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Die rassische und ukrainische □ Idee in Oesterreich. □ c Hon Dr. Dmitrij niarkow □ Reiclisrats-flbgeordneter. □ Preis 70 Heller. Wien und Leipzig 1912. Verlag ls. ROSilfR & C. W. StCRIl, Wien, I. franzensring 22.

Vorwort. In allerneuester Zeit waren die politischen Kreise in Oesterreich vielfach Zeugen eines erbitterten Kampfes zwischen den österreichischen Kleinrussen. Man verfolgte mit einer ge- wissen Neugierde den Verlauf dieser Zwistigkeiten, man suchte sogar die verschiedenen Erscheinungen unter ihnen tiefer zu betrachten und in ihrer Psychologie zu ergründen. Die vorliegende, geschichtlich - publizistische Skizze ist vielleicht geeignet, einerseits ein wenig Licht in den politischen und kulturellen Bruderzwist der Russisch-Natio- nalen und Ruthenisch-Ukrainophilen zu werfen, anderseits aber äusser der nationalen Seite des Kampfes auch noch den sozialen Charakter dieser beiden nationalpolitischen Richtungen näher zu beleuchten. Mich dieser Aufgabe zu unterziehen, wurde ich von vielen Seiten angegangen, insbesondere von den meiner Parteirichtung freundlich gesinnten tschechischen Politikern. Indem ich nun den vorliegenden Aufsatz der Beachtung der österreichischen, vornehmlich der geschätzten Wiener Presse zu empfehlen mir erlaube, erwarte ich, dass dieser objektiv verfasste Aufsatz allüberall unparteiisch beurteilt werden wird. Wien, am 10. Jänner 1908. . Nachdem die erste Auflage erschöpft, die vorliegende Frage vom Standpunkte der inneren, noch mehr aber vom Standpunkte der äusseren österreichischen Politik an Aktualität zweifellos zugenommen hat, erachte ich es für meine Pflicht, die Broschüre in der zweiten Auflage erscheinen zu lassen. Wien, im April 1912. I)r. Dmitrij Markow.

Clara pacta, boni amici.. . . Es gibt in Oesterreich tatsächlich kaum einen Volks- stamm, der aus seiner Vergangenheit so viel Leidensgeschichten zu erzählen wüsste, wie die österreichischen Kleinrussen. Gleichsam am „Scheidewege“ des Slawentums ansässig, waren sie ein ewiges Kampfobjekt zwischen der römisch-deutschen und der slawisch - russischen Vormacht in Mitteleuropa . . . Kein Wunder, dass diese Vivisektion schreckliche Wunden am Leibe der Kleinrussen geschlagen hat. Im Jahre 13&0 werden sie nach dem Aussterben ihrer Fürsten von Halicz und Wladimir — aus dem Hause Ruriks — der Macht des Polenkönigs Kasimir unterstellt, wobei letzterer dieses, sein Recht gegen 100.000 Golddukaten von dem gleichfalls erb- berechtigten Ludwig dem Grossen erkaufen zu müssen glaubte. Die Herrschaft Kasimirs war für die unterjochten Kleinrussen keine, segenbringende. Gewaltsame Ausrottung alles Russisch- Nationalen, insbesondere dör kirchlichen Gebräuche und des orthodoxen Ritus, war kennzeichnend für die Herrschaft dieses fanatischen Katholiken. Kein Wunder, dass nach seinem Tode in den orthodoxen Kirchen statt Trauer-, Jubelandachten veranstaltet wurden . . . Allein die Freude währte nicht lange. Nach 7jähriger Herrschaft der humanen Tochter Ludwig des Grossen fällt das rotrussische Fürstentum wieder der polni- schen Adelsherrschaft anheim. Während nämlich die Königin Marie von Ungarn bei sich' zu Hause einen Aufstand der Baronen unterdrückt, überfällt Königin Hedwig, Schwester der Königin Marie und zweite Tochter Ludwig des Grossen — über Drängen des polnischen Adels — die rotrussischen Länder und nimmt. sie ein. Die Okkupation seilte aber dies- mal für immer dauern ; . . Jetzt erst beginnt für Rotrussland, und zwar für Hunderte vOn Jahren, ein wahres Martyrium . . . Die russischen Kirchen wurden geschlossen, der orthodoxe Adel gewaltsam latinisiert oder aus seiner sozialen und poli- tischen Stellung verdrängt, die bis dahin freien Bauern an die Scholle gebunden — mit einem Worte, es entbrennt ein innerer, langsamer aber hartnäckiger Kampf religiös-nationaler Natur"; Der polnische Adel ficht ihn aus im Namen der Kultur- mission — für Röm und den lateinischen Katholizismus; Rot-
6 russlands Adel wehrt sich dagegen, weil er darin einen Vor- stoss der westeuropäischen Feudalherrschaft erblickt. Dieser langwierige, innere Kampf zwischen dem polnischen Adel, seinem Könige und dem kleinrussischen Adel wurde förmlich abgeschlossen in dem Unionsvertrage von Lublin, im Jahre 1569. Rotrussland und Litauen wurden durch diesen Vertrag in aller Form unter der polnischen Krone zu einem gleichberechtigten und gleich verpflichteten Staatsganzen miteinander vereinigt. Dieser internationale Vertrag, welcher gegenüber dem rotrussi- schen und litauischen Adel bezüglich der Vorteile ein leoninischer genannt werden muss, wird sodann bekräftigt durch einen neuen Vertrag allgemeiner Natur. Es sollte in dem obgenannten Bun des vertrage nachträglich noch das gemeine Volk, als Dritter im Bunde, seine Nebenintervention leisten. Zum politischen Vertrage von Lublin kommt noch ein religiöser — dies aber hauptsächlich nur zu dem Zwecke,, um der politischen Union durch einen Vertrag mit der Gesamtheit das Siegel der Allge- meinheit aufzudrücken. In der Bulle des Papstes Klemens VIII. „Magnus Dbminus“ wird der bekehrten Nation — „nalioni RnssorillU seu Ruthenoriini“ —' für den bevorstehenden Akt der religiösen Vereinigung der Orthodoxen Rotrusslands und Litauens mit Rom ein reichlicher Segen gespendet, worauf in Brest im Jahre 1596 von der Minderheit, der Bischöfe der römische Papst als kirchliches Oberhaupt der rotrussischen— von nun an griechisch-katholischen — Kirche publice aner- kannt, wird . . . Allein die der Kirchenunion verfallenen Bischöfe werden vom russischen und litauischen Volke, fort- gejagt oder gar ermordet. Am .hellichten Tage wird dem Bischöfe von Polock, dem später von Rom heilig, gesprochenen Josafat Kuncewicz, während einer Andacht, mit einer Axt der Kopf entzwei gespalten und seine Leiche hierauf von der auf- geregten Volksmenge in einen Fluss geworfen. So sah der Anfang der religiösen „unio“ aus; die Weiterfolge und, das Ende standen noch bevor. Die politische Union von, Lublin regelte ja vornehmlich die politischen Rechte und Pflichten des Adels aller drei staatsrechtlich vereinigten Provinzen (Polens, Rotrusslands'und Litauens). Die kirchliche Union von Brest war aber etwas mehr. Sie war ein Strick um den Hals nicht so sehr der orthodoxen Kirche und des orthodoxen Klerus, als vielmehr ein Ketten band, gelegt an die freien Bürger Litauens und Rotrusslands. Der römisch-deutsche Feudalismus steckte darunter und dieser begann nun seine Arbeit. Er wütete furchtbar unter dem Volke; er wollte.sich um jeden Preis einnisten und den urwüchsigen, freien Bürger, Bauer und Handwerker zum Sklaven machen . . . Das Volk wollte aber dieses neue Feudalrecht, diese tatsächliche Knecht- schaft durch Polen nicht lange dulden. Ende des XVI. und
7 Anfang des XVII. Jahrhunderts kommt es zu sozialen und nationalpolitischen Bürgerkriegen, zu einem fatet 100jährigen Aufstand des,Volkes als solchem. .Die, am Dnjepr und am Schwarzen Meere, an der sogenannten ^Ukraine“ (Grcnzland, Grenzmarke) hausenden, durch und durch republikanisch gesinnten Kosaken wollen die, Freiheit ihrer weiten Steppen mit dem schönen azurblauen Himmel, nicht ohneweiters auf- geben. Sie rüsten, sie organisieren sich mit grosser Eile,. mit grossem Wagemut.. Die unzufriedenen, flüchtigen und von den „fremden Herren“ verfolgten Elemente — seien es Adelige, seien es Bauern oder Knechte — verstärken ihre Reihen. Es kommt zu einem. Aufstand vom Schwarzen Meere bis an den Niemen und die Karpathen’.. Alles was lebt steht auf, revoltiert gegen die römisch-polnische Feudalherrschaft, gegen Volks- sklaverei und Knechtung der freien Bürger. Ein schlichter Mann, namens Bogdan Chmielnickij, dem ein Schlachzize Czaplinski mit Hilfe der Soldaten seihe schlanke Ehegattin geraubt hatte, stellt sich an die Spitze; der aufrührerischen Volksmasse. Es entbrenntoin.Kampf in allen Gauen, es lodern in heiteren Flammen, die herrlichsten Schlösser, Klöster und Städte und das massenhafte Schlachten und Morden verschont nicht den Fürs.tenadel, nicht, den fürstlichen, lateinischen Klerus. Der Anfruhr der Massen — voll Rache, Zorn und Blut — reicht bis an Zbaraz, Zborow, Sokal und Lemberg! . . . An den Dachzinnen der Lemberger- lateinischen Kathedrale hängen bis heute, an kurzen Ketten befestigt, kugelförmige Kanonen- geschosse des „Vaters“ („batjko“) Bogdan Chmielnickij. Bis heute noch will das Volk in dem Bernhärdinerkloster .einen Brunnen wissen, an welchem die polnischen Adeligen die von ihnen zur. Mahlzeit geladenen orthodoxen Gäste massenhaft geköpft und ihre Leichen sodann —: nach dem Berichte des Geschichtsschreibers Kostomarow — in den. besagten Brunnen hineingeworfen hatten. Fürwahr, ein drastisches Beispiel der —- vielleicht von,einem, vorausgehenden Segen begleiteten — Gastfreundschaft der Klosterbrüder. Ja es wird sogar in der volkstümlichen Geschichtsliteratur erzählt,- dass ein Kosaken- hauptmann seinen eigenen Sohn erdolchte, weil letzterer eine schöne Polin —r jedenfalls Katholikin —; geheiratet habe1 . . . Diese traurigen und verrohten Zeiten waren,, aber nicht ohne tragische, manchmal komisch- tragische Kriegsepopöen . . . Kriegsrühmliche Taten, Kriegsverrat, nächtliche Ueberfälle, treubrüchige Renkontres, ja. ein Raub der adeligen Töchter 1 Wie sich das Gefühl der Menschlichkeit damals abgestumpft hatte, beweist zur Genüge die Tatsache, dass die tüchtigsten Kosakenhetmans, wie z. B. Naleväjko, am hellichteri Tage in Warschau vor den Augen des versammelten Volkes gemartert, „gerädert“ oder in „Messingochsen“ (byki) lebendig gebrannt und verbrannt wurden ...
8 durch eineu Kosaken vor den Augen des wehrlos gemachten Vaters, alles das waren Vorwürfe für Darstellungen berühmter Künstler, wie Repin, Brandt^ Makovski, Kowalski u. a. in. Packende, ergreifende Szenen aus diesen Zeiten schildern uns berühmte polnische und russische Romanciers, z. B.’Gogöl, Sienkiewicz u. a. . . . I Im Jahre 1653 sollte aber diesen schrecklichen'Brüder- kämpfen der beiden slawischen Völker ein Ende gemacht werden. Der müde und in seinem Gemüte düstere Kosakenhetmän, Bogdan Chmielnickij, rief nach Peresjaslavlj seihe Kosaken, „das'gesamte Volk“, zu einer Generalversammlung. Er wollte einerseits dem Blutvergiessen ein Ende machen, anderseits das Schicksal des bis dahin tatsächlich unabhängigen und bis- weilen republikanisch regierten Kosakentums für die Dauer festigen, sichern. Nach kurzen Debatten rief das versammelte Volk nach detaillierter Befragung: „Wir wollen unter die Herrschaft des pravoslavnyj car. Gott segne und festige die Einheit des Russentums!“ ... So sprach einmütig die Volks- stimme. . . . Ein Monument in Kiew, den tapferen Bogdan Chmielnickij auf einem Steppehrosse f und mit erhobenem Hetmanszepter darstellend, verewigte dieses geschichtliche Ereignis . . . Das gesamte Russentum spendete dem wackeren und weitblickenden Hetman das grossartige Denkmal. Es liess ausserdem auf dem hohen, gewaltigen Felsblock in Gold eingravieren die Worte: „Das einheitliche und untrennbare Russentum“ . . . Allein trotz des Peresjaslaver Paktes dauerte der religiös- politische und soziale Gegensatz zwischen den demokratischen Bestrebungen der Kleinrussen und den polnischen Oligarchen und Magnaten fort . . . Indem aber einmal dieser Gegensatz in einen gegenseitigen inneren Vernichtungskampf ausartete, konnte dieser Kampf ebenfalls nicht so bald sein Ende nehmen. Er kam noch immer an einzelnen Orten zürn Vorschein, ins- besondere in den Ländern, welche noch immer dem polnischen Reiche untertan waren. Noch im Jahre 1768 erhoben sich die unterdrückten kleinrussischen Bauern (sogenannte hajdamaki) in Umah gegen die polnische Adels- und Jesuitenherrschaft und schlachteten förmlich, unter Führung der Kosaken Gontä und Zeliznjakj einige Tausend Einwohner — adelige und jüdische —• in der genannten Festungsstadt Umah, dem Sitze des Wojwoden Grafen Potocki . . . Wiederum also ein Nach- wehen und ein zweifelloses Zeugnis des tief eingewurzelten sozialen, religiösen und nationalen Gegensatzes . . . Leider "besserte diesei’ wilde Kampf der Gegensätze das aristokratische Schlachzizentum nicht; er besserte auch nicht das Schicksal der Kleinrussen, des Volkes als solchen 1 . . . Er beschleunigte aber den Verfall der slawischen, feudalen (polnischen) Republik,
9 er gab ihr die letzten Hiebe, vielleicht auch den Todes- stoss . . 5 Anderseits war aber auch das Schicksal der klein- russischen Kosaken und ihrer — bisweilen — unabhängigen „Siez“ (Republik) besiegelt.. . Die russischen Selbstherrscher machten sich daran, das Kosakentum zu reglementieren, zu zivilisieren. Die strenge Katharina hat ihm vollends ein Ende gemacht . . . Hatte es ja übrigens seihe Rolle ausgespielt, so- wohl gegenüber ' den Tatarenreichen, im Süden des heutigen Russland, als auch gegenüber der adeligen Oligarchie und dem Jesuitismus im Polenreiehe!ä. . . Es musste demnach den Platz räumen und. von der politischen Bildfläche verschwinden1. Da- gegen wurden die kleinrussischeii Gebiete, die noch damals zu Polen gehörten, bald geteilt. «• * Die galizischen Kleinbussen wurden im Jahre 1772 in den österreichischen Stäatsyerband aufgenommen, und zwar auf'Gründ der Rechte der ungarischen Krone1 2. Nach heftigen und inühkamen Kämpfen, nach einer ungeheuren Knechtschaft atiheten die galizischen, kleinrussischen Bauern auf einmal ein wenig auf. Man hätschelte sie sogar einige Zeit . . . Dies ge- schah aber vornehmlich aus dem Grunde einer wohlerwogenen Staatsräson . . . Man brauchte nämlich gesunde Leute, gute Soldaten; man wollte die Ständeautonömie, diesen Ueberrest der feudalen und adeligen Vorherrschaft, brechen, folglich gab man auf einmal dem früher sehr unterdrückten Bauer ver- hältnismässig viel Freiheit. So schränkte man damals in Galizien die Zeit der Robot ein, gab den Handwerkern Frei- briefe, schützte das rechtsunkundige Volk vor der Willkür der Dominialverwaltung, gründete unter anderem Seminare, 1 Der Versuch der ehrgeizigen Hetmanen Mazeppa und Wigowski, Südrussland, das ist die sogenannte „Ukraine“, zu einem gänzlich selb- ständigen Staatswesen — sei es auch zu einer unabhängigen Republik — zu erheben, blieb erfolglos. Die beiden Führer der Kosaken ‘ fanden beim Volke absolut keinen Anhang. Mazeppa würde1 dazu noch Wegen seines Verrates an Peter dem Grossen in der Schlacht • bei Poltawa in allen Kirchen exkommuniziert und vom Volke allgemein verdammt. 2 Andreas II. von Ungarn hat sich schon anlässlich einer Hilfe- leistung an die Witwe des Fürsten Roman im Jahre 1206 den Titel „König von Galizien und Vladimirien“ beigelegt. In den diesbezüglichen Urkunden, sowie in den sämtlichen Staatsschriften dieser Zeit wird übrigens die Eigenschaft der Kleinrussen als Rotrussen, und ihr Land als Russia rubra deutlich her vorgehoben. Siehe „Tractatus inter Suam Maj. Imp. M, Teres. Reg. Hung. et Bohem. et S. Maj. Regm. Rempubli- camque Poloniäe“, sowie Patente vorn 11. September 1772 und 15. No- vember 1773 u. dgl. m. .
10 - reformierte die k. k. Universität, führte, daselbst — zu Lem- berg — die russische Sprache, wenn auch in bescheidenen, Grenzen, als Vortragssprache ein »— mit einem Worte, man wollte aus Knechten gesunde und kaisertreue, österreichische Untertanen machen. In solchen erträglichen* Verhältnissen lebten die Kleinrussen Galiziens und* der Bukowina mit den österreichischen Machthabern bis zum Jahre 1848. In diesem Jahre rafften sich, wie bekannt, fast alle österreichischen Völker zum Freiheitskampfe auf. Auch in Lemberg und auf dem flachen Lande Galiziens organisiert die polnische Intelli- genz und Jugend einen bewaffneten Widerstand gegen den Absolutismus . . . Die vorsichtige Zentralregierung organisiert aber eine Gegenrevolution in Form der sogenannten National- garden . . . Ausserdem wurde um diese Zeit den ungarischen Kleinrussen seitens der Regierung merkwürdigerweise grosse Ehre erwiesen. Der bedeutendste Staatsmann der ungarischen Kleinrussen, der nachmalige Hofrat und Verweser der Ressort- ministerien in Budapest, Adolf Ritter von Sacuroff Dobrjansky, wurde trotz seiner ausgesprochenen russophilen Gesinnung zum Generalkommissär für die russische Armee bestellt. Der- selbe organisiert — knapp vor Einmarsch der russischen Truppen — in seiner „aufrichtigen Ergebenheit an den Kaiser“ (er war wirklich ein kaisertreuer und ehrlicher Politiker) slawische Nationalgarden, um mit ihrer Hilfe den „gemein- samen Feind“ — die Magyaren —- niederzuringen . . . Nach Einzug der russischen Truppen aber wird Dobrjansky zugleich gratissima persona bei der russischen Armee und ein unent- behrlicher Begleiter und Freund des tapferen Anführers der Avantgardearmee, des bekannten Generals Rüdiger . . . Die Freiheitskämpfe der „rebellischen“ Nationen nehmen unterdessen ein Ende. Lemberg wird von General Hammer- stein bombardiert; in Ungarn streckt der unglückliche General Göfgey die Waffen, noch mehr, er bietet sogar dem russischen Kaiser die ungarische Krone an . . . Dieses unverhoffte Anbot gegenüber dem russischen,. damals in Europa gefürchteten Alleinherrscher wurde aber höflich zurückgewiesen und der ungarische Aufstand mit einem Aufwand von 365 Millionen Rubel und Tausenden von Menschenopfern seitens Russlands glücklich beendet. Die Macht der Dynastie und das Gesamt- reich Oesterreich wurde dauernd gerettet . . . Es gibt aber überall Enttäuschungen . . . Nach Nieder- werfung des Aufstandes lud Graf Stadion die politischen Ver- treter der galizischen Kleinrussen zu sich. Er machte ihnen den Vorwurf, dass die galizischen Kleinrussen in einem deutsch gedruckten* Aufsatze sich als „wahre Russen“ zu nennen wagten. Graf Stadion vergass augenblicklich die geschriebenen Dokumente, er respektierte anscheinend nicht mehr die bis-
11 herige Tendenz der österreichischen Regierungi. Graf Stadion schwenkte; nämlich diesmal ’von dieser politischen Tendenz ab und gab der Delegation kurzen aber deutlichen Bescheid- „Wenn ihr euch für Russen ausgebt, so habt, ihr von der Regierung für die Dauer"• nichts zu hoffen! .“ Ergo blieb es bei. dem in der. deutschen Sprache bis dahin nicht üblich gewesenen und politisch minder verdächtigen Terminus, bei den. sogenannten „Rutjieiieii“. Der Terminus ^Russen“, welcher noch Anfang., des .Jahres 1848 in den. deutschen Manifesten gebraucht worden war, wurde sonach über einen Wink von oben für lange Zeit aus dem offiziellen Gebrauch beseitigt . . . „Treue Diener des Grafen Stadion, bis in die Unmöglichkeit Schwarzgelbe“ —so charakterisierte die „Ruthenen“ wieder- holt die ätzende -Feder Moritz Gottlieb Saphirs. Dieser setzte auch einmal in einem, nachher in den deutschen Witzblättern publizierten Briefe an Grafen Stadion ein originelles Datum bei. Das Datum lautete: „3 Jahre seit der Erfindung der Ruthenen!“ . . . Allein auch diesem von der Regierung Bach inkamerierten „Ruthenentum“ legt man bald einen Maulkorb bei.... Im Jahre 1848-und Anfang der fünfziger Jahre erblühte in Galizien die literarische Tätigkeit. Es wurden in Galizien Bücher in kleinrussischer und ebenso auch in russischer Sprache gedruckt. Diese vorwiegend philologisch-ethnographi- sche, literarische Tätigkeit wurde besonders durch den Peters- burger Gelehrten M. P. Pogodin gefördert, welcher mehr oder weniger um diese Zeit fast alle, slawischen Provinzen Oester- reichs • bereiste und junge slawische Talente zur Slawistik und überhaupt zur Liebe für alles Slawische anspornte. War er ja doch ein intimer Freund von Safarik, .Jungmann und Palacky, führte er ja eine rege Korrespondenz sogar mit dem nach- maligen k. k. Hofrate F. Miklosich1 2. Die Regierung schaute mit scheelen Augen' auf die Be- strebungen der slawo-, beziehungsweise russophilexl• litera- rischen • Bewegung in Galizien. Um aber das; benachbarte Russland nicht zu reizen, griff man zunächst zu einem philo- logisch-diplomatischen Kniffe. Ein schwacher Slawist, der Kultus-Ministerialsekretär Jirecek, schrieb damals ein para- doxales Werk, Es lautete: „Uefier den Vorschlag, das Ru- 1 Schon im Jahre 1810 erklärte Graf Pergen in einem Berichte der galizischen Landesstelle Mi idie Hofkammer vom 13. Dezember 1816, Z. 24.783, dass man, das Kleinrussische nicht unterstützen wolle, weil es so wie so nur eine Abart der russischen Sprache sei . . . 2 In seinem erstep Briefe an M. P. Pogodin schrieb F. Miklosich: „Die Prager sind glücklich, weil sie aus Russland was bekommen können. Wir in Wien bekommen eher ein Buch ans Kanton als aus Russland . . . Alle meine Bemühungen, die nötigsten Werke der russischen Literatur anzuschaffen, bleiben hier ohne Erfolg.“
12 thenische mit lateinischen Schriftzeichen zu schreiben.“ In dieser Broschüre ist zu lesen, dass die cyrillische Schrift die kleinrussische Mundart immer mehr dem Russischen werde nähern'müssen . . , Aber auch Graf Agenor Gölüchowski stellte gleichzeitig in einem Lahdesberichte1 an die Zentral- regierung folgendes Konklusum auf: „Man müsse die ruthe- nische Sprache und Schrift gegenüber dem Grossrussischen unbedingt abgrenzen.“ Die Resultate der philologischen Tätig- keit der österreichischen Verwaltungsorgane 'zeitigten doch Früchte. Ueber Geheiss der hohen Zentralregierung wurde in Lemberg eine Sprachenenquete zusammengesetzt und der Vor- schlag gemacht, für das kleinrussische Idiom in Galizien die lateinischen Schriftzeichen einzuführen und den Weiter- gebraüch der russischen „Cyrillica“ — beziehungsweise „Gräz- danka“ — Schriftzeichen streng zu verbieten. Die Enquete sprach sich aber diesmal noch mit grosser Majorität dagegen aus. Es blieb nur bei der Regierungsverordnung, dass nämlich die amtlichen Aktenstücke nicht in der üblichen russischen Schrift, sondern mit lateinischen Buchstaben geschrieben werden dürfen. (Verordnung vom 20. Dezember 1859, Z. 12466.) Dieses direkte Eingreifen der Regierung in dasrein kulturelle Gebiet der Kleinrussen erschien später vielen intelligenten und kulturell geschulten Wiener Politikern etwas geschmacklos. Ueberdies erwies sich dieser Weg als ein zu-sehr in die Augen fallender. Man griff deshalb zu den bewährten Mitteln. Es hiess wiederum das „divide et impera“ zuhilfe nehmen. Man überlässt diesmal freie Hand den Politikern der Heimat,: dem galizischen Adel und Klerus ... In Galizien schaute man sich ein wenig in der Vergangenheit um und fand bald eine Aus- kunft und einiges Beispiel in der neuesten Geschichte Polens. Vor dem polnischen Aufstande in Russland im Jahre 1830 war nämlich in Südrussland eine Bewegung bemerkbar, welche die Bussen, insbesondere die Kleinrussen, für die revolutio- nären Bestrebungen der polnischen Schlachta gewinnen wollte. (Pestei, der Anführer der Dekabristen, war ein Pole von Ge- burt.) Die Idee des Zusammengehens mit den einst mit Polen staatsrechtlich vereinigt.(. gewesenen Kleinrussen fand einen eifrigen Vorkämpfer in der Person des Generals des Besur- rektionsordens, einem gewissen Semenenko. Er predigte mit seinen politischen Freunden in Wort und Schrift sowohl die politische als auch die kulturelle Verschiedenheit. und Trennung der Kleinrussen Galiziens und Südrusslands von den Grossrussen. Dieser Gedanke wurde nun jetzt, vor dem dritten Aufstande Polens* von den polnischen Bevolutio- nären und Emigranten glücklicherweise aufgegrifien. Man sprach — unter dem Einfluss des Bevolutionsflebers und der Revolutionslogik — den Grossrussen nach der Theorie Du-
13 chinskis sogar die slawische Abstammung ab und Ansprüche auf europäische Kultur gönnte man nur dem dreieinigen Königtum Polen, Litauen, Rotrussland. Es entstand auch damals das bekannte Trifoliumslied: „Polska, Rüs, Litwa, jedna modlitwa“ (Polen, Litauen und Kleinrussland seien ein Gebet); kurz, man trachtete mit allen Mitteln, den Kleinrussen von der russisch-politischen und auch kulturellen Macht zu be- freien, ihn gänzlich dem echten Russentum zu entfremden. Selbst, der freidenkerische, polnische General Mieroslawski schrieb damals an seine Konnationalen die denkwürdigen Worte; „Werfen wir Brandfackel und Brandfeuer hin, schleudern wir Bomben hinter den Dnjepr und Don, in das Herz Russlands, sie mögen das Russentum vernichten; entfachen wir Hader und Feindseligkeiten unter dem russischen Volke. Die Russen werden sich untereinander mit eigenen Krallen zerfleischen. Wir werden aber dafür wachsen und wieder stark werden.“ In diesen Revolutions- zeiten erscheinen nun in den sechziger Jahren in Galizien massenhaft polnische Revolutionäre und Emigranten. Die Emigranten werden '»in Lemberg trotz ihrer polnischen Ge- sinnung als'-Lehfer an dem akademischen, nachmals ruthe- nischen Gymnasium • angestellt. Der bekannteste unter ihnen, Lehrer Paulin Stachurski rekte Swjiencicki, lehrte direkt und öffentlich während des Unterrichtes der russischen (ruthenischen) Sprache, das Russentum hassen; er malte den jungen Klein- russen in einer phantastischen Weise eine schöne Zukunft der „lieben“ —kosakischen und. republikanischen — „Ukraine“ mit ihren bis an die Anarchie grenzenden politischen Drei- heiten; Für die neue „ukrainisch“-republikanische Idee wird sogar ein schönes Lied aus Russland hervorgeholt. „Schtsche ne vmerla Ukraina“ („Noch ist die Ukraine nicht verloren“) hiess die Hymne der neuen politischen Strömung (das öster- reichische Parlament hat diese politische Symphonie in einer Sommersitzung schon zu hören bekommen) und ihr Text wurde verfasst nicht mehr in der etymologischen, in Russ- land gebräuchlichen Schreibart, sondern in einer modernen, abgekürzten und für die Jugend sehr-'bequemen — weil ohne Grammatik' leicht zu erlernenden — Schreibart, der sogenannten phonetischen. „Schreibe wie du sprichst und sprich wie du horst“, hiess es damals in den Kreisen der politisch ver- anlagten Philologen. Auch die in Lemberg damals erschienenen Zeitschriften huldigten diesem Prinzip; auch sie bedienten sich nicht der alten russischen Schreibweise, sondern entweder der lateinischen Schrift oder der genannten kleinrussischen Phonetik. Dies wären vor allem die Zeitschriften „Meta“, „Siolo“, „ Weczernyci“, Zeitschriften, in deren Artikeln der Hass gegen Russland und überhaupt gegen russische Kultur das Haupt-
14 thema bildete . . . Das Herz der kleinrussischen Jugend, empfindlich für alles Phantastische und Romantische, brauchte unter solchen Umständen nur' noch einen Leuchtstern dieser Idee, ein wirkliches Genie zu erblicken. Die Jugend wollte ja die Idee nach einem gewissen 'Muster verwirklichen, die Idee in der Gegenwart realisieren. Ende der siebziger’ Jahre kamen aus Russland nach Galizien die Werke eines be- geisterten, fast genial zu nennenden Volksdichters und Lyrikers, des Kleinrussen Taras Grigorjewicz Schewtschenko. Schew- tschenkos Werke waren von der grössten Hingebung lind Liebe für sein in der Leibeigenschaft und unter absoluter Herrschaft schmachtendes Volk 'erfüllt. Er erblickte in‘seiner phantastischen, zukünftigen „Ukraine“ das Ideal eines freien, republikanischen Staates, wenn möglich in Form eifaer slawischen Föderation, frei von Herr und Knecht, mit einer weitgehenden Glaubens- und Gewissensfreiheit . ... Ein Blick auf ein jugendliches, verliebtes Paar, auf einen Kosaken und eine junge Maid, bildet bei ihm ein Gebet, deutlicher ge- sprochen, ein Surrogat desselben. Dagegen 'sollte — nach Schewtschenko •— die Formalität der ,Kirchenorganisation durch Reinheit der Sitten, durch Brüderlichkeit aller Nächsten ersetzt werden. Zynisch wie Heine, betrachtete er in seinem gewagten Naturalismus die Gottesmutter und Jesus mit rein menschlichen, demokratischen Augen als schlichte „ukrainische“ Bauern. Er gibt auch bezüglich der unbefleckten Empfängnis eine eigene, wenn auch in den Grenzen des Erlaubten und Ehrlichen selbständig durchdachte Darstellung. Charaktervoll und in seinen Ueberzeugungen konsequent, kann er sich mit dem monarchischen Prinzip nicht befreunden. Er kann auch die soziale Ungleichheit und Erniedrigung seiner armen und geknechteten kleinrussischen Bauern inicht mit aüschauen . . . Mangels tieferer Bildung und fester Prinzipien hat er keine richtige Anschauung von Staat und Weltordnung, gerät in- folgedessen in einen Widerspruch mit sich selbst, ja ist er fortwährend in Kollision mit den Gesetzen. Als Leibeigener von dem russischen Maler Brjuloff und dem Dichter Zukovskij mit einer öffentlich gesammelten Geldsumme losgekauft, gerät er bald in die Verbannung nach Orenburg, hierauf in die Kase- matten von Nowi Petrowsk. Die bittere Erfahrung mit dem russischen absolutistischen Regime, die Knebelung jedweder Freiheit durch den Zaren Nikolaus und seine Beamten, machen aus ihm einen ausgesprochenen Feind :des russischen Staates als solchen! . . . So wird man es nun begreifen, .dass der "Hass des Schewtschenko gegen den Absolutismus, gegen die staatlich geschützte Religion, gegen die Bedrückung des armen „ukrainischen“ Volkes, ein dankbares Echo in den Herzen der galizischen Jugend gefunden hat. Die Kämpfe der Kosaken
15 zu Zeiten des Hetman Bogdan Chmielnickij — geschildert durch die galizischen Geschichtsschreiber Zubritzkij und Dieditzkij — riefen bei ihr schon früher wiederholt Reminis- zenzen hervor; diese Reminiszenzen bekamen nun neue Nahrung durch die begeisterten Schilderungen und den Ideen- gang Schewtschenkös — jedoch vorwiegend in einer schiefen Richtung! ... Die Gl’ossrusseu werden nämlich von nun an nur in der Gestalt von brutalen Selbstherrschern, Tschinowniks gesehen — mit einem Worte, alles Schlechte wird jetzt meisten- teils auf das Konto der Grossrussen („Moskal“) geschrieben. Kurz, in Galizien begann ein antirussischer Separatismus, die sogenannte „ukrainophile“ Richtung langsam zu blühen ... Nicht der Märtyrer und Dekabrist Dostojewski, nicht ein Herzen oder Czerniszewskij, auch nicht andere Freiheitskämpfer und Vorkämpfer der Kulturfreiheiten werden unter dem „ Russen- tum“ verstanden, sondern es wird grossenteils im „Russentum“ als solchem der Inbegriff alles Schlechten erblickt. Ein qui pro quo machen die Anbeter des Schewtschenko aus seiner berechtigten Kritik des damaligen russischen Regims, eines absoluten und despotischen. » * * Diese neue Strömung ist nach Galizien zur rechten Zeit gekommen. Die russophile Richtung war bis jetzt in Oester- reich unter der kleinrussischen Intelligenz mass- und ton- angebend. Mit Ausnahme des berühmten griechisch-katholischen Paters, späteren russischen Protojerej Ivan Griegorjewicz Naumowicz und einigen wenigen aufgeklärten Köpfen waren die Russophilen in Galizien, Bukowina und Ungarn bis dahin zum grossen Teile par excellence „Sehwarzgelbe“, in Glaubens- sachen fanatisch orthodox, politisch höchst konservativ, streng kaisertreu, mit einem Wort regierungs- und hoffähig . . . Kein Wunder, dass die Russophilen, vulgo Altruthenen — trotzdem sie sich russisch zu schreiben erlaubten — den unverfälschten russischen Ritus in ihren Kirchen bis auf den letzten Buch- staben pflegten, die Matusdhka „RtfP mit einer romantischen Liebe umgaben und das absolute Russland (den Staat) als einen slawischen Koloss mit einer gewissen Bewunderung be- trachteten, dass selbe, trotz dieser, damals politisch berüch- tigten Eigenschaften zu einer grossen Bedeutung und Macht in Galizien und der Bukowina herangewachsen waren. Man denunzierte sie bald als Russophile, bald verdächtigte man wieder ihre angeblich bigotte und formale Staatstreue u. dgl. m. Trotzdem aber haben die Russophilen in Wien den Sieg davon- getragen. Daheim in Galizien aber fürchtete und hasste man die Russophilen! . . . Man nannte sie dort nie anders als
16 „Schwarzgelbe“, „swjento-jurce“’, oder ganz einfach „rutenci“ — im verächtlichen Sinne. Alle Institute, die reichsten, eine der bestsituierten Banken, alle Würden in der Hierarchie, ja — dank dem Demokraten Naumowicz, die. intelligenteren Volksmassen — alles das war damals in den Händen der Russophilen . . . Das war ein bisschen gefährlich! Das könnte mit der Zeit leicht eine Aenderung und Verschiebung der politischen Verhältnisse in Galizien herbeiführen, ja I— und das war das Wichtigste — die grossen Politiker, die um ihre Zukunft besorgt waren, von ihrer politischen Höhe wegfegen. Deshalb griffen diese Politiker in ihrer Kurzsichtigkeit oder, wenn man will, in ihrer Weitsichtigkeit nach dem in den früheren Zeiten politisch sehr erfolgreichen Rezept: „Hilf was helfen kann!“ . . . Heber Anraten des Vizepräsidenten und späteren Statthalters Loebl (Graf Alfred Potocki sträubte sich dagegen und gab infolgedessen seine Demission) beschlossen der wenig geistreiche und begabte Minister F. Zemialkowski und der ehrgeizige sogenannte „rote“ Fürst Adam Sapieha, die neue antirussisclie Strömung, nämlich den obgesagten ukrainischen Separatismus unter den Kleinrussen in Oester- reich für ihre politischen Zwecke auszunützen. Man bestellte darum die Koryphäe der damaligen „Ukrainophilen“ Pahko Kulisz, einen Schriftsteller und Gelehrten, aus Südrussland nach Galizien. Man versprach ihm, in Kürze eine Druckerei zu kaufen und sicherte ihm jährlich eine Subvention von 10.000 fl. P. Kulisz sollte aber dafür die separatistischen (anti- mssischen) oder die sogenannten ukrainophilen Ideen den Russen Galiziens einimpfen — gleichzeitig aber diese Ideen in einer milderen, loyaleren Form, als es bis jetzt der Fall war, den Volksmassen darbieten. Er sollte hauptsächlich die ukrainophile Bewegung gegen das Russentuin grossziehen, sodann aber mit diesem antirussischen „Rutlieiientll.nl“ die russophile Bewegung in Galizien und in der Bukowina über- haupt vernichten. Ausserdem verpflichtete er sich, diesem nationalen Separatismus eine poleilfreundliche lind katholische Richtung zu geben. Panko Kulisz kam tatsächlich nach Lem- berg und begann in der ihm vorgezeichneten Richtung publi- zistisch und politisch tätig zu werden. Zu gleicher Zeit (im Jahre 1882) machte man aber einen Vorstoss nach der anderen Seite, man wollte der RussOphilen baldigst los werden. Man wählte diesbezüglich für den ersten Schuss die griechisch- katholische Geistlichkeit, die durchwegs russophil gesinnt war. Infolgedessen trug man sich mit dem Gedanken, vor allem die Geistlichkeit, insbesondere die Klostergeistlichkeit irgend- wie blosszustellen, um sie dann reformieren zu können. Die Gelegenheit fand sich. Bei Zbaraz, in der Gemeinde Hniliczki, herrschte Streit um Konkurrenzbeiträge für die dortige Filial-
17 kirche. Nach vergeblichen Bemühungen, einen eigenen Geist- lichen zu bekommen, riet der Patron von Hniliczki, der rumänische Graf Delia-Scala den Bauern, den formalen Heber- tritt zum orthodoxen Glauben anzumelden. Ein jedenfalls für die galizischen Zustände noch heute gefährliches Experiment. Der Uebertritt machte viel Aufsehen. Man warf dem Grafen Alfred Potocki und dem Metropoliten Josef Sembratowicz grobe Fahrlässigkeit vor. Graf Potocki demissionierte, Metro- polit Josef Sembratowicz musste abdanken und sich nach Born in die freiwillige Verbannung begeben (er starb zu Rom im Jahre 1900). Dagegen wurden sozusagen auf der Stelle Pater Naumowicz, Hofrat Dobrjanskij, seine Tochter Olga Grabar, alle Redakteure russophiler Blätter, fast alle schriftstellerisch und öffentlich tätigen und patriotisch gesinnten Russophilen eingesperrt und gegen sie ein Strafverfahren wegen Hoch- verrat eingeleitet. Die Jury verneinte einstimmig die Frage auf Hochverrat. Dagegen wurden vier der An- geklagten wegen Störung der öffentlichen Ruhe (§ 65 b St.-G.) bis zu sechs Monaten Kerker bestraft. Trotz dieses Aus- ganges wurde aber das Ziel erreicht. Vergebens schrieb da- mals der berühmte Publizist S. Axakoff, dass in dem Straf- prozesse „die allrussische Idee gerichtet werde“ . . . Ver- gebens verwies der bejahrte Erzherzog Albrecht auf den Pflicht- und Diensteifer des mit vielen österreichischen Orden ausgezeichneten Adolf Ritter von Dobrjansky, seines ehe- maligen Adlatus bei der k. k. Statthalterei in Budapest. Das alles erwies sich gegenüber den damaligen politischen Strömungen zu schwach, zumal letztere infolge des Berliner Vertrages noch, gespannt und getrübt waren. Es war nichts zu machen. "Die adeligen Politiker und Rom waren damals in Wien sehr mächtig, die allgemeine Einschüchterung in Galizien zu gross. Es musste jemand büssen, es musste wenigstens infolge angeblicher Kom- promittierung der „Hochverräter“ die nationale Sache Schaden leiden. Im Herbst 1882 nahm Rom, nach der Veröffentlichung der apostolischen Konstitution „Singulare Präsidium“, die griechisch-katholischen Klöster mit ihren millionenreichen Stiftungen und Gütern in Galizien in seine eigene Regie. Die schon früher angesagte Reform des griechisch-katholischen Klerus seitens der Jesuiten hat auf diese Art begonnen. Solche Wendung überraschte natürlich auch viele nicht russophile Kreise in Galiziern Allein letztere waren ebenso wie die russo- philen stark terrorisiert. Sie wagten gegen diese Massregel nicht zu protestieren. Nur P. Kulisz, der Haupturheber, bekam Gewissensbisse und — sozusagen — Judasmut. Auf der Flucht nach Russland begriffen, veröffentlicht er in Wien eine Brand- schrift gegen die Jesuitenherrschaft in Galizien, welche Bro- schüre aber wegen ihrer scharfen Auslassungen gegen die 2
18 katholische Kirche von der' k, k. Wiener Staatsanwaltschaft, konfisziert würde. Aber trotz der Flucht des Panko Kulisz wurde die einmal begonnene national-politische Reform der galizischen Kleinrussen weiter fortgesetzt und im Jahre 1890 proklamierte der bekannte Abgeordnete Romanczuk iformell einen nationalpolitischen Ausgleichsvertrag mit den j Polen, die sogenannte „Nowaja era“. Dieser weichherzige Politiker gab nämlich im galizischen Landtage im Namen der „Ru- th enen“ und dies nach vorherigen Vereinbarungen mit Kasimir Badeni und Kardinal S. Sembratowicz — folgende politische Enunziation: „1. Wir Rutlienen sind ein selb- ständiges Volk mit eigenem nationalen und politischen Charakter und als solches wollen wir unsere Nation in Oesterreich pflegen und weiterbilden; 2. wir halten treu zu Papst und Katholizismus und an unserem griechisch- katholischen Ritus ..Diese Enunziation war hauptsächlich gegen die russophile Partei gerichtet, zumal die damals neu begründete radikal-ukrainophile Partei und ihre Ideen — hauptsächlich die dem Schewtschenko und Dragomanov, einem russischen, idealistischen, revolutionären und republikanischen Föderalisten entnommenen — beim Volke damals noch kein Gehör fanden. Die Enunziation fand nur unter dem Adel und dem lateinischen Klerus ehren Anhang. Bei den Volksmassen und überhaupt bei den demokratischen Elementen fand der seitens des Herrn Romaiiczuk und Genossen mit der (polnischen) Landesregierung geschlossene Ausgleich keinen Anklang. Da- gegen hat dieser Ausgleich unter den politischen Parteien der galizischen Kleinrussen verhängnisvolle Folgen nach sich gezogen. Es entbrannte aufs neue der Parteikampf, es kam zu einer neuen Demoralisation unter der kleinrussischen In- telligenz. Kardinal S. Sembratowicz (Neffe des verbannten Metropoliten Josef Sembratowicz), der zusammen mit dem Professor Barwinski der wahre und eigentliche Urheber der genannten „Nowaja era“ war, hatte insbesondere die russo- phile Richtung in Galizien mit den strengsten Mitteln zu vernichten gesucht. Mit seiner Hilfe wurde die alte und in Russland noch gebräuchliche etymologische Schreibart in Galizien beseitigt, einige Buchstaben kassiert und über ein Memorandum des Landesausschusses Lemberg vom Ministerium für Kultus und Unterricht eine neue Schreibart, die so- genannte phonetische, in allen Schulen Galiziens offiziell ein- geführt. Seiner Initiative ist die im Jahre 1891 nach Lemberg berufene griechisch-katholische Synode zu verdanken, wo äusser vielen Neuerungen im griechisch-katholischen Ritus, überdies der Zölibat für die griechisch-katholische Geist- lichkeit in Galizien eingeführt werden sollte. Äusser diesen sozusagen negativen Erfolgen hat Kardinal Sembratowicz
19 darüber hinaus nichts Nennenswertes erreicht, vielmehr sein Ansehen eingebüsst. Auf dem Nordbahnhofe in Wien von der akademischen, russophilen Jugend mit, faulen Eiern beworfen —- eine politische und häufige Spezies bei uns — wurde er in der Folge seines politischen, Terrorismus wegen sogar vom Klerus nicht mehr geachtet, ja direkt verhöhnt. Er starb an einer schrecklichen Krebskrankheit, verlassen sogar von seinen nächsten Verwandten. Seine Aufgabe setzte der einzige Pionier dieser Richtung, Professor des Pädagogiums und Regierungs- rat Alexander Barwinski fort. Der hatte aber gar keinen Anhang beim Volke. Vielmehr blieb er bei den Volksmassen der bestgehasste Mann und wagte es diesmals, trotz seines besten Willens, nicht einmal in den Reichsrat zu kandidieren. Auch seine jetzigen Bestrebungen, eine neue klerikale Partei mit Hilfe der griechisch-katholischen Hierarchen zu gründen, werden keine Früchte tragen. Barwinski ist heute, in Wahrheit gesprochen, ein politisch toter Mann. So schaut die Skizze der russophilen und ukrainophilen Idee in Galizien vom staatsrechtlichen und politischen Stand- punkte aus. . Meiner persönlichen und bescheidenen Ansicht nach ist das Saldo dieser beiden Strömungen in allerneuester Zeit eine politische Demoralisation der intelligenteren Reihen der Kleinrussen in Oesterreich. Ob das Volk ebenso wird demoralisiert werden können, muss jedenfalls bezweifelt werden. * * * Aber äusser der staatsrechtlich-politischen Seite muss auch zum Schlüsse das rein kulturelle, literarisch-ethnographische und philologische Moment des vorliegenden Themas in aller Kürze behandelt werden. Dies natürlich gleichfalls in einer objektiven Weise . . . Zunächst die Benennung, die Termino- logie . . Der griechische mittelalterliche Terminus ttP<>t)fPqvo<;u-, im Lateinischen „RuthcnUS“, überging in das Russische nicht, wenngleich das mittelalterliche griechische dem slawischen „s“, beziehungsweise „sz“ entsprochen hatte. Das den „Ruthe- nus“ im Russischen ersetzende Substantivum singulare „Rus-iii“, d. h. ein Russe, wurde von den russischen Chronisten auf diese Weise gebildet, dass sie der Wurzel „rus“ die den Singularis andeutende Endsilbe „in“ angehängt haben. Ebenso wie im Alt- und Neurussischen ein Bulgare „bulgar-in“, ein Serbe „serb-in“, ein Israelite „israeltjan-in“ geheissen haben und bis jetzt heissen, ebenso wurde ein Russe in geschicht- licher Periode nur „rus-in“ benannt. Dagegen wurde die Nation als „Rus“ (ot das Gebiet dieser Nation gewöhn- 2*
20 lieh „Rossija“ (Pioata) genannt1. In der adjektivischen Form hiess es „rus-skij“ (russisch) und nie anders. Dies ist wieder ganz regelrecht, weil die Gattungsadjektiva auf diese Weise gebildet worden waren, dass zur Wurzel „rus“ die adjektivi- sche Endung „skij“ hinzukommen musste. (Den'inach auch pol-skij [polnisch], serb-skij [serbisch] und nicht serb-inskij, pol-inskij, rusin-skij u. dgl. m.) Diese natürliche und auf eine geschichtliche Weise vor sich gegangene Terminologie hat sich bei dem Volke vollkommen eingebürgert. Das Völk, sei es Grossrusse, Kleinrusse, Weissrusse, gebraucht für den deutschen Ausdruck ^russisch“, „russischer“ nie ein anderes Wort als nur „rus-skij“. Auch der Bauer in Galizien, der Bukowina und in Ungarn spricht nie anders als „po-riisski“ (d; i. wörtlich deutsch: „russisch“); ein Weib oder ein Kind nennt sich nie anders, .als nur „rus-ska“ (d. i. wörtlich deutsch: „russische“). So ist es in Moskau, Minsk, Weiss- russland (wo übrigens auch ein Separatismus zu blühen an- fängt), so ist es in LembergL'v«Nie und nimmer wird ein Politiker oder Philologe vote^einem Bauer,zur Antwort -be- kommen: „Er (der Bauer)- sprechenukiwUiscM (pof'ükrainski); kleinrussisch (po.malorusski) oder weissrttssi'SShppö bjölorusski).'“ Gleichfalls ist nicht gebräuchlich im Russischen d®r Te^Öiittus „ruthenisch“, auch nicht im Kleinrussischen. Ebenso wie im Lateinischen das Wort „Teuto“ ein richtiger Ausdruck für „Deutscher“ ist, ebenso ist im Lateinischen „ruthönus“ nicht unrichtig für den Ausdruck „Russe“. Im Deutschen will jedoch kein Deutscher „Teutone“, folglich sollte ' auch kein Russe, gleichviel ob Gross-, Weiss- oder Kleinrusse, „Ruthene“ heissen. Nicht anders verhält es sich mit der Literatur und Wissen- schaft. Wie im Deutschen die ersten Fundamente für die gross- artige deutsche Literatur auf dem niederdeutschen Boden und in niederdeutschem Idiom (Reinecke de Vos, Sachsenspiegel) aufgebaut sind, so dürfte man sagen, dass die heute ebenfalls grossartige russische Literatur ihre erste Grundlage uiid ihre erste Nahrung äüf'dem kleinrussischeu Boden gefunden hat. Dip“bedeutendste^; literarischen Denkmäler und Werke dpS Mi'ttdlat’fei's Rind ja Von dem heutigen sogenannten Klein- russlärid, Völk Kiew, Ostrog, Lemberg, ausgegangen. Ja, wenn man die Bildung der heutigen literarischen, russischen • • J . ' Die älteren geschichtlichen Ausdrücke: „Rusci, Ruszi, Ruzzi, lluscia, Ruszia, Ruzzia“ kommen in vielen Schritten und' Dokumenten zum Vorschein. Die polnischen Könige schrieben: „Dux Lithyaniäe et Russiae (Kleinrusslands). .. Ruszia hungarica“.. .. Auch .Herberstein,sagt unter anderem: „Russi nomen acceperunt certe populi oipnes, qui lingua slavonica utuntur, fldem 'Christi graecorum inore sequuntur geiitiliter Russi, latine Ruthen! appelati“ .:. •• - ‘
21 Sprache nicht mit den Augen eines Politikers, sondern objektiv und? wissenschaftlich verfolgt, so wird man staunen müssen, wie die Kleilirussen trotz ihrer politischen Abhängigkeit und Verfolgungen unt er einer Fremdherrschaft sich so grosse Ver- dienste um die Einheit und Schönheit der heutigen litera- rischen russischen Sprache haben erwerben können! ... Das erste gedruckte Buch von Fedorow erschien im Jahre 1573 in Lemberg und die erste slawisch - russische Grammatik von M. Smotricky auch um dieselbe Zeit in Galizien. Sie bildet ein Handbuch in Russland bis an den Lomonossow. Die bedeutenden Männer des Zeitalters Peter des Grossen, welche mit ihm das heutige Russland kulturell gross ge- macht haben, sind zum grossen. Teile Kleinrussen gewesen. Die berühmtesten wären: Slavineckij Polocky, Jaworskij, Prokopowicz. Die Gründung der Akademien in Petersburg und Moskau, die Anfänge der russischen Dramaturgie, Päda- gogik und des Volksunterrichtes und überhaupt eines jeden Wissenszweiges, dies alles, war. vornehmlich ein Verdienst der Kiewer oder der galizischen Gelehrten . . . Dank diesen Klein- russen lund einer .Reihe anderer Schriftsteller hatte der Be- gründer der literarischen russischen Sprache, der berühmte Lomonossow, leichte Aufgabe. Er hat die heutige russische Sprache aufgebaut auf dem Material, welches die genannten kleinrussischen Schriftsteller ihm in ihren Werken als Erb- schaft hinterlassen haben. Nicht minder reichlich ist auch die Teilnahme der Klein- russen an der neuen und neuesten russischen Literatur. Bogdanowicz, Neledinskij, Nachimow, Gnjedicz, Chmielnickij, Milonow, Raicz, die Brüder, Tumanowski, Podolinskij, Kluszni- kow, Grebjonka, Szczerbina, Kowalewskij, Nikitenko, Grigoro- wicz, Krestowskij, G. Danilewskij, Gogol (der Meister und Begründer des russischen Romans), Korolenko, Potapenko, Dantschenko, Sergejenko u, a. Dies sind nur die namhafteren. Dichter und Belletristen . . . Dazu kommen noch viele gelehrte Männer der Wissenschaft, von denen ich nur einige wenige hervorhebe: Kalajdowicz, Maksimowicz, .Sreznjewskij, Tere- szczenko, Bodjanskij (aus Ungarn), Kpstomarow, Nikitenko, N. Danilewskij, Kulisz, Czuzbinsky, Holubinskij, Ewarnickij, Antonowicz, Kojalowicz, Ptaszyckij, Gorodeckij, Petrow, Maliszewskij, Daszkiewicz, Golowackij (aus Galizien), Vene- lin (aus Ungarn), Budilowicz, Florinski, Zyteckij, Potebnja, Sobolewskij, Timanowskij, Nowickij, Jurkiewicz, Michnie- wicz u. a. m, Ja, das interessanteste ist, dass die bedeutendsten kleilirussischeu Dichter und Schriftsteller, welche nach An- sicht1 ihrer Epigonen die Begründer des heutigen litera- rischen russischen Separatismus gewesen seien, russisch geschrieben , und die russische Sprache trotz ihrer sogenannten
22 „ukrainophilen“ — also ahtirussischen — Richtung ebenso wie die ' Grossrussen liebten ; „ Der ukrainische Dichter Schewtschenkö, dessen Bildung übrigens, wie bekannt, keine tiefgehehde war, schrieb unter anderem einige Erzählungen lind Sein wunderschönes Gedicht „Trizna“ in russischer Spräche. Auch die beiden anderen Koryphäen der ukrainophilen Richtung, P. Kulisz und Nicolai Kostomarow, welche seinerzeit Von einer slawischen föderalistischen Stäatseinrichtüng schwärmten (Verein des hl. Cyrill und Method), schrieben ihre wissen- schaftlichen Werke ausschliesslich in der russischen Sprache. Ja, ein Ukrainophile neuesten Datums, Mordowcew, schrieb seine Romane nur in russischer Sprache urid in’ der klein- russischen nur einige Broschüren politischen Inhaltes . . . Angesichts dieser Tatsachen lässt siöh die echte russische Kultur und Literatur von der klein-, beziehungsweise' weiss- russischen nicht scheiden, nicht trennen1. Die Grenze zu finden, in Welchem Verhältnisse sich an der russischen Literatur die Grossrussen einerseits und andere Russen anderseits be- teiligten, fiele schwer, sehr schwer. Eine Teilung dieser ge- meinsamen Kulturarbeit vorzunehmen, wate eine Torheit,''ein Barbarismus. Dies und nichts anderes hat die gelehrten Slawisten bewogen, die diesbezüglichen literarischen Be- strebungen — insoferne solche Bestrebungen nicht zu lokalen Zwecken und für lokale Verhältnisse dienen, sondern direkt darüber hinausgehen — neue Kultur zu schaffen, als' ein unnütz Ding, direkt als „vana ira . . .“ zu bezeichnen. Ab- gesehen von einigen Gelehrten minderer Gattung hat der be- rühmte russische Gelehrte A. Pypin und unser berühmter Wiener Slawist, k. k. Hofrat Jagic, in dieser Materie ihr massgebendes Urteil vom wissenschaftlichen Standpunkte schon längst gefällt. Nach Pypin und Jagic (andere Gelehrte werde ich hier nicht anführen) ist die klcinriissische Sprache mir eine Mundart der russischen Sprache, welche durch ihre innere Einheit nnd Verwandtschaft dem Grossrussischen näher steht als die niederdeutsche Mundart dem Hochdeutschen! Und wenn die Dinge sich so verhalten, dann bleibt nichts übrig, als dem Ganzen einen freien oder, besser gesagt, einen rein kulturellen Lauf zu geben. Das kleinrussische Idiom als Mittel zum Zwecke der Aufklärung der ungebildeten Massen in Galizien und der Bukowina soll Und kann nicht so ohneweiters ausgemerzt werden. ,Wie der berühmte Volks- schriftsteller Iwan Naumowicz tatsächlich zuerst durch seine in der galizisch - russischen Mundart geschriebenen und höchst populär verfassten Erzählungen die galizisch-russischen ' Weissrussen gibt es in Russland übet 7 Millionen.
23 Bauern aus dem hundertjährigen Schlafe geweckt und die ersten Grundlagen zur weiteren Volksaufklärung gegeben hat, so werden dessen Epigonen seine Arbeit weiter fortsetzen müssen. Dies muss so lange in Galizien geschehen, so lange man dort in den Lehranstalten keine literarische russische Sprache lehrt. Deshalb istr das Bestreben der besonneneren Russophilen, vorläufig wenigstens auf den Universitäten in Galizien und der Bukowina — nach dem Vorbilde Deutsch- lands — die Collegs der russischen Sprache und Literatur zu erlangen, ganz begreiflich und gerechtfertigt, zunial in neuester Zeit das Bestreben, vorhanden ist, dass unser Staat im Wettbewerbe auf dem russischen Markte einen der ersten Plätze einnehme. Anderseits müssten die russischen Separatisten, die sogenannten „Ukrainophilen“ (also Antirussen), die Idee, den siidrussischen Dialekt uns nach Galizien künstlich ein- zuschmuggeln und aufzuzwängen, fahren lassen. Diese Idee führt nur zum Barbarismus,1 zu einem Babylonturm. Ist dem Kleinrussen die literarische russische Sprache infolge hundert- jähriger klerikal-feudaler polnischer Herrschaft ent- fremdet worden, so ,ist auch in dem Masse die südrussische Mundart dem Galizianer, insbesondere in den Gebirgs- gegenden und noch mehr einem Bukowiner oder ungarischen Kleinrussen ebenso fremd und nicht verständlich. Angesichts dessen wird sich nicht nur der gebildete Mann, sondern auch ein intelligenterer Bauer dem Versuch, Galizien zu „ukraini- sieren“, mit allen Kräften widersetzen. Möge in der „ukraino- philen“ Idee noch so viel kleinrussische geschichtlich-nationale Romantik stecken, möge diese Idee noch sc viele freiheitliche, politische und soziale Tendenzen in sich bergen: einen neuen, sei es auch republikanischen Staat — etwa nach dem geschicht- lichen Vorbilde Mazeppas — werden wir den Ukrainophilen nicht aufbauen helfen, sei es auch ohne Hilfe Preussens . . . Um so weniger werden wir Russophilen unsere Hand dazu geben, die russische Kultur zu spalten, d. i. anders ausgedrückt, die schöne russische Literatur, Kunst und Malerei einer national entarteten Chimäre, einem direkten Niedergang und Verderben hinzuopfern. Unser Bestreben, das Bestreben der Russophilen, ist, nicht zu wühlen, Unheil und Unfrieden zu stiften oder gar Kulturarbeiten zu zerstören, sondern unser Ziel und unsere Auf- gabe in Oesterreich wäre, Kulturpioniere zu werden zwischen den Westslawen und dem Russentum, Pioniere des von den West- und Südslawen grösstenteils bewohnten und in der Zukunft auf den Handelsverkehr mit Russland angewiesenen österreichischen Staates zu werden. Diese kulturpolitische Arbeit „Panrussisihus“ (die erschossenen slowakischen Opfer von Csernova nannte die chauvinistische magyarische Presse „Panslawisten“) zu nennen, hiesse nicht nur eine höchst
24 illoyale, sondern direkt eine kurzsichtige Politik betreiben. Solche Politiker mit ähnlichen Schlagwörtern imponieren mir heutzutage bei der Demokratisierung und „Loyalisierung“ der heutigen Weltpolitik gar nicht. Ihnen kann ich übrigens auf- richtig den Rat geben, sich den Weg zu betrachten, den 'die deutsche Kulturarbeit und Kulturmacht zurückgelegt hat. Nicht die 6 oder 18 Mundarten haben ja Deutschland kulturell gehoben, die Weit mit der deutschen idealen Kultur' beglückt, sondern die Einheit der Schriftsprache! Und doch hat Luther eine Sprache zur Schriftsprache erhoben, die vom Volke nicht gesprochen und nur in den Hofkanzleien gebraucht wurde, nämlich das hochdeutsche Idiom. Und dessentwegen kämpfte Luther nicht nur mit den Feinden, sondern mit eigenen Lands- leuten, mit den Deutschen, und zwar mit Hartnäckigkeit, Festigkeit und seltenem Mute. Luther war ja in der Rolle des Kämpfers ein ganzer Mann! Als solcher könnte er sicher den Russen — seien es auch Klein- oder Weissrussen — in dieser Beziehung ein schönes Beispiel abgeben. Hat - er ja zu seinen Feinden gesagt: „Nehmern, sie uns (den Deutschen) Leib, Gut, Kind und Weib — dieoäe©l^^kan1n:;Miap,-;Hp8 nicht rauben!“ Ich glaube, dass man auch die-Scclcdesi'iissischen Volkes nicht so leicht wird vernichten können. «Die Kultur, sei es die slawische oder irgend eine andere, gehört nicht dem Individuum, auch nicht ausschliesslich dem Volke als solchem, sondern der ganzen gesitteten Menschheit. Und,noch Eines: Wer die Kultur auf halten will, der bleibt am Kampfplatz liegen . . . Dies mögen unsere Feinde bedenken!
(Nachtrag.) Promemoria1. Aus der neuesten Martyrologie der russisch- nationalen Partei in Galizien: 1. Am 18. Dezember 1911 hat in Buczacz in dem russisch- nationalen Studentenheim eine Hausdurchsuchung stattgefunden. Die Schulbehörden hatten < nach russischen Büchern, welche unter dem Regime des gegenwärtigen, parteipolitischen Statt- ufi älter gsärfs^iteserfflrStüÄefiteninteriÄaten entfernt und konfisziert Averdehj’liächgefbl’^cht. D > Ahl'4. Jänner 1912 hat eine ebensolche Hausdurch- suchung in dem Studentenheime Kaczkowskij in Kamionka strumilova stattgefunden. Die Hausdurchsuchung wurde durch zwei Kommissäre und drei Gendarmen durchgeführt, : wobei auch die Wohnung des Oekonomieleiters P. Wus durchsucht und • daselbst russische Bücher geschichtlichen Inhaltes von dem Kommissär konfisziert wurden. 3. Am 3. Jänner 1912 wurde in Gorlice der daselbst zuständige Akademiker Wasyl Koldra deshalb verliaftet, weil er mit Energie eines charaktervollen Jünglings unaufhörlich unter dem Volke arbeitete, Kurse für Analphabeten, von Dorf zu Dorf wandernd, veranstaltete, bäuerliche Lesevereine gründete usw. W. Koldra; befindet sich in den Arresten in Gorlice und wurde dem zuständigen Gerichte bis jetzt über- haupt nicht ausgeliefert. 4. Mit dem Bescheide des griechisch-katholischen Metro- politan-Ordinariates Lemberg vom 16. Dezember 1911, G.-Z. 181, wurde der griechisch-katholische Pfarrer und Landtagsabge- ordnete K. Senyk, der Seit seiner Jugend zu unserer Partei gehört, aufgefördert, binnen einem Monate sein Landtagsmandat unter Androhung einer endgültigen Suspensio niederzulegen. Als Grund wird die Zugehörigkeit zu unserer Partei an- gegeben. Es muss aber bemerkt werden, dass K. Senyk schon 1 Dieses Promemoria wurde vom Autor Sr. Exz. dem Herrn Minister- präsidenten und Sr. Exz. dem Herrn Minister des Innern eingehändigt.
26 einmal dafür, dass er gegen den ukrainophilen Kandidaten bei den Reichsratswahlen zu kandidieren wagte, mit einer 6 monatlichen suspensio ab ordine abgestraft worden war. 1 5. In Sniatyn sitzt im Gefängnisse der griechisch-ortho- doxe Geistliche J. Gudyma aus Zalucze. Nachdem diegriebhisch- ortbodoxe Privatkirche in Zalucze amtlich geschlossen und darauf die Aufschrift „Maul- und Klauenseuche“ (!!) von Amts wegen angeschlagen, würde J. Gudyma auf Grund des Prügelpatentes zu dreimaligen Haftstrafen zu je 2 Wochen deshalb abgestraft, weil er trotz Verbotes der k. k. Bezirks- hauptmannschaft Sniatyn — privatim — die Messe gelesen hatte. Gegenwärtig verbüsst.J. Gudyma die dritte Haftstrafe. Der hauptsächliche Zweck dieser Haftstrafen war, die ortho- doxen Bauern in Zalucze für die Zeit der Weihnachten ohne Andacht zu belassen. 6. In Grab, Bez. Jaslo, wurde zu Weihnachten die griechisch-orthodoxe Privatkirche vom Bezirkskommissär und drei Gendarmen amtlich geschlossen. Die Bauern, welche die Kirche besuchten, wurden. einzelnweise — es vergeht kein Tag — zur Bezirkshauptmannschaft Jaslo zitiert, wo sie einem förmlich inquisitorischen Verhöre unterworfen wurden. Jaslo ist 47 Kilometer von Grab entfernt und. es gibt dahin keine Eisenbahnverbindung. Ausserdem hat über falsche Anzeige des wegen Betruges und Veruntreuung beschuldigten katho- lischen Pfarrers H. Kisielewski — darüber wurden im Ab- geordnetenhause von mir und V. Kurylovicz zwei Inter- pellationen eingebracht — vor dem Bezirksgerichte Zmigrod eine Verhandlung stattgefunden, zu welcher 78 Bauern ge- laden und wegen angeblicher „Feuersgefahr in der orthodoxen Kirche in Grab“ zur strafgerichtlichen Verantwortung gezogen wurden. Zuletzt — am 16. Jänner 1912 — wurde der griechisch- orthodoxe Geistliche M. Sandowicz in Grab in Haft genommen und zur Abbüssung der über ihn auf Grund des Prügel- patentes wegen Lesen der griechisch-orthodoxen Messe ver- hängten. Haftstrafen nach Jaslo von den Gendarmen abgeführtk 7. In Teljaz, Bez. Sokal, wurde, am ersten Weih nachts- tage in der griechisch-orthodoxen Kirche ein Hochamt ab- 1 Aehnliche Taktik wurde übrigens gegenüber, den orthodoxen Geistlichen in Galizien auch, zu Ostern 1912j angewendet. Wie in der Wiener Presse („Zeit“, „Reichspost“) zu lesen war, wurden in der Kar- woche die russisch-orthodoxen Geistlichen Gudyma und Sandowicz wegen „Spionage“ verhaftet. . . Wie die „Maul- und Klauenseuche“ zu ^Weihnachten 1911, so wird die österliche „Spionageaffäre“ der galizischen orthodoxen Geistlichen den Zweck verfolgt haben, die zum orthodoxen Glauben übergetretenen galizischen Kleinrussen von der Osterandacht fernzuhalten und ihnen künftighin die freie Ausübung der in Oesterreich übrigens verfassungsmässig anerkannten und geschützten griechisch- orientalischen 'Religionsübungen zu verekeln ...
27 gehalten. Es erschienen aber schon zu Anfang der Messe sieben Gendarmen und ein Kommissär, namens Brandl. Die Leute, welche der Andacht beiwohnten, wurden gewaltsam aus der Kirche fortgejagt, weggeschleppt. Nachdem aber die Teilnehmer — über 800 an der Zahl — obgleich die Tür von der Kirche geschlossen war, sich nicht entfernten und der Messe voü dem Kirchenvorgarten zuhörten, wurde auch dieser Ort mit Bajonetten gewaltsam geräumt, wobei Jakim Szezerba, Helene Czornij, Horpyna Worona, Emphimie Jakin- czuk körperlich verletzt, die Pelzbekleidung der übrigen Teil- nehmer von Bajonetten durchbohrt und grob beschädigt wurde. Auch diejenigen, die tagsvorher gebeichtet haben, wurden, obgleich sie noch immer 4 Stunden lang draussen — in der Kälte — gewartet, in die Kirche nicht mehr hineingelassen. Es wurde vielmehr die Kirche gegen Mittag geschlossen, amt- lich verriegelt und versiegelt. Auch der Geistliche Ileczko würde wiederholt und ebenso auch seine Pfarrkinder ab- gestraft . . . Zuletzt wurden — wegen der Teilnahme an der Weihnachtsmesse — nicht mehr und nicht weniger als 125 Baüern auf Grund' des Prügelpatentes abgestraft. Als Volksvertreter und loyaler Staatsbürger erachte ich für meine Pflicht, Eurer Exzellenz diese neuen Brutalitäten der galizischen Verwaltungsorgane zur Kenntnis zu bringen und bitte Eure Exzellenz nicht im Namen der Gerechtigkeit, vielmehr im Interesse des Staates und der öffentlichen Ordnung, endlich einmal in die unter dem gegenwärtigen Statthalter eingerissenen Zustände energisch eingreifen zu wollen. Die Berichte des Statthalters Sr. Exz. Dr. M. Bobrzyhski sind ge- wöhnlich falsch, tendenziös und wird unsere Partei als politisch verdächtig —ja noch als hochverräterisch von Dr. Bobrzynski deshalb bezeichnet, weil wir im Rahmen der Verfassung die nationale und kulturelle Einheitsidee mit den Grossrussen und Weissrussen seit jeher festhalten, insbesondere die russische Sprache und Literatur offen pflegen und auch beim Volke verbreiten. Auch die neueste, stärker hervortretende Kirchen- bewegung unter den Kleinrussen Galiziens ist nichts anderes als eine Abwehr der gewaltsamen Latiiiisieriing und Poloni- sierung Unserer ehemals autonomen und rein nationalen griechisch-katholischen Kirche, welche — nebenbei sei be- merkt — unter dem gegenwärtigen griechisch-katholischen Metropoliten A. Szeptypki —der noch vor 18 Jahren ein römischer Katholik und ausgesprochener Pole gewesen1 — ihres nationalen Charakters und ihrer nationalen Rechte be- raubt, zum Herd der parteipolitischen Bewegung geworden ist. 1 Graf A, Szeptycki ist ursprünglich Oberleutnant der Kavallerie gewesen . "
28 Werden ja unsere russischnationalen jungen Leute seit 10 Jahren in den griechisch-katholischen Seminarien nicht mehr auf- genommen, unsere besten Geistlichen verfolgt und nicht selten suspendiert (am 13. Jänner 1912 wurde inRolew der griechisch- katholische Pfarrer Josef Winnicki ab ordine suspendiert), ja Graf Szeptycki — ein blindes Werkzeug der polnischen politischen Jagiellonenidee — hat sich in wiederholten Hirten- briefen gegen unsere Partei gewendet und an einem politischen Kongresse vom 2. Februar 1910, an dem auch die übrigen zwei Bischöfe und alle ukrainophilen Abgeordneten teil- genommen haben, unsere russischnationale Partei verfehmt und ihr in einer formellen Resolution einen Kampf bis zur Vernichtung angeküudigt1. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dessentwegen bei uns eine Gärung, eine blutige Gärung früher oder später wird ausbrechen müssen . . . Eben deshalb erachte ich für meine Pflicht, Eurer Exzellenz sozusagen' in der zwölften Stunde die gegenwärtigen traurigen Verhältnisse in Galizien kurz darzustellen und um loyale Beseitigung der krassen Missbräuche gefälligst zu ersuchen . . . Wien, 23. Jänner 1912. Dr. Dmitrij A. Markow Reichsratsabgeordneter. * * « II. Interpellation des Abgeordneten Dr. D. Markow und Genossen an Se. Exz. den Herrn Minister des Innern Freih. v. Heinold, betreffend rechtswidriges Vorgehen der galizischen Verwaltungs- und Sicherheits- organe: Die russischnationale Partei, die zweitgrösste Partei unter den Kleinrussen Galiziens, erduldet unter dem gegenwärtigen Statthalter Dr. M. Bobrzynski mit heroischem Stoizismus ver- schiedenerlei Vivisektionen an ihrem kulturellen und nationalen Organismus. Nachdem alle Mittel des gegenwärtigen galizischen Statthalters die Kräfte der Partei zu lähmen nicht imstande waren, greift Se. Exz. Dr. M. Bobrzynski und die ihm unter- gebenen politischen Organe zum abscheulichen, einer kul- 1 Dieser Tage hat Graf A. Szeptycki mit dem Dekrete vom 15. April 1912, G. Z. 3271/12, den griechisch-katholischen Pfarrer G Konaar- janski aus Sernki für 6 Monate — ex informata conscientia — deshalb suspendiert, weil ersterer seine Kinder in Russland erziehen lässt...
29 turellen Verwaltung nicht würdigen, Mittel, zur Provokation. Man sucht gegenwärtig in Galizien kurzerhand Spionageaffären zu konstruieren . . . Bezahlte Subjekte aus verschiedenen Par- teien — leider Gottes auch gewisse charakterlose Individuen aus unserer Mitte — scheuen nicht, ein gefügiges Werkzeug in den Händen des gegenwärtigen Systems Bobrzynskis zu bilden; sie dürften auch, nach dem Verbilde Agrams, in einem eventuellen, herausgekünstelten Hochverratsprozess gegebenen- falls auch offizielle Kronzeugen abgeben. Dabei ist natürlich die galizische Landesregierung sehr eifrig bemüht, die künstlich geschürten und künstlich konstruierten, an- geblichen Spionageaffären sofort in die weite Welt hinaus- zuposaünen. Insbesondere in den letzten Monaten, angesichts der möglichen Annäherung Russlands an Oesterreich, hat das Lemberger Korrespondenzbureau, worüber übrigens schon in den Delegationen seitens nichtgalizischer Abgeordneter Er- wähnung getan wurde; zumindest zwei bis drei Dutzend „Spionageaffären“ in die Welt hinausposaunt — scheinbar nur deshalb, um Gewalttätigkeit^!! gegenüber den Kleinrussen Galiziens vor den hohen Wiener Sphären rechtfertigen zu können. Nachstehendes Beispiel charakterisiert' am besten die Taktik? der galizischen Landesregierung und der ihr unter- gebenen Organe: Am 6. Februar 1. J. um 4 Uhr 50 Minuten nachmittags wurde dem Direktor der Vorschusskasse „Russ- kaja Kassa“ in Brody mit Poststampiglie Busk, Nr. 308, ein rekommandiertes Schreiben zugestellt. In dem Schreiben hat sich vorgefunden eine Militärmappe mit Situationsplänen, roten, blauen Markierungen, sowie ein mit chemischem Stifte geschriebenes Schreiben folgenden Inhalts: „Weiterfolge. Brief vom 18. Jänner aus Zloczow und 28. Jänner aus Zablotce hinausgeschickt. Was macht Korab (scheinbar Polizeikommissär in Brody, Korabowski), auf der Post Brody vom Romaniuk erfahren, ob Struczynski (auch eine unbekannte, zweifelhafte Persönlichkeit) schon Plan fertiggemacht? A. D. C. W.“ Der Empfänger dieses Schreibens, Kassedirektor St. Nosiewicz, begab sich unverzüglich mit dein fingliph&n Schreiben zurp. Bezirkshauptmann De Loges, übergaff ‘.ihffl . Solches, rind bat ihn schliesslich in Gegenwart eines Zeugen,'NikoiauslKuSzpeta, um Einleitung eines Vorverfahrens. Der Bezirkshauptmann hat darüber auch sofort ein Protokoll verfassen lassen. Das Protokoll wurde dem St. Nosiewicz zur’ Unterschrift nicht vorgelegt. Kaum kam aber St. Nosiewicz nach Hause zurück, so erwartete ihn in seiner Wohnung schon eine Vorladung des Polizeikommissärs Karabanowski, welch letzterer auch Chef der Leinberger, in .Brody stabil angestellten Polizei- expositur ist.. St, Nosiewicz erschien auch am nächsten Tage persönlich beim Polizeikommissär. Es wurde mit ihm auch
30 hier kein Protokoll verfasst, zumal infolge misslungener Pläne, der Polizeikommissär denn doch konsterniert gewesen war. Dieser Plan war grosszügig, wenngleich von Teufelshand ge- segnet : An dem Tage der Zustellung des oberwähnten Schreibens an St. Nosiewicz und der sonst gleichzeitig erfolgten Zustellung der Vorladung des Polizeikommissärs wurde nämlich in den Räumen der russischnationalen Vorschusskasse (Russkaja Kassa) eine Versammlung der Kassemitglieder abgehalten, ausserdem hat im benachbarten Saale des russischnationalen Lesevereines eine Theatergeneralprobe, an der 30 bürgerliche Personen teilnahmen, stattgefunden. Es ist offenkundig, dass die Polizpi- expositur von Brody, welche, was Amtssachen anbelangt, direkt mit Lemberger Behörden in Verbindung steht, den Teufels- plan gefasst, die gesamte Gesellschaft samt den anwesenden Mitgliedern der Vorschusskasse und des Lesevereines zu über- raschen, den dort zugegen gewesenen St. Nosiewicz mit der Militärmappe „auf frischer Tat“ zu erwischen, sohin alle An- wesenden, unsere besten Leute in Brody, als der Spionage schuldig vor Gericht zu stellen, unsere Partei wieder — was unter Dr. Bobrzynski übrigens zur Gewohnheit geworden — vor der Zentralregierung und der Allerhöchsten Dynastie pauschaliter zu denunzieren, zu kompromittieren. Sind ja sowieso unsere Leute in Brody von den Konfidenten der Brodyer Polizeiexpositur, ja auch von speziellen, aus Lemberg dahin zugereisten Lemberger Polizeiagenten auf jedem Schritt und Tritt umgeben, wobei die öffentliche Meinung auch den obgeschilderten Fall dem Agenten M. S., der tags vorher in Busk gesehen wurde, in die Schuhe schiebt. Nachdem der geschilderte Fall nicht vereinzelt dasteht, nachdem es zum Beispiel erwiesen wurde, dass Se. Exz. Dr. M. Bobrzynski die Lemberger Sicherheitsorgane in die Provinz hinausschickt, insbesondere in die Bezirke, wo unsere Partei unter den Bauern stark ist, nachdem es zum Beispiel erwiesen wurde, dass der unlängst von Lemberger Banditen ermordete Leml?erger Polizeiagent Kurant in der Gemeinde Nadycze, Bezirk Zolkiew, bei dem Grundwirte und russisch- nationalen Patrioten N. Peszko zu Provokationszwecken weilte, worüber auch der Ortsrichter Peschko einen genauen Bericht in unseren Parteiblättern publizierte, nachdem durch solches Gebaren die Grundsätze nicht nur jedweder Ethik, vielmehr die Grundprinzipien der von Sr. Majestät garantierten Ver- fassung durch einen Diener des konstitutionellen Staates über den Haufen geworfen werden, unser Staat und dessen Ver- waltungsorgane durch dieses Polizeiregime Dr. Bobrzynskis und der ihm untergebenen Organe vor der weiten Welt kom- promittiert werden, im Volke aber Erbitterung und Rache- gefühl mehr gegen den Staat als gegen den gegenüber der
31 Konstitution eidbrüchigen Beamten hervorrufen, so fragen die Gefertigten: „1. Ist es Eurer Exzellenz bekannt, dass in letzter Zeit, um in den höchsten Wiener Sphären die russisch- nationale Bewegung zu kompromittieren, von der Landes- regierung und den ihr unterstellten Polizeiorganen auf dem Gebiete der Spionage, des Hochverrates und der Majestäts- beleidigung, direkte Provokationen getrieben werden? 2. Ist Eurer Exzellenz bekannt, dass seit gewisser Zeit sogar die Lemberger Polizeiagenten in den Bezirken, wo die russischnationale Bewegung seit jeher stark ist, sich zu Provokationszwecken herumtummeln, was zur Folge hat, dass in Lemberg unter dem gegenwärtigen Statthalter Dr. Bobrzynski infolge Mangels an Sicherheitsorganen er- schreckendes Bandenunwesen herrscht, ja bei hellichtem Tage — wie es in der Dlugoszgasse unlängst geschah — Einbruch und Raubmord verübt werden? 3. Sind Eure Exzellenz bereit, den obgeschilderten Fall von Brody einer strengen Prüfung unterziehen zu lassen und die Schuldigen einer gerechten Strafe zuzuführen?“ Wien, 20. März 1912. (Folgen Unterschriften.) * « * Aus diesen beiden wahrheitsgemäss verfassten Urkunden erhellt zur Genüge die tragische Lage der russischnationalen Partei in Galizien. Die sowohl im Promemoria als auch in der Interpellation dargestellten Tatumstände sind übrigens nur ein Glied in der langen Kette des verhängnisvollen Mar- tyriums der österreichischen Kleinrussen . . . Verhängnisvoll deshalb, weil es erduldet wird — für die kulturelle, natio- nale, russische Einheitsidee . . . Leider findet die Tragik dieses ganzen Problems an den höchsten Stellen Wiens kein richtiges Verständnis . . . Eine chinesische Mauer scheint zwischen den galizischen Kleinrussen und Wien überhaupt aufgericl}tet zu sein . . . Und dadurch ist es nur möglich, dass die Nachkommen derer, welche bei Aspern, Solferino und Königgrätz für Oesterreich geblutet — dass sie heutzutage im Kampfe um ihre geschichtliche und kulturelle Entwicklung mit ihrem nationalen Tode ringen müssen . . . Eine Schaar politischer Günstlinge — aus gewissen Parteien, gewissen Nationen — lässt die Wahrheit an höchsten Stellen noch immer nicht auf kommen . . . Hochverräter, Spion ist in in Wien noch immer ein terminus technicus für jeden gali- zischen Kleinrussen, welcher den Mut besitzt, einem Puschkin,
32 Lermontow oder Gogol zu huldigen — welcher, mit einem Worte, wagt, die Originalwerke des russischen Geistes sein nationales, angestammtes Erbe zu nennen ... Die Syko- phanten finden aber Gehör und wollen nicht verstummen. . . Dank ihren Denunziationen hat man ja vor 2—3 Jahren in der Bukowina alle unsere Vereine — auch die mit 30jährigem Bestände —- amtlich geschlossen und das Vermögen dieser Vereine amtlich beschlagnahmt . . . Und doch ist zum Bei- spiel in! dem neulichen Millionenkrache der kleinrussischeti bukowinischen Vorschusskassen einzig unsere Partei mit ehr- lichem, solidem Rufe davongekommen1 . . . Eingebürgerter Fanatismus kennt aber bekanntlich keine Grenzen : die Feind- seligkeiten gegenüber den Russischnationalen werdenl deshalb nicht sobald aufhören . . . Soll es aber nicht zu spät werden mit der gerechten Aufklärung des fraglichen Problems ?. .. Die Verfolgung der russischnationalen Partei in Oesterreich findet ja ein weites und breites Echo in der gesamten russischen Intelligenz —• heutzutage auch in den liberalsten Kreisen Russlands . . . Und ist es gerade jetzt, wo man so viel von einer Annäherung Oesterreichs an Russland redet, geboten, die öffentliche russische Meinung noch immer zu reizen, sie in ihren nationalen Gefühlen noch weiter zu verwunden ? ? Darüber könnten die Staatsmänner Oesterreichs, noch zur rechten Zeit, denn doch nachdenken ! . .. 1 Bei den Millionen-Defraudationen, die unlängst in den klein- russischen Vorschuss- und Raiffeisenkassen Bukowinas entdeckt wurden, ist unsere Partei nicht nur nicht beteiligt, vielmehr haben böhmische Elevisoren unseren Kassen, was die Gewissenhaftigkeit anbelangt, das beste Zeugnis abgegeben ... Die „ukrainischen“ Kassen waren aber in der Tat nur eine Quelle für gewisse Politiker — welche, unsere Partei allüberall denunzierend, hinter diesen, scheinbar lohnenswerten Denun- ziationen ganz gut ihre Interessen, ihre Gewerbepolitik zum Schaden des armen, kleinrussischen Bauers betrieben haben . . .