 84, 108, 113, 138, 171,187, 212, - als Fiihrer 32,51, 63, 100,110,121,127,132s, 136,143,149,155, 173, 178, 182, 193 Engelthal 20, 124, 146 Ennius —» Owen Enoch 124 Erscheinungen 33 ss, 44ss, 63, (67), 84, 186, 216 s, 132, 254, Totenerscheinungen Eucharistie 46 Eucherius (f 738) 14, 58, 60, 187 Eugendus (f 517) 13 Exempelliteratur 32, (38), 63, 102s, 218ss, 257 Eynwik —> Einwik Fabel dou Dieu d’Amours 70 Fazio degli Umberti (14. Jh.) (106) Fegefeuer 73, lOOss, 118ss, 123 ss, 158, 172, 202 Findan (800-78) 117 Fioretti 19, (181 s), —> Actus FIs Adamnain -» Adamnan Flodoard (893-966) 15 Flothilda (10. Jh.) 15,214 FluR 98, 106, 112, 116, 180, -> Brucke Francesca v. Rom (1384-1440) 22, 71, 101, 120, 143, 155, 168, 181, 210 Franziskanervisionare 19, 44, 85, 116, 143, 181s, 187, 220 s, -» Actus, Fioretti Franziskus (1181-1226) 59, 62, 116, 206 Friedrich II. (1194-1250) 91, 94 Froissart (1337-1410) 28 Fulbert -> Philibert Furseus (f ca. 649) 13, 43, 111, (156), (168), 172, 216 Gabriel, hi. 63 Gamaleon (48) Gazull (f 1507) 50 Gebizo (11. Jh.) 62, 172s Georg v. Ungarn (14. Jh.) 21, 30, 70 Gerald v. Wales (1145-1223) 18, 41, 43 Gerardesca (1210-69) 19,107, 109,117,141, 144, 199 Gerhard v. Augsburg (10. Jh.) 15 Gerhard v. Frachet (1195-1271) 59 Gerson (1363-1429) 60, 190 Gertrud d. Gr. (1256-1302) 20, 53, 68, 85, 119, 124, 135, 140, 145, 147, 150, 152ss, 160, 175, 180s, 198, 208, 216s, 254 Gesta archiepiscoporum Magdeburgiensium 16 Gervasius v. Tillbury (1150-1235) (104) Gheraert (14. Jh.) (93) Girald —» Gerald Giunta (13. Jh.) 20 Glossolallie 85, 163, 267 Goderich (f 1170) 17 Godeschalcus —> Gottschalk Gottfried (f 1333) 20, (101), 141, (171), 179, 203 Gottfried v. Reims (f Ю95) (76) Gottfried v. Viterbo (1125-92) 95 Gottschalk (12. Jh.) 17, 43, 79s, 100, 104s, 111, 123 s, 127,133,136,138,142,144,156, (168), 210 221 Gower (1330-1408) 28 Gregor v. Catino (12. Jh.) 217 Gregor I. d. Gr. (f 604) 13, 92, 94, 104, 197, (237) Gregor v. Tours (538-94) 13, 41, (204), 211 Guibert v. Nogent (1053-1121) 16, 72 ss, 91 Guillaume de Digulleville (1293-1380) 26,70, (76), 182 Guillaume de Lorris (f 1240) 27 Gundelin —> Gunthelm Gunthar 76 Gunthelm (12. Jh.) 17, 100, 106ss, 121, 132, 137, 142, 150 Gunther v. Bamberg (11. Jh.) 144 Guter Gerhard 68 Hadewijch (13. Jh.) 10, 18, 84, 115s, 126, 130, 139, 142, 174, 182, 185s, 199, (210), 215s Haretiker 92 Haiderin, Ursula (1413-98) 23, 181, 190
284 Register Haito -» Heito Haldinghara (13. Jh.) 98 Halmaereig 19 Hariulf (1060-1143) 15, (187) Hathumoda (f 874) 14 Hatto v. Mainz (f 913) 94 Heinrich v. Ahom (12. Jh.) 16, 49, 82, 137, 142, 187, (210) Heinrich П. (973-1024) (76), 94 Heinrich v. Toumai (12. Jh.) 16, 61 Helinand (1160-1237) 16, 62, (92), (104) Hemmerlin 102 Henoch 124 Herbert v. Sassari (v. Clairvaux) (12. Jh.) 18, (96), (218) Heriger v. Mainz (10. Jh.) 25 Hermann v. Mainz (13. Jh.) 220 Hennas (2. Jh.) 176 Herricus (9. Jh.) (67) Herz 130,151,153 s, 162,175,181,198,254, 262 Herz-Jesu 115s, 118, 145, 153s, 165, 175, 179, 254 Hildegard v. Bingen (1098-1179) 6, 17, 30, 44, 85, 88, 163, 173s Hilduin (t 844) 75 Himmel 107ss, 120 ss, 207, 213 Himmelsleiter 37, 154 Himmelsrichtungen 99 s, 104ss, 128 Hincmar (806-82) 14, 60s, 75 Holle 90 ss, llOss, 116ss, 203 Hollenschmiede 97 s Honorius v. Augustodunum (12. Jh.) 92 ss, 110s Houon de Mery (13. Jh.) 25 Hrabanus (780-856) (93), (98), 106 Hugo v. Flavigny (1065-1140) 15, (111), 132, (156), 215 Hugo v. Floreffe (13. Jh.) 18 Hugo v. St.-Victor (1096-1141) 94,101s, 177 Hugo v. Tuscien (f 1001) 97 Huzman (11. Jh.) 15, 82 Iconographica —» Einzelstichworte (Brucke, Christus, Maria usw.) Ida v. Lowen (13. Jh.) 20 Ida v. Nijvel (t 1231) 18, 48, 112, 135, 182, 189, 216 Inkubation 145 Innozenz IV. (t 1254) 61 Irland 8, 77, 112s, 215 Irmgard (f 818) 158 Isabetta (15. Jh.) 23 Isidor v. Sevilla (570-636) 45, (93), 95 s, 99, (100), (106) Isolani (1477-1528) 23, 32 iubilus 151 Ivetta (f 1228) 18, 212 Jakob, hi. 37,49, 76 Jean de Meun (13. Jh.) 27 Jeanne d’Arc (f 1431?) 35 s Jehan de le Mote (14. Jh.) 26, 68 Jehan Paulus 62 Jerusalem, himmlisches 108 s, 122, 178 s, 215 Jesus —> Christus Joachim v. Fiore (1130-1202) 17 Johanna v. Maille (1331-1414) 22 Johanna v. Orvieto (1264-1306) 20 Johannes Baptista 104, 178 Johannes Evangelista 46, 152 s, 174, 204, 219 Johannes II. v. Mainz (15. Jh.) 94 Johannes XXII. (1249-1334) 71 Johannes v. Ellenbogen (Waldsassen) (14. Jh.) (144) Johannes v. Fecamp (f 1078) 251s Johannes v. Fordun (14. Jh.) 18, (200) Johannes v, Luttich (12. Jh.) 17, 61, (102), 108s Johannes v. Matera (Pulsano) (1070-1139) 16 Johannes v. Salisbury (1115-80) 60 Johannes Scotus Eriugena (810-77) 91 Johannes v. Valencia (f 1146) 220 Joinville (1225-1317) 106 Judas 95 ss, 122, 200 Juliana v. Norwich (14./15. Jh.) 21, 126, 130, 141, 155,191s, 213 s, 264 Julianus Apostata (332-63) 60 Jutta Ivetta Karl I. d. Gr. (747-814) 76, 94, 158 Karl III. (839-88) 15, 60 Karl IV. (1316-78) 20, 42s, 122, 259, 261 Karl Martell (f 741) 94 Kartauservisionare 35 Katharina v. Alexandrien (3./4. Jh.) 36
Register 285 Katharina v. Bologna (1413-63) 23 Katharina v. Gebwiler (14. Jh.) 20, Unter- linden Katharina v. Siena (1347-80) 22, 163 s, 168, 181, 183, 217 Katharinental 21 Kempe, Margery (1373-1440) 22, 127, 144, 155, 161s, 165 s Ketzer 92 Kirchberg 22 Kirche —» Ecclesia Kirchengebaude 100, 108, 127, 130 Klaus —» Nikolaus Kleid, himmlisches 116, 174, 182, 204 Klosterchroniken Nonnenviten Konig Rother (63) Konrad v. Eberbach (t 1221) 18, (32), (137), 151, (187), 218s Kreuz —> Christus Laisren (9. Jh.?) 15, 43, 99, 108, 143s, 215 Lampert v. Hersfeld (11. Jh.) 15, (144) Langland (1332-1400) 26, 65 Langmann, Adelheid (1312-75) 21, 152, 161, 175, 194 Laster 68, 171 ss Laurentius, hi. (76), 195 Laurentius v. Pasztho (15. Jh.) 22 Lazarus 110 Lebensbaum -> Baum Leiter Himmelsleiter Leo (13. Jh.) 116 Leofric (f Ю57) 15, 84, 88, 211 Libri Carolini 49, 60 Lidwina v. Schiedam (1380-1433) 22, 118 Limbus 105, 115 Livre de PEschiele 19 Llull (1232-1316) 47 Lucidarius 97 s Ludwig III. v. Niederburgund (t 928) 60 Ludwig d. Fromme (778-840) 158, 214 Ludwig v. Sur (v. Auxerre, v. Frankreich) (14. Jh.) 21,30 Luitgard v. Tongeren (1182-1246) 206 Luitgard v. Wittichen (1291-1348) 21, 155, 180s, 221 Lukardis v. Oberweimar (1274-1309) 20, 53, 117, 142, 154 Luzifer —» Teufel Lydgate (1370-1449) 28,69 Mac Cearbhaill (14. Jh.) 27 Mac Conglinne (12. Jh.) 26, 70 Magdalena, hi. 180 Magnus v. Danemark (12. Jh.) 94 Malachias (1094-1148) 219 Mancini, Maria (f 1431) 22 Mande, Hendrik (1360-1431) 22, 210 Marcus (12. Jh.) 17, —> Tundal Margareta v. Antiochia (t 307) 36 Margareta v. Cortona (1247-97) 20, 155 Margareta v. Faenza (f 1330) 20 Margareta v. Ypres (1216-37) 18 Maria, hi. 37, 46, 118, 135, 147, 150, 161, 175, 180, 188, 200, 212, 217, 219s Marie de France (12. Jh.) 257 Martha, hi. 118 Martin v. Tours (316-97) 35 Matthaus Paris (1200-59) 18, 61, 81 Maximus (7. Jh.) 14, 139, 211 Mechthild v. Hackebom (1241-99) 20, 115 s, 118, 124, 126s, 131, 135, 139, 153s, 160, 165, 175, 179s, (181s), 191 Mechthild v. Magdeburg (13. Jh.) 19, 38, 85, 134, 145s, 153, 157ss, 175, 212 Merchdeof (9. Jh.) 14 Merswin (1307-82) 26 Messe, hi. 122, 160, 193, 204 Metge (1340-1430) 76 Michael, hi. 35, 84, 110, 132, 156 Michael Scotus (f 1235) 91 Minne 174 s, —» Christusminne Minoriten —» Franziskaner Minucius Felix (273. Jh.) 96 Monch v. Eynsham —» Edmund Monch v. Pulsano (12. Jh.) 16 Monch v. St.-Vaast/Arras (11. Jh.) 15, 111, 132, 141, 156,215 Monch v. Savigny (12. Jh.) 256 Monch v. Wenlock (8. Jh.) 14,31s, (156), 171, 237 Monchshabit 32 Mohammed (f 632) 19 Mum and the Sothsegger 28 Mussato (1261-1329) 25 Mystik 9 s, 53 ss
286 Register Nial (um 1000) 15, 142 Nibelungenlied 40, 79 Niccold de’ Guidoni (um 1300) 12, 187 Nikolaus v. Flue (1417-87) 23, 136, (203), 223, 264 Nonne aus Poitiers (6. Jh.) 13, 203 s, 211 Nonnenviten 264, —» Adelhausen, Engelthal, Katharinental, Kirch berg, Otenbach, Tofi, Weiler, Unterlinden Norbert v. Xanten (1080-1134) 30 Occam (t 1350) 69, 260 Odilia v. Luttich (1165-1220) 17 Otenbach 20, 125 Odilo v. Cluny (962-1048) 104 O’Phlean 63 Ordericus Vitalis (1075-1142) 16, (60), (221) Origenes (185-254) 105, 196s Orm (t 1126) 16, 85, 99,110,142,144,155, 186, (210) Osanna (1449-1505) 23, 39, 47, 141, 162s, 193, 199, 209, 217 Otloh v. St. Emmeran (1000-70) 15, 177s Ovid (43 v. - 17n.) (76) Owen (12. Jh.) 17, 30, 70, 81, 104, 107, 109, 168, 177, 201s Paradies 99, 105 ss, 120, 181, 190, 203 s, 211, 216, 220 Parlement of the Tre Ages 27, 66 Patrick (5. Jh.) 41, Purgatorium Patricii Paulus, hi. 75, 147 Paulus-Vision 9, 12, 60, 80 Paulus Diaconus (Grammaticus) (f 1105) (172) Paulus v. Merida (7. Jh.) 13 paupercula 14, 120, 158, 214 Pearl 26, 44 Personifikationen 60s, 65, 68ss, 118,169ss Petrarca (1304-74) 27 Petrus, Ы. 47,104,155 Petrus Alfonsi (1062-1140) 63 Petrus Bartholemaeus (t 1098) 16, 60 Petrus v. Cornwall (13. Jh.) 16s Petrus Damiani (1007-72) 15, (104), (220), 222 Petrus Petroni (t 1361) 21, 99 Petrus Tolosanus (12. Jh.) 204 Petrus Venerabilis (1092-1156) 35, 44s Pfefferhartin (14. Jh.) 21 Philibert 25, 70s Philippe de Mezieres (1327-1405) 26s, 65 Philippine (13714. Jh.) 19 Policarpus (77) Poppo (10. Jh.) 15 Porphirius 77 Potharpus (77) Prophetie 43 s, 48, 84 s, 182 Prudentius (348-405) 171 Prudentius v. Troyes (t 861) 14, (149) Pseudo-Turpin 76 Pulleyn —* Robert Purgatorium Patricii 17, 30, 70, 97, 104s Raduin (9. Jh.) 75 Rahere (f 1144) 16, 176, 216 Rainer v. Luttich (1157-83) 17, 43, 151 Ramon de Perelhos (14715. Jh.) 22, 30, (70) Ramon de Llavia (15. Jh.) 26 Rannveig (12. Jh.) 17, 43, 142 Raoul de Houdenc (t 1230) 25, 66 Raphael, hi. 106, 121 raptus 36, 47, —> Ekstase Raul Glaber (11. Jh.) 60 Reginald v. Durham (12. Jh.) 17 Regnauld le Queux (15. Jh.) 96 Reiner Rainer Reliquien 59 s, 117, 195, 250 Richard v. St.-Victor (t 1173) 91,190 Rimbert (t 888) 14 Robert v. Brugge (f 1157) 218 Robert Guiscard (1015-85) 61 Robert v. Mozat (10. Jh.) 15, 48 s Robert Pulleyn (1080-1150) 92, 101 Robert d’Uzfcs (t 1296) 19, 44, 84s, 182 Roger II. (1095-1154) 61 Roger v. d. Provence (t 1287) 19 Roger v. Wendover (f 1236) 81 Rollo (f 927) 61 Rosenroman 27 Rotbert —» Robert Rotcharius (9. Jh.) 15, 82, 111 Rother (63) Royal Debat 25, 71 Rupert v. Deutz (1075-1129) 16, 43, 150s
Register 287 Rutebeuf (t 1285) 25 Ruysbroeck (1293-1381) 190 Salimbene (1221-88) 19 Salomo 196 Salvius (t 584) 13, 142 Sammelviten Nonnenviten Samson 196 SantiUana (1398-1458) 28, 82 Sauve —> Salvius Savonarola (1452-98) 23, 85 Schamanismus 233 Schwestembiicher —» Nonnenviten Seelen, arme 101 ss, 127,158 s, 177,205, - mit Fenstern 126, - mit Flecken 38, - als Reich 130, - schau 52s, - teile 52, - als Tiere 119, 124, - als Vogel 102s, 117,174, 179, - waage 219 Seneca (9. Jh.) 14 Seuse (1295-1366) 21, 55, 126, 139, 141, 209, 212, 262 Siagrius (12. Jh.) 16, 186, -» Orm Sibyllina (1287-1367) 20 Sigbert v. Gembloux (1030-1112) (104) Sim(e)on v. Durham (12. Jh.) 15 s, (216) Sinuinus (12. Jh.) 17, 43, 214 s Skelton (1460-1529) 28 Somnium Clerici 27 Stagel, Elsbeth (t 1360) 20, 189, (198) Staunton, William (15. Jh.) 22, 30, (70) Stephan, hi. 213 Stephan (6. Jh.) 237 Stephan v. Bourbon (f 1261) 18 Stephan II. (t 757) 46,75 Stigmata 198 Strome —> Flusse Sulpicius Severus (360-420) (35), 88 Sunniulf (6. Jh.) 13, 84 Suso —> Seuse Tauler (1300-61) 190s Telepathie 178 Television 48 Teufel (33), 37, 51, 61, 71, 76, 84, 86, 93 ss, 109, 119, 123, 132, 143, 163s, 171, 186, (210), 221 Theoderich d. Gr. (455-526) 94 Thietmar v. Merseburg (975-1018) 15, 41 Thomas v. Aquin (1224-74) 92 Thomas v. Celano (1190-1260) 62 Thomas v. Chantimpre (13. Jh.) 17ss, 103, (158), 205 Thomas v. Eccleston (13. Jh.) (94) Thurkill (13. Jh.) 18, 39, (50), 100, 119, 123, 127 ss, 137, 142, 144, 181 Tnugdal —> Tundal Tod 77,259s Tofi 20, 189, 198 Tommasuccio (1319-77) 21 Torre, Alfonso (15. Jh.) 28, 50 Totenerscheinungen 35, 38, 102s, 191 Tractatus de Purgatorio Patricii —» Purgatorium Traian (53-117) 197 Traum 39ss, 48s, 65ss, 86, (210) Traumbuch 40 Trinitat 161, 178, 189 s Trithemius (1462-1516) 20 Tugenden 171 Tundal 6, 17, 51s, 71, 79, 81, 104, 107, lllss, 119,121s, 127, 130, 132s, 142, 156, 168, 177, 179, (181), 185, 201, 213, 265 Turpin (8. Jh.) 76 Ulrich v. Augsburg (890-973) 15, 102 s, 144 unio mystica 52ss, 147,151 ss, 186,194, 212, 255 s Unterlinden 20, 125, 208 Ursula, hi. 195 Valerio v. Bierzo (t 695) 14, 130, (137), (139), (148), (206), (211) Vanna Johanna Varano —» Camilla Vereinigung, mystische —> unio Veronika, hi. 189 Veronika v. Binasco (1445-97) 23, 32, 141, 155 Vinzenz v. Beauvais (t 1264) 81 Visio Alberici usw. —» Alberich usw. visio beatifica 147, 167 visio intellectualis 83, 87, 134, 136 Visionen, antike 12, 81 Visionen, Theorie der 6, 39ss, 81 ss, 190s Vitae Patrum 265 Voluspa 25, 100 Voye de Infer 26, 65 Vulkane 94 ss
288 Register Walahfrid (808-49) 26,43 Walther v. Chatillon (1135-1200) 25, 68 Walter Map (1140-1208) (57) Waningus (t 686) 13 Weg Ills, 175,206s Weiler 21,221 Werner v. St. Blasien (t 1174) 92 Wemhar v. Petershausen (12. Jh.) 16, (204) Wetti (f 824) 14, 82, 142, 149s Wibert —> Guibert Wilbirgis (1230-89) 19 Wilhelm П. v. England (1056-1100) 59 William (12. Jh.) 16, 81,119, 148 Wulfstan v. York (t 1023) 15 Wynnere & Wastoure 27 Zenone (14. Jh.) 27 Zisterzienservisionare 17 s, 32, 137, 151s, 187 s, 204, 218ss, 256, Caesarius v. Hei- sterbach, Konrad v. Eberbach A = A