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                    Hagen Seele

Die Wirkung von
enttäuschten
Mitarbeitererwartungen
an Personalführung
Attributionstheoretische Effekte
und Handlungskonsequenzen


Die Wirkung von enttäuschten Mitarbeitererwartungen an Personalführung
Hagen Seele Die Wirkung von enttäuschten Mitarbeitererwartungen an Personalführung Attributionstheoretische Effekte und Handlungskonsequenzen Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Peter Eberl
Hagen Seele Kassel, Deutschland Dissertation Universität Kassel, 2016 ISBN 978-3-658-14617-7 ISBN 978-3-658-14618-4 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-14618-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer Gabler ist Teil von Springer Nature Die eingetragene Gesellschaft ist Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
Geleitwort Was erwarten Mitarbeiter von Ihren Führungskräften und wie reagieren sie im Enttäuschungsfall? Eine wissenschaftliche Antwort auf diese Frage ist keineswegs trivial. Mitarbeiter haben unterschiedliche Vorstellungen, die sich zudem situativ in ihrer Priorität verändern und wiederum zu anderen Handlungskonsequenzen führen. Gleichwohl ist die Beantwortung der obigen Frage von hoher praktischer Relevanz. Als Beispiele seien hier die Einflüsse auf die Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter oder auch die Schulung von Führungskräften angeführt. Angesichts der schwer zu beantwortenden Fragestellung liegt die Versuchung nahe, allzu einfache und stereotype Annahmen über die Erwartungen von Mitarbeitern an die Personalführung zu bedienen. Die Arbeit setzt hierzu einen erfrischenden Kontrapunkt und liefert eine äußerst lesenswerte Studie aus einer geführten zentrierten Perspektive. Mit einer solchen Fokussierung knüpft die Arbeit nicht nur an aktuelle Diskussionsstränge in der Führungsforschung an, sondern gelangt auch zu anders gelagerten Implikationen. So geht es weniger um normative Empfehlungen für das Führungsverhalten, sondern erst einmal um „Verstehen“. Letzteres wiederum beinhaltet Reflexionsvorteile für Führungskräfte. Dies bedeutet konkret, dass gängige Vorstellungen auf Seiten der Führungskräfte über die Erwartungen ihrer Mitarbeiter in Frage gestellt und entsprechende Verhaltensweisen der Geführten sich besser erklären lassen. Vor diesem Hintergrund entwickelt die Arbeit von Herrn Seele ein differenziertes Modell, das kognitive Reaktionen der Geführten auf die Form der Personalführung mit handlungsbezogenen Aspekten verknüpft. Dabei wird der Enttäuschungsfall und damit die Nicht-Erfüllung der Geführtenerwartungen in den Mittelpunkt gerückt. Durch die qualitativ angelegte methodische Vorgehensweise gelingt es eindrücklich, die Ursachen nicht nur der führungsbezogenen Attributionen, sondern auch der Handlungsintentionen und -konsequenzen auf Seiten der Geführten genauer zu erfassen. Das zugrunde gelegte Forschungsdesign, welches zwei Studien umfasst, ist für die Betriebswirtschaftslehre ausgespro-
VI Geleitwort chen gut begründet und innovativ. Insofern sei auch dem qualitativ-methodisch interessierten Leser die Lektüre der Arbeit empfohlen. Im Ergebnis zeigt die Untersuchung von Herrn Seele unter anderem, dass Mitarbeiter im Enttäuschungsfall sich erst einmal um eine Verbesserung der Führungsbeziehung bemühen. Erst wenn diese Bemühungen bei der Führungskraft auf keine Resonanz stoßen, folgt der Rückzug und im schlimmsten Fall die Kündigung. Entscheidend ist aber auch, in welchem Bereich die Erwartungsenttäuschung auftritt. Enttäuschungen können grundsätzlich die persönliche Beziehungsebene, die Gestaltung der Rahmenbedingungen oder das direkte Führungsverhalten betreffen und werden je nach dem unterschiedlich kognitiv bewertet. Der vorgelegte Modellentwurf regt in sehr positiver Weise die Diskussion über die Akzeptanz von Führung an und enthält wegweisende Bausteine, die für die zukünftige Betrachtung von Personalführung in der Betriebswirtschaftslehre von erheblicher Bedeutung sein dürften. Ich wünsche der Arbeit die Resonanz und Verbreitung, die ihr aufgrund der beachtlichen wissenschaftlichen Leistung gebührt. Kassel, Februar 2016 Peter Eberl
Vorwort Die Generationen X,Y und Z (und welche sonst noch kommen mögen), individuelle Karriereziele und unterschiedlichste Ansprüche an eine Work-LifeBalance sind deutliche Beispiele für eine Vielzahl an Herausforderungen für eine zeitgemäße Führung. Umso mehr wird es wichtig, als Führungskraft ein Bewusstsein darüber zu erhalten, welchen Erwartungen man auf Seiten der Geführten gegenübersteht und was eine mögliche Enttäuschung einzelner Erwartungen verursachen könnte. Bisher konnte die Führungsforschung nur sehr grobe Antworten über die (Nicht-)Anerkennung von Führung als dichotomes Ergebnis leisten („0 oder 1“, volle Ablehnung oder Anerkennung) und dabei keine unterschiedlichen Erwartungshaltungen voneinander trennen. Dem hohen Grad an Individualität in realen Führungsbeziehungen wird diese undifferenzierte Betrachtung nicht gerecht. Diese Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, die Theorie rund um die geführtenzentrierte Attribution von Führung weiterzuentwickeln, in dem sie durch ein differenziertes Verständnis von Führungserwartungen Unterscheidungen bereitstellt, auf dessen Basis Handlungskonsequenzen und abstufende attributionstheoretische Effekte diskutiert werden. Dadurch entsteht ein Vorschlag, der vielfältigen Realität einen weiteren Schritt näher zu kommen: Durch das qualitative empirische Design und die unmittelbare Begleitung von neu entstandenen Führungsbeziehungen wurden reale Wahrnehmungen von Geführten als Ausgangsbasis einer Klassifikation von Führungserwartungen genutzt. Weiterhin wurden im Falle enttäuschter Erwartungen verschiedene Reaktionen mit den Erwartungsinhalten verknüpft, um so zu einem erweiterten Verständnis einer Führungsattribution zwischen 0 und 1 zu gelangen. Die Arbeit entstand während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Personalwirtschafts- und Organisationslehre des Fachbereiches Wirtschaftswissenschaften der Universität Kassel. Sie stellt eine leicht überarbeitete Version meiner Dissertationsschrift dar, die im Wintersemester 2015/2016 vom Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Kassel
VIII Vorwort angenommen wurde. Im Rahmen der Entstehung dieser Arbeit gebührt vielen Personen großer Dank. Jeder Beitrag – egal in welcher Art und Größe – hat seinen Anteil zum Gelingen geleistet. Mein erster und besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Peter Eberl, der mich als Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl aufgenommen und mir somit die Möglichkeit zum Promovieren geschaffen hat. Im Sinne dieser Arbeit sind meine Führungserwartungen umfassend erfüllt worden und seine Erfahrung und konstruktive Kritik stellten unersetzliche Hilfen dar. Genauso danke ich Herrn Jun.-Prof. Dr. Stefan Klaußner für viele wertvolle Hinweise und die Übernahme des Zweitgutachtens. Ulrich Grannemann möchte ich vor allem sowohl für die vielen interessanten Gedanken und Diskussionen als auch für die wichtige Unterstützung in der Empirie danken. Letzteres gilt auch für die vielen Unternehmen mit den entsprechenden Kontaktpersonen, sowie insbesondere für die Teilnehmer in den Interviews und Fallstudien, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Bei allen Kollegen am Lehrstuhl und im Fachbereich bedanke ich mich für die tolle Arbeitsatmosphäre. Insbesondere gilt dies für Malte Möller, der denselben Weg gegangen ist und von daher „am Tisch gegenüber“ als guter Freund oft der erste Ansprechpartner bei Problemen, Gedanken oder Ideen war. Ich bedanke mich für den großen Rückhalt bei all den Freunden und der Familie während der gesamten Zeit. In erster Linie gilt dies vor allem für meine Eltern als immer präsente Stütze. Für einfach alles und mehr als einzelne Worte sagen können, möchte ich Katharina Böhm danken. Kassel, Februar 2016 Hagen Seele Die ursprüngliche Version dieses Buches wurde überarbeitet. Ein Erratum finden Sie unter DOI 10.1007/978-3-658-14618-4_6
Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis .................................................................................. XIII Tabellenverzeichnis......................................................................................... XV 1. Einleitung ........................................................................................................ 1 1.1 Problemstellung ......................................................................................... 2 1.2 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit............................................................ 8 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung .................................................................................... 11 2.1 Bedeutung und Klassifizierung des Erwartungsbegriffs.......................... 12 2.2 Die Bildung von Führungserwartungen durch implizite Führungstheorien .................................................................................... 25 2.3 Die rollentheoretische Perspektive auf Führungserwartungen ............... 39 2.4 Die Entstehung und die Konsequenzen von enttäuschten Führungserwartungen als Problem der Führungsattribution .................. 46 2.4.1 Attributionstheoretische Grundlagen ................................................ 47 2.4.2 Die geführtenzentrierte Attributionstheorie und die Enttäuschung von Führungserwartungen ................................................................ 55 2.5 Würdigung des Forschungsstandes und Zwischenfazit .......................... 63
Inhaltsverzeichnis X 3. Empirische Untersuchung ........................................................................... 71 3.1 Forschungsdesign ................................................................................... 72 3.1.1 Basisdesign ....................................................................................... 73 3.1.2 Grundlegende Untersuchungsstrategie ............................................. 78 3.2 Auswahl und Charakterisierung der Fallstudienteilnehmer ..................... 91 3.3 Methodik der Datenerhebung und Datenauswertung ............................. 98 3.4 Ergebnisse ............................................................................................. 110 3.4.1 Ergebnisse der Prototypenstudie ..................................................... 111 3.4.2 Ergebnisse der Führungsbeziehungsstudie ..................................... 119 3.4.2.1 Erwartungsenttäuschungen: Strukturelle Führung, direktes Führungsverhalten und die persönliche Beziehung................ 127 3.4.2.2 Handlungskonsequenzen: Investition in die Beziehung, Konfrontation und Rückzug / Desinvestition aus der Beziehung ......................................................................... 150 3.4.2.3 Kontextbezogene Analyse von Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen ................................................. 169 4. Diskussion ................................................................................................... 181 4.1 Beitrag zur Führungsforschung: Ein differenziertes Modell der Führungsattribution .............................................................................. 181 4.2 Implikationen für die organisationale Praxis ........................................ 213
Inhaltsverzeichnis XI 4.3 Güte und Limitationen der empirischen Untersuchung ........................ 216 4.3.1 Diskussion von Gütekriterien ......................................................... 216 4.3.2 Limitationen der Daten und Ergebnisse .......................................... 222 5. Schlussbetrachtung .................................................................................... 227 5.1 Zusammenfassung der Ergebnisse und Fazit........................................ 227 5.2 Ausblick und Anknüpfungspunkte für die weitere Forschung ............. 231 Erra tum .......................................................................................................... E 1 Literaturverzeichnis ...................................................................................... 233
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Beispielhafte Kategorisierung von Führungskräften (in Anlehnung an Lord, Foti & de Vader, 1984, S. 347). ......................................................... 33 Abbildung 2: Die Elemente der grundlegenden Attributionstheorie nach Kelley (1973) .. 50 Abbildung 3: Flussdiagramm des Attributionsmodells nach Calder (in Anlehnung an Calder, 1977, S. 196) .................................................................................... 59 Abbildung 4: Begriffshierarchie im Forschungsdesign ...................................................... 73 Abbildung 5: Zwei Studien in der empirischen Untersuchung .......................................... 82 Abbildung 6: Ablaufplan Studie F ................................................................................... 104 Abbildung 7: Datenstruktur der Erwartungsenttäuschungen an Personalführung aus der empirischen Erhebung .......................................................................... 128 Abbildung 8: Datenstruktur der Handlungskonsequenzen aus der empirischen Erhebung .................................................................................................... 151
Abbildungsverzeichnis XIV Abbildung 9: Verbindungen zwischen den Erwartungsenttäuschungen und den Reaktionen und Handlungskonsequenzen der Geführten aus den empirischen Daten ...................................................................................... 172 Abbildung 10: Modell einer nach Erwartungen und Handlungskonsequenzen differenzierenden Führungsattribution ....................................................... 183
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Formen von Rollenerwartungen und Sanktionen (in Anlehnung an Dahrendorf & Abels, 2010, S.41) ................................................................ 20 Tabelle 2: Beispielhafte Einflussfaktoren auf die geführtenzentrierte Attribution von Führung .............................................................................. 57 Tabelle 3: Charakterisierung der Teilnehmer Studie P auf Seiten der Führungskräfte ....................................................................................... 97 Tabelle 4: Deskriptive Kennzahlen der Datenbasis .................................................... 111 Tabelle 5: Beispielhafte Aussagen zum Bereich "Nähe vs. Distanz in der personlichen Beziehung" ............................................................................ 113 Tabelle 6: Beispielhafte Aussagen zum Bereich "Vertrauen durch Handlungsspielraum und Delegation"........................................................ 115 Tabelle 7: Beispielhafte Aussagen zum Bereich „Aktives Eingreifen/Erkennen der Führungskräfte bei Problemen“ ........................................................... 116 Tabelle 8: Beispielhafte Aussagen zum Bereich „Feedbackrahmen und -häufigkeit" .......................................................................................... 118
Tabellenverzeichnis XVI Tabelle 9: Kurzzusammenfassungen der Fälle in Studie F ......................................... 123 Tabelle 10: Kodierregeln und Ankerbeispiele für die Kategorien der Erwartungsenttäuschungen ........................................................................ 136 Tabelle 11: Kodierregeln und Ankerbeispiele für die Kategorien der Handlungskonsequenzen ............................................................................ 159 Tabelle 12: Handlungskonsequenzen im Kontext der Erwartungsenttäuschungen ...... 171 Tabelle 13: Erwartungsenttäuschungen im Kontext der Handlungskonsequenzen ...... 171
1. Einleitung „Mein Chef führt nicht!“ Die obige Aussage zu treffen ist in dieser oder ähnlicher Form in der betrieblichen Praxis aufgetaucht und sicherlich für die eine oder andere Person bekannt. Sie reiht sich ein in Aussagen wie „Er/Sie ist keine Führungskraft, wie ich mir das vorstelle“ oder „also Führung ist das nicht, was er/sie macht!“. Derartige Äußerungen mögen in einem langen Gespräch und neben anderen Themen und Gesprächsinhalten nicht besonders auffallen, doch sie bieten bei näherer Betrachtung einige Brisanz: Offenbar ist ein Mitarbeiter nicht einverstanden mit der Führungsqualität eines Vorgesetzten. Schnell wird klar, dass sich hieraus viele Probleme entwickeln können, die von Enttäuschung, Ärger und Frustration geprägt sein können. Für ein Unternehmen sind diese Aspekte kritisch, da sie möglicherweise die Bindung des Mitarbeiters zum Unternehmen verringern oder seine Leistungsbereitschaft senken. Aus einer wissenschaftlichen Perspektive entwickelt sich ein spannendes Problem: Die Führungsforschung hat sich in der jüngeren Vergangenheit in einigen theoretischen Strömungen auf die Führungsbeziehung, vor allem aber auch auf die Geführtenperspektive konzentriert. Damit hat sie sich von einer reinen Zentrierung auf die Führungskraft gelöst. Innerhalb dieser theoretischen Linsen wird Führung als soziale Interaktion und Beeinflussung von Personen verstanden. Im Rahmen einer Führungsbeziehung vollzieht der Geführte im Idealfall eine Zuschreibung von Führung auf die ihm formal durch die Organisation „vorgesetzte“ Instanz. Die Führungsforschung spricht hierbei im weiteren Sinne von der Führungsattribution, beziehungsweise der geführtenzentrierten Attributionstheorie im engeren Sinne (Calder, 1977). In den obigen Beispielen ist dieses offensichtlich nicht, oder nur teilweise, gelungen. Offenbar wurden einige Erwartungen der Mitarbeiter an die Personalführung ihrer Vorgesetzten nicht erfüllt. Damit stehen sie für eine nicht gelungene Attribution von Führung, die direkt © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 H. Seele, Die Wirkung von enttäuschten Mitarbeitererwartungen an Personalführung, DOI 10.1007/978-3-658-14618-4_1
2 1. Einleitung mit enttäuschten Erwartungen verbunden werden kann. Diese Arbeit widmet sich einer Fragestellung, die nach den Auswirkungen von enttäuschten Mitarbeitererwartungen an die Personalführung fragt. Dabei handelt es sich um den Versuch, eine Theorie über Wirkungszusammenhänge zu beschreiben, die sowohl Handlungskonsequenzen einer Erwartungsenttäuschung als auch damit einhergehende Attributionen umfasst. In den nächsten zwei Abschnitten dieses Kapitels folgen eine gezielte Erläuterung der Problemstellung im Rahmen des aktuellen Forschungsstandes zu Personalführung sowie eine Definition der Zielsetzung und dem sich hieraus ergebenden Aufbau der Arbeit. 1.1 Problemstellung Die Entwicklung einer relevanten Forschungsfrage in dem obigen Rahmen bedarf des Bezugs auf einen theoretischen Hintergrund. Theoriegeleitet bewegt sich diese Dissertationsschrift mit dem Fokus auf die geführtenzentrierte Attribution hauptsächlich innerhalb der kognitiven und geführtenzentrierten Führungsforschung. Aber auch rollen- und austauschtheoretische Aspekte der Führungsbeziehung, sowie Grundlagen zur Interaktion, Wahrnehmung und Kognition sind für die Erfassung der Problemstellung wichtig, wie im Folgendem kurz erläutert wird. Im Sinne der Kognitionspsychologie werden die Vorgänge untersucht, welche die Informationsverarbeitung („erkennen“) von Menschen thematisieren. Stark vereinfacht formuliert kann auch „das Denken“ als Forschungsinhalt beschrieben werden. Kognition wird im Rahmen dieser Arbeit als ein Konstrukt verstanden, welches über die reine Wahrnehmung von Reizen aus der Umwelt hinausgeht. Es zielt auf die bewusste und unterbewusste Verarbeitung von Informationen ab, die durch die Wahrnehmung aufgenommen worden sind. Einen möglichen Wahrnehmungsinhalt beschreiben Ansorge und Leder als „Ursachenzuschreibung oder Attribution“ (2011, S. 12). Das Wahrgenommene wird kognitiv verarbeitet, teils intensiver, teils unbemerkt und sekundenschnell ver-
1.1 Problemstellung 3 arbeitet. Nach Ulich (2005, S. 131) kann Ergebnis dieser kognitiven Verarbeitung unter anderem ein Urteil sein. Führungszuschreibung, oder eben Führungsattribution, ist ein positives Urteil. „Mein Chef führt nicht“ ist das gegenteilige negative Urteil, eine Verweigerung der Attribution. Schon durch diese erste Verbindung lässt sich die Fokussierung auf die geführtenzentrierte Attributionstheorie begründen, da dieses Urteil durch einen Geführten vollzogen wurde. Die abstrahierte Grundlage der Fragestellung dieser Promotionsarbeit fundiert sich somit in einem der Grundmuster von Kognition: (1) Wahrnehmung, (2) Informationsverarbeitung, (3) Ergebnis (bzw. Urteil). Lord und Emrich (2000, S. 551ff.) verweisen auf eine seit der Arbeit von Eden und Leviatan (1975) entstandene „kognitive Revolution“ in der Führungsforschung. Das wesentliche Kennzeichen dieser „Revolution“ ist dabei die Erkenntnis gewesen, dass sich Führung auch in den Köpfen der Geführten (bzw. der Führenden) vollzieht und man deshalb auch zwingend die Kognitionen von Geführten in den Fokus der Forschung rücken muss (Lord & Emrich, 2000, S. 551). Dieser Aufforderung wird im Rahmen dieser Arbeit gefolgt. Vor allem die empirische Untersuchung bezieht sich direkt auf die Gedanken der Geführten. Für diese Dissertationsschrift von zentraler Bedeutung ist die Attribution durch Geführte auf die Führungskraft. Die bisherigen Erkenntnisse hierzu subsumieren sich in der Forschung hauptsächlich unter die eng verwandten theoretischen Gebilde der geführtenzentrierten Attributionstheorie (Calder, 1977; Green & Mitchell, 1979; Martinko & Gardner, 1987; McElroy, 1982; Pfeffer, 1977) sowie der impliziten Führungstheorie (Eden & Leviatan, 1975; Epitropaki & Martin, 2004; Gioia & Sims, 1985; Lord & Maher, 1993; Lord, Foti, & De Vader, 1984; Shondrick, Dinh, & Lord, 2010). Beide Gebilde werden in Kapitel 2 intensiv behandelt. Kurz skizziert beschreiben sie den „Weg“ von der Bildung einer Erwartungshaltung hin zu dem Moment, in dem sie eine solche Wirkung wie auf der Seite 1 beschrieben („Mein Chef führt nicht“) entfachen können. Erwartungen über Führung müssen sich in den Personen zuerst einmal entwickeln. Eine Entwicklung von Führungserwartungen ist Gegenstand der oben
1. Einleitung 4 erwähnten impliziten Führungstheorien, welche von mentalen Kategorisierungen von Führung und Nicht-Führung ausgehen. Hierbei entstehen innerhalb dieser mentalen Kategorien Prototypen, welche wiederum die Erwartungen über die Inhalte der Kategorie „Führung(skraft)“ formen. Sie werden zum ersten Mal mit der Realität konfrontiert, wenn die erste Führungsbeziehung entsteht und eine Person zum Geführten wird. Die Führungsdyade zwischen Führungskraft und Geführtem ist von Interaktion maßgeblich geprägt, nahezu dadurch erst manifestiert. Der Austausch durch kommunikatives Handeln (sowohl verbal/nonverbal als auch be- wusst/unbewusst) ist Merkmal der Interaktion (Lührmann, 2006, S. 79ff.). Innerhalb einer (Führungs-)Beziehung wird sich im Rahmen der Interaktion in die Lage des Gegenübers versetzt und Verhalten interpretiert oder eben auch erwartet. Dabei wird die Rolle des Gegenübers durchdacht und mit Rollenerwartungen verknüpft. Diese Verbindung zum Rollenbegriff ist ein weiterer wichtiger Bezugspunkt dieser Arbeit: Wird eine Person zur Führungskraft, übernimmt sie mit ihrer Führungsfunktion einige weitere Elemente in ihr individuelles Rollenset. Für diese Arbeit interessiert der Bestandteil am gesamten Rollenset eines Vorgesetzten, der für „Personalführung“ steht, isoliert von anderen organisatorischen Rollen (zum Beispiel die der Fachkraft). Geführte setzen sich in der Interaktion mit dem Vorgesetzten zwangsläufig in die Rolle der Führungskraft hinein. Sie vollziehen dabei eine Rollenübernahme. Lührmann beschreibt diesen Prozess unter anderem wie folgt: „Rollenübernahme ist lediglich die kognitive Verarbeitung einer fremden Perspektive [...]. Dabei werden zum einen kategoriale Charakterisierungen vorgenommen: Der Interaktionspartner wird auf Basis der beobachteten Verhaltensweisen vordefinierten Kategorien zugeordnet.“ (2006, S. 108)
1.1 Problemstellung 5 Kognitive Verarbeitung und kategoriale Charakterisierungen sind zwei Begriffe, die in dieser Arbeit eine hohe Bedeutung einnehmen. Die kognitive Verarbeitung von kategorialen Charakterisierungen ist das Funktionsprinzip einer impliziten Führungstheorie. Implizite Führungstheorien und implizite Geführtentheorien1, beziehungsweise die jeweilige prototypische Vorstellung eines gewissen Idealtypus an die Rolle des Gegenübers, können nur innerhalb der Führungsbeziehung miteinander konfrontiert werden (Thomas, Martin, Epitropaki, Guillaume, & Lee, 2013, S. 69f.). Die dabei erwarteten und kommunizierten Rollen sind im Rahmen der Führungsforschung im Bereich der LMX (leadermember-exchange) Theorien verortet, die auch als Austausch- oder Rollentheorien bezeichnet werden. Neben der geführtenzentrierten kognitiven Schwerpunktlegung stellen sie einen weiteren wichtigen Theoriebaustein der Problemstellung und Rahmensetzung der Arbeit dar. Die Fragestellung dieser Arbeit fügt sich nun in das Spannungsfeld von einer gebildeten Erwartungshaltung an die Personalführung als Teil einer Rollenerwartung und der tatsächlichen Wahrnehmung der eigenen Führungskraft und deren Verhalten innerhalb der Führungsbeziehung ein. Im Sinne der geführtenzentrierten Attributionstheorie fände eventuell bei einem Problem der Erwartungserfüllung in Konsequenz keine Attribution von Führung durch den Mitarbeiter auf den Vorgesetzten statt. Die Bedeutung dieses Problems wurde bisher in der Führungsforschung unterschätzt und soll in dieser Arbeit Gehör finden. Wenn die Rolle der Personalführung durch den Vorgesetzten in den Augen der Geführten nicht ausgefüllt wird (oder: nicht den Erwartungen entspricht), kann es in der Praxis zu den auf der ersten Seite dieser Einleitung formulierten Problemen kommen. Warum es zu diesem Punkt kommt, an dem Unzufriedenheit und weitere negative Effekte auf beiden Seiten der Führungsbeziehung aufkommen und die Führungskraft eventuell sogar vollkommenen ineffektiv führt, 1 Die analoge Vorstellung/Repräsentation von Geführten in der Kognition einer Führungskraft. Parallel zu impliziten Führungstheorie existiert der Ansatz, dass auch Führungskräfte eine bestimmte Kategorisierung mit prototypischen Mitarbeitern unterbewusst nutzen (Gilbert, Myrtle, & Sohi, 2015, S. 150; Mahsud, Yukl, & Prussia, 2010, S. 562f.; Yukl, 2012, S. 66ff.). Dieses Konzept ist aber im Rahmen dieser Arbeit nicht von näherer Relevanz.
6 1. Einleitung ist auf der inhaltlichen Ebene bisher nicht wissenschaftlich differenziert und fallunterscheidend untersucht, geschweige denn beantwortet worden. Insgesamt gehen die geführtenzentrierte Attributionstheorie und die impliziten Führungstheorien dieses Problem zwar an, jedoch, wie Kapitel 2 darstellen wird, nicht ausreichend genug, um diese zentralen Fragen beantworten zu können: Wie lassen sich Erwartungen an die Personalführung differenzieren? Was passiert, wenn eine bestimmte Mitarbeitererwartung enttäuscht wird? Gibt es im Enttäuschungsfall unterschiedliche Folgen für die Attribution von Führung und gibt es unterschiedliche Reaktionen in Form von Handlungskonsequenzen auf Seiten der Geführten? Insbesondere betrifft dies alle Maßnahmen, die nicht zu routinemäßigen Führungsinstrumenten gezählt werden müssen, wie zum Beispiel ein verpflichtendes halbjährliches Mitarbeitergespräch, sondern um die individuellen Momente und Handlungen in der Beziehung zwischen Führungskraft und Geführten. Missverständnisse oder fehlende Führungsinhalte in diesem Bereich können dazu führen, dass dem Vorgesetzten keine oder nur wenig Führungszuschreibung durch die Mitarbeiter (unabhängig von der hierarchischen Legitimation) widerfährt und er oder sie sich dadurch selbst in den Führungsmöglichkeiten limitiert (Lührmann, 2006). Weiterhin lässt sich mit der Fragestellung dieser Arbeit nicht nur eine bisherige Lücke in der Führungsforschung identifizieren, sondern sie kann auch als eine kritische Hinterfragung von Grundannahmen der Attributionstheorie verstanden werden. Im Sinne einer Rechtfertigung von Forschungsansätzen durch eine begründete Anzweiflung von theoretischen Grundannahmen (Alvesson & Sandberg, 2011, S. 247ff.) werden im Laufe des zweiten Kapitels solche Annahmen problematisiert. Prinzipiell handelt es sich dabei um die Kritik an der pauschalen Annahme der undifferenzierten und kompletten Führungszuschreibung oder Attributionsverweigerung durch die Mitarbeiter. Diese Annahme schließt eine Differenzierung nach verschiedenen Erwartungsinhalten mit unterschiedlichen Reaktionen aus. Dieser Aspekt wird in der Arbeit als problematisch hervorgehoben und soll durch empirisch fundierte Erkenntnisse mit einer konkreten Weiterentwicklung der Theorie präzisiert werden.
1.1 Problemstellung 7 Lührmann verweist auf das schon sehr früh von Blau (1964) postulierte „leadership dilemma“. Hiernach ist eine Einflussnahme (zentraler Bestandteil der Führungsfunktion) nur dadurch möglich, dass man den Erwartungen der zu Führenden entspricht. Gleichzeitig verbietet sich aber auch eine komplette Orientierung an fremden Erwartungen (Lührmann, 2006, S. 240). Zur Einflussnahme wiederum schreibt Lührmann analog zum „leadership dilemma“ nach Blau (1964): „Die Geltung eines Einflussversuchs muss von den Geführten anerkannt werden (...) indem Vorgesetzte und Geführte gemeinsam definieren, was als Einflusspotenzial wirken soll und was nicht, was als Weisung aufgefasst werden soll und was nicht, was Führung ist und was nicht.“ (2006, S. 54) „Was Führung ist und was nicht“ ist aus einer Geführtenperspektive betrachtet Gegenstand dieser Arbeit. Gemäß dem Fall, dass ein Mitarbeiter über seine Führungskraft behauptet, sie führe nicht, scheint der Einflussversuch nicht anerkannt worden zu sein. Eine Entsprechung des eigenen Verständnisses von Personalführung hat vermutlich nicht stattgefunden oder ist im Versuch gescheitert. Unklar ist aber, inwiefern hierbei verschiedene Arten von Erwartungen auf unterschiedliche Weise erfüllt oder enttäuscht worden sind. Wie bereits oben angemerkt, existiert das Problem einer rein bipolaren Gegenüberstellung von vollständiger Attribution oder Nicht-Attribution, ohne „Zwischenzustände“. Diese Arbeit soll eine differenzierte Betrachtung leisten und zusätzlich die zentralen Tendenzen von Handlungskonsequenzen in einem erweiterten Modell zusammenfassen. Die Forschungsfrage beinhaltet sowohl die differenzierte Beschreibung der Mitarbeitererwartungen, als auch vor allem die Herleitung einer Attributionswirkung und die Reaktionen der Mitarbeiter in Form von Handlungskonsequenzen. Daraus ergibt sich folgende zentrale Forschungsfrage der Arbeit:
8 1. Einleitung „Wie wirken enttäuschte Führungserwartungen der Mitarbeiter auf die Führungsattribution und welche Handlungskonsequenzen entstehen daraus?“ Die Beantwortung dieser Frage ist unter anderem deswegen von hoher wissenschaftlicher Relevanz, da von enttäuschten Erwartungen potenziell zahlreiche negative Konsequenzen abgeleitet werden können. So beschreibt beispielsweise Klaussner (2014, S. 314ff.) in seinem Prozessmodell zur Entstehung abusiver Supervision (eine vom Mitarbeiter als ihm gegenüber wahrgenommene feindliche, missbrauchende Führung), wie enttäuschte Erwartungen einen der Ausgangspunkte für die Entwicklung einer derart negativ wahrgenommenen Führungsbeziehung bilden. Weiterhin wird die Beziehung zum Vorgesetzten, oder das Vorgesetztenverhalten (beides Kernelemente der Personalführung), immer auch als Determinanten der Arbeitszufriedenheit (A. Martin, 2003, S. 28; Nerdinger, Blickle, & Schaper, 2008, S. 429ff.) eines Individuums definiert, sodass eine Erwartungsenttäuschung in der Personalführung ein für die gesamte Organisation bedeutsames Phänomen darstellt. 1.2 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit Die Zielsetzung dieser Arbeit knüpft an die oben beschriebene Problemstellung direkt an. Vereinfacht formuliert ist es das Ziel, das Verständnis und die Perzeption von Erwartungen an Personalführung auf beiden Seiten der Führungsbeziehung, sowie die mögliche Divergenz (Erwartungsenttäuschung) dieser zwei Auffassungen zu analysieren. Dabei soll die Frage beantwortet werden, was Geführte in diesem Bereich von ihren Vorgesetzten an konkret differenzierten Führungsinhalten erwarten, um eine Verbindung von Handlungskonsequenzen im Enttäuschungsfall leisten zu können. Eine Betrachtung erfüllter Erwartungen (der Erwartungskorrespondenz), wird in diesem Zusammenhang nicht thematisiert. Insgesamt ist dieser Fall kein direktes Problem, da es keine negativen Konsequenzen zur Folge haben dürfte.
1.2 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit 9 Grundlage der Vorgehensweise ist die Eruierung auf der qualitativ-inhaltlichen Ebene im empirischen Teil der Arbeit. Hierzu soll die kognitive Führungsforschung um einen geschärften Erwartungsbegriff in erster Linie deskriptiv erweitert werden. Anders als bei Lord und Co-Autoren (Lord et al., 1984; Phillips & Lord, 1981) geht es dabei nicht um eine Klassifizierung von Prototypen, sondern um die Identifizierung von Erwartungen an die Personalführung und deren Effekten. In Konsequenz stellt sich die Vorgehensweise dieser Arbeit im Wesentlichen in zwei Schritten dar. Bevor die empirische Untersuchung der Fragestellung konzipiert, durchgeführt und ausgewertet werden kann (induktiver Teil, Kapitel 3 und 4), bedarf es einer konzeptionellen Aufarbeitung der relevanten theoretischen Grundlagen aus der kognitiven Führungsforschung, sowie anderen theoretischen Konzepten (deduktiver Teil, Kapitel 2). Einige der Annahmen und Behauptungen, welche in dieser Einleitung über die Führungsforschung im Zusammenhang mit Erwartungen an Personalführung getroffen und formuliert wurden, müssen zuerst vor der entsprechenden Literatur gerechtfertigt werden. Wie bereits in der Problemstellung erwähnt, bildet die kognitive und geführtenzentrierte Führungsforschung den Kern des Analyserahmens. Jedoch werden auch durch andere Theorien der Führungsforschung wichtige Implikationen dargeboten. Somit ist es für die Zielsetzung substanziell, einen tiefgreifenden Überblick über die zentralen theoretischen Konzepte zu zeichnen, um die Wahl des theoretischen Rahmens zu begründen und auch erste Schlussfolgerungen und konkrete Untersuchungsfragen aus der Analyse der Theorie für den empirischen Teil zu erarbeiten. Insgesamt stellen sich daher im Grunde genommen vier einfach formulierte Fragen: Was sind Erwartungen (im Allgemeinen)? Wie entstehen Erwartungen an Personalführung? Wie kommt es zu enttäuschten Erwartungen der Geführten? Wie wirken enttäuschte Erwartungen im Rahmen einer Führungsbeziehung?
10 1. Einleitung Kapitel 2 stellt zu diesen Fragen Schritt für Schritt die nötigen Theoriebausteine vor. Zuallererst bedarf es einer Klärung der Bedeutung des Begriffes „Erwartungen“, um eine definitorische Grundlage zu schaffen und einige mögliche Differenzierungen von Erwartungstypen zu diskutieren. Dazu werden Erkenntnisse aus soziologischen Ansätzen, wie beispielsweise der Systemtheorie genutzt. Im Anschluss an diese Ausgangsbasis folgt der Übergang in die Führungsforschung, sodass im Laufe des zweiten Kapitels über die kognitive und geführtenzentrierte Perspektive, aber auch mit Anlehnung an die Austausch/Rollentheorie die Fragestellung theoretisch aufgearbeitet werden kann. Am Ende des Kapitels wird der entsprechende aktuelle Forschungsstand noch einmal zusammengefasst und hinterfragt, um die Notwendigkeit einer empirischen Untersuchung zu belegen. Kapitel 3 verkörpert die empirische Untersuchung in dieser Arbeit. Eingangs erfolgt eine Erläuterung über die Entscheidungen zum Forschungsdesign mit der Wahl eines qualitativen Fallstudiendesigns und den damit verbundenen Detailfragen. Das Kapitel schließt mit einer ausführlichen und deskriptiven Darstellung der empirischen Ergebnisse, in dem jeweils separat die Datenstrukturen hinsichtlich der Erwartungsenttäuschungen und der Handlungskonsequenzen vorgestellt und anschließend die Verbindungen aufgezeigt werden. Als Beitrag zur wissenschaftlichen Erkenntnis und der beabsichtigten Theorieelaboration werden auf der Grundlage der empirisch erhobenen Daten die Ergebnisse der empirischen Untersuchung aus Kapitel 3 in einem vierten Kapitel diskutiert und auf den aktuellen Forschungsstand reflektiert. Insbesondere wird als Ergebnis die Entwicklung eines Modellansatzes und einiger Forschungspropositionen vorgestellt. Die Arbeit endet mit einer Schlussbetrachtung in Kapitel 5, um ein Fazit zu ziehen und einen Ausblick auf mögliche weitere Folgeforschung zu leisten.
2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung Die vorherig beschriebene Problemstellung und Zielsetzung haben die Idee der Erwartungen an Personalführung als das zentrale Konzept dieser Arbeit verdeutlicht. Bevor sich der Entwicklung der konkret zu bestimmenden Untersuchungsfragen gewidmet werden kann, gilt es, die nähere Definition und Schärfung des Begriffsverständnisses von Erwartungen im Führungskontext zu diskutieren. Dies dient einer Problematisierung bisheriger Ansätze im konzeptionelltheoretischen Schwerpunkt, um die Notwendigkeit der empirischen Untersuchung in dieser Arbeit aufzuzeigen. Dazu wird im folgenden ersten Abschnitt dieses Kapitels eine Herleitung der Verständnisse über Erwartungen im Allgemeinen, sowie den spezifischeren Subkonzepten der Verhaltenserwartung und der Rollenerwartung anhand von soziologischen Grundlagen durchgeführt (Abschnitt 2.1). Dieser Überblick dient der Fundierung einer Ausgangsbasis, um den darunter zu subsumierenden Fall der konkreten Erwartungen an die Personalführung zu bearbeiten. In Abschnitt 2.2 folgt die Vorstellung des ersten Theorieblocks der geführtenzentrierten Forschung in Form der impliziten Führungstheorien, welche einen wichtigen Beitrag zu dem theoretischen Bezugsrahmen leisten, indem sie diskutieren, wie sich die Erwartungen an Führung aufgrund einer mentalen Kategorisierung von Führung und daraus abgeleiteten Prototypen bilden. Der Abschnitt widmet sich somit der Frage, wie sich die Inhalte von Erwartungen im Führungskontext entwickeln. Nach einem Überblick über die Entstehung von Erwartungen wird in Abschnitt 2.3 kurz aufgezeigt, wie man generell die Rolle von Erwartungen innerhalb einer Führungsbeziehung charakterisieren kann, indem man sie als eine Art Austauschgut in der Entwicklung der Beziehung versteht. Hierzu werden einige Implikationen der LMX-Theorie diskutiert. Der Abschnitt skizziert dadurch die © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 H. Seele, Die Wirkung von enttäuschten Mitarbeitererwartungen an Personalführung, DOI 10.1007/978-3-658-14618-4_2
12 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung allgemeine Funktion von Erwartungen im Führungskontext. In diesem Zusammenhang wird auch die Perspektive des Followerships als eine handlungsbezogene Perspektive der Geführten zusammenfassend eingeordnet. Diese Weiterentwicklung der Rollentheorien bezieht erstmals eine rein auf die Geführten fokussierte Position. Den Kern der konzeptionellen Analyse bildet die Entstehung und Wirkung von Erwartungsenttäuschungen. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, ist damit ein attributionstheoretisches Problem aufgezeigt. Die geführtenzentrierte Forschung bildet mit der geführtenzentrierten Attributionstheorie den wichtigsten Bestandteil der theoretischen Diskussion rund um die Fragestellung der Arbeit. Darum werden in Abschnitt 2.4 zuerst die grundlegenden Ansätze einer allgemeinen Attributionstheorie eingeführt, bevor der Spezialfall der geführtenzentrierten Attributionstheorie nach Calder (1977) vorgestellt werden soll. Dieser Abschnitt dokumentiert, wie die „Austauschgut-Funktion“ von Erwartungen aus der Sicht der Geführten noch präziser gefasst werden kann. Insbesondere wird aufgezeigt, wie dadurch Erwartungsenttäuschungen entstehen können. Wenn auch sehr undifferenziert, wird in dem Ansatz auch eine Wirkung auf die Führungszuschreibung behandelt. Abschnitt 2.5 fasst die Erkenntnisse der gesamten konzeptionellen Aufarbeitung zusammen. Dabei wird insbesondere der aktuelle Forschungsstand der einzelnen Strömungen miteinander verknüpfend gewürdigt und kritisch reflektiert, um auf die Probleme und Lücken vor dem Hintergrund der Fragestellung hinzuweisen. Als Ergebnis werden fünf Untersuchungsfragen aufgestellt, die zur Grundlage der empirischen Untersuchung dienen. 2.1 Bedeutung und Klassifizierung des Erwartungsbegriffs Aus soziologischer Perspektive betrachtet sind Erwartungen im allgemeinen Bestandteil sozialen Verhaltens und somit des Zusammenlebens von Menschen.
2.1 Bedeutung und Klassifizierung des Erwartungsbegriffs 13 Dass ein Unternehmen oder eine vergleichbare Organisation ein Ort ist, an dem das Zusammenleben (im Sinne eines Zusammenarbeitens) von Menschen stattfindet, ist selbsterklärend. Somit ist die Schlussfolgerung Luhmanns, dass Organisationen als soziale Systeme zu verstehen sind die logische Konsequenz (1987, S. 30 ff.). In seinem systemtheoretischen Werk beschreibt Luhmann unter anderem Organisationen als selbstreferentielle, autopoietische Systeme. Stark vereinfacht bedeutet dies, dass soziale Systeme der Komplexitätsreduktion dienen und sich in diesem Zusammenhang zur Sicherstellung der Wahrung einer Umwelt-System Differenz, als Manifestierung ihrer Existenz, ständig selbst reproduzieren müssen. Das Verständnis eines autopoietischen Systems ist im Rahmen dieser Arbeit nicht der Anknüpfungspunkt zur Zielsetzung. Wohl aber Luhmanns Charakterisierung von Erwartungen in sozialen Systemen. Da Organisationen als solche gelten und da Personalführung in Organisationen vollzogen wird, sind diese Charakterisierungen für eine Untersuchung von Erwartungen an eine Personalführung wichtig und hilfreich für das Verstehen der Fragestellung dieser Arbeit. Dem oben angemerkten Zweck sozialer Systeme, eine Komplexitätsreduktion zu leisten, dienen Erwartungen als direktes Mittel. Nach Luhmann existieren Erwartungen, um eine Verdichtung und Zwischenselektion von Möglichkeiten zu leisten, sodass man sich besser und schneller orientieren kann. Dabei wird die Komplexität nicht vernichtet, sondern nur als eine Selektion aus der Gesamtheit reproduziert. Weiterhin überbrücken Erwartungen Diskontinuitäten, wodurch sie auch in veränderten Situationen noch brauchbar sind (Luhmann, 1987, S. 140). In anderen Worten bedeutet dies abstrahiert die grobe Semantik von umgangssprachlichen Aussagen wie „ich rechne damit, dass“ oder „ich gehe davon aus, dass“. Beide Aussagen stehen für die Äußerungen von Erwartungen, die auch unausgesprochen als unterbewusste Verbindungen schon vorher so bestehen. Eine Person schließt damit keine Alternative komplett aus, sondern sie fokussiert sich auf bestimmte Optionen (Komplexitätsreduktion durch Selektion, keine Vernichtung), um bestimmte weitere Handlungen oder Entscheidungen schon jetzt zu treffen, oder zumindest aber vorbereiten zu können (Überbrückung von Dis-
14 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung kontinuitäten, schnellere Orientierung). Der nicht endgültige Charakter ist vor dem Hintergrund dieser Arbeit und der Fragestellung bezüglich einer Erwartungsenttäuschung in dieser Definition enthalten. Die wichtige Grundbedingung hierfür ist die Verbindung zu einem Folgeereignis: „Bezogen auf psychische Systeme [wie das menschliche Gehirn, Anmerkung des Verfassers] verstehen wir unter Erwartungen eine Orientierungsform [...]. Sie sind als Mitvollzug des Auftauchenlassens neuer Elemente Moment des autopoietischen Prozesses und zugleich so in ihm eingelagert, daß das Überspringen auf ganz andere Leitstrukturen stets möglich bleibt. Bei aller Befassung mit konkreten Sinnstrukturen bleibt das Bewußtsein alarmierbar [...]. Eine Erwartung sondiert ungewisses Terrain mit einer an ihr selbst erfahrbaren Differenz: Sie kann erfüllt oder enttäuscht werden, und dies hängt nicht allein von ihr selber ab. [...] Unerläßlich [sic] ist nur, daß die Erwartung autopoietisch verwendbar ist, das heißt den Zugang zu Anschlußvorstellungen hinreichend vorstrukturiert. Sie gibt das Folgeerlebnis dann als Erwartungserfüllung oder als Erwartungsenttäuschung mit einem dadurch wiederum vorstrukturierten Repertoire weiterer Verhaltensmöglichkeiten.“ (Luhmann, 1987, S. 362f.) Reflektiert man diese abstrakte Analyse, so fällt zuerst der Begriff der Orientierungsform auf. Dieser fügt sich an die obige Definition an, dass Erwartungen nicht ausschließen, sondern nur eine Zwischenselektion darstellen. Sie geben dadurch eine Orientierung, indem sie an die Erwartung anschließende Handlungsoptionen in der Unterscheidung zwischen einer Erwartungserfüllung und einer -enttäuschung vorsortieren, ohne sich endgültig festzulegen. Die Entscheidung für die Verhaltensmöglichkeit fällt nach der Wahrnehmung der Enttäuschung oder Erfüllung, welche dann leichter fällt, da die Komplexität bereits vorher durch die Verbindung von Erwartung und Handlungsmöglichkeit redu-
2.1 Bedeutung und Klassifizierung des Erwartungsbegriffs 15 ziert worden ist. Vor allem der Enttäuschungsfall ist ein wichtiges Mittel der Komplexitätsreduktion. Nach Luhmann dient der Enttäuschungsfall in erster Linie dazu, eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Geschehnisse reduziert unter einer Erwartungsenttäuschung zusammenzufassen. Die theoretische Vielzahl möglicher anschließender Reaktionen, wird dadurch stark vereinfacht in eine einheitliche Bündelung für alle nicht die Erwartung erfüllenden Fälle gleich (Luhmann, 1987, S. 397). Übertragen auf den Kontext Führung lassen sich diese grundlegenden Definitionselemente des Erwartungsbegriffes nun unmittelbar anwenden. Führungskraft und Geführte verfügen über eine Vielzahl an Handlungsoptionen. Dabei ist insbesondere die Seite der Geführten auf viele Verhaltensweisen einer Führungskraft angewiesen, wie zum Beispiel durch das Informieren oder Treffen von Entscheidungen. Dabei wissen die Geführten bei der Entstehung der Führungsbeziehung nicht von vorneherein, wie sich die Führungskraft verhalten wird. Um nun dem eigenem Verhalten eine Orientierung zu geben (Komplexitätsreduktion) erwarten die Mitarbeiter bestimmte Verhaltensweisen von ihrer Führungskraft. Nur so können sie in das Chaos der Optionen eine einfache Vorstrukturierung bringen, die für die Zukunft schon gleich auch die Folgeereignisse in Erfüllung und Enttäuschung differenziert. Dabei wird von der Erfüllung ausgegangen und in „diese Richtung“ das eigene Verhalten orientiert. Es ist aber jederzeit möglich, das Verhalten in die Kategorie der enttäuschten Erwartungen zu richten. Damit ist eine erste theoretische Verbindung identifiziert, die in dieser Arbeit von zentraler Bedeutung ist: Die Verknüpfung des Erwartungsbegriffs zu einer Handlungsebene. Verhaltensweisen oder Handlungen sind mögliche Konsequenzen aus erfüllten oder unerfüllten Erwartungen. In diesen Sinn spezifiziert Luhmann Erwartungen in sozialen Systemen weiter: „Im Bereich der Theorie sozialer Systeme werden wir es hauptsächlich mit Verhaltenserwartungen zu tun haben.“ (Luhmann, 1987, S. 139)
16 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung Wenn Erwartungen an Personalführung untersucht werden, handelt es sich um Handlungen und Tätigkeiten, die ein Geführter von einem Vorgesetzten erwartet. Dies entspricht präzise dem Begriff der Verhaltenserwartung. Im Laufe dieses Abschnittes wird der Begriff der Verhaltenserwartungen noch genauer differenziert werden. Das Zitat an dieser Stelle soll vorerst nur der Verdeutlichung der Sinnhaftigkeit dienen, sich eines soziologisch geprägten Begriffes in einer betriebswirtschaftlichen Arbeit zu bedienen. Aufgrund der Erfüllung oder Enttäuschung der Verhaltenserwartungen an die Führungskraft, wählt der Geführte nun wiederum eigene Handlungsoptionen, die bereits durch diese Unterscheidung vorselektiert wurden. Neben der vorselektierten Folgehandlung verbindet Luhmann mit dem Enttäuschungsfall noch eine weitere Frage. Ziel ist die Ermöglichung einer weiteren Differenzierung des Erwartungsbegriffs, nämlich die der zukünftigen Erwartungshaltung nach Erleben eines Enttäuschungsfalls: Soll die Erwartung angepasst oder beibehalten werden (Luhmann, 1987, S. 397)? Die Frage des Verhaltens in dem Falle, in dem die Erwartungen enttäuscht oder nicht erfüllt werden, ist für ihn die Ausgangsbasis für eine tiefere Analyse von Erwartungen insgesamt. Auf der einen Seite gibt es alltägliche Erwartungen, die im Bezug auf Enttäuschungen so sicher sind, nicht enttäuscht zu werden, dass man sich um solche keine Gedanken machen muss (Luhmann, 1987, S. 436). Falls man aber andererseits damit rechnen kann, dass die eigene Erwartung nicht erfüllt wird, so geschieht eine „kognitive Modalisierung“. Diese entscheidet vorweg über den möglichen Enttäuschungsfall: „In die Erwartungen wird eine Vorwegdisposition für den Enttäuschungsfall eingebaut. Es wird damit miterwartbar gemacht, wie man sich im Enttäuschungsfall verhalten kann.“ (Luhmann, 1987, S. 436) Damit entspricht Luhmann erst einmal prinzipiell der bereits oben angesprochenen Logik, jederzeit „alarmierbar“ zu sein und auf andere Möglichkeiten zu
2.1 Bedeutung und Klassifizierung des Erwartungsbegriffs 17 wechseln. Die Modalisierung bezieht sich nun jedoch auf eine verstärkte Orientierung an einer Differenz. Diese Differenz manifestiert sich wiederum in einer Unterscheidung beziehungsweise Klassifizierung von Erwartungen, die sich auf die zukünftige Haltung zu dieser Erwartung beziehen: Normative gegenüber kognitiven Erwartungen. Das Unterscheidungsmerkmal besteht in der Bereitschaft, aus der Enttäuschung zu lernen und die Erwartung anzupassen, oder nicht. An normativen Erwartungen wird auch im Enttäuschungsfall festgehalten. Ein Lernen und Anpassen der Erwartungshaltung findet nicht statt. Die Erwartung bekommt den Charakter einer Norm und besitzt für das Individuum eine Art Gesetzhaftigkeit. Im Gegensatz dazu stehen die kognitiven Erwartungen. In diesem Fall wird die Enttäuschung kognitiv verarbeitet und die Erwartung gegebenenfalls angepasst. Diese Unterscheidung von Erwartungen darf man jedoch nicht als zwei klar begrenzte gegenüberstehende Pole betrachten. Häufig wird sehr kurzfristig über die Einteilung in kognitiv oder normativ entschieden und es kann Fälle geben, in denen beide Klassen sehr nahe beieinanderliegen und sich situationsabhängig wandeln können (Luhmann, 1987, S. 437ff.). Diese Wandelbarkeit beruht insbesondere auf einem retrospektiven Charakter der Unterteilung zwischen normativen und kognitiven Erwartungen. Erst im Enttäuschungsfall wird rückwirkend die nicht erfüllte Erwartung disponiert. Entweder wird sie vom Individuum kognitiv verarbeitet und angepasst, oder sie wird auf ein normatives Level gesetzt und es wird an ihr unveränderlich festgehalten. Aber genau diese Retroperspektive stellt das eigentliche Unterscheidungsmerkmal dar – der nachträgliche Umgang im Enttäuschungsfall dient zur Differenzierung zwischen verschiedenen Erwartungen (bzw. Erwartungsinhalten). Luhmann zeichnet ein Bild von Erwartungen, dass prima facie sehr einfach erscheint. Jedoch verfügt diese grundlegende Unterscheidung von Erwartungen, orientiert an dem Verhalten bei Enttäuschungen, bei tieferer Betrachtung über viel Potenzial und Erklärungsgehalt. Übertragen auf die Erwartungen an Personalführung bedeutet es vor allem, sich zwangsläufig die Frage zu stellen, wie mit einer enttäuschten Erwartungshaltung umgegangen wird. Sind die vorrangig (bewusst oder unbewusst) einkalkulierten Sanktionen nun im Enttäuschungsfall
18 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung als Folge relevant, oder wird die Erwartung reflektiert und eine mögliche Konsequenz verworfen, oder gibt es Kombinationen aus Erwartungsanpassung und Reaktion? Inwiefern gibt es normative, somit unveränderliche, Erwartungen an eine Personalführung und inwiefern gibt es kognitive, anpassungs- und lernfähige Erwartungen an eine Personalführung? Wie wirken diese beiden Formen auf die Führungsbeziehung und die Anerkennung von Führung? Wie wird damit umgegangen? Auf diesen Fragen wird im Laufe der Arbeit immer wieder eingegangen werden. Oben wurde auf die von Luhmann angesprochene Häufigkeit von Verhaltenserwartungen in sozialen Systemen verwiesen. Führungserwartungen sind Verhaltenserwartungen. Es fällt bei der Verwendung dieser Pluralformen auf, dass Erwartungen bisher in dieser Analyse nur als einzelnes Element betrachtet worden sind und noch keine Möglichkeit zur Aggregation von Erwartungen diskutiert wurde. Luhmann spricht von einer „Identifikation von Erwartungszusammenhängen“, sinngemäß also einer Mehrzahl, bei der Verwendung des Begriffs der Rolle. Er versteht die Rolle als etwas, was die einzelne Person übersteigt und dabei eine wichtige Leistung vollbringt: es können Erwartungssicherheiten geschaffen werden, ohne die Person näher zu kennen, die diese Rolle einnimmt (Luhmann, 1987, S. 430f.). Ein neuer Mitarbeiter kennt wahrscheinlich den Namen seiner vorgesetzten Führungskraft, hat aber kein oder nur sehr geringes Wissen über die Person – trotzdem existieren nach dieser Definition mit der Verknüpfung zu der Rolle „Führungskraft“ bereits einige Verhaltenserwartungen. Verhaltenserwartungen sind somit Rollenerwartungen und dadurch zwei wichtige soziologisch geprägte Begriffe für den Zugang zu der Fragestellung in dieser Untersuchung. Folgt man Dahrendorfs (2010, S. 31ff.) Sichtweise auf diese Thematik, so gehört zu jeder sozialen Position eine soziale Rolle. In dem sozialen System Unternehmen kann man im logischen Schluss die Position einer Führungskraft als soziale Rolle auffassen. Mit der Übertragung der Vorgesetztenfunktion setzt man eine Person in die Rolle einer Führungskraft. Im Bezug auf eine soziale Rolle definiert Dahrendorf:
2.1 Bedeutung und Klassifizierung des Erwartungsbegriffs 19 „Obwohl die soziale Rolle, die zu einer Position gehört, uns nicht verraten kann, wie ein Träger dieser Rolle sich tatsächlich verhält, wissen wir doch, wenn wir mit der Gesellschaft, die diese Rolle definiert, vertraut sind, was von ihrem Spieler erwartet wird. Soziale Rollen sind Bündel von Erwartungen, die sich in einer gegebenen Gesellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen.“ (2010, S. 35) Soziale Rollen als Bündel von Erwartungen zu begreifen, hebt die Bedeutung von Erwartungen an eine Rolle auf eine höhere Stufe. Man kann dadurch behaupten, dass bei der Betrachtung einer Rolle zwangsläufig Erwartungen miteinbezogen sind. Somit weckt die Rolle einer Führungskraft Erwartungen. Spezifiziert spricht Dahrendorf bei jeder einzelnen Rolle von einer „Gruppe von Verhaltenserwartungen“ (2010, S. 35). Auch in einem organisationspsychologischen Kontext wird eine Rolle vergleichbar definiert: „roles are sets of behaviors that persons expect of occupants of a position.“ (Graen, 1976, S. 1201) Begegnet man also dem Inhaber einer bestimmten Rolle, so kalkuliert man mit bestimmten Verhaltensweisen. Im Verständnis von Dahrendorf sind an dieser Stelle Verhaltenserwartungen ein Bestandteil der Rollenerwartung, welche wiederum auch als eine Art Anspruch an die soziale Rolle durch die Gesellschaft formuliert werden kann. Durch die Bildung eines Anspruchs entsteht ein zwangsähnlicher Zustand, diesem auch gerecht zu werden. Wird man einem Anspruch gerecht, so entsteht die Möglichkeit, belohnt zu werden. Im gegenteiligen Fall könnten Strafen folgen. Dahrendorf fasst dieses mit positiven und
20 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung negativen Sanktionen2 zusammen, die durch eine Erfüllung oder Enttäuschung einer Rollenerwartung an die soziale Position entstehen (2010, S. 38f.). An dieser Stelle wird die Erwartungserfüllung durch die eine Rolle ausfüllende Person zum Unterscheidungsmerkmal für positive oder negative Folgen (Reaktionen und Sanktionen). Um die Form einer Reaktion/Sanktion zu unterscheiden, sowie um die Arten der Erwartungen grundsätzlichen zu klassifizieren, unterteilt Dahrendorf die Erwartungen an eine soziale Rolle in drei unterschiedliche Kategorien: Art der Sanktion / Reaktion Art der Erwartung positiv negativ Muss-Erwartung - gerichtliche Bestrafung Soll-Erwartung (Sympathie) Sozialer Ausschluss Kann-Erwartung Schätzung (Antipathie) Tabelle 1: Formen von Rollenerwartungen und Sanktionen (in Anlehnung an Dahrendorf & Abels, 2010, S.41) Die in Tabelle 1 dargestellte Klassifizierung von Erwartungen und den damit verbundenen Sanktionen3 sind von grundlegender Art. Die sogenannten MussErwartungen sind von gesetzlicher Natur. Hiermit sind Erwartungen seitens der Gesellschaft umfasst, die sich auf die Einhaltung der juristisch bestehenden Gesetzte beziehen. Beispielsweise wird in dieser Kategorie von der sozialen Rolle „Lehrer“ erwartet werden, Schüler nicht zu schlagen oder sie zu bestehlen. Für die Erfüllung dieser Erwartungen gibt es selbstverständlich keine Art von positiven Reaktionen wie auch nur des Lobes oder Ähnlichem. Bei Enttäuschung einer solchen Erwartung ist hingegen eine gerichtliche Strafe zu erwar2 Der Begriff der Sanktion ist heutzutage hauptsächlich negativ geprägt und dadurch eventuell verwirrend in einem positiven Zusammenhang. Jedoch liegt der Ursprung des Wortes im Latein: sanctio kann man sowohl mit Bestätigung oder Anerkennung als auch Strafandrohung übersetzen. 3 Im Folgendem wird für positive Sanktionen nun der Begriff „Reaktion“ verwendet, um eine deutlichere Abgrenzung zu schaffen.
2.1 Bedeutung und Klassifizierung des Erwartungsbegriffs 21 ten (Dahrendorf & Abels, 2010, S. 39). Diese Kategorie von Erwartungen ist klar für alle nicht-kriminellen Rollen in einer Gesellschaft logisch nachvollziehbar als Grundanforderung zu begreifen. Für den betriebswirtschaftlichen Kontext interessanter ist die Kategorie der SollErwartungen. Sie sind nicht gesetzlich verankert, jedoch sozial „quasigesetzlich“. Damit sind Erwartungen von hoher Verbindlichkeit gemeint, bei denen auch die negativen Sanktionen im Enttäuschungsfall dominieren. Dahrendorf wählt selbst das Beispiel eines Unternehmens. Ein Unternehmen als soziale Gruppe hat mitunter eine Stellung vergleichbar mit einer quasirechtlichen Institution. So wird ein Nicht-Erfüllen der Erwartungen, die aus dem Unterzeichnen eines Arbeitsvertrages bei einem Unternehmen gegenüber einer Person in Form des Arbeitsauftrages entstehen, mit einer Entlassung sanktioniert. Diese Form der starken Sanktion steht neben milderen Formen wie beispielsweise Verwarnungen, Versetzungen oder Beförderungsverzögerungen. Positive Reaktionen sind in diesem Zusammenhang etwa die Attestierung von Vorbildlichkeit und Verlässlichkeit (Dahrendorf & Abels, 2010, S. 40). Darüber hinaus stellen die Kann-Erwartungen den geringsten Grad an Verbindlichkeit dar. Sie sind jedoch auch am meisten mit der Wahrscheinlichkeit verbunden, positive Reaktionen hervorzurufen. Besonderes Engagement und freiwillige oder zusätzliche Leistung über den Soll-Erwartungen sind mit dieser Kategorie eingefasst. Eine Enttäuschung einer solchen Erwartungen führt daher nicht zwangsläufig zu einer negativen Sanktion – im Gegensatz zu den Mussoder Soll-Erwartungen (Dahrendorf & Abels, 2010, S. 39f.). Für die Präzision dieses Konzeptes von Rollenerwartungen ist es jedoch nicht immer angebracht, von der Gesellschaft als Urheber der Erwartungen an die soziale Rolle zu sprechen. Während bei sehr vielen Rollen die MussErwartungen im Allgemeinen von gesellschaftlichem Interesse sind (bspw. im Rahmen der Kriminalität), so sind die anderen Kategorien von Erwartungen nicht automatisch für die gesamte Gesellschaft relevant. Hier ist es nicht ange-
22 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung messen, von der Gesellschaft als Ursprung der Erwartungsform zu sprechen. Für eine Präzisierung wird der Begriff der Bezugsgruppe eingeführt (Dahrendorf & Abels, 2010, S. 46ff.; Schimank, 2000, S. 48f.). Bezugsgruppen stellen Personen dar, an denen sich das Verhalten einer Person oder Rolle orientiert, insbesondere durch Zustimmung und/oder Ablehnung. Somit sind mit jeder sozialen Rolle eine oder mehrere direkte Bezugsgruppen einhergehend. Die eingenommene soziale Rolle, stellt dann die Verbindung zwischen der Person und den Bezugsgruppen her. Dadurch setzt sie den Rolleninhaber den Erwartungen und den anschließenden Sanktionen durch die Bezugsgruppen aus. Durch die vorangegangene Erläuterung von Muss-, Soll- und KannErwartungen stellt sich ein erster Zugang zum Erwartungsbegriff, der es erlaubt eine Klassifizierung ex ante der Enttäuschung einer Erwartung auf einer konkreten Handlungsebene zu vollziehen. Eine Klassifizierung dieser Art stellt ein interessantes Beispiel dar. Für den spezifischen Kontext der Erwartungen an Personalführung ist eine solche Unterscheidung eventuell ebenfalls möglich. Anhand der Art und Weise der Reaktionen auf die Erfüllung oder Enttäuschung einer Erwartung werden von Dahrendorf Erwartungen klassifiziert – wodurch dem Ansatz der Forschungsfrage grundsätzlich entsprochen wird. Reflektiert man an dieser Stelle das hier beispielhaft zusammengefasste soziogische Verständnis von (Rollen-/Verhaltens-)Erwartungen insgesamt, so wird die Bedeutung für die Untersuchung von Erwartungen an die Personalführung deutlich. Die bisher vorgestellten Konzepte liefern den grundlegenden Verständniszugang, warum die in der Problemstellung aufgegriffene Aussage („mein Chef führt nicht!“) mit dem Erwartungsbegriff ein geeignetes Analyseinstrument bekommt und warum Erwartungen an Personalführung die in der Einleitung bereits erwähnte Betrachtung von Geführten in Form der geführtenzentrierten Forschung erfordert: Der Vorgesetzte in einem Unternehmen füllt eine soziale Rolle aus und ist in erster Linie (neben natürlich seinen Kollegen auf gleicher Hierarchieebene oder seinen eigenen Vorgesetzten) mit der Bezugsgruppe der eigenen Mitarbeiter verbunden. Im Rahmen des gesamten Rollensets einer Füh-
2.1 Bedeutung und Klassifizierung des Erwartungsbegriffs 23 rungskraft sind bei der Fokussierung auf die Personalführung die Mitarbeiter sogar die einzig relevante Gruppe. In diesem Verhältnis stellen die Mitarbeiter als Bezugsgruppe nun den Ursprung von Erwartungen dar und reagieren gegebenenfalls auf unterschiedliche Kategorien von Erwartungen unterschiedlich stark positiv oder eben auch negativ. Dieses Konzept Dahrendorfs liefert somit eine erste Verbindung der Führungsbeziehung zum Erwartungsbegriff, da dieser durch ein Bündel von Verhaltenserwartungen an die soziale Rolle der Führungskraft gegeben ist und sich aus einer Perspektive der Geführten herausstellt. Hinzu kommt die retrospektive Einteilung in normative oder kognitive Erwartungen nach Luhmann. Sie lässt sich mit dem Verständnis Dahrendorfs verbinden. Eine zusätzliche Erkenntnis wird dadurch gewonnen, dass enttäuschte Erwartungen nicht nur je nach Erwartungskategorie potenziell unterschiedliche Effekte haben können, sondern dass Erwartungen im Enttäuschungsfall noch auf eine andere Weise differenziert werden können. Entweder können sie dauerhaft durch die rückwirkende Einordnung als eine normative Erwartung negative Sanktionen auslösen, oder aber sie werden als kognitive Erwartung beurteilt und somit verändert. Letzteres könnte als Verbindung von Luhmann und Dahrendorf beispielsweise eine „Degradierung“ von einer Soll- zu einer Kann-Erwartung darstellen. An dieser Stelle wird bewusst der Konjunktiv verwendet, da eben diese Fragen zu beantworten zum Teil Aufgabe der empirischen Untersuchung sein wird (Kapitel 3). Zum jetzigen Zeitpunkt ist es ausreichend, an dieser Stelle Folgendes festzuhalten: Die Verwendung der Konzepte normativer und kognitiver Erwartungen sowie von Muss-/Soll- und Kann-Erwartungen als Ausgangsbasis für positive Reaktionen und negative Sanktionen durch die Bezugsgruppen dienen als theoretische Grundlage für die Analyse der Erwartungen an Personalführung. Sie zeigen potenzielle Konzepte des Erwartungsbegriffes auf, die auch in der Personalführung eine Rolle spielen könnten. Da die Bezugsgruppen Ursprung von Erwartungen sind, wird die Behauptung aus der Einleitung untermauert (Seite 7), dass es auch den Blick auf die Mitarbeiter (als Bezugsgruppe) braucht, um Erwartungen im Bereich von Personalführung zu untersuchen.
24 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung Neben diesen elementaren Erkenntnissen liefert die soziologische Theorie zu Erwartungen an eine soziale Rolle noch einige weitere erkenntnisreiche Punkte. Es können einige Aspekte als Voraussetzungen definiert werden, die die Erfüllung der Rollenerwartungen erst ermöglichen, beziehungsweise die Probleme darstellen, wenn sie nicht oder nicht ausreichend vorhanden sind. Von ihrem grundsätzlichen Charakter her können einige davon auf den Rahmen der hier zu behandelnden Fragestellung übertragen und hier deshalb kurz vorgestellt werden. Für die Personalführung offensichtlich relevant ist die Problematik der Intra-Rollenkonflikte, bei denen eine Person die an sich gerichteten Erwartungen durch entweder verschiedene Bezugsgruppen oder auch innerhalb einer Bezugsgruppe (z.B.: Mitarbeiter haben gegensätzliche Erwartungen) aufgrund von konfliktären Erwartungen nicht ausgleichen und erfüllen kann. In diesem Fall drohen automatisch negative Sanktionen (Schimank, 2000, S. 56). Besonders relevant und in gewisser Weise sogar Teil der Untersuchung dieser Dissertationsschrift ist defizitäres Rollenwissen. Damit ist das Wissen des Rolleninhabers darüber gemeint, was die Bezugsgruppe von ihm erwartet. Ist dies unklar, muss der Rolleninhaber die Erwartungen selber entwerfen und unterliegt dabei aber dem Risiko „mangels besseren Wissen das Falsche zu tun“ (Schimank, 2000, S. 60). In der Zielsetzung dieser Arbeit (Abschnitt 1.2) ist unter anderem angesprochen worden, die Auffassungen der Führungskräfte über die Erwartungen der Mitarbeiter an Personalführung aufdecken zu wollen. Indirekt stellt dieser Schritt auch die Erfassung defizitären Rollenwissens dar. Hypothetisch liegt es auf den ersten Blick nahe, dass defizitäres Rollenwissen der Führungskraft problematisch für die Führungsattribution und -beziehung sein könnte4. Ein weiterer Problemfaktor ist ein in der Personalführungspraxis sehr bekanntes Phänomen: Die Verfügbarkeit von ausreichenden Ressourcen zur Erfüllung der Erwartungen kann bei entsprechendem Ressourcenmangel die Erwartungserfül4 Für die konkrete Argumentation hierzu siehe Abschnitt 3.1, 3.3 und 3.4
2.2 Die Bildung von Führungserwartungen durch implizite Führungstheorien 25 lung stark behindern. Beim Thema Personalführung ist dieser Ressourcenmangel häufig gleichzusetzen mit dem Faktor Zeit. Ein zerstückelter Arbeitstag mit hohem Kommunikationsaufwand sowie einer Vielzahl äußerer Handlungszwänge (Carlson, 1951, S. 1ff.; Stewart, 1982, S. 1ff.) machen die verfügbare Arbeitszeit einer Führungskraft zum Engpass und kann die Rolle der Personalführung darunter leiden lassen. Grundsätzlich denkbar sind aber auch andere Gründe zum Ressourcenmangel außer der verfügbaren Zeit, wie beispielsweise mangelnde Kommunikationsfähigkeit oder Empathie. Insgesamt lässt sich weiter konstatieren, dass sich auch einige der grundsätzlichen Voraussetzungen/potenziellen Problemfaktoren im soziologischen Verständnis von Rollenerwartungen und deren Erfüllungen sehr gut auf die Fragestellung zu den Erwartungen an Personalführung übertragen lassen. Somit dient der soziologisch geprägte Erwartungsbegriff als Grundlage und Zugang zur Analyse von Erwartungen an die Personalführung. Allerdings lässt er sich nicht direkt in die Führungsforschung übertragen. Zwar sind nun mögliche Formen der abstrakten Differenzierung von Erwartungen vorgestellt worden, doch es fehlt an einer inhaltlichen Füllung mit führungstheoretischen Elementen, sowie einer unmittelbaren und konkreten Verbindung zu der Handlungsebene der Geführten. Insbesondere die Lokalisierung und Skizzierung der Rolle von Erwartungen bei der Führungszuschreibung steht noch aus. Hierzu soll im folgenden Abschnitt die inhaltlich-kognitive Entstehung von Führungserwartungen anhand der impliziten Führungstheorien diskutiert werden. 2.2 Die Bildung von Führungserwartungen durch implizite Führungstheorien Implizite Führungstheorien behandeln die Auffassungen der Geführten über Führungskräfte. Charakterzüge und Verhaltensweisen sind dabei „nur“ ein inhaltlicher Bestandteil solcher Auffassungen. Den Kern bilden die mentalen Repräsentationen von Führung, die sich auf die Wahrnehmung von Verhaltens-
26 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung weisen stützen. Die Theorien zu „Implicit leadership“, vor allem bei Lord und Co-Autoren, knüpfen darum direkt an die kognitionspsychologischen Erkenntnisse von Rosch (1978) an. Eine Diskussion von impliziten Führungstheorien benötigt daher zuerst einen Rückblick auf die kognitionspsychologischen Wurzeln dieser Theorie. Die Kognitionspsychologie untersucht unter anderem mentale Repräsentationen. Dabei stellt sich die Frage, wie Wissen und Information sortiert und strukturiert abgebildet und abgespeichert werden, wobei Muster und Schemata verwendet werden (Banyard & Hayes, 1995, S. 135f.). Zur Erklärung von mentalen Repräsentationen in der Kognition existieren verschiedene Beispiele. Ein einfaches Beispiel für die Repräsentation von Wissen wäre das Erkennen von verschiedenen Vögeln. Ein typisches Muster mentaler Repräsentation wäre in diesem Zusammenhang die Vorstellung von einem befiederten Tier mit zwei Flügeln und einem Schnabel. Gleich ob wir einen Adler oder eine Blaumeise sehen, beide Tiere entsprechen der mentalen Repräsentation von Vögeln und würden dieser Kategorie zugeordnet. An dieser Stelle werden mehrere Aspekte deutlich: Zwei prinzipiell sehr unterschiedliche Objekte (bzw. Tiere) wie der Adler (großer Raubvogel) und die Blaumeise (kleiner Singvogel) sind zwar mit unterschiedlichen Merkmalen gekennzeichnet, besitzen aber trotzdem genügend ähnliche Merkmale um eine gleiche Assoziation anzuregen, eine gleiche Einordnung in dieselbe Kategorie. Durch einen Kognitionsprozess wird anhand der Wahrnehmung der Reize (Federn, Flügel, Schnabel etc.) das Wissen über Vögel aktiviert und sie (der Adler und die Blaumeise) werden erkannt. Dabei ist es möglich, dass unterschiedliche Personen in ihrer Kognition nach unterschiedlichen Schemata vorgehen. Dass bedeutet in diesem Fall, dass die Einordnung als Vogel schwerpunktmäßig von Person zu Person anhand anderer Merkmale erfolgen kann. Je nach Wissensstand ist zum Beispiel die Kategorie der Vögel noch weiter in Unterkategorien aufgeteilt und deswegen nach komplexeren Schemata verarbeitet.
2.2 Die Bildung von Führungserwartungen durch implizite Führungstheorien 27 Während die Mehrheit der Menschen höchstwahrscheinlich das Schema anwendet, in dem der Adler in der Oberkategorie der Tiere als solches erkannt wird und nach dem Schema der Erkennung von Flügeln, Federn und Schnabel diesen in die Unterkategorie der Vögel einordnet, so wird es Personen mit stärker ausgeprägten Schemata (mit vertiefterem Wissen) geben. Eine solche Person würde anhand weiterer Muster und Repräsentationen weiter Einteilungen in Unterkategorien durchführen (Schnabel- und Krallenform für die Kategorie der Raubvögel, Form der Flügel für die Art des Jagens und der potenziellen Beute usw.). Dieses einfache Beispiel, in dem die Kognition in Folge der Wahrnehmung im Sekunden- oder Millisekunden-Bereich diese Prozesse abhandelt, zeigt die potenziellen komplexen Verbindungen und Funktionen der Kognition. Eine besondere theoretische Strömung der Kognitionspsychologie über die Bildung von Repräsentationen ist eine Sonderform von mentalen Mustern: Prototypen. Sie sind Idealbilder, die als absolut typisch für einen bestimmten Begriff oder eine Kategorie sind und die wir benutzen, um Wahrnehmungen mit diesen zu vergleichen und anschließend zu verbinden oder nicht (Banyard & Hayes, 1995, S. 134). Prototypen in der Kognition sind für die Zielsetzung dieser Arbeit sehr wichtig, da das Bilden eines Prototyps oder eines Idealbildes gleichzeitig und zwangsläufig bedeutet und erfordert, dass Erwartungen gebildet werden. Um im obigen Beispiel zu bleiben: Der Prototyp eines Vogels in der mentalen Repräsentation der Kognition führt dazu, dass man erwartet, Flügel, Federn und einen Schnabel wahrzunehmen. Ein zentrales Werk für die Modellierung der Bildung von Prototypen ist bei Rosch (1978) zu finden. Rosch führt zwei grundlegende Prinzipien an, um den Nutzen einer Kategorienbildung, die später durch Prototypen repräsentativ vertreten sind und somit mit dem Begriff der Kategorienbildung eng verbunden sind, zu erklären. Einerseits ist es Zweck einer Kategorie, die (1) maximale Menge an Informationen bei geringstem kognitiven Aufwand bereit zu stellen. Andererseits wird dieses Prinzip nur unter der Bedingung erreicht, wenn sich die (2) mentalen Kategorien (Prototypen) und die wahrgenommene Umwelt als
28 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung strukturierte Informationen in eben dieser Struktur möglichst gleichmäßig überlappen (Rosch, 1978, S. 28). Das zweite Prinzip ist daher, entweder die Kategorien an die Attribute von den kategorienspezifischen Informationen anzupassen, oder die entsprechenden Attribute einer Kategorie neu zu definieren und dadurch die Kategorie in ihrer Konkretisierung und Beschreibung anzupassen (Rosch, 1978, S. 28). Rosch argumentiert mit einem ökonomischen Ansatz, warum in der Kognition Kategorien gebildet werden. Vor allem das erste Prinzip beschreibt eine ressourceneffiziente Nutzung von Kognition. Wichtig ist dabei die Balance zwischen der Bildung von möglichst vielen Kategorien auf der einen und der Zweckmäßigkeit der Bildung einer Kategorie auf der anderen Seite. Viele Kategorien haben eine starke Differenzierung zwischen den einzelnen Kategorien zur Folge, sodass anhand weniger Informationen schnell eine Einteilung sowie eine Unterscheidung eines wahrgenommenen Reizes (Beispiel der Sichtung eines Vogels) in eine Kategorie in Abgrenzung zu anderen erfolgen kann. Gleichzeitig ist es aber ineffektiv und auch irrelevant mehrere sich stark voneinander abgrenzende Kategorien zu bilden, wenn dies nicht dem grundsätzlichen Zweck eines Individuums dient (Rosch, 1978, S. 29). Um das Beispiel der Unterscheidung eines Adlers von einem Singvogel aufzugreifen, ist es grundsätzlich in der Kognition effektiv, sich anhand der Ornithologie und sonstigem Fachwissens ein großes System von Kategorien und Repräsentationen mit sehr unterschiedlichen Attributen von Informationen aufzubauen, sodass schnell und mit geringem Aufwand einer Wahrnehmung unmittelbar die maximale Menge an Informationen folgen können. Jedoch macht es für eine Person wenig Sinn, sich solch eine komplexe kognitive Repräsentanz aufzubauen, wenn es ihr zu keinem Zweck dienlich ist. Wer weder berufliche noch private Berührungspunkte zur Ornithologie aufweist, für den wäre es (im Beispiel gesprochen) irrelevant und ohne Nutzen, zwischen Adler und Singvogel unterscheiden zu können. Weiterhin sind Individuen durch unterschiedliche (kulturelle) Hintergründe, Bedürfnisse und Interessen geprägt, sodass sich die Kategorienbildung sowie die dafür genutzten Informationen stark unterscheiden können. Teilweise sind
2.2 Die Bildung von Führungserwartungen durch implizite Führungstheorien 29 Verbindungen und gedankliche Verknüpfungen durch logische Zusammenhänge allgemein bekannt und erkannt (beispielsweise darf man annehmen, dass die Wahrnehmung von einem Gefährt auf vier Rädern allgemein zu einer Kognition mit dem Begriff „Automobil“ führt und damit verbundene Informationen hervorruft), jedoch bestimmt die individuelle Interaktion mit physischer und sozialer Umwelt, vor dem beschriebenen eigenen Hintergrund, die bestimmende Rolle bei der Bildung von kognitiven Kategorien und den damit verbundenen Prototypen. Letztere haben folgende konkrete Rolle: Kategorien lassen sich sowohl horizontal als vertikal voneinander unterscheiden. Vertikale Differenzierung ist die Bildung von Subkategorien wie zum Beispiel: Lebewesen, Tier, Wirbeltier, Vogel, Raubvogel. Gleichzeitig bestehen aber auch parallel horizontal auf einer hierarchischen Stufe mehrere Kategorien (Banyard & Hayes, 1998; Cantor & Mischel, 1979; Neisser, 1979; Rosch, 1978). Somit sind Singvögel parallel zu den Raubvögeln hierarchisch der Kategorie der Vögel, der Wirbeltiere usw. untergeordnet. Prototypen kommen hierbei die entscheidende Rolle zu, horizontal zwischen Kategorien auf einer Stufe zu unterscheiden. Mitunter ist es schwierig, klare Grenzen zwischen zwei Kategorien auf der horizontalen Ebene zu ziehen, stattdessen ist es einfacher, anhand von Prototypen für jede Kategorie klare Beispiele mit bestimmten Attributen oder Eigenschaften zu definieren (Rosch, 1978; Wittgenstein, 1953). Folglich sind Prototypen beispielhafte Mitglieder einer mentalen Kategorie, die besonders viele Attribute und Eigenschaften mit allen anderen Mitgliedern dieser Kategorie und möglichst wenige mit Mitgliedern anderer Kategorien gemeinsam haben: „The more prototypical a category member, the more attributes it has in common with other members of that category and the less attributes in common with contrasting categories. Thus, prototypes appear to be just those members of the category witch most reflect the redundancy structure of the category as a whole.“ (Rosch & Mervis, 1975, S. 602)
30 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung Die Bedeutung von den bisher dargestellten theoretischen Grundlagen zur Kognition, mit dem Schwerpunkt auf Schemata in der Kognition, mentalen Repräsentanzen sowie Kategorien und deren Prototypen haben direkte Implikationen für die Analyse von Führung und Führungsbeziehungen. Der Transfer dieser theoretischen Konzepte in die Analyse von Führung liegt auf der Hand: Wenn Geführte aufgrund einer Kongruenz des beobachteten Verhaltens der Führungskraft mit ihren Idealvorstellungen der Führungskraft Führung zuschreiben, dann ist dieses Idealbild im Sinne der Kognitionsforschung als ein Prototyp einer Führungskraft zu verstehen. Dieser Prototyp erleichtert als eine Art Stellvertreter der Kategorie „Führungskräfte“ 5 und eine mentale Repräsentation in den Gedanken des Geführten die Informationsverarbeitung. In dieser Arbeit wird von einem derartigen Prozess in den Köpfen der Geführten ausgegangen, um eine Erklärung für die Bildung von Erwartungen an Personalführung herzuleiten. Aus diesen kognitionspsychologischen Theorien heraus wird die Annahme getroffen, dass sich Geführte auf ein prototypisches Idealbild einer Führungskraft beziehen, welches bestimmte Attribute und Verhaltensweisen mit Assoziationen zur Personalführung aufweist, sodass sie konkrete Erwartungen zum Thema Personalführung bilden. Für die Bildung eines Urteils über die Personalführung des eigenen Vorgesetzten können nur kognitive Prozesse als Erklärung fungieren. Die Grundlage eines solchen Urteils ist das Vorhandensein einer eigenen Vorstellung über Personalführung. Eine eigene Vorstellung wiederum ist in anderen Worten das Idealbild, der Prototyp, stellvertretend für eine mentale Kategorie: „Übertragen auf die Führungsthematik impliziert diese allgemeine kognitionstheoretische Überlegung, dass Geführte sogenannte prototypische Vorstellungen darüber besitzen, welche Merkmale und Verhaltensweisen vorhanden sein sollten bzw. auftreten müss5 Im Rahmen der Vorstellung der impliziten Führungstheorien im direkten Anschluss werden unter anderem die Arbeiten von Lord und Co-Autoren vorgestellt, die sich teilweise konkret auf Bildung von „Leadership Categories“, allerdings in einem horizontalen Verständnis verschiedener Führungskräfte aus unterschiedlichen Bereichen (z.B. Führungskraft in der Politik vs. Führungskraft im Unternehmen vs. Führungskraft im Militär) beziehen.
2.2 Die Bildung von Führungserwartungen durch implizite Führungstheorien 31 ten (bzw. erfahrungsgemäß vorliegen), um eine Person als Führer bzw. Führerin zu identifizieren.“ (Weibler, 2012, S. 25) An dieser Stelle nun treten die impliziten Führungstheorien in den Vordergrund und stellen die Verbindung zur Führungsforschung direkt her. Die unmittelbaren Ursprünge der impliziten Führungstheorien allerdings liegen nicht in kognitionspsychologischen Überlegungen und sind daher eher zufällig mit diesen verknüpft. Bei einer Auseinandersetzung über die Validität von Fragebögen in der Führungsforschung, führten Eden and Leviatan (1975) die Struktur einer Faktorenanalyse als ein Problem für die Validität der mittels eines solchen Fragebogens erhobenen Daten an. Die Struktur konnte äußerst stabil über einen mehrjährigen Zeitraum bei der Erhebung von Daten mittels Fragebögen zum Verhalten von Vorgesetzten ermittelt werden. Dabei argumentieren sie, dass wenn eine Faktorenstruktur im Antwortverhalten der Befragten selbst unter künstlich erzeugten Bedingungen (wie z.B. absurde Instruktionen durch die Autoren) stabil und invariant ist, dann ist dies ein Ausdruck von tieferliegenden Überzeugung, von eigenen und fest verankerten Vorstellungen der Befragten – und nicht von einer Beurteilung über die wahrgenommen Realität, welche zu erforschen die eigentliche Intention der Fragebögen gewesen ist (Eden & Leviatan, 1975, S. 738). Eden und Leviatan sprechen von dem Phänomen, dass sich ein Abbild von Führung bereits in den Köpfen befunden haben müsste (1975, S. 740). Wenn Individuen „etwas in ihren Köpfen haben“, dann liegt dieser Gedanke sehr nahe an dem, womit sich die Kognitionspsychologie beschäftigt. Die offensichtliche Verbindung wird von den Autoren aber verständlicherweise nicht aufgedeckt. Da sie sich mit der Validität von Messinstrumenten zur Führung beschäftigten, lag der Rückschluss auf Kognition nicht im Fokus ihrer Zielsetzung (Epitropaki & Martin, 2004, S. 293). Allerdings kann in der Erkenntnis von Eden und Leviatan eine Art unbewusste Initiierung der Forschung zu impliziten Führungstheorien gesehen werden, die auch später noch im Zusammenhang mit der direkten Forschung zu impliziten Führungstheorien aufgegriffen wurde (Phillips, 1984, S. 125ff.).
32 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung Implizite Führungstheorien sind deshalb in der Mehrzahl zu nennen, weil sie zwar alle die Idee einer mentalen Repräsentation oder Kategorie von Führung in den Köpfen der Geführten betiteln, die teilweise durch Prototypen wiedergespiegelt werden, diese jedoch individuell unterschiedlich ausgeprägt sein können. Die grundlegendsten Arbeiten sprechen davon, dass implizite Führungstheorien die Reflektion von Inhalt und Struktur einer mentalen Kategorisierung zwischen Führungskraft und Nicht-Führungskraft sind, wobei es sich im Allgemeinen um die führungsspezifische Anwendung einer Theorie zur Informationsverarbeitung handelt (Foti, Fraser, & Lord, 1982; Lord, Foti, & Phillips, 1982): „The central premise [...] is that perceiving someone as a leader involves a relatively simple categorization (lea- der/nonleader or leader/follower) of the stimulus person into already existing categories.“ (Lord et al., 1982, S. 104) Lord, Foti und de Vader (1984, S. 343ff.) akkreditieren der impliziten Führungstheorie vor allem drei Effekte: (1) Die Gestaltung der internen Struktur einer solchen Kategorie und der Entstehung von Prototypen, (2) die Beeinflussung von Urteilen über Führung durch eine implizite Führungstheorie auf der Ebene der Entstehung, sowie (3) den Erklärungsbeitrag von einer impliziten Führungstheorie für Führungsverständnis, Verhaltenserwartungen und Führungsattributionen einer Person. Verhaltenserwartungen stehen im Zentrum der hier zu bearbeitenden Forschungsfrage und machen implizite Führungstheorien für den theoretischen Kontext unverzichtbar. Shondrick, Dinh und Lord sprechen analog dazu bei den Effekten von kognitiven Schemata, wie eben jenen der impliziten Führungstheorie, eines Individuums von einem Set generischer Annahmen und einem Glauben darüber, was zu erwarten ist (2010, S. 961). Durch die Bildung von „Annahmen darüber, was zu erwarten ist“, baut sich eine Verbindung zur Führungsattribution als dem Kern des theoretischen Kontextes auf. Sie benutzten nämlich solche Annahmen, um beobachtetes Verhalten von Vor-
2.2 Die Bildung von Führungserwartungen durch implizite Führungstheorien 33 gesetzten zu beurteilen (siehe Abschnitt 3.3.2). Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass implizite Führungstheorien und geführtenzentrierte Attributionstheorie zwei verwandte Ansätze der Führungsforschung beschreiben. Der Verweis auf das Grundkonzept von Rosch (1978) ist in den Arbeiten zu impliziten Führungstheorien häufig zu finden. Das Prinzip der effizienten und vereinfachten Informationsverarbeitung durch Kategorien und Prototypen ist nicht nur für das Verarbeiten von Informationen nützlich, sondern auch für das Fällen von Urteilen im sozialen Kontext (Lord, 1985, S. 87ff.). Führung ist sozialer Kontext. Ein Urteil über die Führungskraft zu fällen, ist Bestandteil der geführtenzentrierten Attributionstheorie. Durch diese Verbindung wird deutlich, dass eine exakte Analyse der geführtenzentrierten Attributionstheorie Vorkenntnisse über die impliziten Führungstheorien benötigt. Ein Beispiel für eine Kategorisierung in der kognitiven Führungsforschung stellt Abbildung 1 dar. Übergeordnete Ebene Basisebene Untergeordnete Ebene Führungskraft Business Bildung Militär Liberal Politik Keine Führungskraft Religion Sport NGO Konservativ Abbildung 1: Beispielhafte Kategorisierung von Führungskräften (in Anlehnung an Lord, Foti & de Vader, 1984, S. 347). In der Kategorie der übergeordneten Ebene finden sich die Eigenschaften und Attribute wieder, die allen verschiedenen Führungskräften zuzuschreiben sind. Insgesamt sind dies nur einige wenige Attribute, die sich vor allem dadurch kennzeichnen, dass sie möglichst wenig bis gar nichts mit den Attributen der horizontal gleichwertigen Kategorie der Nicht-Führungskräfte gemeinsam haben (Lord et al., 1984, S. 347). Die übergeordnete Kategorie hat somit in erster Linie den Zweck, generell Nicht-Führungskräfte auszuschließen.
34 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung In der Arbeit von Lord, Foti und de Vader liegt die Basisebene im Zentrum der Untersuchung. In der obigen Abbildung 1 sind auf horizontaler Ebene verschiedene Kategorien von Führungskräften aus unterschiedlichen Bereichen dargestellt. Da diese Ebene tiefer und detaillierter mit Attributen versehen ist, sind auf dieser Ebene die Kategorien anhand von Prototypen repräsentiert. Die jeweiligen Attribute einer Kategorie sind durch den Prototyp dargestellt (Lord et al., 1984, S. 348). Das hier aufgezeigte Modell von Prototypen der Führung als Unterscheidung von z.B. einer politischen Führungskraft zu einer aus einem Unternehmen wird von Lord und Co-Autoren häufig verwendet (Lord et al., 1982, S. 104ff.; Lord & Maher, 1993, S. 25ff.; Lord et al., 1984, S. 347ff.). Die wichtigste Erkenntnis im Zusammenhang mit dieser Arbeit liegt in der Funktion der Prototypen. In mehreren Studien konnte nachgewiesen werden, dass Prototypen der Kategorie Führung einen entscheidenden Einfluss auf das Verständnis und das persönliche Bild von Führung sowie die damit verbundenen Verhaltenserwartungen eines Individuums haben. Im Speziellen wird dieser Einfluss auf „prototypische Stimuli“ zurückgeführt (Lord et al., 1984, S. 372). Ein wahrgenommener Reiz muss somit einem dem Prototyp zugeordneten Attribut entsprechen und als solches erkannt werden. In anderen Worten schärfen die Kategorien und Prototypen die implizite Führungstheorie eines Geführten, sodass diese einen großen Einfluss auf die Erwartungen an Personalführung haben, welche wiederum entscheidend für die Zuschreibung von Führung sein können. Die Besonderheit der Kategorisierung im Rahmen der Führung ist die Führung selbst. Führung als soziales Konstrukt ist schwer in klaren Abgrenzungen zwischen Führung und Nicht-Führung einzuteilen. Hierbei verweisen Lord, Foti und Phillips (1982, S. 108 ff.) auf den Gedanken von Rosch (1978), die in den Fällen von unklaren Grenzen die Bedeutung von Prototypen nochmals verstärkt. Analog dazu ist Führung als soziales Konstrukt durch subjektive Erfahrungen geprägt. Daher variieren, unter anderem durch unterschiedliche kulturelle Sozialisation, die Grenzen zwischen Kategorien über verschiedene Individuen hinweg unterschiedlich deutlich. Trotzdem kann man anhand von Prototypen, als Repräsentanz möglichst vieler gemeinsamer Attribute einer Kategorie, zwi-
2.2 Die Bildung von Führungserwartungen durch implizite Führungstheorien 35 schen verschiedenen führungsbezogenen Kategorien unterscheiden. Hinzu kommt eine Art natürliche Neigung von Personen, unterbewusst und automatisch in einem organisationalen Kontext zwischen „leader“ und „follower“ zu klassifizieren (Epitropaki, Sy, Martin, Tram-Quon, & Topakas, 2013, S. 1). Die Besonderheit dieses Punktes besteht in dem Gewicht welches den Prototypen zugestanden wird. Prinzipiell kann hier abgeleitet werden, dass eine Entscheidung über die Anerkennung als Führungskraft nur über die Betrachtung des Prototyps der jeweiligen Kategorie geschehen kann – nicht über einzelne Attribute, Verhaltensweisen, Stile oder Ähnliches in isolierter Betrachtung. So argumentieren auch Lord und Co-Autoren, wenn sie erklären wie eine Person einen Vorgesetzten in eine „Führungskategorie“ einteilt: „Clarity in judgements of category membership accrues from comparison to this prototype. [...] Applied to leadership, the prototypic model implies that categorization involves the comparison of a stimulus person to a leadership prototype.“ (Lord et al., 1982, S. 112) Prototypen von mentalen Kategorisierungen im Rahmen der impliziten Führungstheorien sind somit als eine Art Heuristik für das Erkennen und Zuschreiben von Führung zu verstehen. Auch wenn die mentalen Repräsentanzen der verschiedenen Ebenen von Führungskategorien (siehe Abbildung 1) nicht immer exakt anhand ihrer Grenzen beschrieben und verstanden werden können, so können sie doch mit Hilfe ihrer „Mitte“, dem Prototypen, verdeutlicht und zur Einteilung und Beurteilung von Stimuli genutzt werden (Medvedeff & Lord, 2007, S. 19ff.). Vor allem vor dem Hintergrund der (Weiter-)Entwicklung der Kategorisierung von Führung in den Gedanken der Geführten ist es wichtig, den Begriff des Prototyps noch einmal zu schärfen. Lord und Maher (1993, S. 43 ff.) verweisen wiederum auf Rosch (1978) und beschreiben die Entwicklung von Kategorien und Prototypen als auf Erfahrungen mit Beispielen basierend. So würde jemand
36 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung mit überhaupt keiner Erfahrung mit militärischen Führungskräften seine Kategorie aufgrund eines ihm oder ihr bekannten Beispiels (wie z.B. General Eisenhower) aufstellen. Sobald konkrete eigene Erfahrungen mit militärischen Führungskräften hinzukämen, bildet sich die Kategorie breiter aus und bewegt sich von dem personenbasierten Beispiel weg hinzu einer allgemeineren und abstrakteren Repräsentanz in Form eines Prototyps (Lord & Maher, 1993, S. 43). Hieran lässt sich ein sehr wichtiges Charakteristikum eines Prototyps in der impliziten Führungstheorie eines Individuums erkennen: Prototypen sind abstrakte, allgemeine Ansammlungen der kategorierepräsentativen Attribute – sie sind keine konkreten Beispiele aus der realen Welt. Daher sind Prototypen in der impliziten Führungstheorie eher gleichzusetzen mit einem mentalen Ideal und nicht mit einem konkreten Vorbild: „ ... inconsistencies may result in the individual being labeled as a leader, but with an reduced degeree of fit. Thus, the boundaries of schemas can be unclear, with several instances (or specific examples) of the leader category having an imperfect fit. However the center (i.e., the prototype) is well-defined. [...] For example, several business leaders may each have some unique attributes, but they all can be easily recognized as business leaders because they are similar to a business leader prototype.“ (Shondrick et al., 2010, S. 962) Die implizite Führungstheorie eines Geführten gibt somit durch den Prototyp der relevanten Führungskräftekategorie den Bezugspunkt vor, dem der oder die Vorgesetzte bis zu einem gewissen Mindestmaß möglichst nahekommen muss, um als Führungsperson akzeptiert zu werden (Quaquebeke, Graf, & Eckloff, 2014, S. 191ff.). Hierarchisch lassen sich die Begriffe nun so einordnen, dass es pro Person eine individuelle implizite Führungstheorie gibt, die verschiedene Kategorien von Führung entwickeln, die wiederum jeweils von einem Prototyp repräsentiert werden.
2.2 Die Bildung von Führungserwartungen durch implizite Führungstheorien 37 In diesem Zusammenhang haben Epitropaki und Martin (2004, S. 295ff.; 2005, S. 659ff.) mehrfach untersucht, ob und inwiefern implizite Führungstheorien mit ihren Kategorien und Prototypen über die Zeit und verschiedene Gruppen von Individuen hinweg stabil sind. Einflüsse von Zeit und Kontext auf die impliziten Führungstheorien sind zuvor bereits diskutiert und vermutet worden (Offermann, Kennedy Jr, & Wirtz, 1994, S. 45; Rush & Russell, 1988, S. 88ff.). Festgestellte Unterschiede gab es in der Untersuchung von Epitropaki und Martin (in einzelnen Dimensionen) nicht nur zwischen Männern und Frauen als klassische Genderunterscheidung, sondern auch zwischen „normalen“ Geführten und solchen, die bereits selbst eine Führungsrolle innehatten. Weiterhin gab es vereinzelte Unterschiede zwischen Angestellten in der Produktion gegenüber solchen im Service oder auch zwischen Verkaufspersonal und solchen Mitarbeitern ohne Kundenkontakt. Obwohl im Vorhinein vermutet, ließen sich keine Unterschiede im Zeitverlauf oder anhand der Länge der Zugehörigkeit zu der Organisation feststellen. Allerdings beschränkte sich der Untersuchungszeitraum auf ein Jahr, sodass eine Entwicklung über mehrere Jahre nicht komplett ausgeschlossen werden kann (Epitropaki & Martin, 2004, S. 302 ff.). In einer Folgestudie konnten die Autoren aufzeigen, dass die alltägliche Interaktion mit der Führungskraft über ein Jahr hinweg zwar keine Veränderung in der Kategorisierung von Führung hervorgerufen hat, jedoch die Qualität der Führungsbeziehung stark abhängig von dem Ergebnis des Abgleichs zwischen der erlebten Führungskraft und dem Prototyp der entsprechenden Führungskategorisierung des Geführten war. Nichtsdestotrotz weisen die Ergebnisse auf eine wenigstens in Teilen vorhandene Kontextsensitivität von impliziten Führungstheorien hin: „Therefore, not only do followers possess multiple representations of a leader, but these prototypes are contextually sensitive, becoming more or less salient under different contexts, amd implying different patterns of behaviors or characteristics.“ (Epitropaki & Martin, 2005, S. 673)
38 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung Diese Erkenntnis gilt es bei der Analyse von Erwartungen an Personalführung zu beachten. Auch wenn die Kontextvariationen bei den Arbeiten von Lord und Co-Autoren in erster Linie abstrakter definiert werden (zum Beispiel zwischen religiösem und politischem Kontext), ist dennoch oben auf feinere Unterschiede zwischen Gruppen innerhalb eines Unternehmens hingewiesen worden. Im Zusammenhang mit der festgestellten geringen Veränderung einer impliziten Führungstheorie über die Zeit und einer gewissen Kontextabhängigkeit erscheint ein Forschungsergebnis besonders interessant: Scheinbar spielen die Eltern einer Person bei der Bildung eine wichtige Rolle der impliziten Führungstheorie einer Person. Das Vorhandensein und die Ausprägung von bestimmten Eigenschaften der Eltern (wie z.B.: manipulativ oder sensibel) steigerte die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der gleichen Eigenschaften im Prototypen der impliziten Führungstheorie signifikant (Shondrick et al., 2010, S. 962). An dieser Stelle lassen sich einige der angeführten Erkenntnisse verbinden: Der Prototyp einer impliziten Führungstheorie ist (generell) kein konkretes persönliches Vorbild. Es gibt aber prägende Einflüsse durch reale Beispiele auf den Prototypen, welche die prototypischen Attribute teilweise definieren. Ein solches Attribut kann im Laufe der Zeit isoliert betrachtet sehr stabil sein, die Gesamtheit der Attribute des Prototyps jedoch sind scheinbar kontextsensitiv, sodass die Zentralität des Prototyps innerhalb der Kategorie sichergestellt bleibt. Die bisher dargestellten Punkte zu den impliziten Führungstheorien bilden die ursprüngliche Basis dieser Perspektive. Medvedeff und Lord beschreiben diese Grundlage als tendenziell automatisch und verbunden mit Vorwissen (Keller, 1999, S. 589 ff.). Als mittlerweile ebenso bedeutsamen Aspekt nennen sie den Prozess der Bildung einer impliziten Führungstheorie durch den Rückschluss von beobachtetem Verhalten der Führungskraft und der herstellbaren Verknüpfung zu organisationalem Erfolg. In diesem Punkt ist eine implizite Führungstheorie sehr eng mit der geführtenzentrierten Attributionstheorie verwandt und in gewisser Form ein Teil dieser Theorie (mehr hierzu siehe Abschnitt 2.3.1). Weiterhin konnten Zusammenhänge zwischen der Selbstidentität von Geführten und ihrer individuellen impliziten Führungstheorie aufgezeigt werden (2007, S.
2.3 Die rollentheoretische Perspektive auf Führungserwartungen 39 25). Lord, Foti und de Vader sprechen direkt davon, dass es eine Folge von Prototypen in der impliziten Führungstheorie ist, dass ein Vorgesetzter nicht als Führungskraft wahrgenommen werden kann (MacDonald, Sulsky, & Brown, 2008, S. 334ff.; B. Schyns & Felfe, 2006). In diesem Zusammenhang postulierten sie die Notwendigkeit vertiefter Untersuchungen: „Leadership perceptions also need to be more thoroughly investigated. [...]Behavioral ratings and expectations for actual leadership behavior should be further investigated [Hervorhebungen durch den Verfasser], but we should also explore the impact of prototypicality on the acceptance of leader behavior by others.“ (1984, S. 375) In diesem Zitat hervorgehoben ist die Aufforderung, dass Erwartungen an Führungsverhalten weiter untersucht werden müssen. Prinzipiell greift diese Promotionsarbeit diese Aufforderung auf. Der Beitrag der impliziten Führungstheorien für die theoretische Fundierung dieser Arbeit ist in diesem Abschnitt aufgezeigt worden. Dennoch muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass Erwartungen auch in diesem kognitiv orientierten Ansatz nicht differenziert nach ihrer Art oder Wirkung betrachtet werden. Der Wert der impliziten Führungstheorien liegt aber in der Beschreibung wie sich Erwartungen anhand der Prototypen von Führung entwickeln. Als nächstes muss nun die Verwendung dieser Erwartungen diskutiert werden. Einen ersten grundlegenden Beitrag liefert hierzu im folgenden Abschnitt die rollen-/austauschtheoretische Perspektive des leadermember exchange (LMX). 2.3 Die rollentheoretische Perspektive auf Führungserwartungen Die dyadische „leader-member exchange theory“ (LMX) als Oberbegriff und Ausgangsbasis steht für die grundsätzliche theoretische Strömung der Rollen-
40 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung /Austauschtheorien6. LMX steht deswegen repräsentativ für sowohl eine Austausch- als auch eine Rollentheorie, da es sich um ein Austauschmodell der beiden Rollen der Führungskraft und des Geführten in der Führungsbeziehung handelt. Außerdem sind die Ursprünge der aktuellen LMX-Forschung mit dem Schwerpunkt auf austauschtheoretischen Aspekten in rollentheoretischen Überlegungen zu finden. Da Rollen automatisch Rollenerwartungen aktivieren (Abschnitt 2.1), ist die rollentheoretische Perspektive dieses Theoriegebildes für diese Arbeit besonders interessant. Der dyadische Charakter der Führungsbeziehung steht im Zentrum der Untersuchung. Die Ursprünge von LMX gehen auf Graen und Uhl-Bien zurück (Graen & Uhl-Bien, 1995, S. 219ff.). Es werden nun nicht bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen (bzw. Stile) in einem Modell führerzentriert verglichen oder empfohlen, sondern es stehen die interpersonellen und sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz im Vordergrund. Für jeden einzelnen Geführten kann eine eigene Austauschbeziehung mit der Führungskraft in ihrer Entwicklung über die Zeit betrachtet werden (Yukl, 2013, S. 222). In diesem Zusammenhang bauen Führungskräfte zwangsläufig qualitativ unterschiedliche Beziehungen zu den verschiedenen Geführten auf. Damit ist ein unterschiedlich hoher zeitlicher Aufwand verbunden, sowie mehr oder weniger Ressourceneinsatz und Unterstützung. In Konsequenz dieser Unterteilung führt diese Entwicklung zu „highexchange“ und „low-exchange“ Beziehungen (Graen & Uhl-Bien, 1995, S. 219ff.; Nahrgang, Morgeson, & Ilies, 2009, S. 257). Erstere Beziehungen sind in der Unterzahl und beziehen sich auf eng vertraute Mitarbeiter, die eine mit Assistenten vergleichbare Rolle einnehmen. Dieser Austausch ist gekennzeichnet durch „[...] such things as assignment to interesting and desirable tasks, delegation of higher responsibility and authority, more sharing of information, participation in making some of the leader’s decisi6 Von nun an wird der Begriff der Austauschtheorien synonym für Austausch-/Rollentheorien verwendet.
2.3 Die rollentheoretische Perspektive auf Führungserwartungen 41 ons, tangible rewards such as a pay increase [...], personal support and approval, and facilitation of the subordinate’s career.” (Yukl, 2013, S. 222) Da es sich um eine Austauschbeziehung handelt, suggeriert die LMX-Theorie für eine privilegierte Behandlung des Geführten im Rahmen der „highexchange“ Beziehungen aber auch entsprechende Gegenleistungen. Somit wird in diesem Zusammenhang von dem Geführten ein höheres Engagement und härteres Arbeiten erwartet sowie eine konkrete Unterstützung der Führungskraft bei gleichzeitig hoher Loyalität (Yukl, 2013, S. 222). Die mehrheitlichen Beziehungen zwischen der Führungskraft und den Geführten sind nun durch die weniger intensiven Eigenschaften („low-exchange“) gekennzeichnet. Diese sind durch das einfache Erfüllen der Rollenerwartungen geprägt, sodass die Mitarbeiter ihre Aufgaben und Pflichten erwartungsgerecht und angemessen erfüllen. Gleichzeitig beschränkt sich die Führungskraft auf ihre richtungsweisende Funktion und die Sicherstellung der adäquaten Belohnung und Entlohnung. Dabei befinden sich beide Seiten zu Beginn der Beziehungen in einer anfänglichen Testphase auf einem gleichen Niveau und nur wenige heben sich im Laufe der Zeit durch gegenseitige Anerkennung und Schätzung auf eine weitere zweite oder dritte Stufe („high-exchange“). Die Häufigkeit des Austausches zwischen beiden Seiten erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, mit der eine höhere Qualität der Beziehung erreicht werden kann (Walumbwa et al., 2011, S. 205). Innerhalb dieser Differenzierung zwischen „high-exchange“ und „low-exchange“ Beziehungen (auch In-Group und OutGroup genannt) hat sich in den letzten Jahren der Schwerpunkt von LMXtheoretischen Forschungen auf die Möglichkeiten konzentriert die Dyaden zwischen Führungskraft und Mitarbeiter auf das Level einer In-Group zu heben. Damit wurde ein Wechsel von einer deskriptiven Forschung hin zu einer normativen Perspektive vollzogen (Graen & Uhl-Bien, 1995, S. 225; Birgit Schyns & Day, 2010, S. 3ff.; Weibler, 2012, S. 167). Dieser Aspekt leitet über zu der Beurteilung der Eignung von LMX-Theorien als Analysewerkzeug von Erwar-
42 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung tungen in der Führungsbeziehung. Die jüngeren Entwicklungen in Richtung eines präskiptiv/normativen Theorieansatzes sind nicht mit dem deskriptiven Forschungszweck dieser Arbeit vereinbar. Trotzdem ist die generelle Einbindung des Erwartungsbegriffes positiv zu würdigen. Die Erwartungen der Mitarbeiter an die Führung des Vorgesetzten und die Führungsbeziehung selbst, spielen in der LMX-Forschung (und damit in der Austausch-/Rollentheorie insgesamt) eine weitaus größere Rolle als es bei der führerzentrierten Forschung der Fall ist (Klaußner, 2011, S. 140). Vor der Entscheidung über die Zugehörigkeit einer Führungsdyade zu der In- oder OutGroup erfolgt ein (teilweise unbewusster) Austausch von Erwartungen, um eine Orientierung für die Zugehörigkeit zu bekommen (Graen & Uhl-Bien, 1995, S. 219). An dieser Stelle werden in den theoretischen Überlegungen Erwartungen an Führung erfasst. Sie stellen eine Art Verhandlungsgut dar, mittels dessen die an der Führungsdyade beteiligten Personen die mögliche Qualität ihrer gerade beginnenden Beziehung ausloten. Grundsätzlich ist dieser Gedanke kompatibel mit dem in Abschnitt 2.1 vordefinierten Erwartungsbegriff als Erwartungen an eine soziale Rolle. Damit wäre auf den ersten Blick eine Eignung für die Untersuchung von Erwartungen an Personalführung gegeben. Jedoch kann die LMXForschung das Phänomen der Erwartungen – insbesondere das Wirken von erfüllten oder enttäuschten Erwartungen – nicht tiefer analysieren. Sie bleibt an dem Punkt stehen, dass die Erwartungen benutzt werden, um die zukünftige Führungsbeziehung abzuschätzen. Für die LMX-Theorien bildet der Abgleich von Erwartungen nur eine Art Ausgangspunkt, an dem die eigentliche austauschtheoretische Untersuchung erst beginnt. Im Anschluss an den Austausch von Erwartungen bilden sich In- und Out-Groups heraus, welche dann von der LMX-Forschung untersucht werden. Insbesondere würde im LMX-Verständnis eine Führungsbeziehung immer funktionieren. Sie wird als funktionierend vorausgesetzt, der Führungskraft wird grundsätzlich immer Führung zugeschrieben. Ein Scheitern der Beziehung ist nicht möglich, es handelt sich nur um eine Differenzierung des Qualitätsniveaus der Beziehung (Klaußner, 2011, S. 141). Diese Annahme ist mit der Zielsetzung der Arbeit nicht vereinbar. Eine präzise
2.3 Die rollentheoretische Perspektive auf Führungserwartungen 43 und umfassende Analyse von (enttäuschten) Erwartungen und deren Wirkungen benötigt aber ein theoretisches Werkzeug, welches den Begriff „Erwartungen“ und das damit verbundene Phänomen möglichst weit in das Zentrum der Theorie rückt und vor allem unvoreingenommen kein mögliches Ergebnis einer Erwartungsenttäuschung als Annahme ex ante ausschließt. Eine nicht funktionierende Führungsbeziehung als mögliches Ergebnis verweigerter Führungszuschreibung aufgrund möglicherweise enttäuschter Erwartungen ist in der LMXTheorie nicht nur nicht erfasst, sondern im gedanklichen Modell gänzlich ausgeschlossen. Werden die Effekte von In-Group Beziehungen oder der Aufbau von In-Group Beziehungen untersucht, dann bietet diese Perspektive keine Grundlage für einen direkten logischen Erklärungsrückschluss auf die Funktion von Erwartungen selbst. Es bedarf jedoch in dieser Arbeit eines Zugangs, der die Grundlage für eine Entstehung von Erwartungen bietet und darauf aufbauend den Punkt des Auftretens von Erwartungen konzentriert und zentral lokalisieren kann. Wirft man den Blick noch weiter zurück auf die Anfänge und Ursprünge der LMX-Forschung, nämlich auf die reinen Rollenmodelle der Führung, die sich erst im Laufe der Zeit hin zu Austauschmodellen wie die LMX-Theorie entwickelt haben, so stellt sich ein ähnliches Bild dar. Untersuchungsobjekt einer Rollentheorie der Führung ist die Ausbildung der Rolle der Führungskraft und des Geführten innerhalb der Führungsbeziehung. So beschreiben unter anderem Graen und Cashman ihre Rollentheorie unter einem „developmental approach“ (1975, S. 143f.). Der Begriff der Entwicklung bezieht sich dabei auf die Einund Annahme von Rollen in Organisation überhaupt als allgemeine Grundlage, um dann nachgelagert den Spezialfall der Führungsdyade zu analysieren. Bei dieser Rollenentwicklung wurden auch Erwartungen an eine Rolle als fester Bestandteil eines „role-making models“ (Katz, 1966, S. 1ff.) formuliert – allerdings im Bezug auf Führung nur im Sinne von Erwartungen einer Führungskraft an Mitarbeiter. Im Grunde stellt dieser Aspekt einen der Grundpfeiler der frühen rollentheoretischen Forschung dar, den die Austauschtheorien als Weiterentwicklung behalten haben. Denn auch innerhalb der LMX-Theorie dominieren
44 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung die Erwartungen der Führungskräfte. Die Hauptinitiative und Entscheidung des Aufbauens einer In-Group („high-exchange“ Beziehung) liegt auf der Seite der Führungskraft, sodass prinzipiell in erster Linie ihre Erwartungen entscheidend sind. In gewisser Weise liegt hier im Zusammenhang mit Erwartungen wieder eine Art Führerzentrierung vor, sodass auch ein rollentheoretischer Zugang zu der Fragestellung in diesem Rahmen alleine als nicht geeignet beurteilt werden muss. Nichtsdestotrotz kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass rollenbasierte Theorien einen ersten Bezugs- oder Ankerpunkt zu dem theoretischen Rahmen dieser Arbeit darstellen: Der „role-making“-Prozess als Bestandteil des Zustandekommens der dyadischen Führungsbeziehung basiert auf einem Austausch von Erwartungen an die gegenseitige Rolle (Uhl-Bien, Graen, & Scandura, 2000, S. 146ff.), aus dem die Bildung der interpersonalen Beziehung zwischen Führungskraft und Geführtem hervorgeht. Dieser Ansatz ist auch insofern konsistent mit dem bereits in Abschnitt 2.1 gewählten Erwartungsbegriff als unter anderem Verhaltenserwartungen an eine Rolle definiert wurden. Diese Verhaltenserwartungen werden im Sinne der Austauschtheorien wortwörtlich „ausgetauscht“, sodass sich eine „high-“ oder „low-exchange“ Beziehung entwickeln kann. Innerhalb dieser Perspektive ist es aber nicht möglich, die Erwartungsenttäuschung von Geführten zu erklären und ihnen eine Position in einem Wirkungszusammenhang zuzuweisen. Mit der Entwicklung des Followership ist eine noch relativ junge Tendenz zu erkennen, die mit den rollentheoretischen Aspekten des LMX eng verwandt ist. Sie kann als alternative Weiterentwicklung mit starker Geführtenzentrierung verstanden werden (Baker, 2007, S. 50ff.; Carsten, Uhl-Bien, West, Patera, & McGregor, 2010, S. 543ff.). Unter diesem Begriff verbirgt sich die Konzentration der Forschung auf die Einnahme von verschiedenen Rollenvariationen von Geführten innerhalb der Führungsbeziehung mit unterschiedlichen Verhaltensmustern. Untersucht worden sind in diesem Zusammenhang beispielsweise die Effekte von einem passiven versus eines proaktiven „Geführtenstils“, welche wiederum bestimmte Wechselwirkungen mit Führungsstilen oder Kontextvariablen innerhalb der Gruppe (z.B. Abteilung) hervorrufen konnten (Carsten et al.,
2.3 Die rollentheoretische Perspektive auf Führungserwartungen 45 2010, S. 556ff.). In einem umfassenden Review der Publikationen zum Thema „Followership“ haben Uhl-Bien und Co-Autoren (Uhl-Bien wiederum als Pionierin der LMX-Forschung) die bis dato geringe Aufmerksamkeit der Forschung zu diesem Thema betont (Uhl-Bien, Riggio, Lowe, & Carsten, 2014, S. 83ff.). Grundsätzlich suggerieren die Autoren zwei unterschiedliche Auffassungen der Perspektive des Followerships: „Whereas role-based views investigate followership as a role and a set of behaviours or behavioral styles of individual groups, constructionist views study followership as a social process necessarily intertwined with leadership.“ (Uhl-Bien et al., 2014, S. 89) Die zuerst angesprochenen rollenbasierten Sichtweisen sind dabei als direkte Spiegelung der führerzentrierten Forschung zu verstehen. Diesem Ansatz folgend werden unter dem Followership Theorien und Konzepte subsumiert, die isoliert Verhaltensweisen und Eigenschaften von Geführten thematisieren. Insbesondere sind dabei die Einflüsse von Verhaltensweisen und Eigenschaften der Geführten als Einflussfaktoren auf das Verhalten von Führungskräften Gegenstand einiger Untersuchungen. Dabei konzentrieren sich die Ansätze aber hauptsächlich auf die Verhaltensebene, während von Erwartungen oder dem Abgleich von Erwartungen keine Rede ist (Uhl-Bien et al., 2014, S. 89). Followership leistet somit den Mehrwert, den Fokus innerhalb von Führung auf aktive und eigenständige Entscheidungen, Handlungen, Eigenschaften und Einflussfaktoren von Geführten zu legen (Oc & Bashshur, 2013, S. 920). Der zweite angesprochene Ansatz der konstruktivistischen Sichtweisen behandelt Followership als das notwendige Gegenstück von Führung, im Sinne von gleichwertig bedeutsamen Bestandteilen einer sozialen Interaktionskonstruktion. Diesem Ansatz folgend kann Führung nicht ohne Followership bestehen und umgekehrt. Der wichtige Beitrag dieser Sichtweise liegt in der Abhängigkeit von Führung gegenüber den Geführten, da Führung eben auch gewisse „Geführ-
46 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung ten-Verhaltensweisen“ benötigt (Uhl-Bien et al., 2014, S. 89). In diesem Zusammenhang wird auch der unterschiedlich starke Einfluss auf Führung durch verschiedene Geführtentypen diskutiert (Oc & Bashshur, 2013, S. 921). Mit der rollentheoretischen Perspektiverweiterung des Followerships steht ein Ansatz zur Verfügung, der einzig aus der Perspektive der Geführten argumentiert beziehungsweise Zusammenhänge postuliert. In gewisser Weise wurde durch diese Weiterentwicklung der Kritik an der Führerzentrierung am LMX entsprochen. Weiterhin befasst sich das Followerships dadurch auch mit der Verhaltensebene auf Seiten der Mitarbeiter. Die oben angeführten konkreten Strömungsrichtungen sind in ihrer schwerpunktmäßigen Ausrichtung direkt nicht weiter für die Forschungsfrage der Arbeit relevant. Wenn aber oben die Rede von Handlungen und Eigenschaften von Geführten ist, welche bestimmte Einflüsse auf die Führungskraft haben, dann ist das unmittelbar kompatibel mit den in dieser Arbeit gesuchten Handlungskonsequenzen von enttäuschten Mitarbeitererwartungen. Allerdings fällt bei dieser Schlussfolgerung unmittelbar auf, dass eben die Erwartungen der Mitarbeiter selbst im Followership bisher keine Verortung gefunden und daher weder in ihrer Entstehung noch Verwendung in den Erklärungszusammenhängen des Followerships eine Berücksichtigung erfahren haben. Die Frage nach den Handlungskonsequenzen von Erwartungsenttäuschungen können die Perspektiven des Followerships nicht aufgreifen. 2.4 Entstehung und Konsequenzen enttäuschter Führungserwartungen in der Führungsattribution Ausgehend von der Wahrnehmung der Geführten und vor dem Hintergrund ihrer eigenen impliziten Führungstheorie stellt die geführtenzentrierte Attributionstheorie den kognitiven Prozess der Führungszuschreibung und damit auch der Urteilsfällung über das „Führungskraft sein oder nicht“ dar. Dabei ist es wichtig, zwischen der funktionalen Stelle eines Vorgesetzten und der persönlichen Anerkennung als Führungspersönlichkeit zu unterscheiden (Lord et al., 1984, S. 375). Die formale Verfügungsmacht, die mit einer Instanz verbunden
2.4 Entstehung und Konsequenzen enttäuschter Führungserwartungen in der Führungsattribution 47 ist (beispielsweise ein Abteilungsleiter), bedarf per se keiner Attribution durch die in dieser Organisation definierten und unterstellten Stellen mit den jeweiligen Inhabern. Die Weisungsbefugnis ist generell durch die Organisationsstruktur geregelt und steht in der tagtäglichen Führungsbeziehung nicht zur Disposition. Jedoch regelt diese offizielle Rollenzuweisung nur die Zuständigkeit, aber nicht die konkrete Ausführung. Die Personalführung hingegen ist zwar auch eine Aufgabe von Vorgesetzten, jedoch ist sie nur indirekt mit der Aufgabenerfüllung verbunden. In ihr kommt das Element der sozialen Einflussnahme der Führung besonders zum Tragen. Aus diesem Grund benötigt eine Führungskraft die Anerkennung und Attribution von Führung durch die Geführten. Wie bereits oben diskutiert, bildet der Ansatz der kognitiven, geführtenzentrierten Führungsforschung den zentralen Fokus dieser Arbeit. In der Forschungsfrage ist der Bezug zur Attribution direkt enthalten. Die Wirkungen von enttäuschten Erwartungen und deren Handlungskonsequenzen stehen unmittelbar vor dem Hintergrund der Attribution von Führung. Aus diesem Grund werden in diesem Abschnitt zuerst die grundsätzlichen Gedanken der Attributionstheorie skizziert und im Rahmen von Führung diskutiert. Daran anschließend wird die geführtenzentrierte Attribtutionstheorie nach Calder vorgestellt und auch problematisiert, da sie den Erwartungen an Personalführung eine zentrale Rolle im Rahmen der Führungszuschreibung durch die Geführten zuteilt. Nur durch diesen Ansatz kann die Konstellation einer Erwartungsenttäuschung präzise herausgearbeitet und erklärt werden. 2.4.1 Attributionstheoretische Grundlagen Attribution als Begriff steht vereinfacht für Ursachenzuschreibung und wird beispielsweise von Weibler (2012, S. 119) als eine kognitive sozialpsychologische Theorie charakterisiert. Damit passt sie grundsätzlich zu den in dieser Arbeit fokussierten kognitiven Prozessen. Eine Person verortet dabei für bestimmte beobachtete Geschehnisse eine hervorrufende Ursache, da sie nach Hinweisen für Erklärungen sucht. Sie vollzieht sozusagen einen Rückschluss auf einen spezifischen Ursachenhintergrund. Dieser subjektive Mechanismus basiert auf
48 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung Heiders Idee der naiven Psychologie (1958, S. 79ff.). Damit ist die Situation gemeint, in der eine nicht psychologisch geschulte Person aus beispielsweise beobachteten Ereignissen oder Verhaltensweisen einen Rückschluss auf die Eigenschaften der handelnden oder reagierenden Person macht. Eine substantielle Weiterentwicklung widerfuhr der Attributionstheorie durch die Arbeiten von Kelley (1967, 1973, 1979). Auf Basis eines Kovariationsprinzips argumentiert Kelley, dass Personen Ursache und Wirkung nach einer Beobachtung über die Zeit hinweg dann miteinander in Verbindung setzen, wenn diese parallel auftreten (1973, S. 108). So könnte beispielsweise ein organisationales Ereignis immer dann auftreten, wenn ein Mitarbeiter auch bestimmtes Verhalten der Führungskraft regelmäßig in diesem Zusammenhang wahrgenommen hat. Dadurch würde der Mitarbeiter unter bestimmten Umständen die Ursachenzuschreibung auf die Führungskraft leisten und eventuell darüber hinaus noch bestimmte Eigenschaften bei dieser vermuten. Die Beobachtungen können sich auch auf sich selbst beziehen, um bei sich selbst Attributionen durchzuführen. Im Rahmen dieser Arbeit steht aber die Beobachtung einer anderen Person (der Führungskraft) im Vordergrund, sodass von nun an mit der fokalen oder der beobachteten Person die Führungskraft gemeint ist. Nach Kelley existieren dabei drei verschiedene Arten von Informationen, die in Kombination zu drei unterschiedlichen Klassen von Attributionen führen können, welche auch in aktuellen Publikationen häufig Verwendung finden (Eberly, Holley, Johnson, & Mitchell, 2011, S. 733ff.; Harvey, Madison, Martinko, Crook, & Crook, 2014, S. 129). Die drei Kategorien oder Klassen, die für eine Attribution entscheidend sind, nennt Kelley „person“, „entity“ und „situation“. „Person“ steht für die fokussierte Person, dessen Verhalten oder Reaktionen beobachtet werden und für jene die Ursache gesucht wird. Im Beispiel dieser Arbeit wäre dies stets die Führungskraft. Der Begriff der „entity“ (oder Entität) sind Objekte, auf die sich das Verhalten oder die Reaktion der beobachteten Person beziehen. Dies sind in erster Linie Personen, aber auch Unternehmen oder Aufgaben. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist die Entität der Geführte. Die dritte Klasse „situation“
2.4 Entstehung und Konsequenzen enttäuschter Führungserwartungen in der Führungsattribution 49 steht für bestimmte Situationsbedingungen, wie zum Beispiel eine Krise im Unternehmen oder Ähnliches. Somit kann ein Geführter als Beobachter die Ursachen für das Verhalten der fokalen Person Führungskraft entweder auf (1) sich selbst (Attribution auf die Entität), auf (2) die Führungskraft (Attribution auf die Person), oder auf (3) besondere Umstände (Attribution auf die Situation) zuschreiben. Entscheidend hierfür ist die Einschätzung der Informationsarten. Die drei Arten von Informationen werden „consensus“, „consistency“ und „distinctiveness“ bezeichnet (Martinko & Thomson, 1998, S. 273; Weibler, 2012, S. 120). „Consensus“ bezieht sich nun als Informationsinhalt auf die Frage nach dem Konsens im Bezug auf die beobachtete Person. Im Fokus steht, ob vergleichbare Personen in der Situation sich nach einem ähnlichen Muster oder Art und Weise verhalten hätten. Wenn sich alle vergleichbaren Personen immer einheitlich verhalten, dann ist der „consensus“ hoch. Verhält sich nur die beobachtete Person so, ist der „consensus“ niedrig. Im Beispiel dieser Arbeit ist dieser Art der Information wohl die bedeutendste Rolle zuzugestehen: Ein Mitarbeiter beobachtet seine Führungskraft und untersucht, ob sich grundsätzlich alle vergleichbaren Führungskräfte so verhalten (beziehungsweise vermutlich eher ob sich der Prototyp der eigenen impliziten Führungstheorie so verhalten würde7). Trifft dies zu, wäre der „consensus“ als hoch gewertet. Zusätzlich wird „consistency“ als Information genutzt, welche sich auf den Aspekt der Zeit bezieht. Ist das beobachtete Verhalten oder die Reaktion für die Person typisch und häufig im Bezug auf die Entität und über die Zeit hinweg stabil, so ist die „consistency“ hoch. Handelt es sich um ein einmaliges und ungewöhnliches Verhalten, ist die „consistency“ niedrig. Beobachtet der Geführte nun das Verhalten der Führungskraft in Bezug auf sich selbst (die Entität) unterschiedlich an verschiedenen Tagen, so wäre die „consistency“ niedrig. 7 Dieser wichtige Aspekt wird an dieser Stelle nur als Beispiel angeführt. Die Rolle der impliziten Führungstheorie im Zusammenhang mit der Informationsart des Konsensus wird sowohl in Abschnitt 2.4.2 (geführtenzentrierte Attributionstheorie) als auch in der Diskussion der Ergebnisse (Abschnitt 4.1) noch näher behandelt werden.
50 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung Die dritte Informationsart der „distinctiveness“ beschreibt, ob es sich um eine Besonderheit im Bezug auf unterschiedliche Entitäten handelt. Ist die Reaktion oder das Verhalten nur im Bezug auf eine Entität zu verzeichnen, so ist die „distinctiveness“ hoch. Tritt die Wahrnehmung bei allen möglichen Entitäten auf, so ist „distinctiveness“ niedrig. Würde somit ein Geführter das Verhalten einer Führungskraft nur bei sich selbst in dieser Art wahrnehmen, aber bei anderen Geführten der selben Führungskraft andere Reaktionen und Verhaltensweisen beobachten, dann wäre die „distinctiveness“ hoch. Abbildung 2 fasst die jeweils drei Attributionsklassen und Informationsarten noch einmal zusammen. Klassen  „person“   „entity“   „situation“  Fokale Person, deren Verhalten oder Reaktionen beobachtet werden Bezug zu „entity“ Bezugsobjekt der Handlung oder Reaktion z.B. andere Personen, Unternehmen, Aufgaben Rahmengebende Umweltzustände und Einflüsse Beeinflussen „person“ und „entity“ Informationsarten  „consensus“   „consistency“  Verhalten sich vergleichbare Personen der Entität gegenüber genauso oder anders? Ja = hoch; Nein = niedrig Ist das Verhalten gegenüber ein und derselben Entität über Zeit und Situation hinweg konstant? Ja = hoch; Nein = niedrig  Verhält sich die Person bei anderen Entitäten anders?  Ja = hoch; Nein = niedrig „distinctiveness“ Abbildung 2: Die Elemente der grundlegenden Attributionstheorie nach Kelley (1973) Je nach der Ausprägung zwischen den dichotomen Optionen „hoch“ oder „niedrig“, sind Konstellation zu beschreiben, nach denen eine Attribution entweder auf „person“, „entity“ oder „situation“ gewählt wird. Je nach Informationslage („consensus“, „consistency“ und „distinctiveness“) wird somit entweder die beobachtete Person selbst, die Entität auf die die Person ihr Verhalten bezieht, oder aber ein bestimmter Umweltzustand für die Ursache des wahrgenommenen Verhaltens der fokalen Person verantwortlich gemacht. Bevor die Analysen von Kelley konkreter vor dem Hintergrund dieser Arbeit diskutiert werden sollen, muss noch ein weiterer grundlegender Ansatz der Attributionsforschung vorgestellt werden, da es Ansätze gibt, die beide integrieren und es somit sinnvoller ist ganzheitlich auf dieser kombinierten Ebene zu diskutieren.
2.4 Entstehung und Konsequenzen enttäuschter Führungserwartungen in der Führungsattribution 51 Der weitere elementare Bestandteil der Grundätze der Attributionstheorie geht auf Weiner (1985, 1986; Weiner et al., 1971) zurück. Seine Betrachtungsweise bezieht sich auf die Frage, welche verhaltens- und motivationstheoretischen Konsequenzen eine Attribution nach sich ziehen kann. Dazu unterscheidet auch er verschiedene Dimensionen der Attribution. Die erste bezieht sich auf den „locus of causality“, repräsentativ für die Verortung der Ursache. Hierzu unterscheidet er zwischen internen Ursachen, also innerhalb der beobachteten Person selbst, oder externen Ursachen wie der Umwelt oder anderen äußeren Einflüssen auf die Person. Außerdem unterscheidet er (ähnlich wie bei Kelleys „consistency“) in der „stability dimension“ zwischen einmaligen oder dauerhaften Ursachen. Im Gegensatz zu Kelley bedeutet dieser Begriff kein konsistentes Verhalten gegenüber der einen Entität, sondern ob die Ursache generell eine Ausnahme darstellt oder permanent vorliegt. Eine dritte Dimension ist durch die „globality dimension“ gegeben. Diese unterscheidet zwischen einer Generalisierbarkeit der Ursache und einer Art Einzigartigkeit, die sich darauf bezieht ob die Ursache für eine Vielzahl von Handlungen und Reaktionen verantwortlich sein kann oder nicht (Martinko & Thomson, 1998, S. 274). Martinko und Thompson haben sich einem Ansatz gewidmet, der die Perspektiven von Kelley und Weiner vereint, da sie in Anlehnung an weitere Autoren die Meinung teilen, dass es sich bei beiden Modellen im Grunde nur um unterschiedliche Blickwinkel auf dasselbe Phänomen handelt (Martinko & Thomson, 1998, S. 276ff.). Auch ohne die argumentative Herleitung des vereinten Modells an dieser Stelle vertieft zu beschreiben, sind die Ergebnisse aus den folgenden Gründen für diese Arbeit sehr interessant: Sie verbinden „consensus“ mit „locus of causality“, sodass ein hoher „consenus“ im Rahmen einer der Person externen Ursache für das Verhalten stattfinden muss, da bei auffällig abweichendem Verhalten von vergleichbaren Personen (geringe „consensus“) die individuellen Aspekte der beobachteten Person (interner „locus of causality“) die Ursache für das Verhalten sein müssen. Die Verbindung zwischen „consistency“ und der „stability dimension“ liegt ebenfalls nahe, da eine hohe „consistency“ sich auch in zeitlicher Stabilität ausdrückt. Ebenso verbinden sie „distinctiveness“ mit der
52 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung „globality dimension“: eine hohe „distinctiveness“ bedeutet, dass das Verhalten nur bei einer bestimmten Entität auftritt. Damit stellt es eine Art Ausnahme dar und ist somit eher einzigartig und nicht generalisierbar. Durch die vielen möglichen Kombinationen leiten Martinko und Thompson nun eine Zusammenfassung diverser attributionstheoretischer Ursachenzuschreibungen ab (Martinko & Thomson, 1998, S. 277f.). Um nun die für diese Arbeit relevanten Ursachenzuschreibungen zu benennen, muss die aufgeworfene Problemstellung innerhalb des Attributionsmodells angewendet werden. Das oben angesprochene Problem „Mein Chef führt nicht“ ist die Wahrnehmung von Fehl- oder fehlendem Verhalten bei der beobachteten Person in Form des eigenen Vorgesetzten. Sucht man nun nach der Ursache, so gilt es zuerst, die Informationsarten nach Kelley zu betrachten, wobei es natürlich auch einiger Interpretationen bedarf, da die volle Wahrnehmung und Situation nicht bekannt ist. Der beobachtete Vorgesetzte muss von anderen Führungskräften abweichen. Ob man ihn nun mit dem eigenen Idealbild, der impliziten Führungstheorie, oder anderen Führungskräften, „die führen“, vergleicht, ist erst einmal an dieser Stelle unerheblich – sein Verhalten gegenüber der Entität des Geführten weicht von anderen vergleichbaren Personen in dieser Situation gegenüber der Entität aus Sicht des Beobachters (der Geführte selbst) ab. Somit wäre ein niedriger „consensus“ wahrgenommen. Man darf auch davon ausgehen, dass die Entität in Form des Geführten (der ja gleichzeitig auch Beobachter ist und die Attribution durchführt) diese Wahrnehmung ihm gegenüber aufgrund mehrerer Situationen in zeitlicher Hinsicht manifestiert hat und es sich dabei nicht um eine einmalige Situation handelt und der Vorgesetzte „sonst immer führt“. Daher würde die „consistency“ als Information mit hoch bewertet werden. Die Frage nach der „distinctiveness“ ist mit den vorliegenden Informationen nur schwer zu beantworten. Wir wissen nicht, ob der Geführte auch das Gefühl oder die Wahrnehmung hat, dass der Vorgesetzte auch anderen Geführten (anderen Entitäten) gegenüber die selben Verhaltensweisen aufzeigt oder nicht. Es ist aber implizit zu vermuten, da die Aussage „er führt nicht“ einen sehr generellen Charakter besitzt, sodass von einer niedrigen „distinctiveness“ ausgegangen werden kann.
2.4 Entstehung und Konsequenzen enttäuschter Führungserwartungen in der Führungsattribution 53 Bei Kelley selbst würde diese Informationslage bedeuten, dass die Attribution auf die beobachtete Person selbst durchgeführt werden würde – die Ursache des Verhaltens würde der Beobachter somit in der Führungskraft selbst verorten (Eberly et al., 2011, S. 734; Weibler, 2012, S. 121). Bezogen auf die Dimensionen von Weiner wäre es eine Informationslage, die auf eine interne, stabile und generalisierbare Attribution deuten würde, sprich innerhalb der beobachteten Person läge eine dauerhafte und für viele verschiedene Beobachtungen verantwortliche Ursache. In der Synthese von Martinko und Thompson wäre die Ursache in einer generellen (niedrige „distinctiveness“) oder spezifischen (hohe „distinctiveness“) Fähigkeit innerhalb der Person zu verorten. Egal wie nun die Informationslage im Bereich der „distinctiveness“ zu bewerten ist – in beiden Fällen deuten die anderen beiden Informationsarten auf eine Attribution auf die inneren Fähigkeiten der beobachteten Person hin und eben nicht auf die Umwelt, die Situation oder andere Entitäten. Natürlich kann man diese stark vereinfachenden dichotomen Unterscheidungen deutlich kritisieren, da sie beispielsweise viele Faktoren auslassen, stark reduzieren oder eventuelle Verzerrungen nicht berücksichtigen (Harvey et al., 2014, S. 128ff.; Martinko, Harvey, & Douglas, 2007, S. 564ff.), aber dennoch bleibt Folgendes festzuhalten: Die Grundlagen der Attributionstheorie deuten im Rahmen der Fragestellung dieser Arbeit relativ deutlich auf ein Problem hin, dass die Ursache innerhalb der Führungskraft, bei ihren eigenen Fähigkeiten sieht. In diesem Fall eben dem Mangel an einer Fähigkeit, die man als Führung interpretieren kann. „Mein Chef führt nicht“, enttäuschte Erwartungen an Personalführung, bekommen eine Ursachenzuschreibung auf die Person Führungskraft und deren Fähigkeiten. Eine erfolgreiche Attribution von Führung lässt sich im Gegensatz dazu auf diesem Wege gar nicht so einfach erklären. Hier müsste ein hoher anstatt eines geringen „consenus“ vorliegen. In diesem Fall würde Kelley eher von einer Entitätenattribution sprechen (Eberly et al., 2011, S. 734; Weibler, 2012, S. 121). Da Entitäten aber auch Aufgaben sein können, macht diese Verbindung jedoch Sinn: Die Ursache der Beobachtungen, welche ja in diesem Fall vorhandenes Führungsverhaltens sind, liegen für den beobach-
54 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung tenden Geführten in der Aufgabe des Vorgesetzten. Im dem Fall „Mein Chef führt“ wäre die Ursache, dass es durch seine Vorgesetztenfunktion eine klare Aufgabe gibt. Trotzdem lässt sich in diesem Fall nicht gänzlich ausschließen, dass auch eine Attribution auf die Fähigkeiten der Person stattfinden können, weil diese Person eventuell besonders geeignet für Führung ist. Dieser Aspekt ist einer der Hauptgründe von Cronshaw und Lord, die Attributionstheorie zu kritisieren und stärker reflexhafte und automatische Kategorisierungsprozesse (wie die implizite Führungstheorie, die maßgeblich von Lord entwickelt wurde, siehe Abschnitt 2.2) im Rahmen von Führungsanerkennung zu betonen (Cronshaw & Lord, 1987, S. 97ff.). Auch Weiner erkennt an, dass negative Ereignisse besser geeignet sind als positive, um attributionale Prozesse auszulösen (1990, S. 465ff.). Eine Erwartungsenttäuschung ist mehrheitlich ein negatives Erlebnis, sodass die Anwendung der Attributionstheorie auch vor der Kritik von Cronshaw und Lord gerechtfertigt ist8. Ob und wie man nun aber Erwartungsenttäuschungen aufgrund dieses Mangels an Führung unterscheiden kann, bleibt offen. Insgesamt ist deutlich geworden, dass es ein klares attributionstheoretisches Problem gibt, in dem der Geführte die Ursachen innerhalb der Führungskraft und deren Fähigkeiten sieht. Dieses Ergebnis führt zu der geführtenzentrierten Attributionstheorie nach Calder (1977), der genau diese Problematik zum Gegenstand einer Theorie macht und die daher im folgenden Abschnitt vorgestellt werden soll. Erst durch diese Spezifizierung der attributionstheoretischen Perspektive ist es möglich, Erwartungsenttäuschungen über Personalführung endgültig in diese Teildisziplin der Führungsforschung sachlich korrekt einzuordnen, da sie argumentativ schlüssig in ihr verortet und ihre Entstehungsprozesse erklärt werden können. 8 Zusätzlich nimmt die geführtenzentrierte Attribtuionstheorie nach Calder auch den Ansatz der impliziten Führungstheorie mit auf (siehe Abschnitt 2.4.2).
2.4 Entstehung und Konsequenzen enttäuschter Führungserwartungen in der Führungsattribution 55 2.4.2 Die geführtenzentrierte Attributionstheorie und die Enttäuschung von Führungserwartungen Bereits durch die Anwendung allgemeiner attributionstheoretischer Ansätze lassen sich Erklärungsansätze für diese Arbeit finden. Jedoch existiert ein konkret auf die Frage der Zuschreibung von Führung durch Geführten auf den Vorgesetzten zugeschnittenes Modell in der geführtenzentrierten Attributionstheorie nach Calder (1977). Für eine genaue Analyse und der Implementierung von Erwartungsenttäuschungen bedarf es einer vertieften Betrachtung der kognitiven und persönlichen Mechanismen. Die Rückschlüsse von Ereignissen über beobachtetem Verhalten auf die Führungseigenschaften einer Person sind auf den ersten Blick logische und simple Zusammenhänge. Allerdings täuscht dieser Eindruck, wie tiefere Analysen zeigen (Calder, 1977, S. 190). Ein in diesem Zusammenhang besonders wichtiges Konzept ist das der „naiven Psychologie“ bei der Attribution von Führung (Calder, 1977; Konst, Vonk, & Van Der Vlist, 1999; Pfeffer, 1977), welches bereits als Ursprung der Attributionstheorie oben angesprochen wurde. Führungszuschreibung funktioniert somit wie eine Art Etikett, welches wir bestimmten Verhalten anhaften würden: „Leadership is a label which can be applied to behavior. It locates the reason for that behavior squarely in the personal dispositional nature of the actor.“ (Calder, 1977, S. 187f.) Generell hat man bei der Vergabe dieses „Etiketts“ aber kein wirkliches Wissen über den Charakter und die persönlichen Eigenschaften der Zielperson. Selten kennen die Geführten ihre Vorgesetzten gut genug, um wirklich über ihre persönlichen Eigenschaften urteilen zu können – vor allem zu Beginn einer Führungsbeziehung, deren Anfangsphase entscheidend für die Führungszuschreibung sein kann. An dieser Stelle fällt die starke Übereinstimmung mit dem Rollenbegriff von Luhmann auf, der die Rolle personenunabhängig definiert, wodurch sie Erwartungen vorab auslöst, ohne die eigentliche Person zu kennen. Calder zeigt nun konkreter auf, wie diese Erwartungshaltung an das Teilelement
56 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung Personalführung des Rollensets einer Führungskraft als „Schablone“ (basierend auf dem Prototyp der impliziten Führungstheorie) an das wahrgenommene Verhalten des Vorgesetzten angelegt wird und dieser so auf seine Führungsfähigkeit hin „überprüft“ wird. Die Begriffe Erwartungen, Rolle und Attribution hängen somit sehr eng zusammen und sind in ihrer elementaren Bedeutung für diese Arbeit betont. Für eine erfolgreiche Führungsattribution kommt nach Calder noch die Unschärfe des Führungsbegriffes selbst hinzu (Calder, 1977, S. 187). Die impliziten Führungstheorien von verschiedenen Personen können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Abbildung 1 kann hierfür stellvertretend betrachtet werden. Die untergeordnete Ebene in der Kategorie „Business Leader“ kann variantenreiche Typen enthalten (Beispiel: Autokratische Führungskraft vs. demokratische Führungskraft), die mitunter ganz unterschiedliche Eigenschaften erfordern und daher andere zu beobachtende Verhalten zur Zuschreibung dieser Eigenschaft wiederum benötigen9. Weiterhin ist die Schärfung des Bildes von Führung in der Auffassung eines Geführten häufig auch stark situationsabhängig, wodurch weitere Faktoren in der Attributionstheorie als nur die Beobachtung von Verhalten und Effekt berücksichtigt werden müssen. Insofern ist es treffend, in diesem Zusammenhang von naiver Psychologie zu sprechen. Der Rückschluss auf eine persönliche Eigenschaft als psychologischer Analyseschluss ist von vielen Faktoren beeinflusst, über deren Einflüsse sich eine Person in dem Moment kaum bewusst sein kann. Nichtsdestotrotz wird diese Art der Psychologie mehr oder weniger automatisch und vor allem ohne Zweifel unbewusst angewendet, sodass die Attribution maßgeblich durch sie beeinflusst wird. Bevor die detaillierten Schritte nach Calder nachvollzogen werden, gibt Tabelle zwei einen beispielhaften Überblick 9 Dieser Aspekt ist sinnbildlich für das in Einleitung (S. 5) angesprochene „leadership dilemma“ nach Blau (1964), wonach sich die Führungskraft an den Erwartungen der Mitarbeiter muss, sich aber auch nicht komplett nur an fremden Erwartungen orientieren darf. Sie sind diese Fremderwartungen auch noch sehr heterogen, vergrößert sich das Dilemma noch zusätzlich und eine Führungsattribution durch möglichste alle Mitarbeiter erscheint im übertragenen Sinne beinah unmöglich.
2.4 Entstehung und Konsequenzen enttäuschter Führungserwartungen in der Führungsattribution 57 über einzelne, empirisch aufgedeckte Einflussfaktoren, die vor allem im Hinblick auf die Interpretation des Modells nicht außer Acht gelassen werden sollten: Einflussfaktor Effekt Sprache Förderlich: angemessenes Tempo, angemessene Wortwahl Quelle Nachteilig im gegenteiligen Fall Auftreten Performance des gesamten Unternehmens Selbstaufopferung der Führungskraft Performance der Branche/Industrie Selbstbild der Geführten Förderlich: Adäquate Körpersprache (Passung zur Sprache und Situation) (Calder, 1977, S. 187) Nachteilig im gegenteiligen Fall Förderlich: gute wirtschaftliche Situation des Unternehmens Nachteilig bei schlechter Situation Fördert die Wahrscheinlichkeit der Zuschreibung von positiven, charismatischen Eigenschaften Förderlich: gute wirtschaftliche Situation des Unternehmens und/oder der gesamten Branche Nachteilig bei schlechter Situation Individuell variierender Einfluss Awamleh and Gardner (1999) Yeon and Mai-Dalton (1) Meindl, Ehrlich, and Dukerich (1985) Tabelle 2: Beispielhafte Einflussfaktoren auf die geführtenzentrierte Attribution von Führung Die in Tabelle 2 aufgezeigten Einflüsse verstärken die Ungenauigkeit der naiven Psychologie. Ungenauigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Führung hier subjektiv aufgrund von Verhaltensbeobachtungen auf Eigenschaften reflektiert wird. Das Problem lässt sich vor allem dadurch beschreiben, dass ein Ge-
58 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung führter zu keinem Zeitpunkt tatsächlich weiß, ob wirklich Führungsqualitäten vorhanden sind (van Knippenberg, van Knippenberg, De Cremer, & Hogg, 2004, S. 825ff.). Die Attribution erfolgt „nur“ aufgrund eines Rückschlusses mittels naiver Psychologie, welcher mitunter verzerrenden Einflussfaktoren 10 unterliegen kann. Das Besondere an dieser Kritik ist die Kopplung an die wissenschaftliche Perspektive. In der Praxis kann sich eine Führungskraft schlecht gegen die Mängel des Modells wehren, wenn ihr trotzdem von ihren Mitarbeitern keine (Personal-)Führung attestiert wird. Die erste Phase einer Attribution von Führung nach Calder ist (analog zu den Grundlagen der Attribution in Abschnitt 2.4.1) die Beobachtung von Verhalten und dessen Konsequenzen (Calder, 1977, S. 195). Abbildung 3 auf der nächsten Seite stellt den Ablauf nach Calder schematisch dar. 10 Eine vertiefte Darstellung der Effekte von Wechselwirkungen bei Attributionen im Allgemeinen finden sich bei Krappmann (Epitropaki & Martin, 2005, S. 660) und (2000, S. 34ff.).
Führungsattribution Persönliches Zielinkompatibilität Phase 4 Bias / Verzerrungen Analyse der wählbaren Verhaltensalternativen Phase 3 Informationseinschätzung Konsistenz Soziale Attraktivität Grad der Extreme Aus Prototyp- UnterscheidungsBeobachtung kraft / konforabgeleitetes Besonderheit mität Verhalten Phase 2 Akzeptanz als nachweisliches Verhalten Effekte Aktionen und Verhalten Phase 1 Beobachtung Mögliche Führungsqualitäten Nicht direkt zu erkennen 2.4 Entstehung und Konsequenzen enttäuschter Führungserwartungen in der Führungsattribution 59 Abbildung 3: Flussdiagramm des Attributionsmodells nach Calder (in Anlehnung an Calder, 1977, S. 196)
60 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung Die Abbildung ist deshalb von rechts nach links zu lesen, da auch das Individuum durch ableitende Rückschlüsse „rückwärts“ arbeitet. Man kommt am Ende der Attribution zu dem Entschluss, dass Führungseigenschaften vorhanden sind, die dieses Verhalten ausgelöst haben müssen (analog zur Attribution auf die Person, Abschnitt 2.4.1). In Bezug auf die Beobachtung ist es nicht zwingend notwendig, dass eine Person diese selbst und direkt persönlich erfahren hat. Es reicht auch eine Beschreibung durch andere Personen als zweitrangige Beobachtung aus. Auch bei gänzlich fehlender Beobachtung kann das Wissen über eine einfache Verbindung zwischen der Führungskraft und dem aufgetretenen Effekt schon die Attribution beeinflussen oder auslösen. Weiterhin ist es auch möglich, dass sich Individuen auf mehrere zusätzliche Informationen beziehen, als rein auf diejenigen, die sie direkt oder indirekt beobachten konnten (Calder, 1977, S. 197). In der zweiten Phase des Flussdiagramms des Attributionsmodells nach Calder (Abbildung 3) wird deutlich, warum die bis hierhin vorgestellten Grundlagen der Attribution für diese Arbeit nicht ausreichen. In dieser Phase werden die beobachteten Verhaltensweisen und Aktionen der Führungskräfte nach Beweisen für Führungsverhalten gefiltert, da sich nicht jede Handlung automatisch als Nachweis für Führung oder für den Beweis des gegenteiligen Falls qualifiziert. Es würden solche Beobachtungen ausgesucht, die besondere Deutlichkeit und Unterscheidungskraft aufweisen: „The actions and effects associated with a focal person are compared with other actors in the group. To be acceptable as evidence, the focal person’s behavior must be distinguishable. By definition, leadership cannot describe everyone in the group; its very meaning calls for distinctive behavior.“ (Calder, 1977, S. 197) Führungsverhalten wird hier als besonderes Verhalten charakterisiert, das sich von „normalem“ und in der Gruppe allgemein vorhandenem Verhalten abhebt. Nach dieser Besonderheit und Auffälligkeit, die sich durch eine starke Unter-
2.4 Entstehung und Konsequenzen enttäuschter Führungserwartungen in der Führungsattribution 61 scheidungskraft ausdrückt, wird unterbewusst für die Attribution von Führung gesucht. Im nächsten Schritt liegt ein zentraler Punkt für den Gang dieser Arbeit: Wenn Verhalten durch den beschriebenen Filter gelangt und als ein für die Attribution von Führung relevantes Verhalten mit Unterscheidungskraft identifiziert worden ist, dann wird es gegen die eigene implizite Führungstheorie verglichen. Analog zu Abschnitt 2.3 ist die implizite Führungstheorie verantwortlich für die eigenen Vorstellungen über eine Führungskraft und deren Qualitäten, sodass sich darauf basierend Erwartungen bilden, die es zu erfüllen gilt, um als Vorgesetzter Führung attributiert zu bekommen. Jetzt wird deutlich, an welcher Stelle Erwartungen eine Rolle für die Führungszuschreibung spielen und warum man eine implizite Führungstheorie auch als einen Bestandteil der geführtenzentrierten Attribution bezeichnen kann. Ergänzend zu den Grundlagen der Attribution kann nun festgehalten werden, dass die „vergleichbare Person“ durch den Prototyp der impliziten Führungstheorie gestellt wird. Damit ist klar, dass nicht das Verhalten anderer realer Person unmittelbar maßgeblich ist, sondern die Erwartungen aufgrund der impliziten Theorie. Eine Passung zwischen der eigenen impliziten Führungstheorie und beobachtetem Verhalten und Effekten, mit anderen Worten der Erfüllung von Erwartungen an (Personal-)Führung, gelten für die Mitarbeiter als Beweis des Vorhandenseins von Führungsqualitäten und -fähigkeiten: „The individual has what amounts to an implicit theory of leadership. [...] The individual uses his implicit leadership theory to interpret potential evidential behaviors and effects. [...] expectations are formed by assuming that the behaviors and effects believed to be caused by leadership qualities themselves provide causal evidence for the existence of these qualities. That is, the belief that a certain leadership quality produces a certain behavior ist transformed into the expectation that an instance of the behavior implies the existence of the quality.“ (Calder, 1977, S. 197)
62 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung An dieser Stelle wird deutlich, dass Erwartungen an Führung das Bindeglied zwischen der Theorie zur impliziten Führungstheorie und der geführtenzentrierten Attributionstheorie darstellt. Diese Erwartungen inhaltlich konkretisiert und isoliert zu untersuchen, könnte das Verständnis der beiden Theorien verbessern. Da Calder „leadership“ im Rahmen der Attribution von „headship“ abgrenzt (Farquhar, 1989, S. 149ff.), können die Erwartungen auch im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit als Erwartungen an die Personalführung – in Abgrenzung von fachlicher Führung – ähnlich reformuliert werden. Nach dem Abgleich der Beobachtungen mit den eigenen Erwartungen an Führung folgt die dritte Phase der Interpretation des potentiellen Nachweises für Führungseigenschaften. Insbesondere wird in dieser Phase untersucht, ob die Person selbst eine Wahl hatte, dieses Verhalten an den Tag zu legen und dadurch der entsprechende Effekt eventuell nicht hätte eintreten können, und wie sehr der Effekt eben gerade von genau diesem, den Führungserwartungen entsprechenden Verhalten abgehangen hat. Die vorherige Phase hat im Unterschied hierzu mehr der Frage der Berechtigung des Verhaltens als Indikator für Führungsverhalten gegolten, während nun die Frage im Zentrum steht, ob sich die Person bewusst für dieses Verhalten entschieden hat. Die vierte Phase spricht nochmals direkt die potenziellen Verzerrungen durch Einflussfaktoren an. Der besondere Fokus liegt auf der Störung der Attribution durch entweder persönliche Vorbehalte gegenüber im Fokus stehende Personen oder auf den Fall, dass die fokale Person selbst völlig gegensätzliche Ziele zu den eigenen verfolgt. Beides sind Formen eines Bias, die eine sonst funktionierende und vor dem Abschluss stehende Attribution trotzdem noch verhindern könnten (Calder, 1977, S. 198). Zusammengefasst lässt sich jetzt abschließend begründen, warum der kognitive, geführtenzentrierte Ansatz als Kern der theoretischen Verankerung der Forschungsfrage gerechtfertigt ist. Nur durch das Zusammenspiel von impliziter Führungstheorie und der geführtenzentrierten Attributionstheorie lässt sich aufzeigen, wie es zu Erwartungsenttäuschungen bei der Personalführung kom-
2.5 Würdigung des Forschungsstandes und Zwischenfazit 63 men kann. Es lässt sich eindeutig identifizieren, dass die auf den Prototypen der impliziten Theorien basierenden Führungserwartungen im Rahmen der Attribution von Führung mit der wahrgenommenen Realität verglichen werden und eventuell nicht bestätigt werden, sodass sie als enttäuscht gewertet werden müssen. Dadurch wird nach Calder die Attribution von Führung verhindert –da Erwartungsenttäuschungen entstanden sind. Im Rahmen der Fragestellung wird aber noch einen Schritt weitergegangen, da der Bezug zu den Handlungskonsequenzen auf Seiten der Geführten nach einer Erwartungsenttäuschung ebenfalls Teil der Untersuchung ist. 2.5 Würdigung des Forschungsstandes und Zwischenfazit Insgesamt ist der Forschungsstand insbesondere in Bezug auf die geführtenzentrierte Forschung als unzureichend zu bewerten, um die Forschungsfrage adressieren zu können. Im Einzelnen betrachtet, geht er an vielen Stellen nicht über Grundlagen hinaus oder aktuellere Entwicklungen greifen an der konkreten Problematik dieser Arbeit vorbei. Zuerst galt es zu klären, was Erwartungen grundsätzlich sind. Dazu wurden die Ansätze aus soziologischen Grundlagen abgeleitet. Der nächste Schritt galt der Entstehung von Erwartungen im Führungskontext, ohne sich dabei schon der Frage von Erfüllung oder Enttäuschung zu widmen. Der Ansatz der impliziten Führungstheorien (Abschnitt 2.2) nach Lord und CoAutoren behandelt die Entstehung von Führungserwartungen (Lord et al., 1982, S. 104ff.; Lord & Maher, 1993, S. 25ff.; Lord et al., 1984, S. 347ff.). Sie bilden sich aufgrund einer mentalen Kategorisierung von Führung und anhand des jeweiligen Prototyps einer Kategorie. Aktuell beschäftigt sich dieser Forschungszweig unter anderem mit der Frage, ob der tatsächlich durch die Personen genutzte Prototyp von Führung eher einem „Durchschnittstypen“ der zentralen Tendenz der Kategorie, oder einem Idealbild der Kategorie entspricht (Junker & van Dick, 2014, S. 1157). Erste empirische Ergebnisse deuten klar
64 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung auf die Verwendung eines „Idealtyps“ von Führung hin (Quaquebeke et al., 2014, S. 208). Diese Erkenntnis erscheint wichtig, da sie sich sicherlich auch im Rückschluss so auf die Erwartungen an Personalführung auswirken müssten, dass diese im Vergleich zu einer Basis eines durchschnittlichen Prototyps relativ hoch sind. Damit ist zwar unmittelbar kein Erklärungsbeitrag zur Fragestellung geschaffen, jedoch muss und soll dieser Aspekt in der Empirie und der Diskussion der Ergebnisse berücksichtigt werden. Des Weiteren beschäftigt sich die Forschung zu impliziten Führungstheorien aktuell vor allem mit den Wechselwirkungen zwischen impliziten Führer- und Geführtentheorien auf Seiten der Mitarbeiter und Geführten, sowie deren Stabilität und Entwicklung über die Zeit mit verschiedenen Einflussfaktoren, zusammengefasst in einem Literaturreview von Junker und van Dick (2014, S. 1154ff.). Jedoch ist keine dieser Untersuchungen auch nur annähernd auf eine differenzierte Betrachtung von verschiedenen Erwartungsinhalten, deren Enttäuschungen und einer Verbindung zu Handlungskonsequenzen gerichtet, sodass einzig die Entstehung von Erwartungen als Erkenntnisgewinn für diese Arbeit festgehalten werden kann. Erwartungen an Personalführung werden demnach von der impliziten Führungstheorie eines Geführten unterbewusst automatisch generiert. Sie orientieren sich im Wesentlichen an dem Prototyp der mentalen Kategorie „Führungskraft“. Viele der oben erwähnten Entwicklungen der impliziten Führungstheorien ziehen immer mehr auch die Perspektive der Führungsdyade mit ein. Diese Verbindung ist auch in dieser Arbeit hergestellt worden. Nach der Frage der Entstehung der Erwartungen folgt unmittelbar die Frage der Verwendung, nach dem grundsätzlichen Zweck im Rahmen der Führungsbeziehung. Dazu wurde in Abschnitt 2.3 die in dieser Arbeit insgesamt größte Strömung der ausgewählten Führungstheorien zusammengefasst vorgestellt: die LMX-Forschung als Fokus auf die Rollen- und Austauschprozesse in der Führungsbeziehung. In Verbindung zu dem Rollenbegriff als ein möglicher Sammelbegriff für Verhaltenserwartungen, versteht die LMX-Forschung die Erwartungen von Geführten und Führungskräften als Austauschgut. Die Abläufe im Prozess des „role-makings“ eröffnen dabei ein erstes Verständnis der Bedeutung von Erwartungen als eine
2.5 Würdigung des Forschungsstandes und Zwischenfazit 65 Art Austauschgut zwischen Führungskraft und Geführtem. Dieser Austausch dient zur Überprüfung der Trag- und Reichweite eines mehr oder weniger breiten Konsens über Handlungsnormen und Verhaltensweisen, der wiederum als Ausgangsbasis für die spätere Qualität der eigentlichen Beziehung dient. Diese Zusammenhänge sind jedoch nur bis zu dem Punkt der LMX-Grundlagen für diese Arbeit geeignet, an dem der Austausch in seine eigentliche Verhandlungsphase einsteigt. Ab diesem Punkt wird „Führung“ im LMX-Prozess von der Führungskraft dominiert und definiert. Die aktuellen Entwicklungen des LMX beziehen sich im Schwerpunkt ihrer Grundannahmen auf die Führungskraft, auch wenn Sie sich einer dyadischen Denkweise bedienen. Selbst die etablierten Forscher Graen und Uhl-Bien, beschreiben das Verhältnis als eines, welches die Führungskraft als Treiber der Beziehung privilegiert betrachtet (Uhl-Bien et al., 2014, S. 88). Eine Arbeit, die sich der Frage widmet, wie sich die enttäuschten Erwartungen von Geführten auf deren Handeln auswirken, kann sich nicht rein in einem theoretischen Gebilde definieren, welches die Führungskraft als zentralen Punkt wählt. Dieses Urteil wird durch die obige Erkenntnis unterstrichen, dass die Austauschtheorien am Beispiel von LMX ein Scheitern oder ein Nichtzustandekommen einer Beziehung ausschließen und sich zu einer Theorie hin entwickelt haben, die unterschiedliche Qualitätsniveaus von Beziehungen zum Gegenstand hat. Die vielen aktuellen Publikationen im Bereich LMX nutzen häufig die „in- vs. out-group“ Unterscheidung als eine unabhängige oder moderierende Variable zur Erklärung unterschiedlicher Phänomene (Harris, Li, & Kirkman, 2014; Park, Sturman, Vanderpool, & Chan, 2015), womit sie keinen Erklärungsbeitrag für die hier vorliegende Fragestellung bieten können. Den Kern der theoretischen Aufarbeitung bildete die Frage nach der Entstehung von Erwartungsenttäuschungen und deren Konsequenzen. Die Attributionstheorie im Allgemeinen ist unter anderem dazu in der Lage zu erläutern, inwiefern eine Beobachtung zu der Attribution auf eine Person führen kann, so dass die Ursache für den Beobachter innerhalb der Fähigkeit der beobachteten Person verortet wird. Somit kann dargestellt werden, dass eine Führungskraft selbst die Ursache für enttäuschte Erwartungen an Führung ist. Um diesen Zusammen-
66 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung hang konkret herzustellen, zeigt die geführtenzentrierte Attributionstheorie nach Calder, wie die Erwartungsenttäuschung aufgrund eines Abgleichs zwischen den aus den Prototypen der impliziten Führungstheorie abgeleiteten Erwartungen und der tatsächlich beobachteten Handlungen der Führungskraft entsteht und dann zu einer scheiternden Attribution von Führung führt. Aktuelle Publikationen zum Bereich der geführtenzentrierten Attributionstheorie existieren nicht. In der jüngeren Vergangenheit bündelten sich die Publikation hauptsächlich im Bereich der grundlegenden Diskussion um Attribution. Zum Beispiel existieren Erweiterungen der Ursachenkategorien (Eberly et al., 2011, S. 731ff.)11 oder Wechselwirkungen mit anderen Variablen sowie möglichen Moderatoren (Harvey et al., 2014, S. 128ff.). Es fällt insgesamt jedoch deutlich auf, dass der Forschungsstand zum theoretisch wichtigsten Ansatz in der geführtenzentrierten Attributionstheorie stark veraltet ist und schon aus diesem Grund nicht nur in seiner Reduzierung auf eine undifferenzierte Erwartungsbetrachtung hinterfragt werden muss. Die grundlegenden Mechanismen sollen aber auch in dieser Arbeit als Ausgangsbasis so verstanden werden. Ein Bezug zu einer Handlungsebene der Geführten konnte zwar in der Weiterentwicklung der rollentheoretischen Ansätze durch den Followership hergestellt werden, jedoch ergab sich keine Möglichkeit der Verbindung zu einem differenzierten Verständnis von Erwartungen. Zusammenfassend fügt sich nun ein klares Bild zum theoretischen Rahmen zusammen. Damit kann die Notwendigkeit einer empirischen Untersuchung aufgezeigt und konkrete Untersuchungsfragen hergeleitet werden. Das Fundament des Theoriegebäudes stellt die kognitive geführtenzentrierte Führungsforschung in der obig dargestellten Form. Aus dieser Perspektive lässt sich die Rolle von Erwartungen in dem Prozess der Führungszuschreibung als Gradmesser für die Prototypkonformität einer erlebten wahrgenommenen Führungskraft beschreiben. Die Erwartungen sind der Output einer impliziten Führungstheorie, maßgeblich geprägt durch den Prototyp der Kategorie. In dieser Form nehmen sie die oben beschriebene Rolle ein, 11 Unter anderem relevant für die Diskussion in Abschnitt 4.1
2.5 Würdigung des Forschungsstandes und Zwischenfazit 67 in der sie einen Gegenpart zu dem beobachteten Verhalten der Führungskraft bilden, vergleichbar mit einer Art „Prüfstein“ oder „Maßstab“. Durch diesen Abgleich können Erwartungsenttäuschungen an Personalführung entstehen. Dieser Aspekt wird gestützt durch die Erwartungen als Austauschgut im „rolemaking“ des LMX und dient zur Unterstreichung der Bedeutung für das Zustandekommen einer Führungsbeziehung. In Ansätzen prinzipiell relevant ist der Fokus auf Geführtenverhalten im Followership. Diese Verbindungen sind sogar nicht nur als situativ-singuläre Zusammenhänge in dieser Arbeit zu verstehen, sondern treten auch an anderen Stellen hervor. Beispielsweise formulieren Uhl-Bien und Co-Autoren die impliziten Führungstheorien als eine Ursprungstheorie des Followerships, da hier bereits sehr früh eine Geführtenperspektive in der Führungsforschung eingenommen wurde, sowie sie auch ebenfalls die impliziten Führungstheorien in Verbindung zum LMX als mögliche Initiationsquelle für den Rollenaustauschprozess formulieren (bspw. Harris et al., 2014; Park et al., 2015). Unter anderem deswegen wurde der theoretische Schwerpunkt dieser Arbeit in die kognitive und geführtenzentrierte Forschung gelegt. Die Verwandtschaft dieser einzelnen theoretischen Bausteine stellt den Schlüssel zur Bildung des theoretischen Rahmens dar und ist wichtiger Bestandteil dieser Arbeit. Zusammenfassend ruht die theoretisch-konzeptionelle Rahmung dieser Arbeit somit auf der kognitiven Führungsforschung, ergänzt durch einzelne Implikationen der Rollentheorie LMX. Allerdings muss, wie oben in der Spiegelung des Standes der empirischen Forschung, die Beschreibung der Rolle von Erwartungen als noch unbefriedigend bewertet werden, beziehungsweise der Transfer von Wirkungen hinüber auf die Verhaltenseben der Geführten fehlt bisher vollständig. Wie genau sie in der Attribution wirken, beispielsweise mit unterschiedlichen Erwartungsformen (Muss-/Soll-/Kann-Erwartungen) oder in welchen Verhältnissen Erwartungserfüllung und -enttäuschung bei einer Führungsattribution zu einander stehen, wird damit nicht beantwortet
68 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung Die in der Einleitung angesprochene Aussage „mein Chef führt nicht“ könnte nach dem momentanen Kenntnisstand aufgrund enttäuschter Soll- oder KannErwartungen eine starke negative Sanktion darstellen. Weiterhin könnte dies eine enttäuschte Erwartung sein, die rückwirkend als normativ eingeteilt worden ist, sodass sich die Erwartungshaltung nicht änderte und die Führungskraft möglicherweise dauerhaft in dieser Form sanktioniert wird oder sich die Sanktionierung dadurch eventuell noch verstärkt. Alle diese Rückschlüsse für die hier untersuchten Erwartungen an Personalführung sind keine hypothetischen Vermutungen, sondern nur theoretische Ableitungen zur Begriffsschärfung. Dadurch wird aufgezeigt, dass es innerhalb der Erwartungen an Personalführung eine Differenzierung von verschiedenen Erwartungsformen noch nicht gibt und sich dadurch eine Problematisierung des bisherig undifferenzierten Erwartungsbegriffes dahingehend eröffnet, ob – und wenn ja wie – sich Erwartungen an Personalführung unterscheiden lassen. Mit dem Verständnis von Verhaltenserwartungen an eine soziale Rolle wurde die Ausgangsbasis dafür geschaffen, einen möglichen differenzierten Erwartungsbegriff in der Führungsforschung zu implementieren, um zum Beispiel die geführtenzentrierte Attributionstheorie nach Calder zu erweitern. Insgesamt lassen sich an dieser Stelle somit erstmals die Zielsetzungen dieser Arbeit in erste präzisere Untersuchungsfragen konkretisieren, die es gilt, im weiteren Laufe der Arbeit zu beantworten: (1) Wo zeichnen sich Unterschiede zwischen den Erwartungen von Geführten und dem Rollenwissen der Führungskräfte über ihre Rolle ab? (2) Wie können Erwartungen der Geführten an die Personalführung differenziert werden (beispielsweise als Soll-/Kann-Erwartungen oder normativ/kognitive Erwartungen)? (3) Wie können Handlungskonsequenzen von Erwartungsenttäuschungen an die Personalführung beschrieben und differenziert werden?
2.5 Würdigung des Forschungsstandes und Zwischenfazit 69 (4) Wie wirken differenzierte Erwartungsenttäuschungen auf die Führungsattribution? In diesem Moment begründet sich die Notwendigkeit der empirischen Untersuchung in diesem Dissertationsvorhaben. Ähnliche Fragen wurden in jüngster Vergangenheit als Ausblick der Führungsforschung im Zusammenhang mit impliziten Führungstheorien aufgeworfen, beispielsweise inwiefern implizite Führungstheorien einen regulatorischen Einfluss auf die Qualität und die Veränderung der Führungsbeziehung ausüben (Uhl-Bien et al., 2014, S. 83ff.). Aus der Sicht der Erwartungen an Personalführung als theoretischer Ankerpunkt zu der bisherigen Führungsforschung wird mit den Fragen (1) bis (4) eine Forschungslücke aufgedeckt, die in ähnlicher Form einen Einflussfaktor auf das Funktionieren von Führung untersucht. Wie bereits aufgezeigt, kann der aktuelle Forschungsstand lediglich den Punkt lokalisieren, an dem Erwartungen in der Führung eine Rolle spielen und grob skizzieren, wozu die Erwartungen der Geführten im Prozess der Führungszuschreibung genutzt werden. Im Allgemeinen bewirken Erwartungsenttäuschungen an Personalführung bis dato eine Nicht-Attribution von Führung. Die Führungsforschung kann aber keine Erwartungen differenzieren und geht von entweder einer vollen Attribution oder Nicht-Attribution aus, ohne Abstufungen dazwischen. Momentan lässt sich nicht skizzieren, welche konkreten Wirkungen bestimmte Erwartungsenttäuschungen in Form von Handlungskonsequenzen der Geführten bewirken und was diese für die Führungsattribution bedeuten. Die Erkenntnisse aus dem soziologischen Erwartungsbegriff können nicht reibungslos übertragen werden, da Luhmann nicht auf einer Handlungsebene argumentiert und die Unterscheidung von Dahrendorf für den Rahmen der Führung völlig unklar ist. Es mangelt daher an einer wissenschaftlichen Spezifizierung in Form eines fallunterscheidenden Ansatzes, der es erlaubt, Erwartungsformen mit unterschiedlichen Effekten, Arten der persönlichen Umgangsweise sowie Einflusspotenzialen zu differenzieren.
70 2. Grundlagen zur Einbettung von Erwartungsenttäuschungen in die Führungsforschung In diesem Zusammenhang ist auch die Grundannahme der geführtenzentrierten Attributionstheorie zu problematisieren, dass der Abgleich von Erwartungen und wahrgenommenem Verhalten der Führungskraft entweder zu einer kompletten Führungszuschreibung oder zu einer Führungsablehnung führt. Diese Annahme vereinfacht das Problem, da sie undifferenziert verneint, dass bestimmte Erwartungen eine Attribution unterschiedlich beeinflussen. Inwiefern dieser Effekt auf die Attribution im Zusammenhang mit Verhaltensänderungen bei den Mitarbeitern stehen kann und welche Einflüsse dies auf das generelle Funktionieren der Führungsbeziehung haben kann, konnte unter der vorherigen Annahme nicht beantwortet werden. Diese Lücke soll mit dieser Dissertationsschrift adressiert werden. Mittels qualitativer Forschung und einer Theorieelaboration, angelehnt an den Grundsätzen der Grounded Theory, wird ein Versuch unternommen, die fehlende Spezifizierung der Rolle von Erwartungen an Personalführung durch Theorieelaboration zu schließen und die zu stark vereinfachende Annahme der pauschalen Führungszuschreibung oder -ablehnung durch empirisch fundierte Theorieansätze zu ersetzen. Kapitel 3 im Anschluss stellt die empirische Vorgehensweise und Durchführung dazu vor.
3. Empirische Untersuchung Anfangs dieser Arbeit ist die Frage formuliert worden, wie enttäuschte Erwartungen an Personalführung auf Seiten der Geführten wirken. Repräsentiert durch die Fragen (1) bis (4) (Seite 56) konnte die Forschungsfrage durch die deduktivkonzeptionelle Analyse bisher nur zum Teil beantwortet und lediglich nur präzisiert und weiter differenziert werden. Da die deduktiv-konzeptionelle Bearbeitung an diesem Punkt an ihre Grenzen stößt, bedarf es einer anderen Herangehensweise. Anstatt aus allgemeineren und abstrakteren Theorien Erkenntnisse für den hier vorliegenden Fall abzuleiten, gilt es nun, konkrete Erfahrungen an „sozialen Tatbeständen“ systematisch zu sammeln. Diese Anforderung trifft auf gängige Definitionen der empirischen Sozialforschung zu (Atteslander, 2008, S. 3f.; Diekmann, 2008, S. 18ff.; Lamnek, 2005, S. 275). Das Sammeln von empirischen Daten verlangt eine Offenlegung der methodischen Vorgehensweise. Damit ist konkret verlangt, die Erkenntnis aufgrund von Erfahrungen (Bedeutung des Begriffes „empirisch“) zu dokumentieren und die einzelnen Schritte nachvollziehbar zu gestalten. Im folgenden Abschnitt wird daher eine empirische Untersuchung zuerst konzipiert und in ihrer Struktur erläutert, sodass die daran anschließende Durchführung und Auswertung nachvollzogen werden kann. Die Konzeption und Erläuterung der Struktur der empirischen Untersuchung wird in Abschnitt 3.1, dem Forschungsdesign, zusammengefasst und der Zusammenhang zwischen den zwei durchgeführten Studien erläutert. In den Abschnitten 3.2 und 3.3 folgen die Auswahl und Charakterisierung der Fallstudienteilnehmer sowie die Beschreibung zur Methodik der gewählten Datenerhebung und -auswertung. In Abschnitt 3.4 werden schließlich die Ergebnisse der Studien ausführlich vorgestellt. © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 H. Seele, Die Wirkung von enttäuschten Mitarbeitererwartungen an Personalführung, DOI 10.1007/978-3-658-14618-4_3
3. Empirische Untersuchung 72 3.1 Forschungsdesign Wie bereits dargestellt dient empirische Sozialforschung der Erkenntnisgewinnung durch Erfahrung an sozialen Tatbeständen. Auf der einen Seite steht somit die in dem theoretischen Rahmen der Arbeit eingebettete Forschungsfrage. Auf der anderen Seite befinden sich die Erfahrungen und Beobachtungen der realen Welt in Form von empirischen Daten. Dem Forschungsdesign obliegt es nun, die Brücke zwischen beiden Punkten zu bilden und die Daten so mit der Forschungsfrage zu verbinden, dass Zweckmäßigkeit und Eignung der Datenerhebung zur Beantwortung der Frage belegt werden: „In the most elementary sense, the design is the logical sequence that connects the empirical data to a study’s initial research questions and, ultimately, to its conclusions. Colloquially, a research design is a logical plan for getting from here to there, where here may be defined as the initial set of questions to be answered, and there is some set of conclusions (answers) about these questions.“ 12 (Yin, 2009, S. 26) Dieser Logik folgend wird im Laufe dieses Kapitels der „logische Plan“ gezeichnet, der die Verbindung zwischen der Forschungsfrage und den empirischen Daten herstellt, um zu den Antworten und Schlussfolgerungen am Ende der Arbeit zu gelangen. Der Begriff „Forschungsdesign“ umfasst dabei alle folgenden Unterkapitel (3.1.1 bis 3.1.3). In Anlehnung an Flick wird an dieser Stelle der generellen Auslegung dieses Begriffs gefolgt, nach der der Begriff die allgemeine Planung einer Untersuchung sowie die Konzeption von Datenerhebung, Fallauswahl und Analyse (2009, S. 252) umfasst. Die Planung einer Untersuchung im engeren Sinne bedeutet eine Festlegung der grundsätzlichen Ausrichtung und der Formulierung der Untersuchungsstrategie. Für diese grundsätzliche Ausrichtung der empirischen Untersuchung wird in dieser Arbeit 12 Hervorhebungen im Original.
3.1 Forschungsdesign 73 der Begriff des Basisdesigns verwendet, welcher im Anschluss (Abschnitt 3.1.1) vorgestellt wird. Abbildung 4 verdeutlicht die Zusammenhänge der Begrifflichkeiten im Rahmen der empirischen Untersuchung: Forschungsdesign Fallauswahl (bzw. „Sampling“) Methodik der Datenerhebung Methodik der Datenauswertung Basisdesign und grundlegende Untersuchungsstrategie Abbildung 4: Begriffshierarchie im Forschungsdesign Das Forschungsdesign stellt den Oberbegriff dar, unter dem die im Folgenden zu erläuternden Begriffe in der Abbildung zu subsumieren sind. In Bezug auf das Basisdesign ist anzumerken, dass dieses eine Vorsteuerungsfunktion auf die Fallauswahl (bzw. Sampling) und die noch zu wählenden Methoden der Datenerhebung und -auswertung ausübt, sodass ein Basisdesign bestimmte Methoden ausschließt. 3.1.1 Basisdesign Während sich das Forschungsdesign in dieser Arbeit als eine Art Oberbegriff auf alle Elemente der empirischen Untersuchung bezieht, ist das Basisdesign an dieser Stelle als ein Bestandteil des Forschungsdesigns zu verstehen. In Anlehnung an Creswell wird das Basisdesign als die grundsätzliche Ausrichtung der Untersuchung in dem Spannungsfeld zwischen rein qualitativer, rein quantitativer und der Mixed-Methods Designs verstanden: „The overall decision involves which design should be used to study a topic. [...]. In this book, three types of designs are advanced: qualitative, quantitative, and mixed methods.“ (2009, S. 3)
3. Empirische Untersuchung 74 Dieser Aussage folgend wird unter dem Basisdesign der hier zu planenden empirischen Untersuchung die Festlegung auf ein qualitatives, quantitatives oder Mixed-Methods Design vorgenommen. Mit dem Verweis auf weitere Autoren deutet Creswell an, dass diese drei Unterscheidungen nur eine Orientierung darstellen können, da es unterschiedlich starke Ausprägungen und Kombinationen geben kann (2009, S. 3). In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff der Untersuchungsstrategie einzuführen. In direkter Verbindung mit der Festlegung des Basisdesigns als grundsätzliche Ausrichtung spezifiziert die Untersuchungsstrategie die genaue Systematik und Forschungslogik, wodurch sie die Vorsteuerung im Hinblick auf die Methoden der Datenerhebung und Auswertung verstärkt. Zur Entscheidung für ein Basisdesign liegen mit den drei genannten Optionen als Eckpunkte des Spannungsfeldes folgende kurz skizzierte Optionen vor: • Die quantitative Forschung stellt den historisch am längsten etablierten Ansatz dar. Sie zielt darauf ab Kausalitätsannahmen, in Form von Hypothesen und mittels statistischer Methoden, auf Basis einer möglichst großen Menge quantifizierter Daten (Variablen) zu testen. Entscheidende Faktoren dabei sind vor allem die Messbarkeit der Variablen, die Möglichkeit der ex ante Formulierung von Hypothesen sowie der Definition einer Grundgesamtheit mit der Auswahl einer Stichprobe („sampling“) (vgl. A. Bryman & Bell, 2007, S. 154ff.). Insgesamt besteht in der Forschungsfrage häufig eine konkrete Vermutung über Zusammenhänge durch vorhandenes Vorwissen oder deduktive Ableitung, die es zu überprüfen gilt. • Die qualitative Forschung legt im Gegensatz zur quantitativen ihren Schwerpunkt nicht auf die Messung operationalisierter Variablen anhand von statistischen Methoden. Sie versucht, soziale Phänomene von Grund auf zu verstehen, indem Sie Meinungen und Verhalten von beteiligten Individuen in den Vordergrund stellt (Creswell, 2009, S. 4).
3.1 Forschungsdesign 75 Insbesondere soziale Beziehungen werden durch qualitative Methoden untersucht, um diese zu beschreiben, erklären und interpretieren zu können (Klenke, 2008, S. 6ff.; Kühl, Strodtholz, & Taffertshofer, 2009, S. 14ff.). Dabei verlangt die Forschungsfrage in erster Linie, dass ein Verständnis über soziale Zusammenhänge zuerst einmal aufgebaut wird (Bluhm, Harman, Lee, & Mitchell, 2011, S. 1869f.; Flick, 2014, S. 12). Hypothesen können noch gar nicht formuliert werden, da es noch kein Vorabverständnis oder keine Vermutungen über Wirkungszusammenhänge gibt. Qualitative Forschungsdesigns begegnen vor allem den folgenden Anforderungen in Bezug auf soziale Phänomene und Individuen: „[...] we need to understand their personal experiences [...], the meanings they link to such experiences, and the discourses and practices concerning these issues in their contexts.“ (Flick, 2014, S. 13) „qualitative data originates from the participant’s perceptions of his or her experiences. That is, qualitative research gives ‘voice’ to the participant, which may be from individual workers experiencing a phenomenon or from key informants.“ (Bluhm et al., 2011, S. 1871) Im Zusammenhang mit diesen Zitaten steht die Eigenschaft von qualitativer Forschung (je nach Untersuchungsstrategie), sich insbesondere für die Theoriengenerierung in einem Kontext von mangelnden Verständnis über Effektzusammenhänge zu eignen (Eisenhardt, 1989, S. 533ff.). Erst am Ende eines solchen Prozesses kann es beispielsweise möglich sein, Hypothesen zu formulieren.
3. Empirische Untersuchung 76 • Ein Basisdesign der Mixed-Methods umfasst verschiedene Modelle der Kombination quantitativer und qualitativer Elemente in einem Design. Dabei sind sowohl parallellaufende Methoden denkbar, als auch die volle Integration beider Ausrichtungen (Kelle & Erzberger, 2009, S. 300ff.). Mixed-Methods Designs sind an vielen Punkten noch nicht einheitlich definiert und daher hinsichtlich ihrer Stärken und Schwächen sowie der Potenziale nicht immer eindeutig zu beurteilen (HesseBiber, 2010, S. 417). Diese drei Optionen im Hinblick auf das Basisdesign stehen der Forschungsfrage dieser Arbeit und den damit verbundenen Anforderungen gegenüber. Durch eine Gegenüberstellung wird deutlich, dass im Rahmen dieser empirischen Untersuchung ein qualitatives Basisdesign den zweckmäßigen Zugang zur Verknüpfung von Empirie und Forschungsfrage bildet. Im Einzelnen sind die Gründe für diese Entscheidung wie folgt zusammenzufassen: 1. Die Forschungsfrage zielt darauf ab, die Wirkung von und den Umgang mit enttäuschten Erwartungen an Personalführung auf Seiten der Geführten zu untersuchen. Dabei wird eine Frage nach dem „wie“ gestellt, die nach dem grundsätzlichen Verständnis sucht13. Die Fragestellung ist somit von explorativer Natur und weniger gut mit Häufigkeiten oder ähnlichen Zahlenmaßen zu beantworten, sondern prinzipiell eher der qualitativen Forschung zuzuschreiben (Yin, 2009, S. 9). In Kapitel 2 wurden Erwartungen als ein Aspekt der Beziehung zwischen Individuen im Bezug auf eine soziale Rolle charakterisiert. Damit sucht die 13 Natürlich ist der exklusive semantische Zusammenhang zwischen dem Fragewort „wie“ und der qualitativen Forschung nicht gegeben. Auch in der quantitativen Forschung können Hypothesen mit einer „wie“-Frage formuliert werden. Dabei handelt es sich aber in der Regel um Fragen, die die Existenz eines vorab formulierten Zusammenhangs oder die Stärke eines Effektes untersuchen. Damit unterscheiden sie sich substantiell von dem eher zur qualitativen Forschung zählenden exploratorischen Verständnis. Die quantitativen „wie“-Fragen sind mehrheitlich konfirmatorischer Natur und setzen damit vorab postulierte Hypothesen voraus. Dies ist bei einer qualitativen „wie“-Fragen im explorativen Verständnis nicht der Fall, da noch keine konkreten Zusammenhänge bekannt sind. Im Folgenden wird unter „wie“-Fragen in dieser Arbeit immer die explorative Variante verstanden.
3.1 Forschungsdesign 77 Forschungsfrage nach dem Verständnis eines sozialen Phänomens, welches es zu beschreiben und erklären gilt. Es wird dabei nicht die Frage nach einer Effektstärke, einem Ausmaß oder einer positiven oder negativen Korrelation formuliert, sondern nach Zusammenhängen und Verhalten von Individuen. Im Gegensatz zu einem standardisierten Fragebogen erscheint die Forschung durch Kommunikation im Dialog mit den Untersuchten und geprägt durch eine Offenheit für deren Perspektiven wesentlich zielführender, da die Wahrnehmungen der Geführten nur durch deren eigene Worten erfasst werden können. Kommunikation und Offenheit sind zentrale Charakteristika qualitativer Forschung (Lamnek, 2005, S. 21f.). 2. Des Weiteren können weder durch bestehende Studien und dadurch bereits generiertes Wissen noch durch eine deduktive Bearbeitung der Fragestellung in Kapitel 2 Hypothesen als Voraussetzung einer quantitativen Untersuchung über vermutete Zusammenhänge aufgestellt werden. Zwar deutet die geführtenzentrierte Attribution an, dass ein negativer Abgleich des wahrgenommenen Führungsverhaltens mit den eigenen Vorstellungen (Erwartungen) an Führung zu einer NichtAttribution von Führung führt. Jedoch stellt diese Erkenntnis nur den Rahmen für den grundlegenden Mechanismus dar, welcher nicht beschreiben kann, wie im Konkreten die Beurteilung und der Umgang mit unterschiedlichen enttäuschten Erwartungen zu verstehen sind. Die geführtenzentrierte Attributionstheorie stellt nur den theoretischen Rahmen der Forschungsfrage und kann für die Beantwortung keine näheren Implikationen leisten. Es gilt, diesen Ansatz weiterzuentwickeln, ihn durch neue Erkenntnisse zu präzisieren und zu differenzieren. Die Forschungsfrage besitzt daher einen hohen Novitätscharakter. Ziel ist es, eine Theorie auszubauen und zu ergänzen, „Neues in den Daten zu entdecken“, welches ebenfalls ein Ziel der qualitativen Forschung darstellt (Flick, von Kardorff, & Steinke, 2009a, S. 25).
3. Empirische Untersuchung 78 3. Die empirische Untersuchung bezieht sich mit dem Erwartungsbegriff und dem Umgang mit Enttäuschungen im Rahmen der Personalführung auf abstrakte soziale und kontextabhängige Phänomene. Eine Operationalisierung von Variablen ist daher nur schwer zu gestalten und vor allem nicht sinnvoll. Die Komplexität des Sachverhaltes im Rahmen der Personalführung ist groß und benötigt daher die offenen Methoden der qualitativen Forschung, da deren Stärken unter anderem darin liegen, die Gegenstände in ihrer Komplexität nicht zu reduzieren. Im Zuge dieser Feststellung können auch die zu untersuchenden Aspekte nicht quantifiziert werden, da sie keine statistisch erfassbaren Größen darstellen. Vielmehr handelt es sich dabei um das Kennzeichen qualitativer Forschung, das alltägliche Geschehen der Untersuchten in ihrem individuellen Kontext zu erleben und zu verstehen (Flick, von Kardorff, & Steinke, 2009b, S. 20ff.). 3.1.2 Grundlegende Untersuchungsstrategie Mit der Festlegung auf ein qualitatives Basisdesign steht eine Vielzahl von grundsätzlichen Ausrichtungen zur Verfügung. Ein qualitatives Basisdesign als eigener Begriff ist noch wenig aussagekräftig. Die Wahl eines Basisdesigns leitet noch nicht den Forschungsprozess ein, denn vorher sind noch weitere Entscheidungen zu treffen (Bryman & Bell, 2007, S. 39). Es bedarf einer Spezifizierung der im Prozess der Untersuchung verfolgten Strategie. Wie bereits oben erwähnt wird in diesem Zusammenhang der Begriff der Untersuchungsstrategie eingeführt, der sich in seiner Bedeutung an die „strategies of inquiry“ nach Creswell anlehnt: „The researcher not only selects a qualitative, quantitative, or mixed methods study to conduct, the inquirer also decides on a type of study within these three choices. Strategies of inquiry are
3.1 Forschungsdesign 79 types of qualitative, quantitative, and mixed methods designs or models that provide specific direction for procedures in a resarch design.“ (2009, S. 11) Damit begegnet die Wahl einer Untersuchungsstrategie einem Grundsatz der Anforderungen an eine wissenschaftliche Arbeit. Durch die Spezifikation des Basisdesigns in Form einer Untersuchungsstrategie wird die Technik des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns offengelegt. Wissenschaft bedeutet unter anderem den Erkenntnisgewinn nach anerkannten Methoden transparent zu gestalten. Die Untersuchungsstrategie stellt diese Transparenz zu einem großen Teil her, da sie beschreibt, nach welchen Prinzipien im gesamten Prozess der empirischen Untersuchung gearbeitet wird (Flick, 2014, S. 121)14. Anschließend wird mit der Charakterisierung der Fallstudienteilnehmer (Abschnitt 3.2) und der Methodenwahl für die Datenerhebung und -auswertung (Abschnitt 3.3) eine weitgehende Transparenz hergestellt. Die Wahl der Untersuchungsstrategie hängt erneut unmittelbar mit dem Charakter der Fragestellung zusammen. Im Prozess der empirischen Untersuchung zur Beantwortung der aus der Forschungsfrage generierten Untersuchungsfragen ist in dieser Arbeit die Entscheidung getroffen worden, ein zweistufiges Untersuchungsdesign zu implementieren. Betrachtet man die Untersuchungsfrage (1), die sich auf einen generellen Vergleich der Erwartungen an Personalführung seitens der Mitarbeiter mit dem Rollenwissen der Führungskräfte bezieht, so wird deutlich, dass sich diese in einem Punkt leicht von den restlichen noch folgenden Fragen (2-4) unterscheidet: Sie beschränkt sich auf eine übergeordnete Skizzierung der beiden genannten Konzepte und stellt die Gedanken der Mitarbeiter denen der Führungskräfte gegenüber. In den restlichen Untersuchungs14 Es gilt zu beachten, dass Flick hier den Begriff „basic design“ verwendet. Bei genauerer Betrachtung fällt aber auf, dass dieser nicht mit der in dieser Arbeit definierten Bedeutung von Basisdesign gleichbedeutend ist. „Basic design“ ist begriffshierarchisch eine Ebene unter dem Basisdesign anzusiedeln und damit synonym für die oben definierte Bedeutung der Untersuchungsstrategie (bzw. „strategy of inquiry“ nach Creswell (2009, S.11)) zu verstehen.
80 3. Empirische Untersuchung fragen ist implizit die Annahme enthalten, dass es so etwas wie eine Erwartungsenttäuschung auf Seiten der Mitarbeiter grundsätzlich gibt. Der Zweck der ersten Untersuchungsfrage kann auch im Rahmen der theoretischen Analyse konkreter formuliert werden: Sie stellt die Führungsprototypen der Geführten (vgl. Abschnitt 2.2) dem (möglicherweise defizitären) Rollenwissen der Führungskräfte (vgl. Abschnitt 2.1) gegenüber. Die erste Studie („Prototypenstudie“, im Folgenden auch „Studie P“) widmet sich daher der Erfassung und dem Vergleich der Prototypen mit den Gedanken der Führungskräfte über ihre Rolle, um mögliche „kritische Bereiche“ einer Erwartungsenttäuschung zu identifizieren. Dies wäre der Fall, wenn Meinungen und Gedanken von voneinander unabhängigen zukünftigen Geführten 15 und bereits erfahrenen Führungskräften differieren. Dabei werden keine existierenden Führungsbeziehungen untersucht, sondern „nur“ eine unabhängige Gegenüberstellung dieser zwei Aspekte. Die Begründung einer zweistufigen Untersuchungsstrategie liegt in den theoretischen Voraussetzungen zu einer Erwartungsenttäuschung: Um eine Erwartung enttäuschen zu können, muss die „Gegenseite“ (die Führungskräfte) entweder trotz Wissens über die Erwartungshaltung mutwillig dagegen verstoßen wollen, oder sie hat eine andere, eine „falsche“ Auffassung darüber, was von ihr erwartet wird und handelt deshalb der Erwartung zuwider. Die mutwillige Erwartungsenttäuschung lässt sich abstrakt nur schwer voraussagen. Der zweite Fall der theoretischen Divergenz zwischen den Verständnissen über Personalführung auf beiden Seiten der Führungsdyade jedoch schon. Die zweite Studie („Führungsbeziehungsstudie“, im Folgenden auch „Studie F“) wird sich der Untersuchung der Wahrnehmungen von Geführten in deren tatsächlichen Führungsbeziehungen widmen, um die restlichen Untersuchungsfragen (2-4) zu beantworten. Auf der Basis dieser Studie wird eine Theorielaboration eingeleitet. Hier treffen die auf Prototypen basierenden Erwartungen der Geführten nun auf die „Realität“ in einer Führungsbeziehung. Die finale Beantwortung der Forschungsfrage vollzieht sich jedoch vor dem Hintergrund der Ergebnisse beider 15 Warum an dieser Stelle von „zukünftigen Geführten“ die Rede ist, folgt in Abschnitt 3.2.
3.1 Forschungsdesign 81 Studien. Vor allem aus Gründen der Validierung ist dieses Verhältnis an dieser Stelle so gewählt worden: Tauchen ähnliche Phänomene sowohl bei einem unabhängigen Vergleich von Führungsprototypen mit dem Rollenwissen von Führungskräften und auch den tatsächlichen Erfahrungen von Geführten innerhalb realer Führungsbeziehungen auf, dann sind diese Rückschlüsse insgesamt als robuster zu bewerten. Teile der aus Studie F zu entwickelnden Theorie werden somit durch den andersartigen Kontext in Studie P validiert. Den Zusammenhang der beiden Studien im Hinblick auf das Ergebnis der Arbeit verdeutlicht Abbildung 5 auf der nächsten Seite.
Führungsbeziehung Abbildung 5: Zwei Studien in der empirischen Untersuchung keine Führungsbeziehung Führungskräfte Rollenbild von Führung Validierung Ergebnis der Arbeit Theorieelaboration Führungskräfte (nicht relevant) Studie P („Prototypenstudie“) Untersuchungsgegenstand: Unabhängige Prototypen und Rollenbilder im Vergleich Geführte: Führungsprototypen Untersuchungsgegenstand: Wahrnehmungen der Geführten in der Führungsbeziehung Geführte: Wahrnehmungen, Gedanken, Reaktionen Differenzierung von Erwartungsinhalten Identifizierung von defizitärem Rollenwissen als „kritischer Bereich“ der potenziellen Erwartungs-enttäuschung (Tendenz: Rollenbild ≠ Führungsprototyp) • • Ziele: Herleitung der Wirkungen auf die Führungsattribution Verbindung von Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen • • Differenzierung von Erwartungsinhalten • Ziele: Studie F („Führungsbeziehungsstudie“) Empirische Untersuchung 82 3. Empirische Untersuchung
3.1 Forschungsdesign 83 Wie in der Abbildung zu sehen, stehen die Ergebnisse der Arbeit im Zentrum. Beide Studien tragen auf unterschiedliche Art und Weise zu dem Ergebnis bei. Die durch Studie F zu entwickelnden theoretischen Ansätze sollen nur dann in die Ergebnisse der Arbeit einfließen, wenn sie sich auch durch Argumente aus der Studie P validieren lassen. Ausnahmen können dann gemacht werden, wenn sich in der noch zusätzlich folgenden Literaturspiegelung der Ergebnisse Gründe für die Unterschiede zwischen Studie F und Studie P finden lassen, sodass diese erklärt und deshalb trotzdem in die Ergebnisse der Arbeit aufgenommen werden können. Die Datenerhebung der beiden Studien erfolgt sequentiell: Zuerst wird Studie P durchgeführt, dann Studie F. Der Grund liegt in der Objektivität der Durchführung. Wenn die kritischen Bereiche aus dem Vergleich der Prototypen mit den Rollenbildern von Führung die Ergebnisse aus den Führungsbeziehungen der Studie F validieren sollen, dann muss Studie P zuerst erhoben werden, um möglichst unvoreingenommen in die Auswertung gehen zu können. Wären schon konkrete Erlebnisse von Geführten in Form von Erwartungsenttäuschungen aus Studie F bekannt, so könnte dies die Auswertung der kritischen Bereiche stark beeinflussen. Zumindest unbewusst könnten die Erfahrungen aus Studie F die Interpretation aus dem Vergleich in Studie P beeinflussen. In der gewählten Reihenfolge ist der Einfluss des Vorwissens durch Studie P auf Studie F als eher gering zu beurteilen. Wie in der Vorstellung der Datenerhebungsmethoden in Abschnitt 3.3 noch zu erläutern, werden durch die gewählte Erhebungsmethode in Studie F die kritischen Bereiche aus Studie P keinen Einfluss auf die Identifikation von Erwartungsenttäuschungen haben, da die Teilnehmer der Studie diese Momente selber definieren werden und die kritischen Bereiche aus Studie P nicht kennen. Damit werden sie nicht durch einen Verglich des Forschers von unabhängigen Aussagen hergeleitet. So wird sichergestellt, dass am Ende zwei unabhängige Studien ohne gegenseitige Beeinflussung in die Ergebnisse der Arbeit einfließen. Die jeweiligen Untersuchungsstrategien und weiteren Aspekte in den folgenden
3. Empirische Untersuchung 84 Abschnittenn werden aber jeweils zuerst für Studie F diskutiert, da diese insgesamt umfangreicher und tiefer sind. Studie P lehnt sich im Kern an die Grundlagen zur Studie F an, jedoch in reduzierter Form. Daher werden die Punkte zur Studie P jeweils im Anschluss an Studie F skizziert. Untersuchungsstrategie Studie F Die Arbeit ist durch einen hohen Novitätsgrad gekennzeichnet, der sich durch das Ziel der Theorieentwicklung vom Umgang mit enttäuschten Erwartungen ergibt. Diese Eigenschaft der empirischen Untersuchung im Rahmen der Führungsbeziehungsstudie F führt unmittelbar zur Untersuchungsstrategie des Fallstudiendesigns („case study research“) (Eisenhardt, 1989, S. 532ff. ; Eisenhardt & Graebner, 2007, S. 25ff.; Yin, 2009, S. 3ff.). Vor allem folgender Zusammenhang gilt für diese Arbeit: „The term theory development is typically reserved for case studies which add new variables, hypotheses, or causal mechanism to a theory.“ (Klenke, 2008, S. 61) Theorieentwicklung, genauer Theorieelaboration, im Rahmen der kognitiven Führungsforschung ist das Ziel der Arbeit. Dort, wo die impliziten Führungstheorien und die geführtenzentrierte Attributionstheorie nicht genügend oder gar keinen Erklärungsgehalt für die Wirkung von Erwartungsenttäuschung bieten, sollen durch die empirische Untersuchung ein möglicher Kausalmechanismus, Propositionen oder neue Variablen postuliert werden. Die Wahl eines induktiven theoriebildenden Verfahrens setzt eine solche Lücke, bzw. eine bisher nicht ausreichende Beantwortung durch die bestehende Theorie, voraus (Eisenhardt & Graebner, 2007, S. 26; Siggelkow, 2007, S. 21). Dieser Zusammenhang ist ein weiteres Argument für die Wahl der Untersuchungsstrategie als ein Fallstudiendesign. Bisher ist das Phänomen nur oberflächlich untersucht worden, nun soll es vertieft und differenziert aufgearbeitet werden. Die beiden wichtigsten Kriterien zur Wahl einer Fallstudienstrategie liegen nach Yin in den „wie“-
3.1 Forschungsdesign 85 Fragen, sowie in der Notwendigkeit, möglichst tief in die realen Phänomene einzutauchen (2009, S. 4). Beide Kriterien werden hier erfüllt: Das untersuchte Phänomen soll tiefer als zuvor untersucht werden und die Fragestellung ist in der „wie“-Form formuliert. Strenggenommen erfüllen aber auch andere Untersuchungsstrategien die beiden oben erwähnten Kriterien. Theoretisch könnte auch ein experimentelles Design oder eine historische Analyse „wie“-Fragen vertieft untersuchen. Yin führt zur Unterscheidung dieser drei Strategien zwei weitere Merkmale ein, nämlich die Kontrolle über das Verhalten und den Fokus auf gegenwärtige Phänomene (Yin, 2009, S. 11f.). Eine historische Analyse bezieht sich zwangsläufig auf Phänomene in der Vergangenheit, zu denen kein aktueller Zugang besteht. Im Rahmen dieser Arbeit sind die Attribution von Führung und Führungsbeziehungen im Allgemeinen zugänglich. Vermutlich täglich entstehen neue Führungsbeziehungen, die untersucht werden könnten. Historische Analysen sind daher auszuschließen. Die Entscheidung zwischen einer experimentellen Ausrichtung oder dem Fallstudiendesign liegt letztendlich in der Kontrollmöglichkeit des Forschers über das Verhalten im Phänomen. Werden isolierbare Variablen untersucht, die gezielt manipuliert werden können, so ist ein experimentelles Design zu bevorzugen. Die Variable der Erwartungen an Führung ist aber in einer differenzierten Form gar nicht bekannt. Auch hat eine nicht an der Führungsbeziehung beteiligte Person keine Kontrolle über diese. Ein Forscher hat weder Einfluss auf den Prototypen von Führung eines Geführten, noch auf das reale Verhalten der Führungskraft (Klenke, 2008, S. 64). Nur durch „echte“ Führungsbeziehungen kann das Phänomen realitätsnah untersucht werden. Somit erscheint die Wahl eines Fallstudiendesigns angemessen: Erwartungen an die Personalführung innerhalb der Führungsbeziehung sind ein eindeutig gegenwärtiges Phänomen, welches kontextabhängig in der jeweiligen Situation der individuellen Führungsbeziehung untersucht werden muss und somit auch nicht unter der Kontrolle oder dem Einfluss des Forschers steht. Designs, welche auf Umfragen mittels geschlossener Items oder die Analyse von Archiven oder Dokumenten zielen, sind grundsätzlich auszuschließen, da sie sich vollkommen anderen Fragestellungen
3. Empirische Untersuchung 86 widmen (Yin, 2009, S. 8). Analog zum Kriterium der „wie“-Fragen argumentiert Gerring für eine Fallstudie, wenn sich die Suche im Rahmen einer Kausalität auf den Mechanismus bezieht und nicht auf den Effekt (2007, S. 43ff.). Der Mechanismus steht für die Aufdeckung eines vorher nicht bekannten Zusammenhangs. Die Suche nach dem Effekt beschäftigt sich primär mit Stärken und Ausmaßen von bereits bekannten Zusammenhängen. Fallstudien erlauben somit „one to peer into the box of causality to locate the intermediate factors lying between some structural cause and its purported effect. Ideally, they allow one to ‚see’ X and Y interact.“ (Gerring, 2007, S. 45) Im Prinzip entspricht diese Charakterisierung der Zielsetzung dieser Arbeit. Die Formulierung der Forschungsfrage zielt auf einen vertieften Blick in die kausalen Zusammenhänge zwischen differenzierten Erwartungsenttäuschungen, Handlungskonsequenzen und Wirkungen auf die Führungsattribution ab. Wie in dem Zitat erwähnt, lässt sich beispielweise erst am Ende dieser Arbeit eine Interaktion von Erwartungsenttäuschung X und Handlungskonsequenz Y formulieren. Ein weiteres wichtiges Argument für ein Fallstudiendesign besteht in der Möglichkeit der Kombination verschiedener Erhebungsmethoden (Eisenhardt, 1989, S. 537). Im Rahmen dieser Arbeit spielen sowohl die hypothetischen Prototypen, die Auffassungen der Führungskräfte hierüber, sowie tatsächliche Wahrnehmungen eine Rolle. Wie in Abschnitt 3.1.2 noch zu diskutieren, werden all diese Aspekte mehr oder weniger direkt und teilweise parallel erhoben, wozu es mehrerer verschiedener Methoden bedarf (siehe Abschnitt 3.3). Aus diesem Grund reicht es auch nicht aus, die Fallzahlen einfach zu erhöhen. Der einzelne Fall in Studie F besteht nicht aus der isolierten Person des Geführten, sondern der gesamten Führungsbeziehung. Innerhalb dieser sind die Erwartungsenttäuschungen aus Sicht des Geführten, beziehungsweise dessen Wahrnehmungen (mehr dazu in Abschnitt 3.2) der Untersuchungsgegenstand. Aus diesem Grund muss der Fall mit zusätzlichen methodischen Mitteln untersucht werden, was nur im Rahmen einer Fallstudie möglich erscheint. Abschnitt
3.1 Forschungsdesign 87 2.5 hat aufgezeigt, wie die Forschungsfrage bisher nur in Ansätzen beantwortet werden konnte und wie durch die konzeptionelle Literaturaufarbeitung die Forschungsfrage in präzisere Untersuchungsfragen aufgeteilt werden konnte. Auch die präzisierten Untersuchungsfragen sind durch ihren „wie“-Charakter für eine Fallstudie prädestiniert. Im Rahmen der Untersuchungsstrategie eines Fallstudiendesigns gilt es zu klären, ob es sich um eine Einzelfallstudie oder mehrere Fälle handeln soll. Wiederum orientiert an Yin fällt in dieser Arbeit die Entscheidung für eine holistische Mehrfachfallstudie („holistic multiple-case design“) (Yin, 2009, S. 46ff.). Dies bedeutet, dass mehr als ein Fall (eine Führungsbeziehung) untersucht werden soll. Insbesondere durch die starke Kontextsensitivität von Führung und den unterschiedlichen impliziten Führungstheorien (Abschnitt 2.2) ist es notwendig, die für die Theorieentwicklung notwendigen Muster in mehr als einem Fall zu suchen, da keine besonders charakteristischen Einzelfälle definiert werden können. Jede Führungsbeziehung unterscheidet sich alleine schon durch die unterschiedlichen beteiligten Charaktere von anderen Führungsbeziehungen, jedoch sind die Rahmenbedingungen relativ einheitlich und dadurch gut vergleichbar (siehe Abschnitt 3.2). Wenn sich nun zentrale Tendenzen zwischen zum Beispiel Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen in mehreren Fällen nachweisen lassen, so gelten diese als robust. Diese sogenannte Replikationslogik (Yin, 2009, S. 54) ist ein weiteres Argument für die hier geplante Mehrfachfallstudie und dem Fallstudiendesign im Allgemeinen. Andererseits gilt das Gebot, die Anzahl der Fälle eher klein zu halten, da ansonsten die Intensität, mit der der einzelne Fall selbst untersucht wird, zu gering werden würde, um den exploratoriven Charakter zu erhalten (Gerring, 2007, S. 20). Der Begriff holistisch beschreibt den Aspekt, dass es innerhalb des Falls nur eine Analyseebene gibt (die enttäuschten Erwartungen der Mitarbeiter an Personalführung) und nicht noch andere Aspekte untersucht werden. Insgesamt bieten Mehrfachfallstudien unter anderem die folgenden Vorteile, die dem Ziel dieser Arbeit entgegenkommen:
3. Empirische Untersuchung 88 „[...] the theory is better grounded, more accurate, and more generalizable [...] propositions are more deeply grounded in varied empirical evidence. Constructs and relationships are more precisely delineated [...]. Multiple cases also enable broader exploration of research questions and theoretical elaboration.“ (Eisenhardt & Graebner, 2007, S. 27) Der zuletzt erwähnte Begriff der Theorieelaboration ist für diese Arbeit besonders wichtig. Es handelt sich dabei nicht um eine Neuentwicklung von Theorie, sondern um eine Fortentwicklung. Die geführtenzentrierte Forschung soll in dieser Arbeit durch eine differenzierte Betrachtung von Erwartungensenttäuschungen und Handlungskonsequenzen spezifiziert weiterentwickelt werden. Nach Eisenhardt und Graebner gilt: „a researcher has to frame the research within the context of this theory [die zu erweitern ist, Anmerkung des Verfassers] and then show how inductive theory building is necessary. Typically, the research question is tightly scoped within the context of an existing theory“ (2007, S. 26) In Kapitel 2 ist der enge Kontext der existierenden Theorie (Attributionstheorie) erläutert worden und die Notwendigkeit für eine induktive Theorieentwicklung konnte hergeleitet werden. Mit der Entscheidung für ein Fallstudiendesign als Mittel zur Theorieelaboration wird in dieser Arbeit im Wesentlichen den Empfehlungen Eisenhardts für den grundsätzlichen Ablauf eines Fallstudiendesigns (1989; Eisenhardt & Graebner, 2007) gefolgt, um das Vorgehen in der Untersuchungsstrategie „Fallstudien“ zu spezifizieren. Wenn Eisenhardt davon spricht, dass es der Zweck von Fallstudien ist, die Dynamiken von Zusammenhängen einzelnen und bestimmten Kontexten zu untersuchen (1989, S. 534), dann stellt die Untersuchung von enttäuschten Erwartungen im speziellen Kontext der Personalführung eine passgenaue Situation für die Anwendung einer Untersu-
3.1 Forschungsdesign 89 chungsstrategie nach dem von ihr entwickelten Ansatz dar. Der erste Schritt ist mit der Entwicklung der Forschungsfrage und der Identifikation der relevanten theoretischen Ansätze (Eisenhardt, 1989, S. 536) bereits in den vorherigen Kapiteln erfolgt. Die daran anzuschließende Fallauswahl ist Gegenstand des Abschnitts 3.2 und wird dort näher erläutert. Genauso sind die Entscheidungen zur Methodenauswahl durch Abschnitt 3.3 repräsentiert und an dieser Stelle ausgeblendet. Der nächste Aspekt in Eisenhardts exemplarischen Ablauf eines Fallstudiendesigns ist wiederum ein wichtiges Kennzeichen dieser Untersuchungsstrategie zur Theorieelaboration: Das parallele Erheben und Auswerten von Daten (Eisenhardt, 1989, S. 539). An dieser Stelle beginnt der Forschungsprozess im engeren Sinne 16 . Für die Theorieentwicklung ist es dabei besonders wichtig, die Flexibilität der Fallstudienuntersuchung dadurch hoch zu halten, dass parallel zur weiteren Datenerhebung die ersten Daten auch schon ausgewertet werden. Dieses Verfahren erlaubt es dem Forscher, Anpassungen der Studie jeder Art noch im Prozess zu vollziehen, um auf neue Erkenntnisse gegebenenfalls reagieren zu können (Eisenhardt, 1989, S. 539). Die Datenauswertung unterscheidet Eisenhardt nochmals in eine fallindividuelle und eine fallübergreifende Auswertung. Diese beiden Schritte sind wiederum in einer Art Abfolge zu verstehen. Zuerst wird mit der individuellen Auswertung jeder Fall intensiv untersucht, um mögliche Zusammenhänge aufzudecken. Anschließend soll in der übergreifenden Auswertung untersucht werden, ob sich Zusammenhänge in Muster oder zentralen Tendenzen über die Fälle wiederholen und ob Oberkategorien gebildet werden können (Eisenhardt, 1989, S. 539ff.). Beide Perspektiven der Auswertung werden in den Ergebnisdarstellungen in Abschnitt 3.4 vorgestellt. Der letzte Schritt bezieht sich auf eine literaturbasierte Interpretation und Diskussion der Ergebnisse, welches im gesamten 16 Von Eisenhardt als Feldzugang („entering the field“) bezeichnet (Jones, Davis, & Gergen, 1961). Damit ist der Moment gemeint, in dem der Forscher beginnt die Daten im realen Kontext („im Feld“) zu sammeln (Yin, 2009, S. 40ff.). Die Besonderheit liegt an dieser Stelle in der Parallelität, dem ständigen Wechsel zwischen Erhebung und Auswertung der Daten. Im klassischen Verständnis von Forschungsprozessen wären dies zwei klar voneinander abgegrenzte Phasen.
90 3. Empirische Untersuchung Kapitel 4 vorgesehen ist. Das von Eisenhardt (1989) postulierte Vorgehen bei der Theorieentwicklung mittels Fallstudienuntersuchung zeichnet im Grundsatz die Untersuchungsstrategie meiner empirischen Arbeit vor. Im Rahmen der Entwicklung der Fragestellung und den Vorerkenntnissen aus einer konzeptionellen Analyse folge ich den Hinweisen mehr oder weniger deckungsgleich. Inwiefern die Besonderheiten dieses Dissertationsprojektes die Fallauswahl und die Wahl der Erhebungs- und Auswertungsmethoden in der Untersuchungsstrategie in Anlehnung an Eisenhardt beeinflusst haben, wird in den anschließenden Abschnitten 3.2 und 3.3 dargestellt. Untersuchungsstrategie Studie P Gemäß der Zielsetzung dieser „Prototypenstudie“, die für sich allein genommen keine Theorieelaboration anvisiert, wird kein klassisches Fallstudiendesign gewählt. Die Untersuchungsstrategie definiert sich durch einzelne und unabhängige Interviews, die wiederum in Abschnitt 3.3 zur Methodik der Datenerhebung genauer beschrieben werden. Es gibt keinen direkt zu isolierenden Fall in Studie P, der alle notwendigen Informationen liefert. Da hier zwei unabhängige Konstrukte skizziert und einander gegenübergestellt werden sollen, existieren zwei „Zielgruppen“: Auf der einen Seite die Führungsprototypen von Individuen und auf der anderen Seite das Rollenwissen, beziehungsweise die Rollenauffassung von Führungskräften. Beide Teile der Studie werden zuerst unabhängig voneinander erhoben und untersucht. Erst in der schlussendlichen Auswertung wird nach vergleichbaren Mustern orientiert ausgewertet und anschließend analysiert, ob sich die einzelnen Inhalte bei Geführten und Führungskräften in den Mustern unterscheiden. Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang die „Unverfälschtheit“ oder „Unberührtheit“ der Führungsprototypen: Die teilnehmenden Geführten sollten ihre Führungsprototypen noch nicht durch reale Führungsbeziehungen möglicherweise angepasst haben, um den Moment der potenziellen Erwartungsenttäuschung zeichnen zu können. Abschnitt 3.2 zur Fallauswahl wird diesen Aspekt noch näher diskutieren, es sei jedoch an dieser Stelle als ein zentrales Merkmal der Untersuchungsstrategie erwähnt, dass auf der Seite der Führungsprototypen von zukünftigen Geführten zu sprechen ist. Damit
3.2 Auswahl und Charakterisierung der Fallstudienteilnehmer 91 sind Personen gemeint, die noch nicht an einer Führungsbeziehung teilgenommen haben, aber in näherer Zukunft voraussichtlich an einer beteiligt sein werden. 3.2 Auswahl und Charakterisierung der Fallstudienteilnehmer Im Vergleich zur quantitativen Forschung ist das „sampling“ im Rahmen einer qualitativen Fallstudie von anderen Grundsätzen geprägt. Anstatt nach statistischen Methoden (Atteslander, 2008, S. 256ff.; Diekmann, 2008, S. 373ff.) empfiehlt Eisenhardt sich bei der Fallauswahl an dem „theoretischen Sampling“ nach Glaser und Strauss zu orientieren (1989, S. 537). Nach diesen Prinzipien werden die Fälle nicht nach wahrscheinlichkeitstheoretischen Aspekten ausgewählt, sondern nach der theoretischen Relevanz (Glaser & Strauss, 2008, S. 57). Ziel ist die Maximierung, Neues zu Lernen (Stake, 1995, S. 4). Grundsätzlich stellt das theoretische Sampling ein Verfahren dar, welches durch die noch zu generierende Theorie begleitet wird und sich daher zu Beginn nur auf die theoretischen Vorüberlegungen stützen kann: „Die anfängliche Entscheidung für die theoriegeleitete Datenerhebung hängt nur von der allgemeinen soziologischen Perspektive und dem allgemeinen Thema oder Problembereich ab. [...] Die Ausgangsentscheidung hängt von apriorischen theoretischen Annahmen ab.“ (Glaser & Strauss, 2008, S. 53) Dabei bewegt sich der gesamte Forschungsprozess in einem iterativen Zirkel, da parallel Daten erhoben und ausgewertet werden (Eisenhardt, 1989, S. 538; Glaser & Strauss, 2008, S. 53). Somit richtet sich die Fallauswahl in Zusammenhang mit der Frage nach der Art der Fälle auf die Passung zu den vorherigen theoretischen Überlegungen und den bis zu einem jeweiligen Punkt gewonnenen Daten. Fortwährend erfolgt dann ein Vergleich zwischen diesen beiden
92 3. Empirische Untersuchung Aspekten, der die Fallauswahl verfeinern und verändern kann (Strübing, 2008, S. 30). Währenddessen lässt sich die Menge der auszuwählenden Fälle wiederum auch nicht anhand statistischer Überlegungen vorab klären, sondern wird im Laufe des Verfahrens durch das Eintreten der sogenannten theoretischen Sättigung erreicht. Damit beziehen sich Glaser und Strauss auf die Situation, in der die Aufnahme eines weiteren Falls keine zusätzlichen neuen Erkenntnisse liefern kann (2008, S. 69). Gleichzeitig stellt die theoretische Sättigung dadurch auch das Ende der gesamten Fallstudienuntersuchung dar, da durch das parallele Erheben und Auswerten von Daten keine weiteren Schritte mehr notwendig sind (Eisenhardt, 1989, S. 545). Vom Grundsatz her wird in der Strategie der empirischen Untersuchung dieses Dissertationsprojektes der oben angeführten Empfehlung gefolgt. Das dargelegte Verfahren der theoretischen Samplings zur Fallauswahl stellt jedoch das idealtypische Vorgehen bei der Theorieentwicklung mittels Fallstudienuntersuchungen dar, welches häufig aufgrund von zeitlichen, monetären und anderen Limitation leicht modifiziert, bzw. reduziert werden muss (Breuer & Dieris, 2009, S. 58; Eisenhardt, 1989, S. 545). Im Zusammenhang mit der Fragestellung dieser Arbeit wird deutlich, dass es sich bei Erwartungsenttäuschungen und dem Umgang mit diesen um ein Phänomen handeln muss, welches grundsätzlich nicht wenig von der Persönlichkeit eines Menschen und von subjektiv wahrgenommenen Eindrücken in teilweise individuell unterschiedlichen Situationen beeinflusst wird. Von daher gilt es bei der Fallauswahl in beiden Studien auf die Charakteristika der Teilnehmer zu achten. Zuerst wird die Fallauswahl in Studie F diskutiert, bevor anschließend kurz die Charakteristika Teilnehmer der Studie P skizziert werden. Studie F Im Hinblick auf Wahl der holistischen Mehrfach-Fallstudie (z.B. wegen der Kontextsensitivität von Führung) sind die gerade genannten Gründe auch maßgebliche Einflussfaktoren für die Fallauswahl. Stellt man sich nun im Sinne eines theoretischen Samplings die Frage, aus welchem Fall am besten zu lernen ist (siehe Abschnitt 3.1.2), so gibt die Forschungsfrage, bzw. die Untersuchungsfragen, konkrete Hinweise. Im Kontext dieser Arbeit muss es sich somit
3.2 Auswahl und Charakterisierung der Fallstudienteilnehmer 93 um Fälle handeln, bei denen noch möglichst „unberührte“ Erwartungen an Personalführung in eine reale Führungsbeziehung einfließen. Wären schon konkrete Erfahrungen mit Führung gemacht worden, so hätten sich mitunter bereits Erwartungsenttäuschungen ergeben können und deren Effekte lägen bereits weit zurück. Möglicherweise wären somit bereits Änderungen von Erwartungen hinsichtlich ihres normativen oder kognitiven Charakters vollzogen worden, oder bestimmte Handlungskonsequenzen hätten nicht mehr exakt in Verbindung gesetzt werden können. In der Praxis bedeutet dies die Wahl von Fällen in Form von Berufseinsteigern. Die Anforderungen an die Teilnehmer der Studie setzen sich daher wie folgt zusammen: 1. Berufseinsteiger mit maximal 6 Monaten Unternehmenszugehörigkeit Möchte man Daten über die Wirkung von Erwartungsenttäuschungen an Personalführung unmittelbar dort erfassen wo sie geschehen, dann ist die Sammlung der Führungswahrnehmung von Berufseinsteigern ein sinnvoller Zugang. Ohne vorherige „vollwertige“ Erfahrungen als Geführte treffen bei Berufseinsteigern zum ersten Mal Erwartungen an Führungskräfte auf ihre tatsächlichen Vorgesetzten. Natürlich muss dieser Aspekt durch vergleichbare Erfahrungen wie Praktika oder Nebenjobs ein wenig relativiert und als Limitation aufgefasst werden, jedoch ist durch den Berufseinstieg die Führungsbeziehung etwas relativ Neues. Um das Feld potenzieller Studienteilnehmer nicht zu sehr einzugrenzen, erscheint eine Zeitspanne von retroperspektivischen 6 Monaten seit Start der Beschäftigung, somit auch der Führungsbeziehung, im Sinne der Empirie vertretbar. Es ist Allgemein davon auszugehen, dass es einer Person noch ausreichend gut möglich sein muss, auf für Sie bedeutende Ereignisse in der Zusammenarbeit mit der Führungskraft innerhalb von bis zu 6 Monaten rückwärtig zu reflektieren.
3. Empirische Untersuchung 94 2. Hochschulabsolventen Ein weiteres Kriterium zur Charakterisierung der Fallstudienteilnehmer ist der berufsqualifizierende Abschluss eines Hochschulabsolventen. Die Ursache für diese Entscheidung bezieht sich hauptsächlich auf die bereits angesprochene starke Kontextsensitivität von Führung, sowie der persönlichen Reife und Reflexionsfähigkeit der Teilnehmer. Im Vergleich zu den grundsätzlichen Tätigkeiten und Gegebenheiten eines Hochschulabsolventen jeglicher Fachrichtung wäre beispielsweise ein ausgebildeter Handwerker kein gut vergleichbarer Fall. Erst recht nicht, wenn es um den grundsätzlichen Charakter der Führungsbeziehung selbst geht, wodurch sich die Führungssituationen und -inhalte bei einer Dyade aus bspw. eines Studenten der Wirtschaftswissenschaften als Berufseinsteiger im Controlling mit seinem Teamleiter stark von denen eines Handwerkergesellen mit seinem Meister unterscheiden dürfte. Die Anforderungen an den Umgang miteinander, an die individuelle Förderung, an das Verständnis von Führung generell unterscheidet sich bei diesen Beispielen offensichtlich in vielen Facetten. Von daher stellt die Eingrenzung auf Hochschulabsolventen einen Versuch der Minimierung einer Vielfalt von Kontextfaktoren dar. Insbesondere ist bei Hochschulabsolventen eine bewusstere und reifere Reflexionsfähigkeit zum Thema Führung zu erwarten, da Sie a) durchschnittlich mindestens 21 Jahre alt sein sollten und daher schon über ein gewisses Maß an Lebenserfahrung verfügen (im Vergleich zu ausgelernten Lehrlingen unter 20 Jahren). Aufgrund der Wahl des hohen Abschlusses muss ein b) Mindestgrad an Karriereorientierung vorliegen, welcher unterbewusst die Ansprüche an eine Führungskraft beeinflussen müsste. Die Wahl eines Hochschulstudiums sollte ein c) grundsätzliches Interesse an Personalführung zumindest implizit suggerieren, da ein Hochschulstudium in der großen Mehrheit der Fachrichtungen noch immer Voraussetzung für eine Führungsposition darstellt, wodurch eine bessere Reflexionsfähigkeit über Personalführung nochmals ver-
3.2 Auswahl und Charakterisierung der Fallstudienteilnehmer 95 stärkt unterstellt werden kann. Weiterhin ist aus der Sozialisationsforschung bekannt, dass mit einem gesteigerten Qualifikationsniveau auch die Anforderungen an die aufgenommene Tätigkeit steigen, sodass mit einer höheren Wahrscheinlichkeit von Erwartungsenttäuschungen ausgegangen wird (Kieser, 1985, S. 71). In Konsequenz dieser Erkenntnis erscheinen auch Enttäuschungen hinsichtlich der Personalführung bei dieser Gruppe von Mitarbeiter als wahrscheinlicher gegenüber geringer qualifizierten Mitarbeitern. 3. Keine eigene Personalverantwortung Die potenziellen Fallstudienteilnehmer sollten sich selbst rein in der Rolle eines Geführten befinden und keine eigene Vorgesetztenfunktion ausfüllen. Eine eigene Führungsverantwortung würde so zu einem komplett anderen Kontext führen, da die eigentliche Geführtensicht durch die zweite Rolle als Führungskraft in einer anderen Beziehung zwangsläufig verzerrt werden würde. In so einem Fall müsste man davon ausgehen, dass viele Wahrnehmungen anders interpretiert und bewertet werden würden als bei Personen, welche einzig die Rolle eines Geführten ausfüllen. Zusätzlich handelt es sich dabei auch in der Praxis um einen tendenziell seltenen Fall, wenn ein Berufseinsteiger sofort Personalverantwortung übernehmen sollte. Insgesamt ist der typische Fall für Studie F ist somit eine, aus der Sicht des Geführten betrachtete, Führungsbeziehung eines Hochschulabsolventen als Berufseinsteiger mit maximal 6-monatiger Unternehmenszugehörigkeit und ohne eigener Personalverantwortung. Unter diesen Voraussetzungen wurden ca. 1 Jahr vor dem Beginn der empirischen Erhebung Stellenanzeigen von Unternehmen in Deutschland für Hochschulabsolventen recherchiert, um Unternehmen zu identifizieren, welche potenzielle Teilnehmer eingestellt haben könnten. Diese Unternehmen wurden kontaktiert und die Bereitschaft zur Teilnahme angefragt. In die Studie haben
96 3. Empirische Untersuchung dadurch 9 Teilnehmer von 4 Unternehmen Eingang gefunden. Die Unternehmen setzen sich sowohl aus kleinen bis mittelständischen Unternehmen als auch Großkonzernen zusammen. Die Teilnehmer sind Absolventen verschiedener wirtschafts-, ingenieurs-, informations- und naturwissenschaftlicher Studiengänge und zwischen circa 23 und circa 34 Jahren alt. Studie P Im Rahmen der Prototypenstudie ist grundsätzlich zwischen zwei Typen von Teilnehmern zu unterscheiden: Die Teilnehmer, welche für die Prototypen von Führung analysiert werden sollen und andererseits diejenigen Teilnehmer, welche für das Rollenwissen von Führungskräften stehen. Zu diesem Zweck konnte für die letztere Gruppe als erstes ein Praxispartner in Form einer großen deutschen Führungskräfteberatung gewonnen werden, die seit mittlerweile 20 Jahren verschiedene Formen von Führungskräftetrainings und -coachings bei mehreren deutschsprachigen Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen für Führungskräfte auf allen Hierarchieebenen durchführt. Im Rahmen von Studie P wurde der Kontakt zu diesem Praxispartner genutzt, um an zwei- bis dreitägigen Seminaren mit Führungskräften teilzunehmen und so die Möglichkeit zu erlangen, in direktem Kontakt die für die Studie benötigten Interviews durchzuführen. Die Auswahl dieses Datenzuganges lässt sich vor allem auch damit begründen, als dass Führungskräfte, die an einem solchen Fortbildungsmaßnahme zum Thema Führung teilnehmen, sich zu diesem Zeitpunkt intensiv mit dem Begriff Personalführung auseinandersetzen. Daher sind sie stark für das Thema sensibilisiert und durch die Veranstaltung schon per se mit der Reflexion ihrer eigenen Personalführung konfrontiert, wodurch sich eine gute Grundlage für die Interviews bot. Somit konnten in dem Zeitraum von Juni bis November 2013 insgesamt 6 Interviews mit Führungskräften aus verschiedenen Unternehmen durchgeführt werden. Vorrangig wurde versucht Führungskräfte mit mindestens zwei verschiedenen Führungspositionen in ihrer Vergangenheit zu befragen, um einen größeren Hintergrund für die Reflexion über Personalführung zu ermöglichen. Leider war es aufgrund der individuellen Bereitschaft der Seminarteilnehmer für ein Interview, sowie aus zeitlich-organisatorischer Sicht nicht immer möglich,
3.2 Auswahl und Charakterisierung der Fallstudienteilnehmer 97 diesem Ideal bei der Auswahl von Interviewpartnern zu entsprechen. Einen kurzen Überblick über die Charakterisierung der Teilnehmer ist Tabelle 3 zu entnehmen: Teilnehmer (Führungskraft) Geschlecht Führungserfahrung in Jahren A m 10 Anzahl der unterstellten Mitarbeiter zum Zeitpunkt des Interviews 8 B w 12 5 3 C m 2 6 1 D w 36 290 >3 E m 6 10 2 F m 10 10 3 Anzahl bisheriger Stationen in der Karriere als Führungskraft 1 Tabelle 3: Charakterisierung der Teilnehmer Studie P auf Seiten der Führungskräfte Die zweite Phase von Studie P bezieht sich auf die Erfassung des Bildes von Personalführung auf der Seite von Studenten, da sie die zukünftigen Geführten in den Unternehmen darstellen. Eine wichtige Prämisse bei der Auswahl dieser Studenten stellte deren Vergangenheit in Bezug auf Führung dar. Die Teilnehmer sollten möglichst keine Erfahrungen in einem Vorgesetztenverhältnis haben, wie es dem in der späteren beruflichen Situation nahekommt. Damit sollte vermieden werden, dass es bereits aufgrund möglicher Erwartungsenttäuschungen schon Arten von Konsequenzen bei der jeweiligen Person gab, welche beispielsweise zu einer retrograden Einteilung in normative oder kognitive Erwartung geführt hat (vgl. Abschnitt 2.1). Die Studenten sollen nur ihr eigenes prototypisches Bild von Personalführung (im Sinne einer impliziten Führungstheorie und Kategorisierung von Führung, vgl. Abschnitt 2.2) frei von direkt und selbst erlebten Erfahrungen aus der Praxis präsent haben, wenn sie an dem Interview teilnehmen. Innerhalb dieser Vorgaben konnten zwischen Februar und Mai 2014 ebenfalls 6 studentische Teilnehmer gewonnen werden. Dazu wurden Studenten
98 3. Empirische Untersuchung des Fachbereiches Wirtschaftswissenschaften der Universität Kassel ausgewählt, welche sich zu dem jeweiligen Zeitpunkt gerade in der Abschlussphase ihres Studiums befanden und die danach den direkten Einstieg ins Berufsleben anstrebten. 3.3 Methodik der Datenerhebung und Datenauswertung Studie F Im Rahmen des qualitativen Forschungsprozesses und der gewählten Untersuchungsstrategie des Fallstudiendesigns sind grundsätzlich eine Vielzahl von Datenerhebungsmethoden denkbar. Die qualitativen Methoden zentrieren sich jedoch in der Regel auf verschiedene Formen von Interviews, Beobachtungen und Dokumentenanalysen (Flick et al., 2009a, S. 332ff.). Wichtigstes Kriterium der Entscheidung für eine Methode ist grundsätzlich das Untersuchungsziel (Stake, 1995, S. 4). Aufgrund der eingangs dieser Arbeit dargelegten Zielsetzung fällt die Wahl der Datenerhebungsmethode auf einen besonderen Ansatz, der sich grundsätzlich an der „diary-interview method“ von Zimmerman und Weider (1977) orientiert. Dabei handelt es sich um zwei miteinander kombinierte Techniken der Datengewinnung, nämlich einer Tagebuchstudie mit hierauf aufbauenden Interviews. Dabei ist der Begriff des Tagebuches nicht als eine private romanhafte und seitenfüllende Reflexion des Erlebten zu verstehen, so wie sie häufig Kinder oder auch einige Erwachsene zu führen pflegen, sondern als ein chronologisches Festhalten kurzer Kommentare zu bestimmten Situationen und Wahrnehmungen. Die Teilnehmer werden dabei gebeten innerhalb einer bestimmten Periode und unter der Beachtung einiger Instruktionen, kurze Notizen zur Beantwortung von offenen oder geschlossenen Fragen anzufertigen, vergleichbar mit einem Logbuch (Schnell, Hill, & Esser, 2008, S. 313; Zimmerman & Weider, 1977, S. 479ff.). In einem zweiten Schritt werden die Tagebücher ausgewertet und als Grundlage für das jeweilige Interview genutzt, um die „selbstbeobachteten“ Aspekte im Gespräch zu vertiefen.
3.3 Methodik der Datenerhebung und Datenauswertung 99 Zimmerman und Weider haben diesen Ansatz entwickelt, um Situationen zu untersuchen die idealerweise mit einer (teilnehmenden) Beobachtung zu erheben wären, bei denen jedoch eine Beobachtung in der Praxis kaum oder gar nicht möglich ist (1977, S. 481). In ihrem eigenen Fall haben die Autoren das Verhalten und die Aktivitäten einer damalig bestimmten Jugendkultur untersuchen wollen. In den ersten Versuchen des methodischen Zugangs per Beobachtung wurde schnell klar, dass sich die Jugendlichen in Gegenwart von älteren Erwachsenen grundsätzlich nicht, aber auch bei kaum älteren und zur Beobachtung geschulten Informanten selten authentisch verhielten. Die reine Anwesenheit von gruppenfremden Personen führte mitunter zu starken Verhaltensänderungen. Zusätzlich führte das klassische Problemen von Beobachtungen nur Verhalten, aber niemals wirklich präzise die Gedanken, Gefühle oder Motive messen zu können, ebenso zu Zweifeln an der Methode. Aus diesen Problemen erwuchs der Ansatz der „diary-interview method“. Die Studie allein auf Interviews zu basieren, wurde ausgeschlossen, da die Autoren keine Sicherheit darüber hatten, auch die im Sinne der Untersuchungsziele korrekten Fragen zu stellen (Zimmerman & Weider, 1977, S. 483). Der Vorteil der „diary-interview method“ ist es nun, das Individuum gleichzeitig zum Beobachter und Informanten machen zu können: „By requesting that subjects keep a chronologically organized diary or log of daily activities, we in effect asked for a record of their own performances [...]. Diarists thus served as adjunct ethnographers of their own circumstances. The next step in our procedure is perhaps the most crucial. The diarist, having furnished an initial record of activities of potential interest to the investigator, was then cast in the role of informant. The diarist was subjected to a lengthy, detailed and probing interview based on the diary in which he or she was asked not only to expand the reportage,
3. Empirische Untersuchung 100 but also was questioned on the less directly observable features of the events recorded, of their meanings, their propriety, typicality, connection with other events, and so on.“ (Zimmerman & Weider, 1977, S. 484) Bis zu diesem Punkt werden schon einige Verbindungen zu den Umständen der in dieser Arbeit durchzuführenden Empirie deutlich. Zuerst handelt es sich bei der Untersuchung der Wirkung von enttäuschten Erwartungen an Personalführung in ähnlicher Weise auch um ein Phänomen, welches theoretisch auch auf den ersten Blick per teilnehmender Beobachtung im Unternehmen mit Blick auf die Führungsbeziehung, empirisch gut erfassbar wäre. Allerdings müsste man in diesem Fall auch sehr stark davon ausgehen, dass die Anwesenheit eines Beobachters womöglich zu deutlichen Verzerrungen des Verhaltens der an der Führungsbeziehung beteiligten Personen führen würde. Weiterhin ist eine Interpretation der hinter dem Verhalten stehenden Gefühle und Gedanken, also der bereits zu Beginn der Arbeit eingeführten kognitionstheoretischen Elemente, nicht fehlerfrei und methodisch einwandfrei gesichert. Ebenso ist es im Rahmen der Untersuchung dieses Dissertationsprojektes in einem isoliert durchzuführenden Interview nicht möglich, die Fragen für einen Interviewleitfaden konkret genug zu formulieren, wenn keine Kenntnisse über die Erlebnisse der Person mit der jeweiligen Führungskraft vorliegen. Es ist also auch hier nötig, ein vorgeschaltetes Element in Form des Tagebuches zu nutzen, um konkrete Fragen für die Interviews zu generieren. Die Fragen beziehen sich nämlich vor allem auf kognitive Vorgänge, wie Emotionen und interaktionsbezogene Reaktionen. Insofern wird das Tagebuch benötigt, um zielführende Fragen generieren zu können: „The diary interview converts the diary – a source of data in its own right – into a question-generating and, hence, datagenerating device.“ (Zimmerman & Weider, 1977, S. 489)
3.3 Methodik der Datenerhebung und Datenauswertung 101 Betrachtet man die methodischen Elemente nochmals isoliert, existieren weitere Argumente für die Eignung dieser Kombination. Tagebücher in der empirischen Forschung sind typischerweise eingesetzt bei unter anderem bei der Suche nach Kognitionen, Emotionen sowie Befindlichkeiten in bestimmten Situationen (Ohly, Sonnentag, Niessen, & Zapf, 2010, S. 80; Seemann, 1997, S. 18). In selber Art und Weise kann das Untersuchungsobjekt dieser Arbeit verstanden werden: Die Erwartungsenttäuschung im Rahmen der Führungsbeziehung auf Seiten der Mitarbeiter und die Konsequenzen dieser sind bestimmte Situationen, in denen es um die Befindlichkeiten der Mitarbeiter geht. Präziser formuliert sind Prozesse rund um Erwartungen und das Reflektieren dieser kognitiven Vorgänge, die auch direkten Einfluss auf Emotionen haben bzw. Emotionen zur Folge haben, im Fokus (Seemann, 1997, S. 38). Insbesondere treten diese Momente innerhalb der Interaktion mit der Führungskraft auf (vgl. Abschnitt 3.1). Tagebücher sind häufig in der Verwendung, um „soziale Interkationen im Zusammenhang mit Befindlichkeitsmaßnahmen und Aspekten des subjektiven Erlebens“ zu erfassen (Seemann, 1997, S. 41). Weiterhin kann man bei der Methode „Tagebücher“ auch von einer Methode sprechen, die es zum Ziel hat, alltägliche Erlebnisse aufzudecken und diese vertieft zu analysieren und zu verstehen. In diesem Zusammenhang ist häufig die Rede von einer Art „event-basiertem sampling“, wobei das Auftreten des relevanten Ereignisses die Initiierung der Datenerhebungstätigkeit darstellt. Ein Vorteil dessen ist es, die direkten und spontanen Urteile von Individuen im Alltag erfassen zu können (Poppleton, Briner, & Kiefer, 2008, S. 483). Solche Studien eignen sich nach Reis und Gable vor allem dazu, als eine „discovery technique“ zu dienen (2000, S. 190ff.). Dies entspricht sehr gut dem explorativen Charakter der Fragestellung dieser Arbeit. Sicherlich kann man bei der Erwartungsenttäuschung von Personalführung nur begrenzt von einem alltäglichen Phänomen sprechen, jedoch lässt sich dieses Phänomen in der Interaktion mit der Führungskraft verorten, welche wiederum im organisationalen Kontext voll und ganz als ein alltägliches Erlebnis bezeichnet werden kann.
3. Empirische Untersuchung 102 Insofern könnte man an dieser Stelle die Frage stellen, warum bei einer derartig guten Eignung der Tagebuchmethode überhaupt noch Interviews in Kombination notwendig sind. Die Antwort zu dieser Notwendigkeit liegt in der Tiefe der Daten. Die durch die Tagebücher generierten Daten bedürfen (besonders in so einem explorativen Zuammenhang wie in dieser Arbeit) tieferer Erläuterungen durch den Teilnehmer, da es sich lediglich um kurze Stichpunkte handelt. So beschreiben auch Zimmerman und Weider den Zweck des anschließenden Interviews als einen Prozess der Ausweitung und Vertiefung, bei dem es gilt, Details aufzudecken und auszufüllen, sowie über die notierte Tatsache hinaus tiefere Gefühle, Gedanken und Verständnisse durch das Gespräch aufzudecken (1977, S. 491). Grundsätzlich können die anschließenden Interviews im Rahmen der gängigen methodischen Differenzierung verschiedener Interviewformen in die Nähe des „fokussierten Interviews“ als Unterform des teilstrukturierten Interviews verstanden werden. Zum einem der Ziele dieser Interviewform zählt in diesem Zusammenhang unter anderem, wenn: „Aufzeichnungen zum Tagesablauf oder persönliche Dokumente zum Gesprächsgegenstand gemacht werden.“ (Hopf, 2009, S. 354) Die Aufzeichnungen zum Tagesablauf sind durch die Tagebucheinträge gegeben. Dadurch wird die notwendige Kenntnis der Situation erlangt, um einen groben Leitfaden zu erstellen. Je nach Situation kann der Leitfaden natürlich aber auch verlassen werden, um spezifischere Aussagen zu untersuchen (Hopf, 2009, S. 353ff.; Lamnek, 2005, S. 368ff.). Der Charakter der Teilstrukturierung ist ein wichtiges Element, um trotz einer Fokussierung noch die notwendige Offenheit und Flexibilität für eine explorative Studie in solchen Fällen gewährleisten zu können, in denen der Teilnehmer andere Aspekte als erwartet in das Gespräch einbringt.
3.3 Methodik der Datenerhebung und Datenauswertung 103 Konkret zusammengefasst stellte sich die Datenerhebung in der Hauptstudie dieser Arbeit nun wie folgt dar: (1) Die Teilnehmer führten in einem bestimmten Zeitraum (2, bzw. 3 Wochen, siehe Abbildung 6) ein Tagebuch im Tabellenformat mit kurzen Fragen zu Ihrer Interaktion mit der Führungskraft. Dort wurde festgehalten der a) Grund der Interaktion oder Art der Situation mit der Führungskraft, b) wie sich die Teilnehmer dabei gefühlt haben, c) ob es überraschende oder verwirrende Elemente gab, ober Gründe, konkret über Führung nachzudenken, d) welche Konsequenzen oder Entscheidungen es gab sowie eine Spalte für e) sonstige Besonderheiten oder erwähnenswerte Aspekte. (2) Die Tagebucheinträge bilden die Ankerpunkte, an denen sich der Leitfaden für das Interview orientiert. Mit den Teilnehmern wurden in den Interviews diese Einträge besprochen und reflektiert, sowie auf mögliche Veränderungen oder Entwicklungen hinsichtlich der Urteile oder Empfindungen eingegangen. Anschließend wurden die Teilnehmer gebeten, das Tagebuch weiter zu führen, um ein weiteres Interview vorbereiten zu können. Zwar stellt die Interaktion eines Mitarbeiters mit der Führungskraft ein häufiges und normalerweise regelmäßiges Element im betrieblichen Alltag dar, jedoch ist nicht davon auszugehen, dass die für die Untersuchung der Wirkung von enttäuschten Erwartungen relevanten Situationen mehrmals täglich auftreten. Folglich musste das „self-monitoring“ der Teilnehmer über einen längeren Zeitraum stattfinden. Andererseits sollten die Ereignisse, auf die sich die Interviews beziehen, nicht schon bereits mehrere Wochen in der Vergangenheit liegen. Ansonsten könnte ein Erinnern der Teilnehmer unnötig erschwert und eine möglichst umfassende Reflektion eventuell verhindert werden. Aus diesen Gründen wurde die Methode in Anlehnung an der „diary-interview method“ zu einem iterativen Prozess weiterentwickelt, wie in Abbildung 6 dargestellt:
3. Empirische Untersuchung 104 TE TE TE TE TE TE TE TE TE TE TE TE TE TE TE TE Interview TE TE TE TE TE TE TE TE Interview TE TE TE TE TE 2 Wochen 3 Wochen TE TE TE TE TE Interview TE TE TE TE TE 3 Wochen TE = Tagebucheintrag Abbildung 6: Ablaufplan Studie F Die obige Abbildung verdeutlicht die iterationsähnliche Vorgehensweise der Studie. In drei Blöcke unterteilt, sollten einmal zwei Wochen lang Daten per Tagebuch mit anschließendem Interview erhoben werden und zweimal drei Wochen lang. Die erste Phase über zwei Wochen ist aus zwei Gründen kürzer als die restlichen. Einerseits sind gerade die ersten Tage im Beruf stark von Orientierung und „sich abtastendem“ Austausch geprägt, sodass hier ein starkes Augenmerk auf diese Phase gelegt werden sollte. Andererseits muss anfangs eventuell jeder Teilnehmer erst in gewisser Weise „üben“, um mit den Tagebüchern zurecht zu kommen, sodass bereits nach kürzerer Zeit in einem ersten Interview auch noch technische Aspekte zur Diskussion kommen konnten. Je nach Datenlage wurde die Anzahl der Intervallblöcke variiert. Die Pfeile in der Abbildung verdeutlichen, dass sich spätere Interviews nicht ausschließlich auf die unmittelbar vorgeschalteten Tagebucheinträge aus dem zugehörigen Block beziehen mussten, sondern bei Bedarf auch Ereignisse aus früheren Tagebüchern thematisiert werden konnten. Je nach Bedeutsamkeit dieses Ereignisses für die Person, oder auch bei wiederkehrenden Themen mit episodischem Charakter, kann es wertvoll sein, ältere Eindrücke zu reflektieren und auch nach möglichen Änderungen der Sichtweisen der Person zu fragen.
3.3 Methodik der Datenerhebung und Datenauswertung 105 Die Tagebücher wurden von den Teilnehmern per Excel-Tabelle geführt. Die Interviews wurden per digitaler Audioaufnahme mitgeschnitten und anschließend in der standardorthographischen Form transkribiert (Kowal & O'Connell, 2009, S. 441). Bei der Transkribtion der Interviews wurden sämtliche persönliche Daten oder Namen von Unternehmen anonymisiert. Im Laufe des Forschungsprozesses trat die Notwendigkeit einer Anpassung des Erhebungsverfahrens auf, weniger aufgrund eines überraschenden Ereignisses, als aufgrund der Erfahrungen der Teilnehmer selbst und der Datenauswertung. Es stellte sich schnell heraus, dass das Führen der Tagebücher zwar sehr effektiv und gewinnbringend war, jedoch bei nahezu allen Teilnehmern nach dem ersten Interview kaum völlig neuen Wahrnehmungen entstanden. Vielmehr handelte es sich um Wiederholungen der selben Erlebnisse nach erfolglosen Handlungskonsequenzen zur Verbesserung, oder aber der positiven Veränderung im Sinne einer Auflösung der Enttäuschungswahrnehmung. Als Konsequenz hieraus wurde der Schwerpunkt des zweiten Interviews stark auf den Bereich der Handlungskonsequenzen gelegt, indem auch Erfahrungen anderer Teilnehmer präsentiert wurden und die Befragten sich in die Lage derer zu versetzten gebeten wurden, sodass Handlungskonsequenzen aus ihrer Sicht diskutiert werden konnten. Diese Abwandlung war im Sinne der Datenerhebung erfolgreich, sodass auf eine dritte Tagebuch-Interview-Iteration in allen Fällen verzichtet wurde. Folglich wurden allen Teilnehmern maximal zwei Interviews geführt, die sich beide hauptsächlich auf die Tagebucheinträge aus der ersten Iteration bezogen17. Im zweiten Interview wurden diese dann teilweise mit Enttäuschungswahrnehmungen anderer Teilnehmer ergänzt, um die Teilnehmer mit Beispielen konfrontieren zu können. Eine dritte Iteration mit Tagebuch und Interview wurde unter diesen Umständen verworfen, da sie nur sehr geringes Potenzial für weitere signifikante Erkenntnisse versprachen. 17 In den wenigen Fällen, in denen neue Enttäuschungswahrnehmungen durch die Teilnehmer festgehalten oder angemerkt worden sind, wurden diese natürlich im zweiten Interview zuerst besprochen. Allerdings gaben 6 der 9 Teilnehmer bei der Organisation des zweiten Interviews die Rückmeldung ab, keine Tagebucheinträge verfasst haben zu können und auch vorerst nicht mit der Möglichkeit weiterer Einträge zu rechnen.
3. Empirische Untersuchung 106 Das typische Analyseverfahren zur Entwicklung gegenstandsbezogener Theorien ist unter dem Oberbegriff des theoretischen Kodierens zusammengefasst (Flick, 2007, S. 258). Ursprünglich gehen die Grundlagen hierzu auf die Arbeit von Glaser und Strauss zur Grounded Theory zurück (1967), in der das Kodieren von bspw. Interviewdaten den ersten Schritt darstellt, um von Daten zu einer Theorie zu gelangen. Es stellt dabei den Bestandteil des Kreislaufes zwischen Datenerhebung und Datenauswertung dar, der die theoretischen Strukturen aus den qualitativen Daten extrahiert (Breuer & Dieris, 2009, S. 69), sie aufbricht, konzeptualisiert und auf eine neue Art zusammensetzt (Strauss & Corbin, 1996, S. 39). Mit dem Ziel der Theorieelaboration wird in dieser Arbeit keine „reine“ Grounded Theory durchgeführt. In vielen Punkten dienen die Prinzipien aber als Vorbild und Orientierung. Deswegen stellt für diese Arbeit der Ansatz des offenen Kodierens die Grundlage dar (Böhm, 2009, S. 477ff.). Dabei handelt es sich im Bezug auf die Arbeit mit dem Datenmaterial (in diesem Fall die transkribierten Interviews) um das Anstellen von Vergleichen zwischen einzelnen Passagen und dem Stellen von Fragen „an den Text“ (Strauss & Corbin, 1996, S. 44). Insbesondere letzteres bezieht sich dabei tatsächlich auf konkrete Fragen an das, was die jeweilige Textpassage genau meint, im Sinne von bspw.: „Worum geht es hier? Welches Phänomen wird angesprochen?“ oder „Welche Begründungen werden gegeben oder lassen sich erschließen?“ (Böhm, 2009, S. 477). Dabei sollen die Aussagen und die dahinterliegenden Phänomene in Begriffe gefasst werden. Je nach Datenlage kann dadurch eine Vielzahl von Kodierungen erstehen (Flick, 2007, S. 259ff.). Ziel dieses ersten Schrittes der Datenanalyse ist die Erstellung von „first-order codes“, die den sinngemäßen Inhalt der Aussagen der Interviewpartner wiedergeben: „A code in qualitative inquiry is most often a word or a short phrase that symbolically assigns a summative, salient, essencecapturing, and/or evocative attribute for a portion of languagebased or visual data. The data can consist of interview transcripts [...].“ (Saldana, 2012, S. 3)
3.3 Methodik der Datenerhebung und Datenauswertung 107 Während der Kodierung der Interviewdaten wurden die bereits erstellten Codes fortwährend auf ihre Gültigkeit geprüft und sowohl den Ergebnissen aus Studie P, als auch der grundlegenden Literatur gegenübergestellt. Insbesondere bei jeder Auswertung eines weiteren Interviews wurden die Codes hinsichtlich ihrer Konsistenz und Zweckmäßigkeit überprüft, bis hin zu dem Punkt der theoretischen Sättigung (siehe Abschnitt 3.2) (Gioia, Corley, & Hamilton, 2013, S. 20ff.; Sonenshein, 2014, S. 820ff.). Im nächsten Schritt wurden thematisch bzw. inhaltlich zueinander passende „first-order codes“ unter „second-order codes“ zusammengefasst. Diese wurden, sofern möglich und ebenso wie die „first-order codes“, mit Begriffen bezeichnet die aus dem Datenmaterial stammen („in-vivo-Codes“) (Flick, 2007, S. 263; Strauss & Corbin, 1996, S. 50). Über das gesamte Datenmaterial hinweg entstand somit ein einheitliches System von Kodierungen. Für die Auswertung besonders wichtig war der nächste Schritt, der mit dem axialen Kodieren einen Abstraktionsgrad hinzufügt. Das Prinzip dieses Schrittes ist gekennzeichnet durch das Ermitteln von Beziehungen rund um ein Phänomen. Es gilt, Obergriffe für die „second-order codes“ zu finden und sie in einer theoretischen Kategorie für das Phänomen zusammenzufassen (Böhm, 2009, S. 478ff.). Die theoretischen Kategorien sind dabei bereits von ihrer Formulierung her deutlich auf einem abstrakteren Niveau zu verstehen als die „second-order codes“, da sie bereits in Richtung einer theoretischen Phänomenologie im Bezug auf die Fragestellung zu platzieren waren (Gioia et al., 2013, S. 20). Auch in diesem Stadium wurden die Kategorisierungen im Sinne eines iterativen Prozesses parallel zur Datenerhebung regelmäßig mit dem Datenmaterial verglichen und eventuelle Anpassungen vorgenommen. Der letzte Schritt der Arbeit am Datenmaterial zur Auswertung bestand in einer weiteren Abstrahierung der Kategorien zu aggregierten theoretischen Dimension, die in eine Theorie zu integrieren waren. An dieser Stelle wurde begonnen, nicht mehr „methodisch“ über die vorhandenen Daten nachzudenken und diese immer weiter abstrakter zu aggregieren, sondern auch „theoretisch“ die Benennung von Phänomenen als Theorieentwicklung zu betreiben. Dieser letzte Schritt der „reinen Datenanalyse“ bildet
3. Empirische Untersuchung 108 jedoch gleichzeitig den fließenden Übergang in den Diskussionsteil der Arbeit (Kapitel 5), welcher die empirischen Ergebnisse in der Form von Theoriebausteinen im Sinne der Grounded Theory nochmals vor der relevanten Literatur und hinsichtlich möglicher weiterer Interpretationen diskutiert und die neu entstandene Theorie in die Forschungslandschaft einordnend positioniert. Während der gesamten hier beschriebenen Phase der Datenauswertung wurde das Softwarepaket MAXQDA zur Datenaufbereitung genutzt. Studie P Für die Studenten und Führungskräfte wurde als Datenerhebungsmethode eine Interviewform gewählt, die dem des teilstandardisierten Interviews ähnelt (Hopf, 2009, S. 351). Dabei wird ein grober Leitfaden vorgegeben, der aber flexibel gehandhabt werden kann. Als Grundlage der Interviews mit den Führungskräften diente ein Leitfaden mit grundsätzlich sechs flexibel abfragbaren Kernbereichen. Ziel war es dabei, die Führungskräfte durch mehr oder weniger offene Fragen dazu anzuregen, über ihre persönlichen Erfahrungen in der Personalführung zu reflektieren. Im Einzelnen sind die Themenbereiche des Leitfadens wie folgt in Fragegruppen kurz zusammenzufassen: a) Rückblick auf die eigene Vergangenheit als Führungskraft b) Fokussierter Rückblick auf einen Wechsel der Führungsposition c) Beispiele für gute und/oder schlechte Personalführung angeben d) Bewertung von „formeller“ und „informeller“ Führung e) Konkrete Erwartungen an die Mitarbeiter und Reflexion über die Mitarbeitererwartungen an eine Führungskraft f) Analyse der Aussage „Mein Chef führt nicht.“ Diese sechs Themenbereiche stellen das Grundgerüst des semistrukturierten Leitfadens dar, welcher nicht als ein streng chronologischer Ablaufplan zu ver-
3.3 Methodik der Datenerhebung und Datenauswertung 109 stehen ist. Je nach Situation und Reaktion der Interviewteilnehmer wurde der Leitfaden individuell angepasst und es wurde beliebig zwischen Themenblöcken gewechselt. Um die Vergleichbarkeit mit den Antworten aus den Interviews mit den Führungskräften sicher zu stellen, wurde der Leitfaden für die Studenteninterviews nur so wenig wie möglich und nur an den dafür notwendigen Stellen angepasst. Die Teilstandardisierung sollte dabei möglichst einheitlich sowohl im Hinblick auf den Aufbau als auch den Inhalt erhalten bleiben. Während die Blöcke c), d) und f) identisch gehalten werden konnten, mussten in den anderen drei Bereichen Anpassungen vorgenommen werden: a) Rückblick auf die eigenen Erfahrungen mit Führungskräften e) Akzeptanz von Führungskräften f) Auffassung über die Erwartungen der zukünftigen Führungskräfte an Sie als Mitarbeiter Im Gegensatz zur Studie F waren nicht primär unmittelbare Erlebnisse aus der eigenen Realität der Teilnehmer von Interesse. Es gab keinen Fokus auf bestimmte Interaktionsmomente und die damit verbundenen Wahrnehmungen. Konkret waren keine erlebten Erwartungsenttäuschungen Ziel der Erhebung. Die Fokussierung auf implizite Phänomene, den Führungsprototypen und dem Rollenwissen von Führung, mit dem Ziel der Vergleichbarkeit, bedarf keines derart starken individuellen Bezugs wie noch die Erhebungsmethode in Studie F. Vielmehr war eine Ermöglichung von einem Mindestmaß an Vergleichbarkeit der Schlüssel für eine effektive Datenerhebung. Diesem Ziel konnte nur durch den Einsatz eines zumindest teilweise einheitlich strukturierten Leitfadeninterviews gerecht werden.
110 3. Empirische Untersuchung Die Datenauswertung der Prototypenstudie erfolgte auf Basis der gleichen Kodiertechnik wie in der Führungsbeziehungsstudie. Allerdings wurde die Auswertung auf der Ebene der theoretischen Kategorien beendet. Eine weitere Abstraktion und Aggregation der Daten war nicht notwendig, da keine Schaffung von Theoriebausteinen notwendig war. Auf der Ebene der theoretischen Kategorien war ein ausreichender Grad an Aggregation und Zusammenfassung erreicht, um dem Zweck der Studie gerecht zu werden. Somit werden in der Ergebnisdarstellung die potenziellen kritischen Bereiche einer Erwartungsenttäuschung anhand unterschiedlicher Tendenzen zwischen den Aussagen der zukünftigen Geführten und der erfahrenen Führungskräfte innerhalb der theoretischen Kategorien diskutiert. 3.4 Ergebnisse Im Folgenden werden die Ergebnisse der empirischen Arbeit dieses Dissertationsprojektes in zwei Schritten dargestellt. Den ersten Schritt bildete Studie P, die es zum Ziel hatte, potenzielle „erwartungskritische“ Bereiche zu identifizieren, in denen es aufgrund divergierender Auffassungen von Führungskräften und Studenten mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit zu Enttäuschungen kommen könnte. Die Reihenfolge der Unterkapitel in dieser Form der Veröffentlichung ist dabei nicht repräsentativ für die Abfolge des Forschungsprozesses. Vor allem im Rahmen der Studie F fand ein permanenter Wechsel zwischen Datenerhebung, Datenauswertung und Überlegungen zum Forschungsdesign statt. Die Logik hinter diesem Ansatz entstammt dem bereits oben erläuterten Prinzipien der Grounded Theory. Zur besseren Übersicht wird aber in der schriftlichen Darstellung auf diese klare Trennung zurückgegriffen, um eine klare Lesestruktur zu schaffen. Um vor den eigentlichen Ergebnissen einen ersten Überblick über die Beschaffenheit der gesamten Datenbasis zu schaffen, fasst Tabelle 4 die gesammelten Interviewminuten, Transkriptionsseiten und Tagebucheinträge aus Studie P und
3.4 Ergebnisse 111 Studie F zusammen. Dabei handelt es sich um eine einfache Addition der Interviewminuten der jeweiligen Teilnehmer sowie den Seiten aus den Transkriptionen, welche einen Eindruck des Umfangs und der Größenordnung der durchgeführten Studie vermitteln. Quelle Interviewminuten18 Transkription19 Tagebucheinträge20 Studie P ca. 364 Minuten (6h 04’) ca. 140 Seiten - Studie F ca. 832 Minuten (13h 52’) ca. 339 Seiten 66 Einträge auf ca. 7,5 Seiten ∑ 1196 Minuten (19h 56’) ca. 479 Seiten 66 Einträge auf ca. 7,5 Seiten Tabelle 4: Deskriptive Kennzahlen der Datenbasis 3.4.1 Ergebnisse der Prototypenstudie Die Interviews mit Führungskräften und Studenten wurden nach den Prinzipien eines Kategoriensystems („theoretische Kategorien“, vgl. Abschnitt 3.3) ausgewertet. Bei beiden Interviewtypen konnte dasselbe Codesystem angewendet werden. Im ersten Teil dieses Abschnittes werden daher sofort die gebildeten theoretischen Kategorien übergreifend für beide Teilnehmergruppen im inhaltlichen Vergleich dargestellt. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der ausführlichen Darstellung der „erwartungskritischen“ Bereiche, während die weiteren theoretischen Kategorien für den späteren Verlauf der empirischen Arbeit keine gesonderte Rolle mehr spielen und daher nicht näher betrachtet werden. Die folgenden kritischen Bereiche greifen dabei teilweise auf mehr als nur eine theoretische Kategorie zurück, da konträre Auffassungen der Studenten und Führungskräfte nicht nur innerhalb einer Kategorie, sondern auch zwischen Kategorien entstanden sind. Insbesondere ist bedeutsam, dass die Auswertung nicht in 18 Auf volle Minuten gerundet (bis 29 Sekunden abgerundet, ab 30 Sekunden aufgerundet) Auf volle Seiten gerundet (angebrochene Seite zählt als volle Seite) 20 Nur in Studie F erhoben. Ein Eintrag entspricht einer Zeile in einer Exceltabelle (Querformat) 19
3. Empirische Untersuchung 112 dem „theoriebildenden Stil“ (vgl. 4.3) und der Detailtiefe der Studie F zu verstehen ist. Die abstrahierten theoretischen Kategorien dienen lediglich der Zusammenfassung im Sinne einer Übersichtlichkeit und Strukturierung der Daten, und nicht der weiteren Theoriebildung über die Auffassungen von Personalführung. Es ging lediglich darum, für die Identifikation der „erwartungskritischen“ Bereiche eine grundsätzliche Beschreibung der Unterschiede in den Verständnissen von Personalführung zwischen Führungskräften und angehenden Mitarbeitern herauszuarbeiten. Diese Beschreibung bedient sich der Auswertungstechnik der theoretischen Kategorien, da diese für ein Phänomen steht, welches mehrere „second-order codes“ miteinander verbindet und zusammenfasst. Ein Vergleich der Aussagen der Studenten mit den Aussagen der Vorgesetzten in den Daten konnte einige Auffälligkeiten hinsichtlich abweichender Verständnisse und somit potenziellen Erwartungsenttäuschungen liefern: 1. Distanz vs. Nähe in der Beziehung Sehr auffällig traten divergierende Verständnisse darüber auf, wie die persönliche Beziehung zwischen Mitarbeiter und Führungskraft hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Nähe und Distanz zu gestalten ist. Aus den Kodierungen der Kategorien „Beziehung“ und „Führungsfehler“ konnten die Aussagen teilweise einander direkt gegenübergestellt werden (Tabelle 5): Nähe vs. Distanz in der Beziehung Führungskräfte Studenten „eher sogar freundschaftliches Verhältnis hat, nicht nur Vorgesetzter und Untergebener zwischen uns beiden.“ Führungskraft A „Also, ich denke, es muss irgendwo ein Verhältnis bestehen, aber schon noch so ein distanziertes Verhältnis. Also, ich denke mal, zu freundschaftlich ist, glaube ich, auch nicht so gut immer.“ Student C „Dann versuche ich auch eingangs erst einmal über private Dinge zu reden.“ Führungskraft B „Weil so man halt immer merkt, wenn sich Freundschaft und Arbeit so vermischen, dann ist es unglaublich schwer, das auch mal zu trennen oder bewusst zu trennen, [...]man wahrt trotzdem so viel Distanz, dass man sagt, das ist
3.4 Ergebnisse 113 Arbeit und das ist Privates. Und privat habe ich meine eigenen Freunde und mit dem Chef bin ich nicht befreundet.“ Student E „wenn man dann einfach einen intensiven Kontakt hat zu so einem Mitarbeiter, wo ich sage, Achtung, da tauscht man sich aus, da redet man miteinander und ja, gut, da „weiß man gegenseitig natürlich sehr, sehr viel von dem her. Also, das sind Sachen, wo ich sage, gut, das bringt einfach ein bisschen, ja, Leben in die Bude“ Führungskraft A „Also, könnte ich mir, also es ist schwer vorstellbar mit der Führungskraft dann mal am Wochenende vielleicht kegeln zu gehen oder so oder was auch immer“ Student D „dann kommt das Problem auf, wenn die Beziehung vielleicht zu nah ist, dass dann die Führungskraft nicht in der Lage ist, [...] diesen Mitarbeiter eben zu sanktionieren oder zu ‚bestrafen’“ Student D „Und er macht dann halt lieber Spaß und ist so der in der Firma der Kumpeltyp von allen und klopft auch jedem auf die Schulter und kann mit jedem gut Bier trinken, aber das untergräbt total seine Rolle als Führungskraft. Also man nimmt ihn nicht als Chef wahr, sondern eben als lustigen Typen in der Firma.“ Student E Tabelle 5: Beispielhafte Aussagen zum Bereich "Nähe vs. Distanz in der personlichen Beziehung" In dem beispielhaften Vergleich der Aussagen wird deutlich, wie auf Seiten der Führungskräfte eher erkennbar ist, dass scheinbar ein verstärktes Streben nach einer intensiveren persönlichen Beziehung vorhanden sein kann, welches teilweise den Wunsch nach einer freundschaftsähnlichen Beziehung in sich tragen kann. Genau dieser Aspekt wird jedoch von den Studenten als negativ empfunden und als ein zu vermeidender Zustand zu beschreiben. In diesem Punkt liegt die Gefahr, dass eine Führungskraft eine starke persönliche Beziehung mit dem Mitarbeiter als einen positiven und erstrebenswerten Zustand versteht und auf diesen hinarbeitet, während die Erwartungshaltung des Berufseinsteigers dieses hohe Ausmaß der Nähe innerhalb der Beziehung zur Führungskraft gerade ex-
3. Empirische Untersuchung 114 plizit nicht als typisch ansieht und dadurch eine konfliktäre Position einnimmt. Insgesamt überwiegen die Aussagen der Studenten die der Führungskräfte. Scheinbar ist es vor allem aus Sicht der zukünftigen Geführten ein wichtigeres Anliegen, als aus der Sicht der Führungskräfte. 2. Vertrauen durch Handlungsspielraum und Delegation Unter diesem Punkt zusammengefasst sind die unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie eine Führungskraft die Mitarbeiter Vertrauen spüren lässt. Vor allem durch den Vergleich von Aussagen aus der Kategorie „Delegation und Verantwortung“ ließen sich in diesem Bereich Unterschiede erkennen: Vertrauen durch Handlungsspielraum und Delegation Führungskräfte Studenten Keine Aussagen bezüglich einer Verbindung von Vertrauen und Handlungsspielraum, Entscheidungsbefugnis oder Verantwortung. „Natürlich sollte er gewissermaßen Verantwortung übertragen auch [...] Also, nicht zu eng, also nicht zu kontrolliert, sondern natürlich sollte das Vertrauen halt da sein“ Student A „Was ich schon gesagt habe, dass man vielleicht auch so ein bisschen klar, wenn der Chef denkt, dass man halt diese Verantwortung hat, also dass man dem Mitarbeiter so ein bisschen Vertrauen entgegenbringt, ihm irgendwie auch mal eine Entscheidung überlasst“ Student C „Also ich würde mich motiviert fühlen durch eine Führungskraft, wenn die, also wenn derjenige mir zum Beispiel sagen würde, ja, ich habe hier ein wichtiges Projekt und ich denke, Sie sind jetzt so weit, dass Sie das weitgehend alleine bearbeiten können oder mit einer Gruppe von Leuten zusammen. Und ich vertraue darauf, dass das gut klappt.“ Student F „Man hat wirklich eine Problemstellung gegeben und gesagt, das brauchen wir bis zu dem und dem Zeitpunkt. Wir vertrauen dir, du kriegst das schon hin.“ Student D
3.4 Ergebnisse 115 „Also ich wünsche mir grundsätzlich immer relativ viele Freiheiten und wünsche mir deshalb nur einen Chef, der mich in diesen Freiheiten bestärkt.“ Student E „Also, ich denke, es muss irgendwo ein Verhältnis bestehen, aber schon noch so ein distanziertes Verhältnis. Also, ich denke mal, zu freundschaftlich ist, glaube ich, auch nicht so gut immer. Also, es soll schon ein bisschen locker sein, aber irgendwo noch, dass man halt diese Respektperson, also diesen Chef schon vor sich sitzen hat.“ Student C Tabelle 6: Beispielhafte Aussagen zum Bereich "Vertrauen durch Handlungsspielraum und Delegation" Tabelle 6 macht deutlich, wie stark die Begriffe Vertrauen, Delegation und Entscheidungsspielraum von den Studenten miteinander verbunden werden. Auf studentischer Seite sehr wurde häufig davon gesprochen, dass sich eine Delegation mit viel Entscheidungsspielraum gewünscht wird. Offenbar spielt dieser Bereich eine große Rolle, um das Vertrauen des Vorgesetzten wahrzunehmen. Eine Delegation von Entscheidungsspielraum wird scheinbar als wichtiger Vertrauensbeweis angesehen. Währenddessen nennen Führungskräfte den Begriff des Vertrauens nicht im Zusammenhang mit Delegation oder Entscheidungsspielraum. Zwar wird vereinzelt erwähnt, dass es ein wichtiges Ziel sei, Vertrauen herzustellen, jedoch werden die Maßnahmen dazu nicht konkretisiert. So könnte es zu Missverständnissen hinsichtlich der Signalisierung von Vertrauen durch die Führungskräfte auf der einen Seite und dem Wahrnehmen von Vertrauen durch die Geführten auf der anderen Seite kommen. Wenn letztere dies eher mit Delegation und Handlungsspielraum verbinden und solche Signale ausbleiben oder in einer zu geringen, nicht zufriedenstellenden Weise und Häufigkeit vorkommen, kann es passieren, dass die Geführten Vertrauen in der Führungsbeziehung vermissen. Ein zusätzlicher Effekt könnte darin liegen, dass der scheinbar starke Wunsch der Studenten nach früher Delegation von Ent-
3. Empirische Untersuchung 116 scheidungsspielraum zu generellen Enttäuschungen als Berufsanfänger führen kann, wenn dieses in dem gewünschten Maße ausbleibt. 3. Aktives Eingreifen/Erkennen der Führungskräfte bei Problemen Durch den Vergleich von Aussagen aus der Kategorie „Fürsorge/Kümmern“ lässt sich ein weiteres Feld skizzieren, das einen kritischen Bereich darstellen könnte. In den beispielhaften Aussagen in Tabelle 7 wird die Diskrepanz zwischen aktivem Verhalten in Form von Interaktion und dem passiven „bloßen Anbieten“ der Führungskräfte hinsichtlich der Problembehandlung auf Mitarbeiterseite deutlich: Aktives Eingreifen/Erkennen der Führungskräfte bei Problemen Führungskräfte Studenten „hör zu, was die wollen und mach es!“ Führungskraft E „Ja, es gibt ja vielleicht auch Leute, die deutlich unterfordert sind. Also, die irgendwo da Anzeichen irgendwie geben, dass sie unterfordert sind, dass sie vielleicht mehr wollen. Und ich denke schon, dass du das als Führungskraft irgendwo sehen solltest“ Student C „jederzeit ein offenes Ohr für Probleme haben“ Führungskraft C „Also er muss ein Gespür dafür haben, ob es dir gut geht oder schlecht geht“ Student E „ich muss ansprechbar sein, ich muss offen sein“ Führungskraft B „Also dieses, ich will nicht das Wort kümmern verwenden, aber vielleicht ist es in dem Zusammenhang gar nicht so falsch. Also derjenige, der guckt, ob alles in Ordnung ist“ Student E „eben dieses offene Ohr, das ich vorher sagte, dass man wirklich, dass sie wissen, sie können eigentlich immer de facto zu mir kommen, wenn irgendwas ist“ Führungskraft A „Wenn ich erkenne, dass mein Mitarbeiter irgendwie vielleicht gerade zuhause bisschen Stress hat [...] sondern auch ihn vielleicht ein bisschen Puffer gestattet“ Student A „Wobei ich bei beiden glaube, dass ganz, „Aber wie gesagt, dass man da so ein bisschen ganz wichtig ist, dass der Vorgesetzte ein sensibel ist, das ist mir halt auch wichtig, dass die offenes Ohr für den Mitarbeiter hat.“ Führungskraft das halt begreift einfach“ Führungskraft C Student A Tabelle 7: Beispielhafte Aussagen zum Bereich „Aktives Eingreifen/Erkennen der Führungskräfte bei Problemen“
3.4 Ergebnisse 117 Studenten als künftige Berufseinsteiger scheinen mitunter die Erwartungshaltung zu haben, dass es an den Führungskräften sei bestimmte Probleme aktiv von alleine zu erkennen und entsprechend zu agieren, ohne dass der Mitarbeiter vorher die Führungskraft darauf hingewiesen hat. Im Gegensatz dazu ist in den Aussagen der Führungskräfte kein derartig aktives Element zu erkennen. Im Hinblick auf Probleme der Mitarbeiter ist hier immer wieder „nur“ die Rede von dem passiven Angebot, ein „offenes Ohr“ zu haben oder immer ansprechbar zu sein. Zwar ist der Wunsch nach einem Angebot dieser Art auch in den Aussagen der Studenten wiederzufinden, jedoch scheint es Arten von Problemen zu geben, bei denen eine aktive Rolle der Führungskräfte erwartet wird. So könnte es zum Fall kommen, dass ein Mitarbeiter mit einem Problem (siehe Tabelle 7, bspw. „Unterforderung“) das aktive Eingreifen seiner Führungskraft als eine Selbstverständlichkeit versteht und auf ein Handeln des Vorgesetzten wartet, während dieser sich in seinem Verhalten sicher wähnt, doch jederzeit ansprechbar und für jedes Problem zugänglich zu sein. So könnte wiederum durch diese unterschiedlichen Auffassungen eine Erwartungsenttäuschung mit noch zu untersuchenden Folgen auftreten. 4. Feedbackrahmen und -häufigkeit  Abschließend konnte ein vierter Bereich mit tendenziell divergierenden Auffassungen skizziert werden, der sich auf die Kategorie „Feedback“ bezieht. In Bezug auf den Begriff Feedback konnten sowohl hinsichtlich der Inhalte als auch der Häufigkeiten von Feedback Abweichungen erkannt werden. Die Studenten scheinen häufiges Feedback auf informeller Basis, sprich in einem spontanen Gespräch ohne offiziellen Rahmen mit sowohl problembezogenen Inhalten als auch Zwecken zum Aufzeigen von Verbesserungen und einem grundsätzlichen Lob, generell den offiziellen Gesprächen (Jour fixe, Mitarbeitergespräch etc.) vorzuziehen. In den offiziellen Gesprächen scheinen die Studenten viel mehr grundsätzliche Zielabsprachen oder andere fundamentale Aspekte der Aufgabenbewältigung zu verorten. Andererseits scheinen einige Führungskräfte nicht nur die Häufigkeit des Bedarfes von informellen Gesprächen zu unter-
3. Empirische Untersuchung 118 schätzen, sondern auch in dieser Gesprächsform viele Themen wie zum Beispiel die Behandlung von Problemen nicht verortet zu sehen (Tabelle 8): Feedbackrahmen und -häufigkeit Führungskräfte Studenten „Genau, die ist deshalb davon nicht so berührt, weil die Mitarbeiter wissen, dass der Rahmen für Konflikte, für Stress mit Arbeitsinhalten usw. in den formellen Gesprächen liegt. Da gibt es Jour fixe, da gibt es Jahresgespräche, Qualifizierungsgespräche und die Mitarbeiter wissen, dass sie da ihre Probleme und Nöte anbringen können. Und deshalb glaube ich, ist es auch so, dass in den informellen Gesprächen dann eher die Sachthemen eine Rolle spielen“ Führungskraft C „während die vorgegebenen Termine, die ja in der Regel auch schon, wenn es ein Jour fixe ist, eben seit einem halben Jahr festgezogen werden oder drei Monate, bevor der Termin ansteht, da lassen sich halt nicht diese Alltagsprobleme lösen“ Student E „Also, diese Adhoc-Gespräche sind natürlich wichtig und es kommt häufig vor, dass der Mitarbeiter vor meinem Schreibtisch steht und sagt: Hier, ich habe ein Problem, hast du kurz Zeit? Dann nehme ich mir die Zeit. Das sind dann aber eher Probleme, die sich auf eine Sache beziehen und nicht in irgendeiner Form in der Zusammenarbeit“ Führungskraft C „das ist ja auch wichtig, dass man zwischendurch mal ein Feedback kriegt oder, ja, dass jemand mal einem sagt, ja, das hast du jetzt gut oder schlecht gemacht. Und, ja, weil sonst sind diese Zeitspannen zu lange, wenn man immer nur darauf wartet, okay, jetzt habe ich wieder ein Gespräch, mache Ziele aus, gut, in einem halben Jahr besprechen wir dann, wie es so läuft, also das ist zu wenig“ Student F „Also, bei mir ist es dann so, wenn ich selbst überzeugt von meiner Arbeit, dann brauche ich ja gar kein Feedback. Aber das merke ich ja selber, wenn ich weiß, das ist gut und so, kann er mir gerne Feedback geben, ja, aber dann ist es dann so, dass ich dann eher nicht annehmen würde. Also, das ist dann, weil ich selber genau weiß, dass es eigentlich okay ist so“ Student A Tabelle 8: Beispielhafte Aussagen zum Bereich „Feedbackrahmen und -häufigkeit"
3.4 Ergebnisse 119 Die Konsequenz dieses Bereiches könnte darin liegen, dass einige Berufsanfänger ein viel häufigeres Feedback in einem inoffiziellen Rahmen erwarten und auch viel öfter Themen innerhalb dieser Gespräche ansprechen möchten, die Führungskräfte möglicherweise eher in einen nicht so häufigen und dafür aber offiziellen Rahmen verlegen würden. Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass Bereiche identifiziert werden konnten, in denen eine Erwartungsenttäuschung besonders wahrscheinlich erscheint. Scheinbar unterscheiden sich die Führungsprototypen von dem Rollenwissen von Führungskräften tendenziell in den oben genannten Bereichen. Innerhalb dieser kritischen Bereiche besteht somit theoretisch die Möglichkeit von defizitärem Rollenwissen oder einem Ressourcenmangel auf Seiten die Führungskräfte (vgl. Abschnitt 2.1). Warum das Rollenwissen von den Erwartungen auf Grundlage der Führungsprototypen voneinander abweicht, ist nicht eindeutig zu identifizieren. Entscheidend für diese Arbeit ist die Möglichkeit einer ersten Unterscheidung von Erwartungen an die Personalführung auf einer inhaltlichen Ebene mit der potenziellen Möglichkeit der Erwartungsenttäuschung. Natürlich ist diese Erkenntnis nur ein erstes Indiz auf eine mögliche Differenzierung. Weiterhin können auch noch keine Aussagen über die unterschiedlichen Wirkungen oder Handlungskonsequenzen getroffen werden. Erst nach einer Vorstellung der Ergebnisse der Studie F kann ein entsprechendes Gesamtergebnis der empirischen Analyse vor dem Hintergrund der beiden Studien in Kapitel 4 diskutiert werden. 3.4.2 Ergebnisse der Führungsbeziehungsstudie Die Begleitung von Berufseinsteigern in Studie F mittels des in den vorherigen Kapiteln erläuterten empirischen Designs und den dazugehörigen Methoden soll die Beantwortung der noch offenen Untersuchungsfragen 2-4 ermöglichen. Erst dann kann eine umfassende Antwort auf die Forschungsfrage dieser Dissertation gegeben werden. Da es hierzu neben der Analyse der empirischen Daten aber auch einer Interpretation bedarf, ist es umso bedeutsamer, die Ergebnisse der
3. Empirische Untersuchung 120 empirischen Studie zur Theorieelaboration so transparent und umfassend wie möglich darzustellen. Aus diesem Grund folgt in den nächsten Abschnitten zuerst eine kurze Zusammenfassung der fallindividuellen Ergebnisse (insbesondere Tabelle 9). Anschließend wird eine fallübergreifende Darstellung der Ergebnisse als Kern der Analyse dargestellt. Dabei bildet die erste Darstellung den Einstieg in das tiefe Datenmaterial, um ein erstes Bild über die Erfahrungen und Wahrnehmungen der Teilnehmer zu zeichnen. Auf diesen individuellen Eindrücken aufbauend folgt die eigentliche Erstellung einer abstrahierten Datenstruktur auf Basis der kodierten Interviewpassagen zur datenbasierten Theorieelaboration. Im Folgenden sind daher die Wahrnehmungen und Eindrücke aller Teilnehmer jeweils isoliert betrachtet und kurz tabellarisch dargestellt. Dies dient dem besseren Überblick über die einzelnen „Geschichten“, die zu jedem Teilnehmer gehören. Dieser Schritt stellt einen wichtigen Einblick in die Daten dar, der zu einem besseren Verständnis der Zusammenhänge führt. Die Kurz- zusammenfassungen stellen nur einen Einblick dar und die anschließenden exemplarischen Zitate beziehen sich auf besonders zentrale Aspekte, die den einzelnen Teilnehmern von besonderer Bedeutung waren. Damit ist insgesamt keine detaillierte Darstellung jeder einzelnen Erwartungsenttäuschung verbunden. Jedoch kann ein jeweiliges mögliches Ursache-Wirkungsverhältnis von wahrgenommenem Führungsverhalten als eine eventuelle Erwartungsenttäuschung mit den anschließenden Handlungen der Teilnehmer erstmals angedeutet werden. Eine Vertiefung dieser Zusammenhänge ist jedoch erst in der fallübergreifenden Analyse möglich.
3.4 Ergebnisse 121 TN21 Kurzzusammenfassung des Falls22 A • Hilfe und Anleitung der Führungskraft nur durch starke Eigeninitiative von A • Führungskraft nicht als Vertrauensperson wahrgenommen • Starke persönliche Distanz, fühlte sich trotz viel eigener Initiative „nicht integriert“ • Hoher Arbeitsdruck mit sehr geringem Handlungsspielraum • Keine Wertschätzung • Zusammenwirken von Distanz in der Beziehung zum Vorgesetzten und der geringe Handlungsspielraum bei hohem Druck wurde als äußerst negativ empfunden • Kündigung nach 2 Monaten B • Grundsätzlich positives Bild der Führungsbeziehung • Starker Wunsch nach mehr Verantwortung („Jammern auf hohem Niveau“) • Nach eigenem Ermessen „alles getan“, um mehr Verantwortung zu bekommen – Situation jedoch nicht verbessert • Fühlte sich „ausgebremst“ • Langfristig vorstellbar, deswegen zu kündigen • Positive Entwicklung der Eigenverantwortung gegen Ende der Studienteilnahme C • Führungskraft befand sich nicht am selben Standort • Empfand einen Mangel an Organisationsfähigkeit beim Vorgesetzten • Unzufriedenheit mit den Feedbackmöglichkeiten • Unpräzise Delegation führte zu hoher Eigeninitiative, ohne aber bei Fehlern „den Kopf hinhalten zu wollen“ 21 22 Bezug zur Studie P Nähe vs. Distanz in der Beziehung Vertrauen durch Handlungsspielraum und Delegation Aktives Eingreifen/Erkennen der Führungskraft bei Problemen Vertrauen durch Handlungsspielraum und Delegation (jedoch ohne direkten Bezug zu Vertrauen) Vertrauen durch Handlungsspielraum und Delegation (jedoch ohne direkten Bezug zu Vertrauen) Feedbackrahmen und -häufigkeit Teilnehmer Um eine maximale Anonymität zu wahren werden alle Teilnehmer geschlechterunabhängig in der männlichen Person beschrieben.
3. Empirische Untersuchung 122 D E • Insgesamt positive Wahrnehmung der Führungskraft und der Beziehung • Hohe Zufriedenheit mit Inhalt und Häufigkeit des Feedbacks • Überrascht über den deutlichen Hinweis, seine Überstunden stark reduzieren zu müssen • Der Teilnehmer fand es generell äußerst wichtig, dass eine Führungskraft schnell Entscheidungen trifft • Insgesamt positive Wahrnehmung der Führungskraft und der Beziehung, jedoch teilweise etwas zu distanziert (was aber nicht als bedeutend empfunden wurde) • Häufiges und schnelles Feedback fiel positiv auf • Gefühl der Unterforderung nach einigen Wochen wurde durch seinen Vorgesetzten nicht bemerkt und verärgerte den Teilnehmer • Hohe Eigeninitiative zur Einforderung von mehr Verantwortung • Handlungsspielraum wurde als einzige Möglichkeit des Vertrauensbeweises gewertet Nähe vs. Distanz in der Beziehung Feedbackrahmen und -häufigkeit Nähe vs. Distanz in der Beziehung Vertrauen durch Handlungsspielraum und Delegation Aktives Eingreifen/Erkennen der Führungskraft bei Problemen Feedbackrahmen und -häufigkeit F • Kaum direkter Kontakt oder sonstige Kommunikation mit der Führungskraft, was zu sehr großer Unzufriedenheit führte • Massive Unterforderung und Langeweile aufgrund von sehr wenig Eigenverantwortung und Handlungsspielraum • Vermisste dadurch auch Vertrauen • Unklarer Aufgabenbereich • Führungskraft bemerkte den Zustand in den Augen des Teilnehmers nicht • Teilnehmer nahm sich vor, trotzdem „noch hartnäckig“ zu bleiben, konnte aber erste Kündigungsgedanken feststellen • Ein zweites Interview konnte nicht stattfinden, da der Teilnehmer nicht mehr zu erreichen war Vertrauen durch Handlungsspielraum und Delegation Aktives Eingreifen/Erkennen der Führungskraft bei Problemen Feedbackrahmen und -häufigkeit
3.4 Ergebnisse G • Grundsätzliche Zufriedenheit mit der Führungskraft • Anfangs nahm der Teilnehmer die Feedbackmöglichkeiten als zu gering war, woran er sich aber später gewöhnte • Nach einem kurzen Negativbeispiel am Anfang, bestand Zufriedenheit mit dem eigenen Handlungsspielraum, welcher als äußerst wichtig eingeschätzt wurde 123 Vertrauen durch Handlungsspielraum und Delegation Feedbackrahmen und -häufigkeit Vertrauen durch Handlungsspielraum und Delegation H • Deutlich positive Grundwahrnehmung der Führungsbeziehung • Positiv überrascht über das hohe Maß an Eigenverantwortung • Zufriedenheit mit Feedbackmöglichkeiten und inhalten, sowie dem „sozialen Gespür“ des Vorgesetzten • Eine teilweise intransparente Informationspolitik verärgerte den Teilnehmer Nähe vs. Distanz in der Beziehung I • Positive Wahrnehmung eines „lockeren Umgangs“ • Viele Feedbackmöglichkeiten in beide Richtungen der Führungsbeziehung • Teilweise fehlten klare Ansagen und steuernde Entscheidungen • Trotzdem gefiel das hohe Maß an Eigenverantwortung, wobei ein gewisses Mindestmaß auch als elementar wichtig angesehen wurde Feedbackrahmen und -häufigkeit Vertrauen durch Handlungsspielraum und Delegation Feedbackrahmen und -häufigkeit Tabelle 9: Kurzzusammenfassungen der Fälle in Studie F Auffällig bei Teilnehmer A ist die Kündigung nach nur zwei Monaten im Unternehmen. Insbesondere die Unzufriedenheit mit der Beziehung zur Führungskraft und die geringe Wertschätzung und Kommunikation wurden direkt auf die Führungskraft bezogen: „Ich hatte auch schon mal so Situationen, wo man einfach, ja, nicht unterstützt gefühlt hat, weil eben, ja, etwas nicht rechtzeitig fertig wurde [A nennt weitere Beispiele, Anmerkung des Verfassers], da würde man sich dann schon wünschen, dass vielleicht auch mein Vorgesetzter mal sagt: ‚Jetzt mach dir nicht so einen Stress, ist doch alles im grünen Bereich. Du bist noch nicht lange da, das erwartet auch noch keiner von dir.’ Solche Tipps, die hel-
3. Empirische Untersuchung 124 fen ungemein. Also, da fühlt man sich nicht ganz so im Regen stehend. Aber so was kam halt eben nicht. Und das hätte ich mir gewünscht und hätte ich auch gebraucht. Und dahingehend ist jetzt meine Einstellung so, ich versuche mein Ding durchzuziehen und weniger zu erwarten, mehr Initiative für mich zu ergreifen. Und wenn ich, ich bin halt eben einfach auch für mich verantwortlich und spüre schon starke Signale. Weil für mich dieser Gedanke zu sagen, okay, ich gucke jetzt trotzdem mal, ob ich mich nicht doch woanders bewerben kann, schon sehr aussagekräftig ist, das auf jeden Fall.“ (A-Interview 1) Das Zitat verdeutlicht den inneren Konflikt von A, auf die vielen Enttäuschungen eigentlich zuerst einmal mit mehr Einsatz zu reagieren, gleichzeitig aber schon gegen Drang ankämpfen zu müssen, an eine Kündigung zu denken – welche A vor weiteren negativen Erfahrungen vorerst bewahren würde. Bei Teilnehmer B überwogen die positiven Wahrnehmungen. Jedoch hatte die Situation rund um den geringen Handlungsspielraum und die wenige Verantwortung für ihn großes Gewicht. Durch eine Umstrukturierung wechselte der direkte Vorgesetzte für B kurz vor dem zweiten Interview. In dieser Führungsbeziehung verbesserte sich die Situation rund das Verantwortungsbefugnis, sodass er zusammenfassend feststellte: B: „vor allem auch diese Geschichte mit, wenn man einmal als Teamleiter oder Projektverantwortlicher viel Verantwortung hat, dann auch wieder Verantwortung abzugeben. Das ist ein ganz großes Ding, was ich zum Beispiel bei meinem ersten Vorgesetzten nach wie vor sehe, also, den ich zuerst hatte. Das ist jemand, der kann extrem schwer Verantwortung abgeben. [...]“ (B-Interview 2)
3.4 Ergebnisse 125 Bei den Teilnehmern C und D gab es im Hinblick auf Erwartungsenttäuschungen im Rahmen der Personalführung nicht so zentrale Punkte wie bei den Teilnehmer A und B, sodass es verschiedene kleinere Aspekte zu bemerken gab. Teilnehmer E wiederum machte deutlich, dass ein genügend großer Handlungsspielraum für ihn äußerst wichtig ist und als einzig möglicher Vertrauensbeweis durch den Vorgesetzten gewertet wird. Wenn diese Signale ausbleiben, wäre das für ihn schnell ein Grund die Führungsbeziehung zu beenden: „Außerdem brauche ich auch, also, ich bin, ich brauche halt in irgendwas Bestätigung und, also, möchte ich auch mich irgendwo drin verwirklichen [...] auch irgendwelche Herausforderungen haben. [...] das mal anzusprechen. Und wenn das dann zwei, drei Mal nicht fruchtet, bin ich hier auch in einem Unternehmen, wo man einen Job auch mal [...] wechseln kann.“ (E-Interview 2) Bei Teilnehmer F waren die kaum vorhandene Verfügbarkeit der Führungskraft und die deutliche Unterforderung zwei zentrale Wahrnehmungen, die schnell zu Frustration führten: „Okay, unter meinem eigentlichen Chef, also in der Linie Vorgesetzter habe ich, glaube ich, in der Zeit, wo ich hier arbeite, fünfmal gesehen, also in vier Monaten. [...] Aber, wie gesagt, also wenn ich einen Termin mit meinem eigentlichen Chef habe, wird das halt auch zu 75% auf jeden Fall erst mal verschoben.“ (F-Interview 1) „Naja, Vertrauen in dem Sinne, dass man vielleicht auch verantwortungsvollere Aufgaben auch übernehmen könnte. [...] Ich komme mir so ein bisschen vor wie ein Praktikant.“ (F-Interview 1)
3. Empirische Untersuchung 126 Die Wahrnehmungen führten bei F insgesamt zu Gedanken an eine mögliche Kündigung, sollte sich die Situation nicht in absehbarer Zeit verändern. Besonders hervorstechende Aspekte konnten bei den Teilnehmern G und H nicht erkannt werden. Teilnehmer I machte jedoch deutlich, sich auch gegen die Führungskraft zu stellen, wenn keine Entscheidungen getroffen oder die Steuerungsverantwortung nicht wahrgenommen wird: „Aber wenn es so ein Wischiwaschi ist, nicht? Der eine macht hier was, der andere da und dann läuft so ineinander über, es wird so ein bisschen schwammig. Am Ende klappt irgendwas nicht und ich soll dann dafür gerade stehen, das sehe ich eigentlich nicht ein.“ (I-Interview 1) Bevor die Daten nun diskutiert und Zusammenhänge postuliert werden können, gilt es, einen fallübergreifenden Überblick über die in den Daten erkennbaren Tendenzen oder Muster zu schaffen. Dazu dient die in diesem Abschnitt zu vollziehende fallübergreifende Auswertung als Ergebnis der Datenauswertung im engeren Sinne und Hauptbezugspunkt der Analyse. Sie bildet die Basis einer Theorieelaboration. Aufgrund der Fragestellung stehen zwei theoretische Konzepte im Fokus. Es gilt, die (1) Erwartungsenttäuschungen den potenziellen (2) Handlungskonsequenzen gegenüberzustellen. Zuerst werden beide Konzepte isoliert in jeweils drei Schritten vorgestellt (Abschnitt 3.4.2.1 und 3.4.2.2). Begonnen wird jeweils mit einer separaten Datenstrukturabbildung, die sich an der Empfehlung einer „data structure“ (als schematische Abbildung der Hierarchie von „second-order codes“, theoretischen Kategorien und aggregierten theoretischen Dimension) von Gioia und Co-Autoren (Gioia et al., 2013, S. 20; Glaser & Strauss, 2008, S. 116ff.) anlehnt. Die jeweiligen theoretischen Dimensionen werden bei ihrer Vorstellung ebenfalls kurz auf verwandte Literatur zur theoriegestützten Begründung reflektiert. Für jede Datenstruktur folgt anschießend eine Übersicht über die jeweiligen Ankerbeispiele der Kodierungen, bevor die ein-
3.4 Ergebnisse 127 zelnen Dimensionen der beiden Konzepte vertieft mit konkreten und beispielhaften Zitaten aus den Interviews inhaltlich abschließend verdeutlicht werden. Nachdem für beide Konzepte diese drei Analyseschritte durchgeführt wurden, werden die Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen auf der Ebene der aggregierten theoretischen Dimensionen final miteinander verknüpft (Abschnitt 3.4.2.3). 3.4.2.1 Erwartungsenttäuschungen: Strukturelle Führung, direktes Führungsverhalten und die persönliche Beziehung Für die Erwartungsenttäuschungen tritt in den empirischen Daten eine Unterscheidung zwischen indirekter Führung, der persönlichen Beziehung sowie der direkten Führung deutlich hervor, dargestellt in Abbildung 7 auf der nächsten Seite:
3. Empirische Untersuchung 128 „second-order codes“ Theoretische Kategorien    Als Mitarbeiter Erfolge nachweisen Schnelleres Arbeiten fordern Hohe Aufgabenumfang insgesamt   Stimmung Grundvoraussetzungen zur Aufgabenerledigung    Teamgeist bilden Gemeinsame Pausen In die Gruppe einbinden    Inhalt Häufigkeit Mitarbeiter-Feedback einholen     Zum Mitarbeiter passend Anweisungsverhalten Aufgabencharakter Verantwortung und Freiraum   Sozial-empathisch Fachlich Proaktivität    Personenbezogen Transparenz Fachlich Kommunikation     Anzahl der Gespräche Mangelnde Präsenz Keine Zeit für den Mitarbeiter Nicht verfügbar wenn Hilfe nötig      Chef vertreten Wahrnehmung Handlungsspielraum Vertrauliche Gespräche Herstellen von Vertrauen Kein Vertrauen spüren     Umgang miteinander Nähe vs. Distanz Interesse an der Person In Pausen nicht als „Chef auftreten“ Aggregierte theoretische Dimensionen Druck Arbeitsbedingungen Strukturelle Führung Integration Feedback Delegation Direktes Führungsverhalten Erreichbarkeit Vertrauen Persönliche Beziehung Beziehungsverhalten Abbildung 7: Datenstruktur der Erwartungsenttäuschungen an Personalführung aus der empirischen Erhebung Grundsätzlich handelt es sich bei diesen Daten um Wahrnehmungen der Teilnehmer, die sie sowohl positiv oder negativ überrascht, enttäuscht, verwundert oder verärgert haben. Vergleichbar mit Studie P ähneln sich die theoretischen Kategorien teilweise, wenn auch im Endeffekt eine abstraktere Analyse hin zu aggregierten Dimensionen vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Zielset-
3.4 Ergebnisse 129 zung notwendig war (vgl. Abschnitt 3.1.2). Die verschiedenen aggregierten theoretischen Dimensionen stehen in ihrer inhaltlichen Ausrichtung für abstrakte Begriffe, die sich jeweils wie folgt charakterisieren und begründen lassen: Strukturelle Führung: Die drei Kategorien Druck, Arbeitsbedingungen und Integration bilden die Dimension der strukturellen Führung. Insgesamt fallen unter diese drei Oberbegriffe Aussagen der Fallstudienteilnehmer hinsichtlich genereller und weniger situativer Wahrnehmungen. Diese resultieren nicht aus einem konkret isolierbaren Interaktionsmoment. Sie sind eher Teile eines Gesamtbildes rund um den eigenen Arbeitsplatz oder die eigenen Tätigkeiten, auf die eine Führungskraft in den Augen der Befragten einen Einfluss hat. Viele Äußerungen beziehen sich dabei auf mehr oder weniger klimatische Aspekte unter der Einwirkung des Vorgesetzten, wie der generelle Druck in Form der grundsätzlich verlangten Arbeitsgeschwindigkeit oder Erfolgsorientierung, dem Umfang von Aufgaben, der Stimmung im Team und der Integration in die Gruppe. Weiterhin nannten die Befragten auch Aspekte der Ausstattung mit Ressourcen, welche notwendig für die Aufgabenerledigung waren. Vor allem aber wurde die Organisations-, Strukturierungs- und Entscheidungsfähigkeit der Führungskraft angesprochen. Die Auswahl des Begriffes der strukturellen Führung als Kategorienbezeichnung löst unmittelbare Assoziationen zu bestehenden Ansätzen der Führungsforschung aus. Strukturelle oder strukturierende Führung wird in der Literatur als ein Gegenpol zu der unmittelbaren Interaktion zwischen Führungskraft und Geführten diskutiert (Wunderer, 2011, S. 77ff.). An viele Aspekte dieser Diskussion lehnt sich die Begründung der hier getroffenen Begriffsauswahl an, übernimmt sie jedoch nicht per se. Für eine genaue Betrachtung und Erläuterung dieses Zusammenhangs ist der Blick auf den Ursprung dieser Diskussion wichtig: die Theorie der Führungssubstitution nach Kerr und Jermier (1978). Die Autoren definieren verschiedene Führungssubstitute, die in gewissen Zusammenhängen und unabhän-
130 3. Empirische Untersuchung gig vom Verhalten der Führungskraft die Mitarbeiter beeinflussen (Kerr & Jermier, 1978, S. 377). Bei der Betrachtung der dort aufgeführten Substitute fallen die Begriffe der Aufgabengestaltung und der Arbeitsgruppe auf. Die Aufgabengestaltung diskutiert unter anderem, wie grundsätzliche Regelungen bezüglich Entscheidungen und Verantwortlichkeiten, aber auch die generellen Charakteristika und Inhalte einer Aufgabe eine direkt eingreifende Interaktion der Führungskraft erübrigen können. Dieser Aspekt findet sich in den theoretischen Kategorien Arbeitsbedingungen und Druck wieder. Das Substitut der Arbeitsgruppe bezieht sich auf ein hoch kohäsives und stark integriertes Team, welches sich durch Normen und Standards steuernd auf die Personen auswirkt (Kerr & Jermier, 1978, S. 377ff.; Weibler, 2012, S. 386ff.). Begriffe dieser Art wurden von den Teilnehmern in der Kategorie Integration angesprochen. An dieser Stelle fällt auf, dass eine Theorie, die versucht Führung durch andere Phänomene zu ersetzen, im Konflikt mit dem Begriff der Personalführung steht. Durch die Substitute wären keine Handlungen der Führungskraft mehr notwendig. Aus der Perspektive dieser Arbeit erscheint dies unproblematisch. Viel mehr handelt es sich um eine logische Konsequenz. Diese Arbeit ist von ihrer theoretischen Ausrichtung her nicht führerzentriert. Es wird an dieser Stelle keine theoretische Dimension einer Führungsdefinition bezeichnet, sondern eine der Erwartungsenttäuschung an die Personalführung aus Sicht der Geführten. Scheinbar erwarten die Geführten von ihrer Führungskraft die Schaffung bestimmter struktureller Elemente, welche die direkte Interaktion mit der Führungskraft ersetzen. Werden diese Elemente nicht in der erwarteten Form geschaffen, so werden Erwartungen enttäuscht und aus den Daten heraus muss eine solche Dimension gezeichnet werden. Einerseits ist nachvollziehbar, dass eine Führungskraft nicht ununterbrochen mit jedem einzelnen Geführten interagieren kann, sodass es generelle Regelungen und Strukturen bedarf. Andererseits lassen sich auch in der Literatur belege hierfür finden. Podsakoff et al. (1993) haben in einer experimentellen Studie untersucht, inwiefern die von Kerr und Jermier postulierten
3.4 Ergebnisse 131 Substitute tatsächlich Führung ersetzen, oder aber anders verstanden werden müssen. Ihre Ergebnisse deuten auf einen Moderationseffekt hin, der in bestimmten Situationen anderen Variablen einen bedeutsameren Einfluss auf die Messung von Führungserfolgsgrößen ermöglicht, als dem interaktionsbasierten Führungsverhalten selbst. Sie definieren die Substitutionsvariablen als wichtige Moderatoren für das Verhalten und der Rollenwahrnehmung von Geführten (Podsakoff et al., 1993, S. 39). Somit ist die Bezeichnung „strukturelle Führung“ nicht als deckungsgleich mit dem Begriff zu verstehen, der eine theoretische führerzentrierte Definition von Führungssubstituten darstellt.23 Es handelt sich in dieser Arbeit um eine Begriffsbezeichnung, die sich zwar an das führerzentrierte Verständnis anlehnt, aber für eine Dimension der Wahrnehmung von Enttäuschungen von Geführten in der Führungsbeziehung steht. Diese grenzt sich durch ihren Inhalt vor allem von eher situativen Wahrnehmungen ab, welche sich nicht auf Strukturen und „Grundregeln“ beziehen. Direktes Führungsverhalten: Die Dimension des direkten Führungsverhaltens war eine besonders deutlich zu erkennende Dimension in den empirischen Daten. Sie besteht aus den Kategorien Feedback, Delegation, Proaktivität und Kommunikation. Hierbei handelt es sich im Vergleich zu der Dimension der strukturellen Führung um die sehr situativ geprägte Wahrnehmung von Handlungen und Aussagen der Führungskräfte in unmittelbarer Interaktion. Insbesondere Erfahrungen zur Delegation waren den Teilnehmern sehr präsent, die sich neben der Art und Weise der Delegation und der Aufgaben vor allem auf einen Grad an eigenem Handlungsspielraum oder eigenverantwortlichen Entscheidungen konzentrierten. Weiterhin wurden in dieser Dimension Aussagen der Teilnehmer zusammengefasst, die sich 23 Weiterhin können auch im Ansatz des „indirect leadership“ Aspekte gefunden werden, die ebenfalls über eine Beeinflussung ohne direkte Interaktion und in Form von Strukturen und Regelungen als Führung bezeichnet werden. Allerdings bezieht sich diese Diskussion auf die strategische Führung der jeweils höchsten Hierarchieebene (Yukl, 2013, S. 21).
132 3. Empirische Untersuchung auf Inhalt und Häufigkeit von Feedback, vornehmlich für die Teilnehmer als Rolle der Feedbackempfänger vom Vorgesetzten, aber auch als Feedbackgeber für den Vorgesetzten als Empfänger beziehen. Unter dem Aspekt der Proaktivität ist das selbstständige Erkennen des Vorgesetzten von bestimmten fachlichen oder sozialen Problemen (o.Ä.) zusammengefasst. Des Weiteren trafen viele Teilnehmer Aussagen zu dem Kommunikationsverhalten der Führungskraft, sowohl auf einer persönlichen Ebene als auch mit fachlichem Bezug und einem generellen Anspruch an Transparenz in Form von Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit. Die Begründung der Begriffswahl „direktes Führungsverhalten“ für diese Dimension liegt unter anderem in der entgegengesetzten Perspektive zur strukturellen Führung. Insofern kann die Wahl des Begriffes durch dieselben Literaturquellen begründet werden, jedoch als kontrastierende Abgrenzung. Anstatt grundlegender Regeln oder Strukturen, die keine direkte Interaktion benötigen, handelt es sich hierbei um das Verhalten und Handeln der Führungskraft in der direkten Interaktion. In klassischen Ansätzen zur Interaktion in der Führung wird im Kern von der Wahrnehmung von aufeinander bezogenem Verhalten und Handeln gesprochen (Weibler, 2012, S. 38), beziehungsweise der gezielten persönlichen Beeinflussung eines Individuums per Interaktion (von Rosenstiel & Kaschube, 2014, S. 678). Führung kann auch als interaktionale Steuerungsleistung verstanden werden, von der „entpersonalisierte Führung durch Strukturen“ abgegrenzt werden muss (Lührmann, 2006, S. 54) (Analog zur Abgrenzung zur strukturellen Führung). Diese interaktionale Steuerungsleistung drückt sich in dieser Arbeit durch die Kategorien Feedback, Delegation, Proaktivität, und Kommunikation aus. In allen diesen Phänomenen kommt mehr oder weniger unmittelbar eine direkt interaktionale Steuerungsleistung vor. Grundlegende Diskussionen um Klassifizierungen von Führungsverhalten befassen sich häufig mit vergleichbaren Begriffen, wie die hier gewählten Kategorien, sodass die Bezeichnungen als gerechtfertigt erscheinen (von Rosenstiel & Kaschube, 2014, S. 695ff.; Yukl, 2013, S. 63f.).
3.4 Ergebnisse 133 Persönliche Beziehung: In den Daten zeigte sich eine Tendenz in Bezug auf die Ausgestaltung der individuellen Beziehung zwischen den Fallstudienteilnehmer und ihren Vorgesetzten. Die Aussagen hierzu wurden in den Kategorien Erreichbarkeit, Vertrauen und Beziehungsverhalten gefasst. Damit repräsentieren sie Aspekte, die sich auf die Möglichkeiten zur Interaktion mit dem Chef und die Abrufbarkeit von Hilfe, auf die Signale, Qualität und Entwicklung von Vertrauen, sowie auf die Qualität und Intensität der individuellen Beziehung beziehen. Im Hinblick auf die theoretischen Kategorien lässt sich die Auswahl der Bezeichnung persönliche Beziehung dieser Dimension wie folgt begründen. Es liegt auf der Hand, dass es sich hierbei um prägende Merkmale einer Beziehung zwischen zwei Personen handelt. In der relevanten sozialpsychologischen Literatur ist die Rede von einer kontinuierlichen Interaktion und einem bestimmten Ausmaß des „sich einander nahe stehens“ (Nestmann & Lenz, 2009, S. 11). Damit ist vor allem den Kategorien der Erreichbarkeit und des Beziehungsverhaltens entsprochen. Ebenso ist der Begriff Vertrauen ein zentraler Bestandteil von persönlichen Beziehungen und eben auch Führungbeziehungen (Bierhoff, 2006, S. 439; Eberl, 2003, S. 28ff.). Insgesamt handelt es sich hierbei um einen allgemeineren Begriff, als bei den beiden anderen Dimensionen der Erwartungsenttäuschungen. Für eine bessere Transparenz soll der folgende Überblick über die Kodierregeln und Ankerbeispiele aus den Interviewtranskripten für die jeweiligen Kategorien eine bessere Nachvollziehbarkeit der Inhalte ermöglichen. Als Ankerbeispiele wurden exemplarisch typische Passagen aus den Rohdaten der Transkripte gewählt (Tabelle 10 auf der nächsten Seite).
3. Empirische Untersuchung 134 Theoretische Kategorie Kodierregel Ankerbeispiel Druck Kodiert wurden Aussagen, die sich auf Anforderungen an die Leistungserstellung sowohl in qualitativer als auch quantitativer Natur beziehen. „Also, ich sage jetzt mal, die Aufgaben sind schon sehr umfangreich. Also das ist schon sehr viel auf einen Haufen.“ (A-Interview 1) Arbeits- Aussagen, welche die Grundvoraussetzungen am Arbeitsplatz hinsichtlich der organisatorischen Steuerung und Strukturierung durch den Vorgesetzten (hinsichtlich klarer Verantwortlichkeiten, Prioritäten, Abläufe etc.), sowie der Ressourcenausstattung und dem Klima im Team betreffen, insofern dies in den Augen der Teilnehmer von einer Führungskraft beeinflusst werden kann. „Was ja aber wahrscheinlich auch, weil im letzten Dreivierteljahr sind halt viele dazugekommen. Und es ist irgendwie so ein bisschen, gerade in diesem Team, so ein Umbruch. Und dadurch ist es so ein bisschen, müsste man das vielleicht alles noch mal neu strukturieren oder mal strukturieren.“ (F-Interview 1) Integration Es handelt sich hierbei um Kodierungen, die sich auf die Herstellung oder Förderung von Zusammengehörigkeit, Teamgeist und Einbindung neuer Mitarbeiter in jenes beziehen. „Da wäre schon manchmal schön gewesen, noch so ein bisschen an die Hand genommen zu werden. In einigen Bereichen vielleicht neue Kollegen vorgestellt werden, die einem in dem Zusammenhang helfen können.“ (GInterview 1) Feedback In dieser Kategorie wurden Aussagen kodiert, welche sich rund um den Aspekt der Leistungsbewertung hinsichtlich Kritik und Lob, Häufigkeit und Anlässe sowie weitere Parameter hierzu, bewegen. „Da war ich halt überrascht, da hätte ich mir vielleicht zwischendurch noch ein bisschen mehr so ein Schwarz-Weiß gewünscht, so nach dem Motto, wenn ein Punkt wirklich schlecht war, dann auch sagen, okay, das war jetzt Mist wirklich. Und bei einem wirklich guten Punkt auch mal wirklich sagen, okay, das war jetzt richtig gut. Und ich hatte immer so den Eindruck, er hat alles so relativ emotionslos kommentiert, da hätte ich mir vielleicht ein bisschen mehr Emotion gewünscht.“ (EInterview 2) bedingungen
3.4 Ergebnisse 135 Delegation Alle Codes in dieser Kategorie wurde vergeben, wenn es um die Handlung einer Aufgabenübertragung und das Verhalten der Führungskraft in diesem Moment ging, wie beispielsweise die Charakteristika der Aufgaben, der Zeitpunkt und die Art und Weise der Übertragung. „Und da habe ich dann wirklich gedacht, das ist nicht das, wofür du angestellt wurdest, das möchtest du hier auch nicht machen. Es war aber von Anfang an klar, dass es nur ein gewisser Zeitraum ist, bis das Gerät dann fertig geprüft ist. Aber da habe ich dann auch gedacht, jetzt bist du froh, dass du endlich auch mal Verantwortung übertragen bekommst, weil dieses stupide, dann vor mich hinarbeiten und jeden Tag das Gleiche machen, fand ich dann sehr langweilig. Also ich brauche dann schon eine gewisse Eigenverantwortung, Aufgaben selber gestalten zu können.“ (G-Interview 2) Proaktivität Es handelt sich hierbei um Aussagen, die ein eigeninitiiertes Erkennen, Ansprechen, Gegensteuern oder sonstige Verhaltensweisen einer Führungskraft betreffen, die sich sowohl auf Aufgaben als auch auf Personen beziehen können. „Ich finde, man sieht Leuten grundsätzlich an, mit einer gewissen Menschenkenntnis, die ich von jeder Führungskraft auch erwarte, dass, wenn es jemandem schlecht geht und das arbeitsbedingt ist, das sieht man Leuten an, finde ich.“ (H-Interview 1) Kommunikation In dieser Kategorie wurden alle Aussagen zusammengefasst, die sich auf das Kommunikationsverhalten von Führungskräften bezieht. Dabei ist der Begriff weit gefasst, indem sich Aspekte wiederfinden wie die transparente Kommunikation, widersprüchliche Aussagen sowie auch das Anhören von Mitarbeitermeinungen. „Aber dann auch wirklich deutlich sagen und dann nicht so Wischiwaschi und dann muss ich aus irgendwelchen, zwischen den Zeilen lesen, ob er gerade Lust dazu hat oder Zeit und den Kopf dafür, mit mir über ein Thema zu reden oder halt nicht. Gut, ist aber, ja, fehlt mir vielleicht auch noch ein Stück die Menschenkenntnis ihm gegenüber.“ (EInterview 2) Erreichbarkeit Kodiert wurden innerhalb dieser Kategorie Aussagen, die die Verfügbarkeit der Führungskraft für Termine, Gespräche und sonstige Interaktionen sowohl zeitlich als auch im Sinne von Anwesenheit. „Bisher, ich habe halt einen Termin jetzt ausgemacht mit meinem Chef. Aber der ist jetzt auch schon zweimal verschoben worden. Und deswegen, also bezüglich der Aufgaben und wollte er sich aber auch noch mal mit zusammensetzen, wie wir das in Zukunft gestalten. Aber, wie gesagt, also wenn
3. Empirische Untersuchung 136 ich einen Termin mit meinem eigentlichen Chef habe, wird da halt auch zu 75 Prozent auf jeden Fall erst mal verschoben.“ (F-Interview 1) Vertrauen Es handelt sich hierbei um Aussagen rund um das wahrnehmen, aufbauen, verletzten oder reparieren von Vertrauen zwischen Mitarbeiter und Führungskraft. „Ich kann nicht so handeln wie ich möchte und ich habe auch einen Vorgesetzten, der irgendwie mir zu fern ist, den ich irgendwie, wo ich kein Vertrauen aufbauen kann.“ (A-Interview 1) Beziehungsver- In dieser Kategorie sind Aussagen enthalten, welche sich auf die Ausgestaltung der Beziehung hinsichtlich eines persönlichen Niveaus, unabhängig von der hierarchischen Differenzierung. „Und mir ist gerade mit meinem Chef das Fachliche und die Kompetenz als Führungskraft wichtiger, als dass ich mit ihm der beste Kumpel bin.“ (EInterview 1) halten Tabelle 10: Kodierregeln und Ankerbeispiele für die Kategorien der Erwartungsenttäuschungen Nachdem nun die aggregierten theoretischen Dimensionen vorgestellt, deren Bezeichnungen begründet und Kodierregeln dargelegt wurden, gilt es abschließend, die theoretischen Kategorien innerhalb der Dimensionen detailliert inhaltlich vorzustellen. Hierbei werden alle analysierten Aspekte mit konkreten Textstellen belegt, um die Daten transparent in die Ergebnisdarstellung einzubinden. Strukturelle Führung Wie bereits oben erwähnt handelt es sich bei dieser aggregierten theoretischen Dimension um Wahrnehmungen der Fallstudienteilnehmer, welche sich auf generelle Elemente beziehen, die um die eigentliche Führungsbeziehung und konkrete Führungssituationen herum die Umstände und Zustände in dem von der Führungskraft beeinflusstem Bereich darstellen. Besonders hervorgehoben wurde von den Teilnehmern die theoretische Kategorie der Arbeitsbedingungen, in deren Zusammenhang sich die Wahrnehmungen stark darauf konzentrierten,
3.4 Ergebnisse 137 inwiefern die Führungskraft in der Lage war, die Grundvoraussetzungen zur Aufgabenerledigung bereit zu stellen. Sie sollte vor allem durch Strukturierungs-, Steuerungs- und Entscheidungsvermögen Klarheit schaffen: „Koordination der Mitarbeiter ist deswegen wichtig, weil das ist hier die Hauptaufgabe einer Führungskraft. Also, eine Führungskraft hat ja von den Themen im Detail meistens nicht so sehr die Ahnung. Gerade, wenn der Chef von mir so ein Projektkoordinator ist, weil jetzt die Koordinatoren stecken ja nicht in so im Detail jetzt in meinem Fall. Dafür gibt es ja dann immer noch die Experten, die koordiniert werden. Und je weiter sich das nach oben zusammenrafft, desto wichtiger sind eigentlich die Koordination und die Entscheidungsfähigkeit aufgrund von gewissen Eckdaten.“ (E-Interview 2) „Oder auch mal eine Liste einfach, den Kollegen aufgelistet, wofür die zuständig sind, weil es halt doch viele Leute sind, die hier arbeiten. Und da mal an den Richtigen zu geraten, ist manchmal ein bisschen schwierig.“ (G-Interview 1) Mitunter entstanden dabei Situationen, in denen die Erwartungsenttäuschung so stark war, dass Teilnehmer direkt selbst versucht haben, den Mangel an Steuerung durch die Führungskraft zu kompensieren, obwohl sie sich dabei nicht wohlfühlten, sodass sich die Enttäuschung noch verstärkte: „But, and when we meet it's important to set an agenda. And that's something I started to do, so, this was a bit strange for me, because, okay, but this is maybe also something cultural, I'm used in Italy, where I come from, the boss is the boss. So you don't try
3. Empirische Untersuchung 138 to go over the boss, so you don't set agendas or you are fired, not fired, but your quite in a bad situation. And here sometimes I wonder, because, okay, there is no agenda, then I set one agenda and then everybody is okay. But that feels strange, because I'm not the project manager, it's not my role.“ (C-Interview 1) Aussagen dieser Art, mit einem Hintergrund einer mangelnden Ausfüllung der Steuerungsverantwortung, stellten den Hauptteil der Kategorie dar. Ein weiterer Bestandteil der Arbeitsbedingungen ist in der Verantwortlichkeit des Vorgesetzten für die Stimmung und des generellen Klimas im Team zu sehen: „Aber prinzipiell natürlich, wenn man einfach eine offene Kultur in der, eine offene Kommunikation in der Arbeitsgruppe fördert, dann sorgt man ja natürlich auch damit, dass Leute proaktiv agieren können. Wenn Sie halt einmal dann proaktiv werden und dann ermutigt werden, dass es gut ist, was Sie da tun, wenn man über irgendwelche Informationen gestolpert ist, die jetzt vielleicht einen nicht selber betreffen, aber die vielleicht einen anderen betreffen, die dann weiterleitet und dann mitgeteilt bekommt: Ja, gut, vielen Dank, das passt. Dann fördert das natürlich Proaktivität. Wohingegen, wenn es dann heißt: Ja, warum schickst du mir denn das jetzt? Das dann natürlich genau das, das genaue Gegenteil bewirkt.“ (D-Interview 1) Weitaus weniger angesprochen, aber trotzdem noch eine klare Tendenz in den Daten, wurden Erwartungsenttäuschungen hinsichtlich der Integrationsarbeit der Führungskraft, welche in der theoretischen Kategorie Integration zusammengefasst wurden. Die Befragten äußerten sich hinsichtlich der Forderung durch Unterstützung durch die Führungskraft bei der Eingliederung in das Team und des Herstellens eines Teamgefühls:
3.4 Ergebnisse 139 „Und umso wichtiger ist es mir eben zu sagen, ich muss mich, ja, in dem Team wohlfühlen, ich muss mich im Team wiedererkennen können und ich muss auch irgendwie gewollt werden von den Teammitgliedern. Ich finde, dahingehend nimmt eine Führungskraft auch immer eine ganz große Rolle ein, diese neuen Teammitglieder irgendwie auch zu involvieren. Und das habe ich bisher halt noch gar nicht erfahren.“ (A-Interview 1) „I think a good leader also plans for some time to make the relationship between group members better.“ (C-Interview 2) Als dritte extrahierte theoretische Kategorie konnte Druck identifiziert werden. Dabei handelt es sich um Wahrnehmungen, welche für eine hohe Arbeitsbelastung und dem Gefühl stehen, ständig Erfolge nachweisen zu müssen: „Das, ja, kriegt man auch in meiner Position schon sehr stark mit, da wird hier jede Zahl, jeder Verkauf wird da an der Tafel festgehalten und hingeschrieben. Und das prägt natürlich auch irgendwie so ein Verhalten. Und, ja, die Situation spricht ja für sich, dass man das einfach nicht lange aushält. Also, wie gesagt, dieser Druck jeden Tag ist einfach, ja, schwierig, also.“ (A-Interview 1)
3. Empirische Untersuchung 140 Direktes Führungsverhalten Der Gesamteindruck der Daten bezüglich der Erwartungsenttäuschungen wird deutlich von denen des direkten Führungsverhaltens dominiert. Insgesamt konnten in den Kategorien dieser Dimension die deutlichsten Muster im Vergleich zu den anderen beiden Dimensionen der Erwartungsenttäuschungen an Personalführung ermittelt werden. Somit sind von den Teilnehmern sehr viele Wahrnehmungen dokumentiert, welche sich auf situativ bezogene, entweder fehlende oder deplatzierte konkrete Handlungen oder Aussagen der Führungskraft aus der direkten Interaktion in der Führungsbeziehung ergeben haben. Eine deutlichste Tendenz ist zu der Kategorie Delegation zu erkennen. Hierbei stellte sich als zentraler Punkt die Wahrnehmung der Teilnehmer in den Vordergrund, zu geringe Verantwortung und einen zu kleinen Handlungsspielraum von der Führungskraft zugesprochen zu bekommen: „Nein, nein, ich würde tatsächlich schon sagen, einiges liegt tatsächlich auch an der Führungskraft. Also, kann ich auch konkrete Beispiele da nennen und, ja, doch, also, ich habe meiner Meinung nach schon zumindest in diesen ersten vier Monaten also ziemlich alles getan, um auch zu zeigen, dass ich auch bereit bin, mehr Verantwortung zu übernehmen, dass ich mehr Verantwortung übernehmen will. Ich frage sozusagen explizit danach. Ja, und das hat aber nicht so gut geklappt, mir wurde sozusagen noch nicht viel mehr Verantwortung übertragen, wenn man so möchte.“ (B-Interview 1) „Und da habe ich dann wirklich gedacht, das ist nicht das, wofür du angestellt wurdest, das möchtest du hier auch nicht machen. Es war aber von Anfang an klar, dass es nur ein gewisser Zeitraum ist, bis das Gerät dann fertig geprüft ist. Aber da habe ich dann auch gedacht, jetzt bist du froh, dass du endlich auch mal Verantwortung übertragen bekommst, weil dieses stupide, dann vor mich hinarbei-
3.4 Ergebnisse 141 ten und jeden Tag das Gleiche machen, fand ich dann sehr langweilig. Also ich brauche dann schon eine gewisse Eigenverantwortung, Aufgaben selber gestalten zu können.“ (G-Interview 1) „Und ich habe aber auch die Verantwortung, Entscheidungen zu treffen, die ich natürlich im Nachhinein noch mal absichere meistens, einfach, weil mir Erfahrung fehlt. Also, von daher bin ich da zufrieden. Aber wenn das nicht so wäre und ich irgendwann denke, ja, ich habe nicht studiert, um diesen Job zu machen, so nach dem Motto.“ (E-Interview 2) Weiterhin konnten viele Teilnehmer feststellen, dass es Erfahrungen hinsichtlich einer nicht zufriedenstellenden Art und Weise bei dem Anweisungsverhalten von Führungskräften in einigen Situationen gegeben hat. In der Konsequenz waren den Befragten Aufgaben, Prioritäten oder Ziele bei konkreten Arbeitsaufträgen unklar, sodass sie nicht wussten wie sie sich verhalten sollten: „Und in dem Fall war es so, dass ich noch in einem Telefonat war und meine Mentorin, es war sechs Uhr, sie hatte schon ihre Sachen gepackt und wollte gehen und hat mir dann nur noch irgendwie im Vorbeilaufen gesagt: "Ja, mach das dann einfach noch fertig." Und dieses Fertigmachen war für mich aber nicht klar definiert. Und als ich dann, ja, was heißt fertigmachen? Also das ist halt so umfangreich, ja, dass man da wirklich auch einiges vergisst, gerade, wenn man diese Abläufe noch nicht so kennt. Ich habe dann die Aufgabe so weit fertiggemacht, wie ich der Meinung war, dass es richtig ist, bin dann zur entsprechenden Account Managerin gegangen, habe gesagt: Du, ich habe dir die Sachen dann geschickt, passte das so? Und dann sagt sie: Ja, wie, ja, ich warte schon die ganze Zeit auf deine E-Mail. Ich sage: Ja,
3. Empirische Untersuchung 142 ich habe die dir doch gerade schon geschickt mit dem CVs. – Ja, aber da musst du ja noch die Anschreiben-E-Mail zu schreiben. Das muss jetzt noch fertiggemacht werden. Und da war ich so perplex, weil meine Mentorin mir das so in keinem Fall richtig gut gesagt hat.“ (A-Interview 1) In enger Verwandtschaft zu den Problemen bezüglich des mangelnden Handlungsspielraumes äußerten einige Teilnehmer auch Erwartungsenttäuschungen über die Gesamtqualität und -quantität von Aufgaben, wodurch sie eine Unterforderung störend belasten würde: „Ja, generell erst mal wäre das für mich ziemlich schlimm, glaube ich, weil ich bin ein Typ, ich muss mich jetzt nicht totarbeiten, sage ich jetzt mal ganz ehrlich. Ich habe jetzt drei Jahre dual studiert und genieße es auch mal, eine normale Auslastung zu haben, also, und dann auch nach Feierabend nichts mehr zu machen. Aber es gibt eigentlich für mich nichts Schlimmeres, als nach Feierabend nach Hause zu kommen und zu sagen, boah, heute hast du ja nichts gemacht. Und dann musst du erst mal noch drei Stunden Sport machen oder so, bevor du dich dann irgendwie mal halbwegs zufrieden fühlst mit dem Tag. Weil ich habe halt gerne was geschafft, bevor ich mich irgendwie auf das Sofa lege.“ (E-Interview 1) Eine weitere Tendenz dieser Kategorie ist durch den Aufgabencharakter gegeben. Unabhängig von der Auslastung und dem Anspruch ging es hierbei hauptsächlich um das Bedürfnis des Lernens durch Aufgaben und der Abwechslung: „Die Aufgaben sollen auch schon bestimmten Charakter haben, die Aufgaben sollen auch immer mal komplett neue Themen auf-
3.4 Ergebnisse 143 greifen, weil ich mich ja, weil ich ja mein Wissen erweitern will und weil ich auch meine Kompetenz erweitern will.“ (H-Interview 1) Die theoretische Kategorie Kommunikation ist in ihrer Bedeutung deutlich von der Delegation abzugrenzen, aber trotzdem noch als auffälliges Muster in den Daten hervorzuheben. Einen Schwerpunkt in der personenbezogenen Kommunikation bildete hierbei die Wahrnehmung von Enttäuschungen hinsichtlich einer Gleichberechtigung, ausgedrückt dadurch, dass die Kommunikation in der Führungsbeziehung nicht einseitig sein sollte, sondern dass auch die Führungskraft die Meinung der Geführten aufnehmen sollte. Diese Meinung kann dabei unterschiedlich gestaltet sein, beispielsweise als Entscheidungsunterstützung oder auch als Kritik: „So if he or she takes unilateral decision without at least listening to other people, that’s bad.“ (C-Interview 2) „Also dass das gar nicht so gewünscht ist, dass diese Kritik, eine offene Kritik äußern zu dürfen, ohne, dass man da irgendwie das Gefühl hat, es zieht Konsequenzen nach sich, das ist für mich ein ganz wichtiges Gefühl. Wo ich zukünftig sehr viel Wert drauflegen werde, dass man da, dass das, ja, irgendein Faktor ist, der da gegeben sein muss.“ (A-Interview 2) „Also, was mir immer ganz wichtig ist, ist, dass einem zugehört wird, ja?“ (B-Interview 2)
3. Empirische Untersuchung 144 Ein weiterer für die Teilnehmer bedeutsamer Teilaspekt der Kommunikation liegt in der Transparenz. Die Wahrnehmungen hierzu verteilen sich auf die Aspekte von Unglaubwürdigkeit, mangelnden Erläuterung von Entscheidungen oder widersprüchlichen Aussagen: „At other times if you recall what happened was, that I wrote some documents and they were even trashed. I mean, even my backup copy was deleted because it was stored in a shared folder on a server. And I spent some days working on it. ‚Okay, we don’t like this, it’s not like we want it, then we trash it.’ And they didn’t even tell me.“ (C-Interview 2) „Elementar finde ich Abstimmung, das tun, was vereinbart wird und die vereinbarten Konsequenzen dann auch ziehen. Also, es gibt eigentlich nichts Schlimmeres, als wenn man, ja, das eine halt sagt und das andere dann tut. [...] Das wäre für mich schon sehr wichtig. Das ist eine Art von in den Rücken fallen irgendwo auch. Ja.“ (I-Interview 1) Bezüglich der fachlichen Kommunikation war in den Daten die Wahrnehmung zu erkennen, zu wenig in bestimmte fachliche Themen oder den Austausch darüber involviert zu werden: „Also wenn ich jetzt Ende dieses Jahres, wenn ich dann eineinhalb Jahre hier im Unternehmen bin, immer noch das Gefühl habe, dass es genauso ist, dass ich irgendwie was bestimmte Themen angeht, irgendwie außen vor bin, dass ich irgendwie nur so, ja, so, ja, nur so halb dazugehöre – in Anführungszeichen – würde ich das vielleicht mal ansprechen.“ (D-Interview 1)
3.4 Ergebnisse 145 Vergleichbar deutlich zu verzeichnen gewesen ist die Antworttendenz zur Kategorie Feedback. In diesem Zusammenhang traten vor allem Enttäuschungen über den Inhalt und die Qualität von Feedback bei den Teilnehmern auf, mit Schwerpunkt auf einen (potenziellen) Mangel an Lob oder Wertschätzung, sowie der Klarheit von Feedback im Sinne einer transparenten Differenzierung zwischen positiven und negativen Aspekten: „Also das, wenn man keine Wertschätzung erfährt oder auch irgendwie das Gefühl hat, irgendwie es könnte sich, wird sich schon noch was ändern oder es wird vielleicht besser werden, dann resigniert man dann irgendwann auch.“ (A-Interview 2) „Also, ich finde, ein Chef muss sehr gute Leistung registrieren und widerspiegeln. Und ich glaube, wenn man einen großen Fehler macht, dann muss man auch drauf hingewiesen werden mit, ja, vielleicht so einer Möglichkeit, dass man es besser macht.“ (I-Interview 1) In engem Zusammenhang dazu stand die mitunter angeführte Wahrnehmung, bei der Häufigkeit und der Unmittelbarkeit des Feedbacks enttäuscht werden zu können: „Dass die Führungskraft sowohl mit Lob und Anerkennung, also auch mit berechtigter Kritik sehr offen umgeht. Und dass diese Themen nicht dann irgendwie so ein halbes Jahr sich erst aufbauen und dann auf einmal bekommt man alles mit der groben Kelle dann auf den Tisch geknallt, sondern dass halt Dinge kurzfristig, also kurzzeitig, mit kurzzeitigem Abstand halt angesprochen werden.“ (D-Interview 1)
3. Empirische Untersuchung 146 Die theoretische Kategorie der Proaktivität stellte eine her gering Anworttendenz in den Daten dar. In erster Linie handelte sich um Aussagen der Teilnehmer, inwiefern die Führungskraft von sich aus Missstände, Probleme oder ähnliche Aspekte auf Seiten der Mitarbeiter wahrnehmen und entsprechend handeln würde, ohne dass die Mitarbeiter darauf hingewiesen haben. Im Bereich der sozial-empathischen Proaktivität wurde beispielsweise die Wahrnehmung von Konflikten zwischen Mitarbeitern genannt: Ich finde, das gehört mit zu einem Teil der Führungspersönlichkeit, dass er eben solche Konflikte auch erkennt, selbst, wenn sie gar nicht direkt an ihn herangetragen werden. Das heißt also, Konflikte in seinem, in dem eigenen Team muss man, finde ich, erkennen können. (B-Interview 2) Persönliche Beziehung Die aggregierte theoretische Dimension der persönlichen Beziehung spiegelt die Wahrnehmungen bezüglich der Beziehung mit der Führungskraft selbst wieder, hinsichtlich Intensität und Qualität des Umgangs miteinander, sowie hinsichtlich des Aspekts Vertrauen. Weit verbreitet waren die Wahrnehmungen innerhalb der Kategorie Beziehungsverhalten, welche stellvertretend vor allem für das Ausmaß von Nähe oder Distanz zwischen Mitarbeiter und Geführten steht: Ich denke schon, dass, also ja, also ich denke schon, dass da noch eine gewisse Distanz, also schon noch herrschen sollte. Also was heißt jetzt Distanz? Ist jetzt auch ein weiter Begriff, also so mein bester Kumpel sollte es jetzt vielleicht nicht werden, denke ich schon. Also ich finde, wenn man so ein gutes Verhältnis hat und sich auch mal über das Private austauschen kann, das ist schon ganz nett. Aber so ganz, dass man sich jetzt auch so neben der Arbeit her. Gut, jetzt, wenn sich die ganze Abteilung oder so trifft,
3.4 Ergebnisse 147 das ist ganz nett, aber so ganz persönlich, das wäre jetzt auch nichts für mich. Ich glaube, da leidet dann auch immer so ein bisschen die Loyalität, auch den anderen gegenüber. Also so, das ist so ein bisschen schwierig, das bräuchte ich jetzt nicht unbedingt. [...] Ich würde es auch nicht wollen, sagen wir mal so.“ (F- Interview 1) „Wir haben ein gutes Verhältnis. Aber manchmal würde ich mir einfach wünschen, dass es so ein bisschen freundschaftlicher halt ist und so.“ (E-Interview 1) „Usually and for instance, when I sit with, because we have this Mitarbeiterbesprechung two times per year and the last time I heard the fame or infame words, sentence, ah, but we are like a big family. Wow, wait a moment, no, no, never say that to me. [...]So, I, for me it's nice, when my project manager asks me how is it going home, if everything is alright, but if it stops at that, then I'm happy, because he shouldn't become invasive. So, from this point of view I don't see my project manager as my friend, but it's okay, he's not my friend.“ (C-Interview 1) Ein weiteres Merkmal dieser Kategorie, jedoch deutlich geringer als die Frage der Nähe oder Distanz, sind die Äußerungen zu der Prägung des Umganges in der Beziehung formuliert durch einen Bezug zu unter anderem Respekt und Regeln: „was ich von mir preisgebe, das wird aufgegriffen, da wird dann auch nachgefragt, da wird dann auch gerne diskutiert. Und da ist
3. Empirische Untersuchung 148 man zu späteren Zeitpunkten gerne auch zurückgekommen, aber es wird nicht gebohrt. Also da wird dann auch schon entsprechend Wert auf die Privatsphäre gelegt.“ (D-Interview 1) „Und mir fehlt so ein bisschen dieses Schwarz-Weiß bei meinem Chef, sage ich mal. Das ist alles so, aber das, weiß ich nicht, es ist halt auch schwierig bei, dann irgendwie rüberzubringen. Also, das meine ich jetzt nicht negativ oder ich will Ihnen damit nicht irgendwie sagen, das ist ein doofer Chef, er ist ein sehr guter Chef. Aber das ist halt so das, was ich halt persönlich schöner finde, dass halt ein Chef zwar ein Kumpel ist, aber man halt, der Chef muss es dann schaffen, trotzdem den nötigen Respekt dann noch zu behalten. Und das ist jetzt noch nicht ganz so, wie ich es mir vorstelle, sage ich.“ (E-Interview 1) Als weitere theoretische Kategorie haben sich Aussagen zum Aspekt Vertrauen aus den Daten extrahieren lassen. In enger Beziehung zu der Kategorie der Delegation, in der insbesondere Enttäuschungen über mangelnde Verantwortung und Entscheidungsspielraum eine große Rolle spielten, hat sich zum Thema Vertrauen besonders herausgestellt, dass die Wahrnehmung von Vertrauen durch den Vorgesetzten für viele Teilnehmer nur über das Zugestehen von Verantwortung durch die Führungskraft signalisiert werden könne: „Auch Vertrauen. Ich denke, dass das bei mir oder ich das schon auch mit Verantwortung, also wenn man schon eine verantwortungsvolle Aufgabe übertragen kriegt, dass man dafür schon auch oder dass das schon einem auch suggeriert, dass einem vertraut wird.“ (F-Interview 1)
3.4 Ergebnisse 149 „Aber gerade durch, ich finde das immer eine stille Bestätigung, wenn man wirklich einfach Aufgaben zugewiesen bekommt, ohne dass einem das von der Basis, von null auf erklärt wird, wie es funktioniert, sondern man mir wirklich einfach zutraut, dass ich das erledigen kann. Also, da spüre ich dann schon ein großes Vertrauen immer.“ (H-Interview 1) Vergleichbar deutlich wurden von den Teilnehmern Aussagen über wahrgenommeine Enttäuschungsmomente formuliert, welche die Verfügbarkeit der Führungskraft betreffen. Diese wurden in der Kategorie Erreichbarkeit zusammengefasst. Damit ist einerseits die Zeit, die ein Vorgesetzter für die Mitarbeiter einräumt, als auch die wahrgenommene und interpretierte Priorität des einzelnen Mitarbeiters durch die Interaktionsbereitschaft eines Vorgesetzten gemeint: „Also, it can happen, he comes here, he works the whole day in his room and we never talk basically.“ (C-Interview 1) „Und dann wird es halt immer weiter so aufgeschoben. Und da sieht man halt auch, wo man ungefähr in der Rangliste steht.“ (F-Interview 1) „Und das ist für mich dann schon eine unheimliche Drucksituation, die man zweimal täglich erlebt. Und wenn dann die Mentorin nicht zur Verfügung steht, ist es schwierig, da, ja, zurechtzukommen, sage ich mal.“ (A-Interview 1)
3. Empirische Untersuchung 150 Der Gesamteindruck zu den Erwartungsenttäuschungen lässt sich nun wie folgt zusammenfassen: Die stärkste Tendenz liegt in der Dimension des direkten Führungsverhaltens. In dieser lagen die Wahrnehmungen schwerpunktmäßig im Bereich der Erwartungsenttäuschungen hinsichtlich der Delegation von genügend Handlungsspielraum und Verantwortung. Die Dimension der persönlichen Beziehung trat vornehmlich durch Aussagen in der Kategorie des Beziehungsverhaltens hervor, hierbei insbesondere durch die Frage der Nähe vs. Distanz. In der Dimension der strukturellen Führung lag der Schwerpunkt auf der Kategorie der Arbeitsbedingungen, in der hauptsächlich Enttäuschungswahrnehmungen hinsichtlich der Steuerungsfähigkeit der Führungskraft auftraten. 3.4.2.2 Handlungskonsequenzen: Investition in die Beziehung, Konfrontation und Rückzug/Desinvestition aus der Beziehung In ähnlicher Weise zu den Erwartungsenttäuschungen konnten für die Handlungskonsequenzen als Reaktionen auf die Erwartungsenttäuschungen ebenfalls eine Datenstruktur am Ende des Auswertungsprozesses geformt werden (Abbildung 8). Die einzelnen Dimensionen sind weniger „typisch“ für die Führungsforschung wie bei der Analyse von Enttäuschungen der Personalführung, welche sich hauptsächlich auf die Reproduktion klassischer Elemente der Führungsforschung aus einer besonderen Perspektive beschränkten. Die aus Erwartungsenttäuschungen entstandenen Handlungskonsequenzen sind daher weniger eng mit anderen Konzepten aus der wissenschaftstheoretischen Diskussion verbunden.
3.4 Ergebnisse Kategorien erster Ordnung 151 Theoretische Kategorien    Verständnis für Vorgesetzten Ärger hinnehmen und akzeptieren Ironie    Chef helfen und unterstützen Mehr Eigeninitiative einbringen Probleme ansprechen/aufdecken    Führungsfähigkeit in Frage stellen Widersprüche aufzeigen Eskalation in Hierarchie/Betriebsrat Widersetzung   Probleme für sich behalten/laufen lassen Nicht den Kopf für Chef hinhalten Unterstützung versagen    „Sein eigenes Ding machen“ Soziale Abgrenzung Barrieren aufbauen Distanzierung    Im Unternehmen wechseln Sich krank schreiben lassen Kündigung Ausstieg   Nicht mehr alles geben Zweifel an der eigenen Arbeitsqualität Nicht mehr voll leistungsfähig  Aggregierte theoretische Dimensionen Akzeptanz Einsatz erhöhen Leistungseffekte Investition in die Beziehung Konfrontation Rückzug/Desinvestition aus der Beziehung Abbildung 8: Datenstruktur der Handlungskonsequenzen aus der empirischen Erhebung Auch in dieser Datenstruktur aggregieren sich die Aussagen der Teilnehmer abstrahiert hin zu drei Dimensionen, die sich wie folgt zusammenfassen und theoretisch begründen lassen: Investition in die Beziehung: Die stärkste Tendenz in den Daten bezüglich der Handlungskonsequenzen manifestierte sich in den Kategorien Akzeptanz und Einsatz erhöhen, welche sich als eine theoretische Dimension der Investition in die Beziehung formulieren lassen. Die Teilnehmer antworteten in diesen Zusammenhang beispielsweise, dass sie Verständnis für das Handeln des Vorgesetzten zeigten und somit die Erwartungsenttäuschung für sie kein Problem darstellte. Weiterhin kann es aber auch sein, dass sie eine Wahrnehmung verärgert hat, diese aber zu einem späteren Zeitpunkt
152 3. Empirische Untersuchung akzeptiert und das Ärgernis verarbeitet werden konnte. Alternative wurde auch die Reaktion mit Ironie genannt, um eine Art gemilderter Kritik zu äußern, ohne sich aber der Situation wirklich zu stellen. Weiterhin konnten auch Aussagen gefunden werden, welche eine direkt beziehungsfördernde Maßnahme seitens der Teilnehmer repräsentierten, wie beispielsweise das Angebot von Unterstützung an die Führungskraft, das Hinweisen auf Missstände sowie die generelle Steigerung des Engagements und der Eigeninitiative. Für eine Spiegelung auf relevante Literatur eignet sich der Blick auf die Forschung zu Reaktionen von Mitarbeitern in Unternehmen, die sich persönlich angegriffen fühlen („personal offense“) (Aquino, Tripo, & Bies, 2001; Aquino, Tripp, & Bies, 2006; Palanski, 2012; Tae-Yeol, Shapiro, Aquino, Lim, & Bennett, 2008). Limitationen einer Vergleichbarkeit müssen jedoch angemerkt werden: Einerseits beziehen sich die Argumentationen auf Ereignisse von hohem Ausmaß, wie beispielsweise „harm or wrongdoing“ (Aquino et al., 2001, S. 53) oder „where they have been hurt, offended, or unjustly treated“ (Tae-Yeol et al., 2008, S. 415). Damit sind Wahrnehmungen gemeint, bei denen einer Person deutlicher Schaden oder Leid zugefügt wurde, welches deutlich über die Ausmaße der Erwartungsenttäuschungen in dieser Arbeit hinausgeht. Sicherlich sind Fälle denkbar, in denen eine Erwartungsenttäuschung an Personalführung einhergeht mit einer schweren Ungerechtigkeit, doch sind diese Fälle als Ausnahmen anzusehen und auch nicht in den Aussagen der Teilnehmer enthalten. Andererseits sind die Forschungsansätze wesentlich weiter gefasst, da sie sich auf sämtliche Beziehungen am Arbeitsplatz beziehen und somit nicht spezifisch auf die Führungsbeziehung zugeschnitten sind. Da sich aber Führungsbeziehungen deutlich von regulären Mitarbeiterbeziehungen unterscheiden, beispielsweise durch die Machtverhältnisse oder durch den Grad der Abhängigkeit, ist auch die Wahrnehmung von Gerechtigkeit und vor allem die Wahl der Handlungskonsequenzen nicht identisch.
3.4 Ergebnisse 153 Nichtsdestotrotz lassen sich die diskutierten Reaktionen auf diese intensiven Wahrnehmungen in einer ähnlichen Weise beschreiben, wie sie auch in dieser Arbeit den aggregierten theoretischen Dimensionen entsprechen. In den oben angeführten Publikationen zur Reaktion von Mitarbeitern auf persönliche Angriffe wird die Wahl zwischen revenge (Rache) und forgiveness (Vergebung) beziehungsweise reconciliation (Aussöhnung) angeführt. Betrachtet man zuerst die beiden Konzepte der Vergebung und Aussöhnung, so kann man diese in eine passive und eine aktive Variante funktionaler Reaktionen unterscheiden (Klaussner, 2014, S. 317). Damit haben diese beiden Formen von Reaktionen gemeinsam, positiv zu wirken und zu versuchen, die Beziehung wiederherzustellen oder Schaden zu reparieren: „forgiveness as the internal act of relinquishing anger, resentment, and the desire to seek revenge against the offender [...]. To capture the interpersonal aspect of forgiveness, which we defined as an effort by the victim to extend acts of goodwill toward the offender in the hope of restoring the relationship.“ (Aquino et al., 2006, S. 654) Insgesamt werden dadurch sowohl intrapersonelle als auch passive Konsequenzen ohne Aktionen nach außen von interpersonellen Konsequenzen mit an den Verursacher gerichteten Aktionen unterschieden (Okimoto & Wenzel, 2014, S. 443ff.; Palanski, 2012, S. 275ff.). Damit weist diese Unterscheidung prinzipiell auf die beiden theoretischen Kategorien Akzeptanz als intrapersonelle Komponente und an Einsatz erhöhen als interpersonelle Komponenten einer aggregierten theoretischen Dimension Investition in die Beziehung hin. Beide stehen für eine funktionale Handlungskonsequenz im Sinne einer konstruktiven und beziehungsförderlichen Haltung. Wie im Laufe dieses Abschnitts bei der näheren Vorstellung einzelner Textpassagen zu entnehmen sein wird, spiegeln sich hier die in der Literatur angesprochenen Aspekte wie beispielsweise dem Erhöhen von Einsatz
154 3. Empirische Untersuchung (Grover, Hasel, Manville, & Serrano-Archimi, 2014, S. 694) wieder und können daher – wenn auch indirekt – als konsistent mit ähnlichen Ansätzen beurteilt werden. Konfrontation: Die Kategorien Widersetzung, Unterstützung versagen und Distanzierung stellen allesamt eine Art von Handlungskonsequenz dar, welche direkt oder indirekt gegen die Führungskraft gerichtet waren, ohne dabei gedanklich auch eine Form der Beendigung der Beziehung oder einer Minderung des eigenen Engagements zu beabsichtigen. Vielmehr beziehen sich die Kategorien auf eine Art kurz- oder längerfristige Konfrontationsabsicht. Damit sind Aussagen zusammengefasst, in denen die Teilnehmer beispielsweise die Führungsfähigkeit des Vorgesetzten anzweifeln und entsprechend handeln, eine mögliche Widersprüchlichkeit im Verhalten der Führungskraft als Kritik vortragen oder sich direkt bei möglichen weiteren Vorgesetzten der nächsthöheren Hierarchieebene oder bei anderen Anlaufstellen wie der Personalabteilung oder dem Betriebsrat beschweren. Weiterhin deuteten Teilnehmer an, bewusst nicht auf Fehlentwicklungen in der Verantwortlichkeit der Führungskraft hinzuweisen und warnend zu unterstützen, sondern jede Art von Verantwortung von sich weisen zu wollen. Ebenfalls vorhanden waren Aussagen, welche auf eine Aufgabenerledigung entgegen der Anweisungen von Vorgesetzten hinweisen, oder sich vorsorglich so im Team und im Unternehmen zu positionieren, sodass möglichst wenige Verbindungen zur Führungskraft bestehen und Verantwortung immer von sich gewiesen werden kann oder „Abwehrbarrieren“ parat gehalten werden können. In ähnlicher Art und Weise wie der Dimension der Investition kann bei den Handlungen unter der aggregierten theoretischen Dimension der Konfrontation ein Bezug zur Forschung zu Ärgernissen am Arbeitsplatz hergestellt werden. Im Gegensatz zu funktionalen werden auch dysfunktionale Reaktionen in der angesprochenen Literatur diskutiert (Aquino et al., 2001; Aquino et al., 2006; Palanski, 2012; Tae-Yeol et al., 2008). Allerdings
3.4 Ergebnisse 155 muss bei diesen Reaktionen der nicht vergleichbare Kontext noch stärker berücksichtigt werden. In der Debatte um „personal offense“ oder „aggression“ werden in logischer Konsequenz viel stärkere Reaktionen diskutiert als im Kontext von Erwartungsenttäuschungen. Sie stellen eine Art Extremfall der Erwartungsenttäuschung dar und ziehen somit vehementere Reaktionen nach sich. Trotzdem sind die Grundmuster vergleichbar. Im Grundsatz entspricht die Zusammenfassung von Rachehandlungen (Aquino et al., 2006, S. 654; Douglas et al., 2008, S. 425ff.) einer konfrontativen Haltung, wie sie auch in der Dimension Konfrontation, in geringerem Ausmaß, verkörpert wird. Aquino et. al. sprechen hierbei von der Absicht, Schaden zuzufügen, sich zu beschweren oder eine Bestrafung herbei zu führen (2006, S. 654). Somit können die theoretischen Kategorien dieser Dimension, wie beispielsweise Widersetzung oder Unterstützung versagen, als vom Grundprinzip her ähnliche Muster verstanden werden, entsprechend des weniger gravierenden Kontextes natürlich von geringerer Intensität, weil sie sich ebenfalls explizit gegen den Auslöser (die Führungskraft) richten. In vergleichbarer Weise bezeichnet auch die Forschung zu den Ursprüngen einer abusiven Führung ein Bündel von Verhaltensweisen in Form von einer „Vergeltung“ oder eines „Gegenschlags“ auf Seiten von Geführten. Auch hier kommt ein konfrontierender und herausfordernder Charakter zum Vorschein, der zwar wiederum in einem größeren Ausmaß zustande kommt, im grundsätzlichen Muster aber vergleichbar ist (Mitchell & Ambrose, 2007, S. 1160f.; Tepper, Henle, Lambert, Giacalone, & Duffy, 2008, S. 721f.). Rückzug / Desinvestition aus der Beziehung: Die beiden Kategorien der Leistungseffekte und des Ausstiegs bilden die Dimension, die Handlungskonsequenzen in der Form eines Rückzuges bzw. einer Desinvestition in der Beziehung repräsentieren. Im Unterschied zur obigen Dimension (Konfrontation) sind die hierunter fallenden Aussagen nicht mit der Konfrontation
156 3. Empirische Untersuchung oder mit gegen die Führungskraft gerichteten Handlungen intentioniert, sondern stehen für Gedanken über die Verringerung von Engagement oder Einsatz für oder im Zusammenhang mit der Führungsbeziehung, sowie auch eine mögliche Beendigung der Beziehung. So kam es Sinne einer Desinvestition vor allem zu Aussagen bezüglich einer verminderten Leistungsfähigkeit bzw. dem bewussten Drosseln von Arbeitsleistung, sowie Zweifeln an der eigenen Fähigkeit, in dieser Form weiterarbeiten zu können. Gleichzeitig wurden von den Teilnehmern auch Aussagen getätigt, welche sich auf einen Stellenwechsel entweder innerhalb des Unternehmens oder sogar in Form eines Arbeitgeberwechsels bezogen, teilweise auch auf die Absicht, sich unter den gegebenen Umständen erst einmal krank schreiben zu lassen, um die Zusammenarbeit zu vermeiden. Analog zu den beiden Kategorien Investition in die Beziehung und Konfrontation, können wiederum Quellen zur „workplace aggression“ herangezogen werden. Dort sind als finale Konsequenz oder Reaktion ebenfalls vergleichbare Muster wie in der aggregierten theoretischen Dimension Rückzug/Desinvestition aus der Beziehung bekannt. So wird beispielsweise als Reaktion auf irreparable Vertrauensverletzungen aus Sicht der Geführten durch die Führungskraft, oder als finale Reaktion auf gescheiterte „last chance behaviors“ bei reparablen Vertrauensverletzungen, ein Konstrukt von „withdrawal behaviors“ diskutiert: „Withdrawal refers to followers breaking the relationship with the leader, transferring to another part of in their organization, quitting the organization outright, or withdrawing effort.“ (Grover et al., 2014, S. 698) Übersetzt man die einzelnen Bestandteile dieses Zitates, so gelangt man direkt zu den Bezeichnungen und Kategorien erster Ordnung der theoretischen Kategorien Ausstieg und Leistungseffekte, welche die Dimension des Rückzug/Desinvestition aus der Beziehung bilden. Somit sind vergleichba-
3.4 Ergebnisse 157 re Reaktionen in einer Studie extrahiert worden, die – zwar im Vergleich zur Zielsetzung dieser Arbeit stark auf den Aspekt von Vertrauen isoliert reduziert – eine ähnliche Perspektive auf die Führungsbeziehung einnimmt. Der mehrfache Bezug zu den selben Quellen bei der literaturgestützten Begründung der Bezeichnungen der drei Dimension der Handlungskonsequenzen mag auf den ersten Blick verwirren, jedoch kann es als Ausdruck einer Konsistenz gewertet werden: Damit bestätigt sich ein klassisches Grundmuster in den Handlungskonsequenzen. Einerseits wird durch die Geführten bestrebt, die Führungsbeziehung nicht abzubrechen und sie entweder konstruktiv (Investition in die Beziehung) oder konfrontativ (Konfrontation) im eigenen Interesse zu beeinflussen. Andererseits wird die Beendigung der Führungsbeziehung (Desinvestition/Rückzug aus der Beziehung) als Konsequenz betrachtet. In der Sozialpsychologie wird eine Unterscheidung zwischen annäherndem und vermeidendem Verhalten als elementar für das menschliche Verhalten in Beziehungen diskutiert (Carver, 2006, S. 105ff.; Elliot & Thrash, 2002, S. 804ff.; 2010, S. 865ff.). In ähnlicher Weise kommen somit in dieser Arbeit auf der einen Seite annähernde, auf der anderen Seite vermeidende Verhaltensweisen als Handlungskonsequenzen in Betracht. Im Sinne einer gesteigerten Transparenz der Daten folgen auch an dieser Stelle wiederum die Kodierregeln und Ankerbeispiele für die extrahierte Datenstruktur der Handlungskonsequenzen (Tabelle 11). Theoretische Kategorie Kodierregel Ankerbeispiel Akzeptanz Kodiert wurden in dieser Kategorie all jene Aussagen, welche auf Erwartungsenttäuschungen keine Sanktionen zur Folge hatten, sondern wenn Verständnis für die Enttäuschung gezeigt, sie akzeptiert oder sie sogar als harmlos angesehen wurde. „Und das habe ich jetzt so abgetan, was mich aber auch nicht viel weiter stört. Es wäre schön gewesen, vielleicht mehr Feedback am Anfang zu bekommen. Aber ich glaube, das ist jetzt nicht mehr so wichtig für mich.“ (G-Interview 1)
3. Empirische Untersuchung 158 Hierbei handelt es sich um Textpassagen aus den Interviews, in denen ein Handeln in Richtung eines verstärkten Engagements, höherer Eigeninitiative oder ähnlichen stärkeren Impulsen seitens der Geführten zu verzeichnen ist. „Ja, also, ich würde natürlich dann erst mal mit der Führungskraft selbst sprechen, ja? Also, ich würde sie fragen und würde dann direkt auf sie zugehen und dann gerade versuchen, gemeinsam eine Lösung zu finden.“ (B-Interview 2) Widersetzung Diese Kategorie bezieht sich auf Aussagen, welche für eine direkte oder indirekte Konfrontation stehen. Damit sind passive Sanktionen wie Zweifel an der Führungsfähigkeit oder auch aktive Sanktionen wie eine Eskalation eines Problems an andere Instanzen gemeint. „Und das wäre halt Versagen der Führungskraft meiner Meinung nach.“ (E-Interview 2) Unterstützung versagen Bei dieser Kategorie handelt es sich um Handlungen, die im Gegensatz zur Widersetzung keine konfrontative Natur besitzen indem eine Art Angriff vollzogen wird, sondern um Aktionen die im Sinne eines bewussten nicht Handelns zur Schadenszufügung intentioniert sind. „Apart from that there is also some responsibility that needs to fall under, because else I do the project manager job and not, it's so, it's a matter of roles. So up to certain points there is a balance in act: so you forget, I remember you. Ja, up to a certain point. After that he is, if some heads are gonna roll, it should not be mine. This is brutal, but, ja.“ (C-Interview 1) Distanzierung In dieser Kategorie enthalten sind Aussagen, in der sich bewusst von der Führungskraft abgewendet wird. Davon betroffen sind Aussagen wie die Arbeitserledigung nach eigenen Vorstellen, der Minimierung des Austausches oder der vorsorglichen unabhängigen Positionierung. „Trotz war, glaube ich, vielleicht so eines meiner ersten Gefühle, die ich auch so innerlich hatte, wo ich dachte, na ja, gut, dann eben nicht, dann lasse ich es halt. Mittlerweile habe ich dann eben schon so das Gefühl, ach, na ja, dann haben sie halt nichts gesagt, ich arbeite jetzt so weiter und halte an meinem Erfolg fest quasi.“ (A-Interview 1) Einsatz erhöhen
3.4 Ergebnisse 159 Ausstieg Die Codes dieser Kategorie wurden vergeben, wenn Gedanken an eine vorrübergehende Aussetzung der Teilnahme an der Beziehung oder eine komplette Beendigung dieser zu erkennen waren. „Und dann ist halt die Frage, welche Alternativen habe ich? Wenn es mich extrem stört, dann muss ich vielleicht gucken, dass ich woanders hingehe.“ (I-Interview 1) Leistungs- Hierbei handelt es sich um die bewusste Verringerung des Inputs in die Beziehung, der sich auf die Arbeitsleistung der Geführten bezieht. „Und da kann ich wirklich sagen, war meine Leistung dann zum Schluss auch nicht mehr die, die es hätte sein können. Auch in dem Feld, obwohl ich es nicht gerne mache, man gibt ja trotzdem sein Bestes. Aber das wollte ich dann irgendwann auch gar nicht mehr, weil mir das tatsächlich egal war dann irgendwann.“ (A-Interview 1) effekte Tabelle 11: Kodierregeln und Ankerbeispiele für die Kategorien der Handlungskonsequenzen Analog zum Vorgehen bei den Daten zur Erwartungsenttäuschung folgt auch an dieser Stelle eine detaillierte inhaltliche Darstellung der einzelnen Kategorien mit Zitaten aus den Interviews, um Schwerpunkte aufzeigen zu können. Investition in die Beziehung Unter der aggregierten theoretischen Dimension der Investition in die Beziehung sind die funktionalen Handlungskonsequenzen zusammengefasst, bei denen der Mitarbeiter eine Erwartungsenttäuschung nicht sanktioniert. Stattdessen wird versucht, sie zu akzeptieren oder (und viel häufiger) konstruktiv auf die Kompensation oder Nacherfüllung der Erwartungen hinzuarbeiten, ohne dabei negativ auf die Beziehung zu wirken. Die Intention deutet in Richtung einer Verbesserung der Beziehung hin. In der Konsequenz daraus ist die theoretische Kategorie Einsatz erhöhen dominant gegenüber der Kategorie der Akzeptanz. Unter dem Aspekt des Steigerns eines Einsatzes sind vor allem solche Aussagen zentral, die sich auf den Versuch konzentrieren, sich mit mehr Eigeninitiative einzubringen:
3. Empirische Untersuchung 160 „Später, als ich dann mit dem Projektleiter noch mal darüber gesprochen hatte und wir das alles so eruiert hatten, bin ich dann zu dem Schluss gekommen, weil mir das auch explizit so gesagt wurde, nein, bleibe da dran. Also, wenn das noch mal so vorkommen sollte, auch wenn es jetzt ein anderes Thema ist, dass du gerne quasi was wissen möchtest, wie irgendwas geht und du wirst wieder so abgewimmelt, so nach dem Motto, ja, nein, so, dann bleib da dran. Sag halt, nein, ich hätte ganz gerne, dass du mir das jetzt zeigst, weil ich will das in Zukunft selber machen und, ja, insofern würde ich das dann auch machen in Zukunft, versuchen zumindest.“ (B-Interview 1) „Und da habe ich halt versucht, ihm das klarzumachen, das hat beim ersten Gespräch nicht so geklappt, weil ich wollte jetzt auch nicht mit der Tür ins Haus fallen, das kommt ja auch nicht gut. Und beim zweiten Gespräch war das dann schon besser. Und da war ich dann auch positiv überrascht, weil er halt am nächsten Tag gleich noch mal kam, ich habe da noch ein Thema und dann können wir das nicht noch machen. Und, aber auch nicht so viel, dass man jetzt sagt, ja, jetzt kommt er mit zehn Themen um die Ecke und dann denkt man sich, boah, hättest du es mal lieber nicht gesagt.“ (E-Interview 1) „Da würde ich aber auch das Gespräch suchen.“ (H-Interview 1)
3.4 Ergebnisse 161 In ähnlicher Weise sind Aussagen von Teilnehmern in dieser Kategorie zu nennen, die ebenfalls den Charakter eines Ansprechens des Vorgesetzten beinhalten. Der einzige Unterschied liegt in dem Rahmen, der sich in diesem Fall ganz konkret auf die übertragenen Aufgaben bezieht (vor allem im Bezug auf Verantwortungsbereiche) und nicht auf weitere Aspekte: „Ich glaube, das würde mich stören und ich würde einfordern, dass es klar abgegrenzt wird.“ (I-Interview 1) Eine insgesamt eher geringe Rolle hat die Aussage gespielt, sogar direkte Unterstützung für die Führungskraft als Handlung zu wählen, weil es einen persönlich eher weniger betrifft, aber für die Führungskraft selbst nachteilig sein könnte: „I will continue to tell him, to inform him. But I, normally I have to say, that this kind of things, they tend to happen, but usually, when I tell him, please, he listens. So it's not like, it can happen, he is very busy and has also other stuff. It's not the end of the world, but of course, if it continues to happen, maybe it doesn't affect me personally, but I think also, that the Geschäftsführung would question, so it's more for him, from my perspective. [...] So I, by telling him, look, you didn't inform me, I'm doing him a favour in my, from my perspective.“ (C-Interview 1) Im Gegensatz zu der gesteigerten Eigeninitiative oder anderer aktiver Komponenten, war ebenfalls die Kategorie der Akzeptanz als passives Element in den Aussagen der Teilnehmer vertreten. Hierbei handelte es sich unter anderem um das Hinnehmen und Akzeptieren von Enttäuschung oder Verärgerung, ohne aber das Verhalten zu verändern:
3. Empirische Untersuchung 162 „Ich weiß einfach, dass Dinge sich sehr kurzfristig ändern können und dementsprechend, ja, nehme ich das einfach jetzt so hin, weil, ja, es liegt eh nicht in meiner Macht, da irgendwas dagegen zu tun, mich darüber aufzuregen bringt auch nichts, weil das macht nur die Stimmung mies. Also nehme ich es entsprechend hin, ärgere mich vielleicht, weil ich mit meiner Planung dann, wie ich mir jetzt den Arbeitstag eingeteilt habe, mich jetzt ein bisschen umorientieren muss. Aber im Endeffekt ist es ja auch egal. Und darum passt das ja auch.“ (D-Interview 1) „Und zu einer direkten Situation jetzt im Team, dass ich gesagt habe, so, Leute, das war jetzt irgendwie unfair oder so, ist es nicht gekommen, weil ich das halt einfach hingenommen habe und habe gesagt, gut, im nächsten Jahr mache ich es halt anders, nicht?“ (I-Interview 1) Weiterhin in den Daten zu verzeichnen waren Aussagen, die eine Reaktion stärker in Richtung eines Aufzeigens von Verständnis suggerieren, sodass kein Ärgernis verarbeitet werden musste, sondern die Enttäuschungsursache selbst nachvollziehbar war: „Und dann muss man da halt mal einen Abstrich machen, das ist dann halt einfach so. Weil das werde ich auch nicht ändern können, glaube ich. Das ist halt einfach so ein Mensch und er kann, muss sich ja auch nicht unbedingt dann ändern, sage ich mal.“ (E-Interview 1) Eine weitere, wiederum aber geringe Rolle, spielte die Reaktion, einer Enttäuschung mit Ironie zu begegnen: „Und ansonsten vielleicht auch ein Stück weit, was ich finde, immer ganz gut hilft, ist Ironie eigentlich. Also, dann halt, weiß ich
3.4 Ergebnisse 163 nicht, also wirklich dann quasi, wenn ich selber irgendwas lächerlich oder absurd finde, halt mit Ironie zu kontern. Weil das bricht so ein bisschen das Eis und nimmt irgendwas, die Schärfe, aber zeigt trotzdem Handlungsfelder auf.“ (E-Interview 2) Konfrontation Als dysfunktionale Handlungskonsequenzen, welche sich gegen die Führungskraft innerhalb des Fortbestandes Führungsbeziehung richten, wurde die theoretische aggregierte Dimension Konfrontation vorgestellt. Die hierunter vereinigten Aussagen bezogen sich auf aktive oder passive konfrontative Reaktionen. Besonders die theoretische Kategorie der Widersetzung war deutlich in den Daten zu erkennen. In erster Linie konnten hierbei Aussagen verzeichnet werden, die die Führungsfähigkeit des Vorgesetzten in Frage stellen: „weil das ist meiner Meinung nach dann auch mangelnde Führungskraft, nicht mehr zu seinem Wort zu stehen.“ (E-Interview 2) „Dann wäre ich, glaube ich, schon enttäuscht und würde ihn auch, glaube ich, in Frage stellen. [...] Also, ich würde seine Führungsqualität schon in Frage stellen.“ (I-Interview 1) „I don’t want to go on record saying, he’s a bad project manager, (laughing).“ (C-Interview 2) Ebenso stark vertreten waren Aussagen hinsichtlich einer Eskalation des Problems, indem höhere Instanzen oder die Arbeitnehmervertretung in den Augen der Teilnehmer mit hinzugezogen werden sollten:
3. Empirische Untersuchung 164 „Und im Zweifelsfall muss man halt die Hierarchieebenen durchgehen. Das würde ich vielleicht in gewissen Situationen genauso machen.“ (E-Interview 2) „klar, da gibt es verschiedene Eskalationsstufen, die man da so gehen kann, weil mein Teamleiter hat natürlich jetzt auch wieder einen Vorgesetzten und so weiter und so fort.“ (B-Interview 2) In einzelnen Fällen wurde auch die Handlung gewählt, offensiv widersprüchliches Verhalten des Vorgesetzten zu kritisieren: „Und ich glaube, dann würde ich auch patzig reagieren. Also, ich glaube, dann würde ich auch sagen: Ja, aber Sie haben aber von mir das andere eingefordert und ich wusste nicht, dass ich den anderen Auftrag erst erledigen sollte. Das müssen Sie mir dann auch so sagen.“ (I-Interview 1) Als weitere theoretische Kategorie war die Distanzierung ähnlich stark repräsentiert. Unter dieser Kategorie sammeln sich Aussagen, die eine Abwendung von der Führungskraft bedeuten und die Beziehung bewusst verschlechtern. Dabei spielte es vor allem eine Rolle, unabhängiger von der Führungskraft zu werden, bzw. sich weniger nach ihr zu richten oder sich weniger bzw. gar nicht abzustimmen: „Und in dem Fall hätte ich, egal, wie sie es gesagt hätte, trotzdem für mich, ja, gesagt, ja, okay, das sagst du mir zwar jetzt, aber das sehe ich trotzdem anders. Also das wäre egal gewesen. Da bin ich einfach auch in einem Alter, dass man sich das so vielleicht nicht mehr sagen lassen kann, weiß ich nicht, aber ja.“ (A-Interview 1)
3.4 Ergebnisse 165 „Aber ich habe einfach auch für mich gelernt, dass das halt nicht richtig ist, wie das dann abläuft. Und da möchte ich das Ganze auch nicht unterstützen. Also, weil ich mich dann auch nicht wohlfühle, wenn ich weiß, ich mache irgendwas, was eigentlich gar nicht richtig ist, nur, weil der Chef das sagt. Und da will ich mich auch dann nicht unterordnen.“ (G-Interview 1) Weiterhin formulierten Teilnehmer Aussagen, die sich dahingehend von der Führungskraft distanzierten, indem sie sich dem Vorgesetzten gegenüber verschließen und weniger Informationen miteinander teilen: „Also, man äußert sich im Prinzip einfach nicht, sondern man lässt es so stehen.“ (A-Interview 1) Eine Verstärkung derartiger Verhaltensweisen wechselte vereinzelt zu einer konkreten sozialen Abgrenzung: „This is getting worse actually. I'm starting really to eat alone.“ (C-Interview 2) Seltener kam es dazu, dass sich sogar eine Hemmschwelle aufbaute, die selbst von positiven Wahrnehmungen nur schwer hätte gemildert werden können und somit dauerhaft eine Distanz etabliert hätte: I: Sie haben ja gleich am Anfang von einer sich aufbauenden Barriere gesprochen. Wie würden Sie die ganz kurz und knapp beschreiben? Was ist diese Barriere? B: Dass man eben das negative, also wenn sich schon ein negatives Gefühl entwickelt eben entsprechend, wie willkommen ist man eigentlich, wie integriert wird man eigentlich, dass, wenn einem einmal so ein Gefühl auch widerfährt, dass das schwer zu
3. Empirische Untersuchung 166 kompensieren ist. Also, dass da im Prinzip umso mehr noch positive Dinge passieren müssten, damit die da diese Barriere wieder verschwindet. (A-Interview 1) Nur an wenigen Stellen trafen Teilnehmer Aussagen, die in der theoretischen Kategorie Unterstützung versagen als direkte Abwehr verstanden werden können, indem beispielsweise die Verantwortung für Probleme oder Fehler bewusst von sich auf die Führungskraft verwiesen wird: „Der eine macht hier was, der andere da und dann läuft so ineinander über, es wird so ein bisschen schwammig. Am Ende klappt irgendwas nicht und ich soll dann dafür gerade stehen, das sehe ich eigentlich nicht ein.“ (I-Interview 1) Rückzug / Desinvestition aus der Beziehung Die aggregierte theoretische Dimension Rückzug / Desinvestition aus der Beziehung stellte eine auffällige Tendenz in den Aussagen der Teilnehmer dar, obwohl sie die theoretisch stärkste Form der Handlungskonsequenzen darstellt. Im Wesentlichen durch die zwei theoretischen Kategorien Ausstieg und Leistungseffekte gekennzeichnet, handelt es sich hierbei um ein Auflösen der Führungsbeziehung oder zumindest einer starken Minderung von Leistung bzw. Leistungsfähigkeit des Mitarbeiters, sodass dieser seine Pflichten nicht mehr im vollen Umfang erfüllt. Das zentrale Muster deutete aber auf die Kategoire des Ausstiegs. Dabei stand die Kündigung des Arbeitsverhältnisses bei dem Unternehmen im Vordergrund:
3.4 Ergebnisse 167 „Und wenn das nicht der Fall ist, dann ist für mich ganz klar die Konsequenz, mich woanders zu bewerben.“ (A-Interview 1) „Genau, egal was kommt, also, da sage ich dann eher, dann hänge ich den Job bei der momentanen Position an den Nagel.“ (B-Interview 2) „Ja, ich muss kurz nachdenken, also, wenn ich jetzt, ja, also, wenn ich, also, ganz ehrlich, ich glaube, ich würde einfach irgendwann den Job wechseln, ehrlich gesagt.“ (E-Interview 2) „Ich glaube, dann hätte ich zur Probe, zum Ende der Probezeit gesagt, ich bin wieder weg.“ (G-Interview 1) Als Alternative zur Kündigung kam für einige Teilnehmer auch ein Wechsel innerhalb des Unternehmens als Konsequenz in Frage, um den Ausstieg aus der Führungsbeziehung zu realisieren: „Und wenn das dann zwei, drei Mal nicht fruchtet, bin ich hier auch in einem Unternehmen, wo man einen Job auch mal innerhalb, also innerhalb des Standortes, aber in verschiedene Abteilungen wechseln kann.“ (E-Interview 2) Ebenfalls eine kleinere Rolle spielten die Gedanken, aus der Führungsbeziehung zumindest temporär durch Krankschreibung auszusteigen: „ich hatte auch schon Tage, da habe ich überlegt, fahre ich da jetzt wirklich hin oder lasse ich mich krankschreiben.“ (A-Interview 1)
3. Empirische Untersuchung 168 Die zweite Kategorie Leistungseffekte kennzeichnet sich vor allem dadurch, dass die Teilnehmer in diesem Zusammenhang davon sprachen, ihren Einsatz deutlich zu verringern und weniger in die Leistungserbringung zu investieren: „Und, ja, vielleicht würde ich in so einem Fall auch wirklich zu Dienst nach Vorschrift zukünftig übergehen.“ (E-Interview 2) „Dass, wenn da einfach das Zusammenspiel nicht passt, dann würde ich einfach wahrscheinlich eher doch nur das machen, was ich machen muss. Ich würde vielleicht nicht unbedingt noch mehr Energie reinstecken.“ (G-Interview 1) Eng damit verwandt waren Aussagen bezüglich der eigenen Leistung. Manche Teilnehmer fühlten sich nicht mehr in der Lage, ihre maximale Leistung zu erbringen: „Und da kann ich wirklich sagen, war meine Leistung dann zum Schluss auch nicht mehr die, die es hätte sein können. Auch in dem Feld, obwohl ich es nicht gerne mache, man gibt ja trotzdem sein Bestes. Aber das wollte ich dann irgendwann auch gar nicht mehr, weil mir das tatsächlich egal war dann irgendwann.“ (A-Interview 2) Vereinzelt kam es auch dazu, die eigene Leistung anzuzweifeln und sich somit als nicht mehr in die Führungsbeziehung passend zu empfinden: „und dementsprechend einfach nicht genau weiß, ob das alles, was ich da hier so tue, wirklich passt.“ (D-Interview 1)
3.4 Ergebnisse 169 Zusammengefasst war die Dimension der Desinvestition die stärkste Tendenz in den Daten, wenn auch nur leicht vor den Anderen. Innerhalb dieser Dimension lag der deutliche Schwerpunkt auf der Kategorie des Ausstiegs, verbunden mit der Absicht die Beziehung zu beenden. Die Dimension der Konfrontation kennzeichnete sich deutlich durch die Kategorie der Widersetzung, sodass die Führungsfähigkeit in Frage gestellt und/oder eine Eskalation an höhere Instanzen als Konsequenz genannt wurde. In der Dimension der Investition lag die Betonung deutlich auf der Kategorie Einsatz erhöhen. Dadurch sind vor allem Aussagen im Fokus, welche sich auf die gesteigerte Initiative der Geführten zu Herbeiführung einer Verbesserung beziehen. 3.4.2.3 Kontextbezogene Analyse von Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen Die bis hierhin vorgestellten Datenstrukturen reichen noch nicht aus, um eine Grundlage für die Diskussion der Ergebnisse vor dem Hintergrund der Fragestellung zu ermöglichen. Die Forschungsfrage zielt direkt auf eine Verknüpfung von Erwartungsenttäuschungen an Personalführung und den Handlungskonsequenzen der Geführten ab. Der Novitätsgrad dieser Arbeit definiert sich vorrangig über die Verknüpfung von Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen, sodass hierzu die Daten mindestens genauso transparent dargestellt werden müssen, wie bei den beiden isolierten Phänomenen. Die Verbindung von Enttäuschungen und Konsequenzen muss direkt und unmittelbar aus den empirischen Daten selbst aufgezeigt werden. In den Interviews wurde von Teilnehmern häufig über Handlungskonsequenzen aufgrund von Erwartungsenttäuschungen gesprochen, sodass die Fallstudienteilnehmer selbst und eigenständig die Verknüpfungen hergestellt haben, ohne dabei über Attributionen zu sprechen. Sind diese Verbindungen transparent aus den Daten herausgearbeitet, können Sie aber die Grundlage einer Ableitung der Attributionswirkungen bilden. In dem Toolset der für die Auswertung von qualitativen
170 3. Empirische Untersuchung Daten entwickelten und hier verwendeten Software MAXQDA ist eine direkte Analysemöglichkeit zur Visualisierung der Verbindungen von kodierten Textpassagen gegeben. Mit dem sogenannten Code-Relationsbrowser können Kontexteffekte offengelegt werden. Genau diese Kontexteffekte sind für diese Arbeit von Interesse: In welchem Enttäuschungskontext wurden von den Teilnehmern welche Handlungskonsequenzen genannt? Der Code-Relations-browser zeigt hierfür die Nähe24 von kodierten Textstellen auf und kann deren Frequentierung vergleichen. Im Zuge der Auswertung mit Fokus auf die Datenstrukturen wurden die Kontexteffekte unter den jeweiligen Kategorien und theoretischen Dimensionen aggregiert, sodass bei wiederkehrenden Mustern ein Zusammenhang vermutet werden kann.25 Bevor die hergeleiteten Verbindungen in den Daten dargestellt werden, folgt eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse der Nähefunktion von MAXQDA. Die Kontexteffekte wurden zusammengefasst und auf Basis von standardisierten Bezugsgrößen26 ausgewertet. Die erste 24 Die Nähe beschreibt hierbei das Vorkommen einer Kodierung in dem selbigen oder den folgenden Absätzen eines Transkriptes. Für die Auswertung dieser Arbeit wurde dieser Abstand so gewählt, dass jeweils noch die nächste Aussage des Teilnehmers miteinbezogen wurde. Beispielsweise stellte immer eine komplette Aussage der Teilnehmer als Antwort auf eine Frage des Interviewers einen Absatz dar, während die Nachfrage oder Folgefrage des Interviewers den nächsten Absatz, die erneute Antwort des Teilnehmers wiederum den nächsten Absatz bildete. Somit konnte die häufige Situation als „Nähe“ registriert werden, wenn die Befragten eine Enttäuschungswahrnehmung schilderten und auf die Nachfrage des Umgangs oder der Reaktion auf diese Enttäuschung mit einer Handlungskonsequenz respondierten. 25 Sicherlich erscheint das Auszählen und Summieren der Nähe von Textpassagen vor dem Hintergrund des qualitativen Forschungsparadigmas auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich. Es bedeutet aber nicht einen Wechsel hin zu einem quantitativen Verständnis von Daten, indem eine Validierung über signifikante Häufigkeiten angestrebt wird, sondern eben genau dem Gerecht werden eines Anspruches der qualitativen Forschung und insbesondere der Fallstudienarbeit: Die Phänomene in ihrem realen Kontext zu erfassen. In der Erläuterung des Forschungsdesigns (vgl. Abschnitt 3.1) wurden unter anderem Flick („we need to understand their personal experiences [...], the meanings they link to such experiences“ (2014, S. 13)) und Klenke („case studies which add new variables, hypotheses, or causal mechanism to a theory“ (2008, S. 61)) zitiert. Dem Aufruf nach dem Verstehen von persönlichen Erfahrungen und der Verlinkung von empfundenen Bedeutungen sowie dem Hinzufügen von kausalen Mechanismen, wird durch das genannte Verfahren der Aggregation von Kontexteffekten entsprochen. Nur so kann der kausale Zusammenhang identifiziert, unterstellt und durch eine Replikationslogik validiert werden. 26 Dargestellt werden die jeweiligen relativen Anteile, welches aber eine Standardisierung erfordert. Betrachtet man beispielsweise, in welchen Kontexten die jeweiligen Handlungskonsequenzen auftauchen, so führt das stark ungleiche Verhältnis der Erwartungsenttäuschungen untereinander zu Verzerrungen: Zur Dimension des direkten Führungsverhaltens wurden 217
3.4 Ergebnisse 171 folgende Betrachtung stellt die Handlungskonsequenzen pro Erwartungsenttäuschung dar. So wird beispielsweise aufgezeigt, wie jede Handlungskonsequenz im Verhältnis pro jede Erwartungsenttäuschung in den Daten zu verzeichnen war (Tabelle 13) und umgekehrt (Tabelle 12). Investition in die Beziehung Konfrontation Rückzug / Desinvestition aus der Beziehung Kontext Strukturelle Führung 42 % 53 % 19 % Persönliche Beziehung 20 % 14 % 35 % Direktes Führungsverhalten 38 % 33 % Handlungskonsequenzen 45 % Tabelle 12: Handlungskonsequenzen im Kontext der Erwartungsenttäuschungen 27 Im umgekehrten Verständnis wurde aus den Daten ebenso die Verteilung der Erwartungsenttäuschungen im Kontext der Handlungskonsequenzen ausgewertet. Hierbei handelt es sich um die Frage, wie Anteile der drei Erwartungsenttäuschungen auf die jeweilige Handlungskonsequenz ausfallen: Strukturelle Führung Persönliche Beziehung Direktes Führungsverhalten Kontext Investition in die Beziehung 42 % 36 % 37 % Konfrontation 42 % 16 % 26 % Rückzug / Desinvestition aus der Beziehung 16 % 48 % 37 % Erwartungsenttäuschungen Tabelle 13: Erwartungsenttäuschungen im Kontext der Handlungskonsequenzen28 Textstellen kodiert, zur persönlichen Beziehung 95 und zur strukturellen Führung 50. Damit traten Enttäuschungen zum direkten Führungsverhalten mehr als vier Mal so häufig vor wie die der strukturellen Führung. Eine Auswertung zu den relativen Anteilen würde sich nun deutlich verzerrt darstellen, sodass die Verhältnisse jeweils auf die „kleinste“ Dimension standardisiert wurden (z.B. Anzahl der Nähereignisse im Kontext direktes Führungsverhalten dividiert durch 217/50, Anzahl der Nähereignisse der persönlichen Beziehung dividiert durch 95/50). Analog wurde bei der Betrachtung der Erwartungsenttäuschungen im Kontext der Handlungskonsequenzen verfahren (Verhältnis: Desinvestition 50 Textstellen, Investition 39, Konfrontation 33). 27 Gerundete Werte.
3. Empirische Untersuchung 172 Mit den Tabellen 12 und 13 lässt sich nun Abbildung 929 erläutern. Natürlich sind mit diesen Erläuterungen auch unmittelbar Interpretationen verbunden, die aber erst im Kapitel 5 im Rahmen der Diskussion behandelt werden. Erwartungsenttäuschung Reaktionen und Handlungskonsequenzen der Geführten 1. Reaktion Direktes Führungsverhalten Investition in die Beziehung Persönliche Beziehung Investition in die Beziehung Strukturelle Führung Investition in die Beziehung 2. bzw. 3. Reaktion bei ausbleibender Verbesserung Konfrontation Rückzug/Desinvestition aus der Beziehung Rückzug/Desinvestition aus der Beziehung Konfrontation Abbildung 9: Verbindungen zwischen den Erwartungsenttäuschungen und den Reaktionen und Handlungskonsequenzen der Geführten aus den empirischen Daten Auf der linken Seite der Abbildung sind die Dimensionen der Erwartungsenttäuschungen aus der Datenstruktur in Abbildung 7 dargestellt. Diese sind durch eine Linie, welche symbolhaft für den Übergang von Wahrnehmung und Kognition hin zu Aktionen eingezeichnet ist, von den Dimensionen der Handlungskonsequenzen aus der Datenstruktur in Abbildung 8 getrennt. Die Abbildung ist von links nach rechts zu lesen. Zu jeder Enttäuschungsdimension sind die Handlungskonsequenzen in einem episodischen Verständnis abgetragen, sodass eine erste Handlungskonsequenz auf eine Enttäuschung in einem Pfeil in rötlicher 28 29 ebd. Grundsätzlich wurden jeweils nur die Verbindungen zwischen Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen in Abbildung 9 aufgenommen, welche sich zum einem in den relativen Anteilen der Nähefunktion über einem Fünftel (> 20 %) in den Daten vorkommend als deutliche Tendenz identifizieren ließen, sowie sie auch in den fallindividuellen Erlebnissen der Teilnehmer geschildert wurden.
3.4 Ergebnisse 173 Farbe symbolisiert ist und weitere Handlungskonsequenzen in dem Fall einer ausbleibenden Verbesserung durch die erste Reaktion in blau dargestellt ist. Auffällig ist die bei allen Erwartungsenttäuschungen als erste potenzielle Handlungskonsequenz aufkommende Investition in die Beziehung (42 % der Enttäuschungen zu struktureller Führung stehen in diesem Kontext, sowie 36 % der persönlichen Beziehung und 37 % des direkten Führungsverhalten [Tabelle 13]). Diese Verbindung als erste Reaktion erscheint intuitiv nachvollziehbar, da für gewöhnlich eine erste konstruktive Reaktion auf eine Enttäuschung innerhalb einer Beziehung naheliegend erscheint. Bei allen Teilnehmern ließ sich auch in der individuellen Auswertung dieses Muster eines ersten Ansprechens oder indirekten Signalisierens überwiegend feststellen. Grundsätzlich denkbar ist aber auch ein sofortiges Überspringen des Invest-Versuches hin zu einer der anderen Handlungskonsequenzen, die von den Teilnehmern mitunter für besondere Extremfälle hypothetisch formuliert wurden. Betrachtet man jedoch die anschließenden Reaktionen bei einer ausbleibenden Verbesserung, so unterscheiden sich die Erwartungsenttäuschungen. Im Rahmen der aggregierten theoretischen Dimension des direkten Führungsverhaltens sind alle drei Handlungskonsequenzen vertreten. Jedoch ist die Reaktion der Konfrontation nur als schwache Tendenz zu nennen (26 % der Enttäuschungen im Kontext Konfrontation [Tabelle 13]; nur 33 % aller Konsequenzen der Konfrontation im Kontext des direkten Führungsverhaltens [Tabelle 12]). Insbesondere eine intransparente Kommunikation scheint im Zusammenhang mit Konfrontation als Distanzierung zu stehen, wie ein Teilnehmer verdeutlicht: B: „[...] If you lie to me and you said, ‚Okay we will meet every fifteen days,’ and you cannot even hold to your word to this small thing, and then in one year you say, ‚Ah okay, we have thought that maybe we raise your salary of 1.000 Euros per year,’ then I say, ‚Oh okay, yeah I know it’s true when I see it.’ Because you know what I mean?
3. Empirische Untersuchung 174 I: Yeah I understand it’s/ You made a point. B: So yeah, it’s not the end of the war because at the moment I'm just saying, okay at the very/ Maybe this can be dangerous, on the other, on the flip side of the coin because sometimes I say, ‚Okay fuck it I do it my own way’.“ (C-Interview 2) Die Handlungskonsequenz der Desinvestition muss insgesamt in jeder Situation als eine finale Reaktion verstanden werden, da sie den Abbruch der Beziehung bezweckt. Diese Option wurde von den Teilnehmern mit Enttäuschungen zum direktem Führungsverhalten in Verbindung gebracht (45 % der Kodierungen zur Desinvestition befanden sich im Kontext von direktem Führungsverhalten [Tabelle 12]; 37 % der Konsequenzen von direktem Führungsverhalten standen in der Verbindung zur Desinvestition [Tabelle 13]). Diese Verbindung lässt sich auch in den Erlebnissen der Teilnehmer A, B, C, E, F, G und H direkt nachvollziehen. Besonders im Rahmen von Enttäuschungen hinsichtlich des Delegationsverhaltens wurde häufig nach einer anfänglich konstruktiven Reaktion einer Investition schnell von Gedanken einer Kündigung als Desinvestition gesprochen. Insofern überraschen auch die ähnlichen Anteile von Investition und Desinvestition an den Konsequenzen im Kontext von direktem Führungsverhalten (38 % und 45 % [Tabelle 12]) vor dem Hintergrund der Erlebnisse der Teilnehmer nicht. Beispielhaft hierzu Aussagen im Kontext der Delegation und der Proaktivität der Führungskraft, indem im ersten Fall schnell an eine Kündigung gedacht wird, während im zweiten Fall alle drei Formen von Handlungskonsequenzen episodisch angesprochen werden: B: „Dass man so ein bisschen mehr Verantwortung auch bekommt. Also verantwortungsvollere Aufgaben, also jetzt nicht nur so, wie soll ich sagen, abgelegte Arbeiten von je-
3.4 Ergebnisse 175 mand anders. Das will ich jetzt gerade nicht machen, dann mach du das mal schnell. Und vielleicht ist das am Anfang so, ich weiß es nicht. I: Okay. Und was löst es in Ihnen aus oder hat das irgendeinen Effekt für, auf generell Ihr Arbeiten oder Ihr Gefühl? Oder was, wie reagieren Sie darauf? B: So direkt hat es jetzt, glaube ich, keinen Effekt darauf. Es ist jetzt halt nicht sehr motivierend, also wenn man, ja, wenn man so jetzt nicht so anregende Aufgaben hat, sage ich mal oder fördernde, fordernde. I: Und was passiert, wenn das immer so weitergehen würde? B: Dann würde ich mir schon, glaube ich, was anderes suchen.“ (F-Interview 1) „Ja, also, ich würde natürlich dann erst mal mit der Führungskraft selbst sprechen, ja? Also, ich würde sie fragen und würde dann direkt auf sie zugehen und dann gerade versuchen, gemeinsam eine Lösung zu finden und, ja, also, klar, da gibt es verschiedene Eskalationsstufen, die man da so gehen kann, weil mein Teamleiter hat natürlich jetzt auch wieder einen Vorgesetzten und so weiter und so fort. Und, ja, also, wenn es dann wirklich mal ganz hart auf hart kommt, geht jetzt auch jemand, der sagt dann halt, ja, gut, ich meine, es gibt noch x-tausend andere Firmen, wo natürlich unter Umständen auch die gleichen Leute, gleicher Typ Leute arbeiten kann. Das ist mir dann schon durchaus bewusst,
3. Empirische Untersuchung 176 dass es nicht überall eitel Sonnenschein ist, aber, ja, ich muss dann halt für mich schauen, was ich dann halt für mich da rausschlagen kann.“ (B-Interview 2) In Abbildung 9 wird als weitere Reaktion auf die Erwartungsenttäuschung innerhalb der persönlichen Beziehung nach einer erfolglosen Investition direkt die Desinvestition positioniert. Die Reaktionsmöglichkeit im Rahmen einer der Dimension der Konfrontation konnte sich nicht als regelmäßiges Muster in den Daten etablieren (über alle Konsequenzen der Dimension Konfrontation hinweg konnten nur 14 % im Kontext der Dimension persönliche Beziehung identifiziert werden [Tabelle 12]; nur 16 % der Erwartungsenttäuschungen der persönlichen Beziehung standen im Kontext von Konfrontation [Tabelle 13]). Fast die Hälfte der Kodierungen zur persönlichen Beziehung (48 % [Tabelle 13]) standen im Kontext von Handlungskonsequenzen der Desinvestition. Damit ist diese Dimension der Erwartungsenttäuschungen die einzige, in der nicht der Kontext der Investition den größten Anteil stellt. Vor allem durch die Erfahrungen der Teilnehmer A und F konnte dieser Zusammenhang herausgearbeitet werden, beispielsweise durch einen Mangel an Vertrauen in der Beziehung oder einfach direkt durch ein zu distanziertes (oder alternativ zu persönliches) Verhältnis: „Ich kann nicht so handeln wie ich möchte und ich habe auch einen Vorgesetzten, der irgendwie mir zu fern ist, den ich irgendwie, wo ich kein Vertrauen aufbauen kann, dann ist das für mich ganz klar eine Entscheidung, dass ich da dann nicht richtig bin, also.“ (A-Interview 1) „Ja, wie stelle ich mir das vor? Ich hoffe natürlich schon, dass ich da zumindest eine angenehmere Beziehung aufbauen kann. Also ich bin nicht der Typ, der da natürlich, ja, jeden Tag mit ihr Kaf-
3.4 Ergebnisse 177 fee trinken möchte oder in der Form mich da, ja, aufdränge. Das mache ich natürlich nicht, weil man guckt ja schon, dass da auch irgendwie was zurückkommt. Aber ich hoffe schon oder, na ja, vielleicht zeigt dieser Monat dann irgendwie auch, ob es, ob sich die Beziehung noch mal verändert, dadurch dass ich eben jeden Tag da bin, oder eben nicht. Und wenn das nicht der Fall ist, dann ist für mich ganz klar die Konsequenz, mich woanders zu bewerben.“ (A-Interview 1) Mit Blick auf die Erwartungsenttäuschungen der strukturellen Führung unterstellt Abbildung 9 wiederum eine Folgereaktion auf eine fehlgeschlagene Investition als Handlungskonsequenz der Dimension Konfrontation. Diese Verbindung ist in den Daten deutlich als Muster zu erkennen, da über die Hälfte aller Kodierungen unter der Dimension Konfrontation im Kontext von struktureller Führung (53 % [Tabelle 12]) erfasst werden konnten (sowie 42 % der Enttäuschungen zu struktureller Führung im Kontext von Konfrontation standen [Tabelle 13]). Dieses Muster lässt sich direkt in den Erlebnissen von I wiederfinden und ist aber auch bei vielen anderen Teilnehmern eine der ersten Vorstellungen abseits ihrer eigenen Erlebnisse. Dabei wird diese Verbindung insbesondere durch ein mangelndes Steuerungsvermögen als Erwartungsenttäuschung mit dem Infragestellen der Führungsfähigkeit verbunden: „Genau, Koordination der Mitarbeiter ist deswegen wichtig, weil das ist hier die Hauptaufgabe einer Führungskraft. Also, eine Führungskraft hat ja von den Themen im Detail meistens nicht so sehr die Ahnung. Gerade, wenn der Chef von mir so ein Projektkoordinator ist, weil jetzt die Koordinatoren stecken ja nicht in so im Detail jetzt in meinem Fall. Dafür gibt es ja dann immer noch die Experten, die koordiniert werden. Und je weiter sich das nach
3. Empirische Untersuchung 178 oben zusammenrafft, desto wichtiger sind eigentlich die Koordination und die Entscheidungsfähigkeit aufgrund von gewissen Eckdaten. Und das wäre halt Versagen der Führungskraft meiner Meinung nach.“ (E-Interview 2) Die Verbindung zwischen Erwartungsenttäuschungen der strukturellen Führung und den Handlungskonsequenzen der Desinvestition waren kein eindeutiges Muster in den Daten (nur 16 % der Kodierungen der strukturellen Führung standen im Kontext der Desinvestition [Tabelle 13]; nur 19 % der Kodierungen zur Desinvestition standen im Kontext von struktureller Führung [Tabelle 12]). Insgesamt deutet auch keine direkte Wahrnehmung der Teilnehmer in den fallindividuellen Auswertungen auf diesen Zusmmenhang hin. Rückblickend betrachtet lassen sich die Verbindungen zwischen Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen nun kompakt zusammenfassen: Bei allen Erwartungsenttäuschungen ist die Handlungskonsequenz der Investition in der Regel die erste und naheliegende Wahl. Im Anschluss daran unterscheiden sich die Erwartungsdimensionen. Im Rahmen der strukturellen Führung sind alle Handlungskonsequenzen aus den Daten heraus vorstellbar. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf einer Episode von (1) Investition über einen bestimmten Zeitraum hinweg, die bei weiteren Enttäuschungen final in einer (2) Desinvestition enden. Eine unmittelbare Wahl der Desinvestition konnte zwar aufgrund der Nähefunktion nicht ausgeschlossen werden, erscheint aber aufgrund der fallindividuellen Auswertung weniger bedeutsam im Vergleich zu den anderen Dimensionen. Denn im Rahmen der persönlichen Beziehung bildet zwar auch das episodische Muster von Investition und Desinvestition den Schwerpunkt, jedoch wurde in der fallindividuellen Auswertung deutlich, dass hier schneller eine Desinvestition in Betracht gezogen wird und unter Umständen auch sofort möglich ist. Die Handlungskonsequenz der Konfrontation hat sich nicht als zentrale Tendenz erwiesen. In ähnlicher Weise wurde auch bei den Erwartungsenttäuschungen der strukturellen Führung eine Dimension der Handlungskon-
3.4 Ergebnisse 179 sequenzen ausgelassen. Hierbei wurde die Desinvestition nicht als zentrale Tendenz aufgenommen, dafür aber die Konfrontation als deutlicher Schwerpunkt der Konsequenzen insgesamt. Somit ist im Rahmen der strukturellen Führung keine klare Überlegenheit für die episodische Tendenz (1) Investition (2) Konfrontation auszumachen, sondern auch die unmittelbare Wahl einer Konfrontation war in den Daten deutlich zu erkennen.
4. Diskussion Die Ergebnisse der Empirie sind bisher nur in möglichst transparenter Art und Weise vorgestellt worden. Zur Beantwortung der teilweise problematisierenden, teilweise eine Lücke aufzeichnenden Untersuchungsfragen müssen die Ergebnisse nun zuerst auf ihre Aussagekraft hin diskutiert und gewürdigt werden. In einem ersten Schritt werden die in Abschnitt 3.4.2.3 aufgestellten Verbindungen zwischen Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen diskutiert und auf aktuelle Literatur gespiegelt, um zu einem modelltheoretischen Ansatz zu gelangen. Dieser Ansatz stellt im Zusammenhang mit einigen Forschungspropositionen das zentrale Ergebnis dieser Arbeit in Form einer Theorieelaboration dar. Anschließend werden weitere mögliche Erkenntnisbeiträge im allgemeinem Rahmen der Führungsforschung vorgestellt und diskutiert. Hierauf folgt ein Abschnitt über die Würdigung der Bedeutung für die unternehmerische Praxis sowie die Ableitung einiger konkreter Implikationen. Das Kapitel endet mit der Diskussion von Gütekriterien der empirischen Untersuchung, sowie möglicher Limitationen der Daten und Ergebnisse. 4.1 Beitrag zur Führungsforschung: Ein differenziertes Modell der Führungsattribution Bevor die einzelnen Wirkungszusammenhänge und Mechanismen behandelt werden, soll vorab nochmals auf den Charakter der Ergebnisse verwiesen werden. Es handelt sich bei allen aus den Daten extrahierten Mustern („nur“) um (zentrale) Tendenzen. In Konsequenz bedeutet dies, dass eine in Abbildung 9 nicht enthaltene Verbindung auch nicht für die Realität komplett ausgeschlossen werden kann. Es lassen sich aber theoretische Ansätze für die prinzipiell und individual-charakterlich unabhängigen, erkennbaren Grundtendenzen aufzeigen. Die Forschungsfrage sucht nach dem Wirken von enttäuschten Erwartungen an Personalführung auf die Führungsattribution und den damit verbundenen Hand© Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 H. Seele, Die Wirkung von enttäuschten Mitarbeitererwartungen an Personalführung, DOI 10.1007/978-3-658-14618-4_4
182 4. Diskussion lungskonsequenzen auf Seiten der Geführten, um eine differenziertere Betrachtung des Attributionsprozesses von Führung leisten zu können. Die in Abbildung 9 aus den Daten extrahierten Muster legen die typischen Zusammenhänge zwischen Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen offen. An dieser Stelle fehlt jedoch noch die Wirkung auf die Führungsattribution, welche nun interpretativ hergeleitet und diskutiert wird. Außerdem sollen die Gesamtzusammenhänge im Rahmen der Theorieentwicklung argumentativ fundiert und reflektiert werden. Zusammengefasst lassen sich die zentralen Erkenntnisse in einem prozesshaften Modell auf der nächsten Seite abbilden.
Erfüllung retrograd Erfüllung retrograd Konfrontation Desinvestition / Rückzug = Attributionstheoretische Wirkung Führungsablehnung erneute Enttäuschung Investition Enttäuschung Strukturelle Führung Keine Grundlage erneute Enttäuschung Investition Enttäuschung Persönliche Beziehung = Erwartungsdimension Führungsbeziehung entsteht formal Unmittelbare, notwendige Bedingungen Erfüllung retrograd Desinvestition / Rückzug Führungsduldung Führungsattribution = Handlungskonsequenzen erneute Enttäuschung Investition Enttäuschung Direktes Führungsverhalten Langfristige, hinreichende Bedingung 4.1 Beitrag zur Führungsforschung: Ein differenziertes Modell der Führungsattribution 183 Abbildung 10: Modell einer nach Erwartungen und Handlungskonsequenzen differenzierenden Führungsattribution
4. Diskussion 184 Wie in Abbildung 10 dargestellt wird die Führungsattribution durch das formale Zustandekommen der Führungsbeziehung (in der Praxis durch Unterzeichnung des Arbeitsvertrages) initiiert. Nachfolgend sind die einzelnen aus den Daten ermittelten aggregierten theoretischen Dimensionen der Erwartungsenttäuschungen mit ihren möglichen Handlungskonsequenzen abgebildet, sodass final – nach (gradueller)30 Erfüllung der Erwartungen – die Attribution von Führung auf den Vorgesetzten durch den Mitarbeiter entsteht. Die attributionstheoretischen Wirkungen sind in Abbildung 10 gesondert hervorgehoben, da sie nicht unmittelbar aus den Daten stammen, sondern interpretativ hergeleitet wurden. Das Modell ist dabei nicht als strikt prozessual zu verstehen, als dass die abgebildeten Erwartungsenttäuschungen in dieser Reihenfolge von links nach rechts abgeprüft werden. Die Darstellung dient allein der optischen Differenzierung. Der tatsächliche Ablauf hängt von den Wahrnehmungsmöglichkeiten des Mitarbeiters ab und kann auch alle drei Dimensionen zeitgleich betreffen. Vor allem ient die Darstellung der Unterscheidung zwischen denen als notwendige und der als hinreichende Bedingung charakterisierten Dimensionen, sowie der Darstellung einer abstrakt betrachtet „sich verbessernden“ attributionstheoretischen Wirkung von links nach rechts. Beide Aspekte, sowie natürlich die Abbildung 10 insgesamt, werden im Laufe dieses Abschnitts erläutert und reflektiert. Bei allen drei Dimensionen der Erwartungsenttäuschungen ist nach einer ersten Enttäuschungswahrnehmung die Handlungskonsequenz der Investition abgetragen. Diese Erkenntnis ergibt sich unmittelbar aus den Kontextanalysen in Abschnitt 3.4.2.3 und deckt sich auch mit den Erfahrungen aller Teilnehmer der Studie F. Man könnte sie somit prima facie als erste „Standardreaktion“ auf Erwartungsenttäuschungen bezeichnen. Vor allem vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion zu „newcomer behavior“, dem Verhalten von Neueinsteigern in eine Organisation, kann ein Bezug hergestellt werden (Jokisaari & Nurmi, 2009; Kammeyer-Mueller, Wanberg, Rubenstein, & Zhaoli, 2013; Nifadkar, Tsui, & Ashforth, 2012; Schaubroeck, Chunyan Peng, & Hannah, 2013). 30 Die Einschränkung „graduell“ wird im Laufe des Kapitels erläutert und diskutiert.
4.1 Beitrag zur Führungsforschung: Ein differenziertes Modell der Führungsattribution 185 Aus der Perspektive der Forschung zu Neueinsteigern wird beispielsweise diskutiert, inwiefern eine positiv oder negativ affektierte Wahrnehmung des Verhaltens der Führungskraft bei neuen Geführten zu bestimmten Verhaltensweisen führt (Nifadkar et al., 2012, S. 1148f.). Unter anderem stellt – unabhängig vom Affekt – das Suchen von Feedback ein typisches Verhalten von Neueinsteigern dar, um ihre Rolle, ihre Aufgaben, ihre Fähigkeiten usw. zu klären (Nifadkar et al., 2012, S. 1150). Ein anderer Begriff ist in diesem Zusammenhang durch proaktive Bemühungen neuer Mitarbeiter gegeben, die vergleichbaren Zwecken dienen (Kammeyer-Mueller et al., 2013, S. 1108f.). In beiden genannten Fällen handelt es sich um Eigeninitiative der Geführten. Ein typisches Verhalten bei Unklarheiten und auch Unzufriedenheit bezüglich verschiedener Aspekte auf Seiten der Geführten ist somit ein auf die Führungskraft gerichtetes, gesteigertes konstruktives Handeln. Dabei ist es auch möglich, dass bei negativem Affekt (naheliegend bei einer Erwartungsenttäuschung) ebenfalls positiv und eigeninitiativ durch die Person gehandelt werden kann, um die Zustand zu überwinden und ihre Situation zu verbessern (Kammeyer-Mueller et al., 2013, S. 1118). In diesem Punkt gleicht sich das Muster von „newcomer behavior“ mit der Handlungskonsequenz Investition. Scheinbar reagieren die Geführten auf die Erwartungsenttäuschung, die eine Führungskraft mit in einer negativen Wahrnehmung verbindet, in der Regel mit konstruktivem Verhalten, um diesen Spannungszustand aufzulösen oder eine Anpassung herbeizuführen. Sie versuchen, trotz der möglichen Enttäuschung eine positive Beziehung zum Vorgesetzten zu schaffen (Lapointe, Vandenberghe, & Boudrias, 2014, S. 615). In der Sozialisationsforschung wird ebenfalls ein proaktives Verhalten der Neueinsteiger unter anderem als positives „framing“ verstanden, sodass die Wahrnehmungen möglichst optimistisch bewertet werden (Ashforth, Sluss, & Saks, 2007, S. 451; Ashforth & Saks, 1996, S. 149ff.). Die Akzeptanz einer Enttäuschung kann auch als eine optimistische Herangehensweise des Geführten interpretiert werden. Die Enttäuschung wird für den frühen Zeitpunkt in der Entwicklung der Führungsbeziehung zuerst einmal hingenommen und akzeptiert. Bei den Teilnehmern A, B, E, F und G konnten Aussagen verzeichnet werden,
186 4. Diskussion die bei Erwartungsenttäuschungen darauf hindeuteten, dass sie zu dem frühen Zeitpunkt der Führungsbeziehung „noch darüber hinwegsehen“ und eine Entwicklung abwarten können. Diese Aussagen können als bewusst optimistische Bewertung einer tendenziell negativen Wahrnehmung interpretiert werden. Wiederholen sich die Erwartungsenttäuschungen, so wechseln möglicherweise wiederum die Wahrnehmungen oder Bewertungen. Abbildung 10 schließt an die Investition unterschiedliche weitere Handlungskonsequenzen je nach Art der Erwartungsenttäuschung an. In der Literatur zu organisationalen Neueinsteigern wird im Laufe der Zeit, wenn selbst anfangs positive Wahrnehmungen sich negativ entwickeln, von einer gesteigerten Wahrscheinlichkeit des Rückzugsverhaltens gesprochen (Kammeyer-Mueller et al., 2013, S. 1118). Damit ist eine Veränderung der Beurteilung der Situation durch den Geführten über die Zeit hinweg gemeint, welche auch in der Forschung zu Neueinsteigern unter anderem mit Erwartungsenttäuschungen verbunden wird (de Vos, 2005, S. 371.). Wie in Abbildung 10 enthalten, ist eine derartige Entwicklung für die Erwartungsenttäuschungen der persönlichen Beziehung und des direkten Führungsverhaltens in den Daten zu beobachten, jedoch nicht bei denen der strukturellen Führung. Die Unterschiede zwischen den Dimensionen der Erwartungsenttäuschung werden nun im Folgenden diskutiert. Im Vergleich zu den anderen beiden Dimensionen kann man die der persönlichen Beziehung von ihrem Wesen her als nicht exklusiv für Führungsbeziehungen beschreiben. Die strukturelle Führung und das direkte Führungsverhalten betreffen Bereiche, die einzig für Führungsbeziehungen gelten. Die theoretischen Kategorien der persönlichen Beziehung (Erreichbarkeit, Vertrauen, Beziehungsverhalten) könnten in ähnlicher Form auch für andere Beziehungen am und außerhalb des Arbeitsplatzes eine Rolle spielen. Sie hegen aber für Führung, als eine besondere Form der Beziehung mit besonderen Rollenbildern, spezifische Ausprägungen der Inhalte. Daher soll die Dimension der persönlichen Beziehung zuerst diskutiert werden, da sie aufgrund ihres Bezugs zu „klassischen“ Beziehungen als eine Art Ausgangsbasis verstanden werden kann. In
4.1 Beitrag zur Führungsforschung: Ein differenziertes Modell der Führungsattribution 187 allen sich etablierenden Beziehungen am Arbeitsplatz, nicht nur in Führungsbeziehungen, spielt die Wahrnehmung der Qualität der Beziehung (Verstanden als eine möglichst maximale Abwesenheit von Enttäuschungen) eine bedeutende Rolle (Anand, Vidyarthi, Liden, & Rousseau, 2010, S. 970ff.; Dumas, Phillips, & Rothbard, 2013, S. 1377ff.; Lam & Lau, 2012, S. 4265ff.). Auch wenn sich diese erst über die Zeit hinweg umfassend beurteilen lässt, so wird in der Literatur die hohe Bedeutung der Wahrnehmungen innerhalb der ersten Wochen betont (Bradt, Check, & Pedraza, 2009, S. 119ff.; Watkins, 2003, S. 1ff.). In der Auswertung der empirischen Daten wurden vor allem die Aspekte der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Nähe und Distanz und dem Konstrukt des Vertrauens im Rahmen der persönlichen Beziehung durch die Teilnehmer erwähnt. In Studien zur Bedeutung von Distanz oder Nähe in Führungsbeziehungen konnte die soziale Distanz, ein Maß vergleichbar mit den Kategorien Vertrauen und Beziehungsverhalten, als bedeutsam für die Effektivität von Führung, auf die Wahrnehmung des Führungsstils und die Möglichkeiten der Einflussnahme durch die Führungskraft identifiziert werden (Antonakis & Atwater, 2002, S. 690ff.). Sluss und Thompson verweisen auf die mediierende Rolle von Führung, in Form von einer LMX-basierten Unterscheidung, für den Erfolg eines Sozialisationsprozesses (2012, S. 114ff.). In diesem Zusammenhang ist ein hoher Grad an LMX für die Bindung an das Unternehmen förderlich, ein niedriger Grad an LMX hindernd. In den Abschnitten 2.3 und 2.5 wurde die Rolle von Erwartungen an Führung im Bezug auf die LMX-Theorien diskutiert, welche insbesondere in der Entstehung der Beziehung als „Austauschware“ verstanden werden. Insofern könnte ein hohes LMX mit besonders wenigen enttäuschten Erwartungen, ein niedriges mit besonders vielen enttäuschten Erwartungen in Verbindung gebracht werden. Die Ergebnisse dieser Arbeit im Rahmen der persönlichen Beziehung deuten darüber hinaus auf die Möglichkeit einer scheiternden Beziehung an, die von vorneherein aufgrund von sich nicht entwickelndem Vertrauen oder einem Missverhältnis hinsichtlich dem Verhältnis von Nähe und Distanz erst gar nicht richtig entsteht. Eine deutliche Interpretation der Ergebnisse liegt in der Schlussfolgerung, dass
188 4. Diskussion aufgrund von gravierenden Erwartungsenttäuschungen hinsichtlich der persönlichen Beziehung die Grundlage für eine Attribution von Führung generell fehlen kann, da die Beziehung selbst nicht ausreichend positiv bewertet wurde. Konsistent mit den obig erwähnten Ergebnissen würde somit eine Einflussnahme sogar erschwert oder gar verhindert werden können. Eine mögliche Erklärung dieses Zusammenhanges bietet eine alternative Perspektive der Attributionstheorie, in der die Möglichkeit der Attribution auf eine Beziehung diskutiert wird. Eberly et al. formulieren hierzu die zusätzliche Möglichkeit der Attribution auf eine Dyade, mit dem Schwerpunkt auf negative Wahrnehmungen (2011, S. 731ff.). In diesem Zusammenhäng würde ein Geführter nicht sich selbst oder die Führungskraft, sondern der Beziehung insgesamt die Ursache einer Wahrnehmung zuschreiben. Im Bezug auf die Elemente einer Attribution (Abschnitt 2.4.1) ist eine Attribution auf die Beziehung dann relevant, wenn die Konstellation eines niedrig wahrgenommenen „consensus“, einer hohen „consistency“ und einer hohen „distinctiveness“ erfüllt ist (Eberly et al., 2011, S. 734). Sie unterscheidet sich damit nur durch die „distinctiveness“ von einer Attribution auf die Person, welche die Führungskraft betrifft. Eberly et al. fügen somit den Perspektiven von Kelley (1973) und Weiner (1986) eine weitere Attribution hinzu. Erwartungsenttäuschungen in der Dimension persönliche Beziehung könnten somit zu einer Attribution auf die Führungsbeziehung selbst führen. Dies entspräche dann einer fehlenden Grundlage für eine Führungsattribution, wie in Abbildung 10 dargestellt. Auch im Rahmen der Konsequenzen einer solchen Attribution diskutieren Eberly et al. ein zu den Ergebnissen dieser Arbeit vergleichbares Muster: Eine Attribution auf die Beziehung führt zu „relational work“, sodass ein Geführter sich bemüht, die Beziehung zu reparieren und die der Attribution zugrunde liegenden Wahrnehmungen und damit verbundene Sorgen anzusprechen oder sein eigenes Verhalten grundsätzlich zu ändern (Eberly et al., 2011, S. 741ff.) – analog zur Handlungskonsequenz der Investition. In weiterer Konsequenz halten die Autoren auch andere Reaktionen für möglich:
4.1 Beitrag zur Führungsforschung: Ein differenziertes Modell der Führungsattribution 189 „Relational attributions may not only lead to the types of positive and sincere relationship improvement efforts described here but may also trigger more negative behaviors, such as withdrawal and counterproductive behaviors, for example, when the attributer believes nothing can be done the remedy the relationship.“ (Eberly et al., 2011, S. 743) Damit sprechen auch Eberly et al. Reaktionen an, die auf eine Desinvestition hindeuten. Nach einer gescheiterten Investition könnte die Wahrnehmung entstehen, dass die Beziehung nicht zu reparieren ist, sodass der Rückzug als verbleibende Reaktion gewählt wird. In dieser Form handelte Teilnehmer A, während Teilnehmer F dies stark andeutete. Allerdings müssen Erwartungsenttäuschungen in dieser Dimension als insofern stark von den individuellen Bedürfnissen der Teilnehmer abhängig verstanden werden, als dass die Reaktionen der Desinvestition nur in Fällen von besonders hohem Ausmaß relevant sind. Bis auf Teilnehmer A und F hatte kein weiterer Teilnehmer eine so starke Erwartungsenttäuschung direkt selbst erlebt. Vielmehr wurden aber sehr schnell Vorstellungen geäußert, dass es „ab einer gewissen Grenzen“ zu schnellen und massiven Reaktionen führen würde. Insofern werden als Ergebnis dieser Arbeit die Erwartungen der persönlichen Beziehung als eine Art notwendige Bedingung für die Führungsattribution verstanden. In starken Enttäuschungsfällen kann schnell die Grundlage einer Zusammenarbeit gefährden werden, sodass durch eine Attribution auf die Beziehung eine Führungsattribution verhindert wird. Im Regelfall jedoch führen sie – in einem akzeptablen Rahmen – zu keinen negativen Handlungskonsequenzen. Dies könnte an einem – bis zu einer Grenze – grundsätzlichen Charakter eher kognitiver Erwartungen (als Rückschluss auf die im theoretischen Rahmen aufgeworfene Möglichkeit zur Differenzierung von Erwartungen, vgl. Abschnitt 2.1) liegen, welche wiederum außerhalb der Grenzen stark den Charakter von normativen Erwartungen tragen und nicht verhandelbar sind. Die Teilnehmer E, G und I äußerten allesamt Wahrnehmungen in der persönlichen Beziehung, die
190 4. Diskussion zwar als nicht negativ (und das Verhältnis zur Führungskraft insgesamt als gut bewertet) empfunden, aber „anders waren als man es sich vorgestellt hätte“ (näher oder distanzierter als erwartet) und mit denen man aber leben könne. Dies spricht für einen gewissen Spielraum, der durch einen kognitiven Erwartungscharakter gekennzeichnet ist. Anschließend daran wurde häufig der extreme Fall als nicht ertragbar eingeschätzt (sehr viel Nähe oder sehr viel Distanz), welches den Bereich der normativen Erwartung kennzeichnet. Die Teilnehmer mit einer insgesamt negativen Bewertung der Beziehung und direkten deutlichen Enttäuschungen in einer oder mehrerer der theoretischen Kategorien der persönlichen Beziehung waren A und F. Bei A folgte sehr bald die Kündigung, bei F herrschte große Unzufriedenheit, verbunden mit der häufigen Äußerung von Kündigungsgedanken. Dadurch wird der Charakter der notwendigen Bedingung unterstrichen, sowie die normative Erwartungsbewertung in Anschluss der „Grenzüberschreitung“, sodass der Führungsattribution sämtliche Grundlage fehlt. In Abschnitt 2.1 wurden normative Erwartungen nach Luhmann (1987) als gesetzeshaft beschrieben. Für diese Arbeit sind diese gesetzeshaften Grenzen des normativen Charakters gegenüber dem „kognitiven Korridor“ besonders interessant. Im letzteren Fall wird vermutlich eher die Kategorie der Akzeptanz als Investition relevant sein, sodass keine weiteren Konsequenzen oder attributionsbezogene Wirkungen in Frage kommen. In dem normativen Fall aber lassen sich im Bezug auf die Attribution von Führung die Erwartungen der persönlichen Beziehung als eine Notwendigkeit zum Gelingen interpretieren. Von daher werden die Erwartungen der persönlichen Beziehung von nun als normative Erwartungen verstanden. Unter dieser Prämisse lassen sie sich auch in der Unterscheidung nach Dahrendorf (vgl. Abschnitt 2.1) als Soll-Erwartungen verstehen. Aus den empirischen Daten heraus lässt sich der Charakter einer notwendigen Bedingung durch diese Argumentation begründen. Auch in einer anderen Perspektive aktueller Publikationen der Führungsforschung lässt sich diese Argumentation identifizieren und auch mit einer vergleichbaren Verbindung zwischen Enttäuschungswahrnehmung und Handlungskonsequenz versehen. In
4.1 Beitrag zur Führungsforschung: Ein differenziertes Modell der Führungsattribution 191 einer qualitativen Studie zur Reaktion von Geführten auf Vertrauensbrüche durch die Führungskraft haben Grover et al., mit Vertrauensbrüchen in einem extremeren Rahmen, ein Modell aufgestellt, in dem Geführte auf als reparabel eingeschätzte Vertrauensbrüche zuerst mit einem „last chance behavior“ und dann bei ausbleibender Verbesserung mit einem „withdrawal behavior“, oder bei irreparablen Vertrauensbrüchen direkt mit „withdrawal behavior“ reagieren (2014, S. 692ff.). So reagierten auch die Teilnehmer E, G und I auf die in Ihren Augen „kleineren“ Enttäuschungen mit Akzeptanz als Teil der Investition und änderten ihre Haltung innerhalb der normativen Grenzen der Erwartung. A und F aber fanden auf die schweren Enttäuschungen nach einer Investition schnell zum Rückzugsgedanken des Desinvest, da diese Art der Grenzüberschreitung eine klare normative Erwartung darstellen könnte. Dieses Muster ist ähnlich zu den Mechanismen von Grover et al. oben. Eine mangelnde Qualität in der Beziehung zur Führungskraft wird auch in der Sozialisationsforschung als Quelle von Frustration oder Unzufriedenheit verstanden (Korte, Brunhaver, & Sheppard, 2015, S. 200), sowie auch in psychologischen Studien über den Einfluss von beruflichen Interaktionen auf negative Affekte im Privatbereich, wo sie zum „withdraw from work“ oder „even quit the job“ führen könnten (Volmer, 2015, S. 9). Somit können die Ergebnisse an dieser Stelle als konsistent in einem interdisziplinären Kontext verstanden werden. Auch die in den Daten nicht erkennbare Verbindung zur Dimension Konfrontation der Handlungskonsequenzen unterstützt diese Interpretation. Im Gegensatz zur anschließend zu diskutierenden Situation rund um die Erwartungsdimension strukturelle Führung, handelt es sich bei der persönlichen Beziehung um eine auf die individuelle Person fokussierte Erwartungsenttäuschung, die nur schwer vor Dritten objektiv belegbar ist. Die Wahrnehmung von zu stark gelebter Nähe oder von zu wenig Vertrauen ist von einem anderen Charakter als ein hoher Druck oder mangelndes Strukturierungsvermögen. Vermutlich schätzen die Betroffenen in einem Enttäuschungsfall zur persönlichen Beziehung die Legiti-
192 4. Diskussion mation für Konfrontation als zu gering oder vor allem zu riskant ein, da sich die Basis der Wahrnehmung auf subjektiv-interpersonelle Phänomene bezieht, die gegenüber Dritten eventuell schwierig nachzuweisen sind. Zieht man in einer erweiterten Betrachtung die in Studie P für eine Erwartungsenttäuschung als kritische Bereiche identifizierten Aspekte hinzu, so lässt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Nähe und Distanz in der Beziehung (S. 91) in ihrer vermuteten Relevanz bestätigen. Sowohl der Vergleich von Prototypen und Rollenbilder, als auch die Überprüfung des Prototyps mit der Realität in der Führungsbeziehung deuten auf den kritischen Charakter hin. Eine Erwartungsenttäuschung in diesem Bereich, oder in anderen der persönlichen Beziehung zuordnungsbaren Kategorien, sind deswegen kritisch für die Führungsattribution, weil sie ab einer (individuell unterschiedlich definierten) Grenzüberschreitung der Attribution sämtliche Grundlage entziehen und eine Führungsattribution ausschließen. Möglicherweise geschieht dies durch eine Attribution auf die Beziehung. Tritt diese Situation ein, ist schnell mit starken Handlungskonsequenzen der Desinvestition zu rechnen. Eine Führungszuschreibung wird damit insofern verhindert, als dass eine der Grundvoraussetzungen in Form einer positiv wahrgenommenen Beziehung zwischen Mitarbeiter und Führungskraft generell aus Sicht des Mitarbeiters entzogen wird. In dem empirischen Design dieser Arbeit war es nur schwer möglich, diese persönlichen Grenzen der persönlichen Beziehung zu identifizieren. Vermutlich liegt die Ursache in stark unterschiedlichen persönlichen Präferenzen, welche die Wahrnehmungen in dieser Dimension prägen und den normativen Charakter spezifizieren. Vor allem in Bezug auf das Verhältnis zwischen Nähe und Distanz konnten viele Kodierungen in beiden Richtungen (zu viel Nähe vs. zu viel Distanz) festgestellt werden, sodass zwar Einigkeit insofern Bestand, als dass dieser Bereich eine hohe Relevanz trägt, aber keine klare Ausprägung vorrangig behandelt werden kann. Damit wird zum Teil der Tendenz der Studie P widersprochen, in denen die Studenten sich mehr in die Richtung der Bevorzugung von ausreichend Distanz positionierten. Trotzdem ist der Bereich insgesamt in seiner Bedeutung durch beide Studien bestätigt.
4.1 Beitrag zur Führungsforschung: Ein differenziertes Modell der Führungsattribution 193 Proposition 1a: Erwartungen der persönlichen Beziehung besitzen einen individuell unterschiedlich abzugrenzenden normativen Charakter und sind als SollErwartungen zu verstehen. Proposition 1b: Enttäuschte Erwartungen der persönlichen Beziehung verhindern eine Attribution von Führung und führen zu einer negativen Attribution auf die Führungsbeziehung. Proposition 1c: Negative Attributionen aufgrund von wiederholten Erwartungsenttäuschungen der persönlichen Beziehung führen bei Geführten nach gescheiterten Handlungen der Investitionen zur Desinvestition. Die Dimension der strukturellen Führung weist einige Ähnlichkeiten in der Art und Weise der Interpretation zur persönlichen Beziehung auf. Ein wichtiger Unterschied besteht aber in dem Grundcharakter der Erwartungsinhalte dieser Dimension. Es handelt sich hierbei nicht um die Übertragung genereller Beziehungskriterien auf den Spezialfall der Führungsbeziehung, sondern um Kriterien, die unmittelbar nur mit Führung in Verbindung gebracht werden. Einige Aspekte der theoretischen Kategorien Arbeitsbedingungen und Druck könnten direkt in der Aufgabenbeschreibung einer Führungskraft enthalten sein, wie beispielsweise die Strukturierung oder Organisation von Zuständigkeiten in der Abteilung oder das Monitoring einer Zielerreichung. Die in dieser Dimension angesprochenen Aspekte betreffen allesamt Bereiche, bei denen die volle Verantwortlichkeit in den Augen der Mitarbeiter bei der Führungskraft liegt. Das Gestalten eines gewissen Arbeitsdrucks, von Arbeitsbedingungen sowie die Förderung von Integration in die Gruppe sind durch eine Führungskraft maßgeblich beeinflusste Merkmale. Sie bestimmen den Alltag und entsprechen einer eher grundsätzlichen Wahrnehmung, anstatt sich situationsbedingt unterschiedlich darzustellen. Wie bereits oben erwähnt können diese Wahrnehmungen vor
194 4. Diskussion allem auf von der Führungskraft gestaltete Führungssubstitute wie zum Beispiel grundsätzliche Aufgabenregelungen oder einem hoch kohäsiven Team basieren (Kerr & Jermier, 1978, S. 377). Man kann die Erwartungen innerhalb dieser Dimension als gewisse Grundregeln, welche die Teilnehmer an Führung stellen, interpretieren. Die Begründung dieser Interpretation liegt in den Schwerpunkten der Aussagen der Teilnehmer auf die Kategorie der Arbeitsbedingungen, wie beispielsweise der Definition von Koordination als „Hauptaufgabe einer Führungskraft“ oder bei der Wahrnehmung aufgrund mangelnder Führung selbst Steuerungsaufgaben zu übernehmen, um dann damit verbunden negative Gefühlen aufgrund der fehlenden Legitimation zu entwickeln (vgl. S. 111f.). Die Teilnehmer nehmen diese Art von Erwartungsenttäuschungen schnell als Regelverstöße gegen die Führungsaufgabe war. Sie verhindern durch falsches oder fehlendes Handeln die Aufgabenerledigung der Geführten (bspw., weil nicht genug Führungssubstitute aufgebaut wurden, die in den Situationen eingreifen, in denen keine direkte Interaktion möglich ist). Begreift man die Verhinderung der Aufgabenerledigung als einen Stressor oder die Wahrnehmung von organisationaler Ungerechtigkeit, dann wird das Führungsverhalten als ein zentraler Einflussfaktor auf einen solchen Stressor diskutiert (Yiwen, Lepine, Buckman, & Feng, 2014, S. 678). Führungskräfte können durch ihr Verhalten die Wahrnehmung der Aufgaben der Geführten stark beeinflussen, sodass viele positive Effekte von Führung auf die Aufgabenwahrnehmung diskutiert werden (Bono & Judge, 2003, S. 554ff.; Piccolo & Colquitt, 2006, S. 329). Diese Zusammenhänge zielen alle auf eine Verbesserung der Aufgabenwahrnehmung ab. Im Umkehrschluss könnte es aber auch bedeuten, dass eine Führungskraft die Aufgabenwahrnehmung der Mitarbeiter negativ beeinflussen könnte. Prinzipiell ist dieser Vorgang eine denkbare Grundlage für die Erwartungsenttäuschungen in der Dimension der strukturellen Führung: Aufgrund nicht erfüllter Führungserwartungen nehmen die Mitarbeiter die Aufgaben teilweise als zu schwierig oder nicht lösbar war (Kategorie Druck). Die Führungskraft fällt keine Entscheidungen und schafft keine Struktur (Kategorie Arbeitsbedingungen). Zusätzlich kann sie auch das Führungssubstitut
4.1 Beitrag zur Führungsforschung: Ein differenziertes Modell der Führungsattribution 195 einer starken Gruppe nicht aufbauen (Kategorie Integration). Somit nehmen die Geführten das (fehlende) Verhalten der Führungskraft möglicherweise als Verhinderung der Aufgabenerledigung war. In einer ähnlichen Weise argumentiert die Forschung zur „workplace revenge“. Diese Perspektive betrachtet das Verhalten von Personen in Organisationen, welche auf eine Erwartungsenttäuschung in Form von Vergehen anderer Personen mit destruktiven Handlungskonsequenzen reagieren: Bies und Tripp formulieren für dieses Phänomen drei grundlegende Typen von Kategorien des Fehlverhaltens am Arbeitsplatz, nämlich (1) „goal obstruction“ als eine Verhinderung der Zielerreichung durch jemand anderem, (2) „violation of rules, norms and promises“ als ein Bruch von Regeln, Normen oder Versprechen, sowie (3) „status and power derogation“ als eine Beeinträchtigung von Status oder Macht (Bies & Tripp, 2005, S. 65ff.). Grundsätzlich kann man die Erwartungsenttäuschungen der Dimension der strukturellen Führung als vergleichbar mit (2) einem Bruch von Regeln oder Versprechen beschreiben31: Die Mitarbeiter sehen Verfehlungen in der Koordination oder Steuerung (oder anderen Punkten dieser Dimension) als Verletzungen der Verhaltensregeln als Führungskraft, beziehungsweise dem unausgesprochenem Versprechen als Führungskraft diese Aufgaben zu übernehmen. In einer quantitativen Studie konnten Aquino et al. anschließend aufdecken, dass ein Racheverhalten besonders für (2) und (3) wahrscheinlich sei und weitaus weniger für (1) (2006, S. 666). Bereits in Abschnitt 3.4.2.2 wurde ein Vergleich der Dimension der Handlungskonsequenzen unter Konfrontation mit den Grundzügen von Racheverhalten kurz diskutiert. Racheverhalten erscheint als ein weitaus stärkeres Maß als die unter Konfrontation zusammengefassten Verhaltensweisen, jedoch sind sie in ihrem Grundcharakter als destruktive Verhaltensweisen contra die Führungskraft gleich. Insgesamt konnte somit ansatzweise ein vergleichbarer Wirkungszusammenhang in dieser Studie herausgearbeitet werden, wie es auch in den Studien zu „workplace re31 Die unter (1) angesprochenen Vergehen der Verhinderung einer Zielerreichung werden noch einmal später unter der aggregierten theoretischen Dimension des direkten Führungsverhaltens diskutiert.
196 4. Diskussion venge“ entstanden ist, wenn auch auf einem weniger intensiven Niveau: Die Erwartungsenttäuschungen der strukturellen Führung sind vergleichbar mit Brüchen von Regeln der Führung, während die Handlungskonsequenzen der Konfrontation in ihrer Grundausrichtung vergleichbar mit den stärkeren Rachehandlungen sind. Natürlich sind, wie in Abbildung 10 dargestellt, auch zu einem hohen Maße Verhaltensweisen der Handlungskonsequenz Investition feststellbar. Analog zu der Dimension der persönlichen Beziehung lässt sich dieser Aspekt wiederum mit der Frage der Intensität der Erwartungsenttäuschung erklären und der Frage danach, wie weit bestimmte Enttäuschungswahrnehmungen gehen. Unter Umständen wird nicht sofort, sondern erst nach einer erneuten Enttäuschung in Folge der Investition, mit Konfrontation reagiert. In den Aussagen der Teilnehmer konnten nur bei A und I eine direkte Entwicklung einer Erwartungsenttäuschung der strukturellen Führung beobachtet werden. Beide reagierten zuerst mit Investition, A im Anschluss aber deutlich mit Konfrontation in Form von Distanzierung. I konnte sich zumindest weitere langfristige Maßnahmen beim Ausbleiben einer Verbesserung oder der Intensivierung der Enttäuschungswahrnehmung im Sinne der Versagung von Unterstützung als Teil der Konfrontation vorstellen. Die Verbindung zur Dimension der Handlungskonsequenzen Konfrontation ist ein deutliches Muster in der Empirie (vgl. Tabelle 12: 53% der Kodierungen von Konfrontation im Kontext der strukturellen Führung). Dies beruht auf vielen Teilnehmern, die sich im Bezug auf Enttäuschungen zu den Arbeitsbedingungen hypothetisch die Möglichkeit einer Widersetzung vorstellen konnten, beispielsweise durch Eskalation des Problems bei Teilnehmer E und G. Dieser Faktor ist insofern interessant, als er sich auch mit den Studien von Aquino und Co-Autoren (siehe oben) verbinden lässt. Die oben beschriebenen Ergebnisse zu den Verbindungen von Regelverletzungen und Racheverhalten wurden in den Studien der Autoren durch die allgemeine Wahrnehmung
4.1 Beitrag zur Führungsforschung: Ein differenziertes Modell der Führungsattribution 197 organisationaler Gerechtigkeit moderiert (Aquino et al., 2006, S. 666) 32 . Bei hoher Wahrnehmung von organisationaler Gerechtigkeit galt die Verbindung nicht, wohl aber bei geringer Wahrnehmung von organisationaler Gerechtigkeit. Diese Erkenntnis ist zu den hier vorliegenden Ergebnissen als konsistent zu beurteilen, da die weitaus schwächere Reaktionsform der Konfrontation, beispielsweise insbesondere durch die Widersetzung mittels Eskalation oder dem Aufzeigen von Widersprüchen, eben genau an diese organisationale Gerechtigkeit appelliert. Es wird in gewisser Weise eine Anklage der Führungskraft aufgrund einer gravierende Erwartungsenttäuschung an Führung (oder eben dem Bruch einer Regel bzw. eines unterschwelligen Versprechens) vollzogen. Hierin lässt sich auch der Unterschied zu den Handlungskonsequenzen in Verbindung mit der persönlichen Beziehung verstehen: Im Gegensatz zu vorher handelt es sich nun um Erwartungsenttäuschungen, die in den Augen der Teilnehmer vermutlich ein stärkeres Mandat bilden. Einerseits sind diese möglicherweise objektiver nachzuvollziehen (bspw. ausbleibende Steuerung als Beispiel der strukturellen Führung gegenüber einer zu wenig „freundschaftlichen“ Beziehung als Beispiel für die persönliche Beziehung), andererseits stellen diese ein direktes Fehlverhalten in der Rolle „Führungskraft“ dar. Durch diese Einschätzung wird vermutlich insgesamt die Position der Mitarbeiter als „Ankläger“ viel stärker eingeschätzt, sodass sie sich eine konfrontierende Position (Konfrontation) zutrauen. In der Wahrnehmung von organisationaler Gerechtigkeit werden mehrere Effekte auf das Verhalten von Mitarbeitern diskutiert, die bei wahrgenommener Ungerechtigkeit zu bspw. vergeltenden, aggressiven oder anderen konfrontativen Reaktionen führen (Ambrose, 2002, S. 808f.; Colquitt, Wesson, Porter, Conlon, & Ng, 2001, S. 430; Hollensbe, Khazanchi, & Masterson, 2008, S. 1099). Dies unterstreichen die Schwerpunkte in den Daten ebenfalls: Besonders die Eskalation des Problems oder die Infragestellung der 32 In einer gleichen Logik der Bedeutung der Wahrnehmung organisationaler Gerechtigkeit vergleichbar, jedoch auch im Bezug auf Ursache und Wirkung wesentlich extremer durch die Betrachtung von abusiver Führung und aggressivem Verhalten der Mitarbeiter (vgl. Burton & Hoobler, 2011, S.389ff).
198 4. Diskussion Führungsfähigkeit als Elemente der Kategorie Widersetzung und „sein eigenes Ding machen“ im Sinne der Kategorie Distanzierung bildeten den Hauptteil der Reaktionen unter der Dimension Konfrontation (vgl. Abschnitt 3.4.2.2, S. 159ff.). Für derartige konfrontativ-destruktive Konsequenzen wurden vermutlich von den Teilnehmern die Enttäuschungen unter der persönlichen Beziehung als ein zu geringes Mandat eingeschätzt, sodass sich beispielsweise Frustration eher entwickelt als Widerstand, welches zu Desinvest in letzter Konsequenz führt, weil die Chancen des „Gewinnens“ einer Konfrontation vermutlich zu niedrig eingeschätzt werden. Bei der strukturellen Führung werden vermutlich die Chancen für einen positiven Ausgang einer Konfrontation tendenziell besser eingeschätzt. Sie fühlen sich vermutlich sogar vor dem Hintergrund des Unternehmens „im Recht“ so zu handeln (Bies & Tripp, 2002, S. 215). Die Geführten nehmen die Verletzung der „Grundregeln“ (siehe oben) durch die Führungskraft anscheinend als eine Ungerechtigkeit wahr, gegen die sie sich wehren wollen. Es muss aber ebenso erwähnt werden, das vereinzelt Teilnehmer auf die offen formulierte Frage, ob sie sich denn eine konfrontative Haltung vorstellen könnten, mit dem Hinweis antworteten, dass so eine destruktive Haltung eher Schaden würde. Andererseits brachten sie aber im späteren Verlauf des Interviews (oder vorher) teilweise eigene Beispiele dafür, eine ähnliche Handlung für denkbar zu halten. Erst die Erwähnung des Begriffes „Konfrontation“ durch den Interviewer brachte Zweifel hervor. Das spiegelt die bereits angesprochene Limitation wieder, dass einige Aussagen hypothetischer Natur waren und im tatsächlich einzutretendem Fall sich erst noch „beweisen“ müssen. Nichtsdestotrotz stellen die Muster in den Daten eine deutliche Tendenz dar. Mit Hinblick auf die attributionstheoretische Wirkung unterscheidet sich deshalb die Dimension der strukturellen Führung aufgrund des anderen Zusammenhangs mit Handlungskonsequenzen wiederum von der persönlichen Beziehung. Während letztere noch die Grundlage für die Attribution verhinderte in dem die interpersonelle Beziehung angezweifelt wurde, kann man die Wirkung
4.1 Beitrag zur Führungsforschung: Ein differenziertes Modell der Führungsattribution 199 der enttäuschten Erwartungen unter der strukturellen Führung mehr als eine Art der Führungsablehnung verstehen. Prinzipiell kann es auch als eine gescheiterte Führungsattribution bezeichnet werden, da durch die Führungskraft grundlegende Regeln „des Führens“ in den Augen des Mitarbeiters gebrochen worden sind. Damit können die Erwartungen der strukturellen Führung als normative Erwartungen aufgefasst. Sie umfassen Grundregeln, die gesetzeshaft von den Geführten an die Führungskraft als Anforderung gestellt werden. Die deutlichen Sanktionen im Enttäuschungsfall deuten auf einen Charakter von Soll-Erwartungen hin. Die Erfüllung dieser Erwartungen ist eine Grundvoraussetzung der Führungsattribution und wird nicht bewusst positiv belohnt. Insbesondere die Erwartungen von Steuerung, Koordination und Entscheidungsfähigkeit des Vorgesetzten weisen klare Grenzen der Akzeptanz in Richtung einer zu geringen Ausprägung aus. Proposition 2a: Erwartungen der strukturellen Führung besitzen einen individuell unterschiedlich abzugrenzenden normativen Charakter und sind als SollErwartungen zu verstehen. Proposition 2b: Enttäuschte Erwartungen der strukturellen Führung verhindern eine Attribution von Führung und führen zu einer Ablehnung der Führungszuschreibung aufgrund der Verletzung von Grundregeln durch die Führungskraft. Proposition 2c: Negative Attributionen aufgrund von wiederholten Erwartungsenttäuschungen der strukturellen Führung führen bei Geführten nach gescheiterten Handlungen der Investitionen zur Konfrontation. In Abbildung 10 werden die Erwartungsenttäuschungen der persönlichen Beziehung und der strukturellen Führung beide als „unmittelbare, notwendige Bedingungen“ beschrieben. Teilweise ist der Zusammenhang unter dieser Charakterisierung oben schon erläutert worden. Zusammengefasst bedeutet er aber vor allem, dass beide Klassifikationen von Erwartungsenttäuschungen eine Füh-
200 4. Diskussion rungsattribution durch den Mitarbeiter grundsätzlich verhindern können. Ohne ein gewisses, individuell verschiedenes Mindestmaß an Erwartungserfüllungen in diesen beiden Dimensionen ist eine Führungsattribution nicht möglich. Dabei stellen umfassend erfüllte Erwartungen hierzu noch keine automatische Attribution sicher. Lediglich eine unmittelbare Führungsablehnung ist sehr unwahrscheinlich. Mit unmittelbar ist an dieser Stelle die geringe Frist von Wahrnehmung und Kognition gemeint, sodass Erwartungsenttäuschungen in diesen Dimensionen nach relativ kurzer Zeit zu mehr oder weniger gefestigten Urteilen führen können. Wie noch anschließend zu diskutieren sein wird, sind Enttäuschungswahrnehmungen der Dimension direktes Führungsverhalten tendenziell eher unter einer längerfristigen Wahrnehmung in ihrer Wirkung zu verstehen. Die grundsätzliche Logik hinter dem Prinzip der notwendigen Bedingung kann auch mit einem klassischen, wenn auch berechtigterweise kritisierbaren Ansatz der Motivationsforschung verglichen werden. Wenn Herzberg (1968, S. 53ff.) für die Motivation von Mitarbeitern Hygienefaktoren ausweist, bei deren Erfüllung nur ein neutraler Zustand im Sinne einer Abwesenheit von Demotivation und bei deren Nicht-Erfüllung Demotivation herrscht, so entspricht das weitgehend der Interpretation der beiden notwendigen Bedingungen zur Führungsattribution durch die persönliche Beziehung und der strukturellen Führung: Erfüllte Erwartungen führen noch nicht zu einer gelungenen Führungsattribution. Sie stellen aber eine entscheidende Grundlage dar, da sie im Enttäuschungsfall die Attribution verhindern. Besonders interessant ist in diesem Vergleich, dass sich ausschließlich unter den Hygienefaktoren von Herzberg einige Begriffe finden lassen, die zu den beiden bisher diskutierten Dimensionen der Erwartungsenttäuschung unter den notwendigen Bedingungen zur Attribution passen (Beziehung zum Vorgesetzten = Persönliche Beziehung, Arbeitsbedingungen = Arbeitsbedingungen als theoretische Kategorie der strukturellen Führung, Beziehungen zu den Kollegen = Teile der Integration als theoretische Kategorie der strukturellen Führung) (1968, S. 57)33. 33 Eine zufällige Verbindung ist zwar nicht auszuschließen, aber trotzdem unterstreicht sie den
4.1 Beitrag zur Führungsforschung: Ein differenziertes Modell der Führungsattribution 201 Mit dieser Erkenntnis kann ein weiterer Rückschluss auf den anfänglich formulierten theoretischen Rahmen vollzogen werden. Die in Abschnitt 2.1 diskutierte Einteilung von Erwartungen in Muss-, Soll- oder Kann-Erwartungen bietet einen weiteren Erklärungsansatz. Die Erwartungen innerhalb der persönlichen Beziehung und der strukturellen Führung als insgesamt notwendige Bedingungen der Führungsattribution könnten somit auch in weiterer Konsequenz beide als Soll-Erwartungen der Führungsattribution verstanden werden, denn wiederum ist das Prinzip gleich: Eine Erfüllung führt nicht zu klaren, auffällig positiven Reaktionen – sie wird vielmehr als selbstverständlich erachtet. Eine NichtErfüllung jedoch zieht starke negative Konsequenzen nach sich. Die bis hierhin diskutierten Ergebnisse, als Bestandteile eines nach Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen differenzierendem Modells der Führungsattribution, stellen zwar interessante Einblicke in die Etablierung einer Führungsbeziehung dar – doch müssen sie vor dem Hintergrund der Daten und hinsichtlich ihres Enttäuschungsfalls und den anschließenden Konsequenzen tendenziell eher als „Ausnahmefälle“ verstanden werden. Wie bereits in Abschnitt 3.4.2.1 dargestellt, sind die Kodierungen der beiden als notwendige Bedingungen interpretierten Erwartungensdimensionen gegenüber der Dimension des direkten Führungsverhaltens deutlich in der Minderheit. Das typische Muster in den Daten ist somit eine Erwartungsenttäuschung zum direkten Führungsverhalten. Diese Schlussfolgerung ist auch vor den einzelnen Erlebnissen der Teilnehmer eindeutig zu unterstützen. Bis auf A und F sprachen alle Teilnehmer von einer „guten Beziehung“ sowie „Kleinigkeiten, die stören“, oder einem „Jammern auf hohem Niveau“. Dies deutet darauf hin, dass die große Mehrheit der Teilnehmer die notwendigen Bedingungen zur Führungsattribution als erfüllt ansahen und somit maximal negativ im Rahmen der Attribution von einer Führungsduldung, durch Enttäuschungen der Erwartungen in der Dimension direktes Führungsverhalten, sprachen (Abbildung 10). gemeinsamen Charakter von gewissen Grundregeln oder -voraussetzungen, die mehr oder weniger selbstverständlich erwartet werden und dadurch nur negative Konsequenzen im Enttäuschungs- oder Abwesenheitsfall nach sich ziehen, aber keine weiteren positiven Wirkungen im Erfüllungsfall hegen.
202 4. Diskussion Proposition 3: Erwartungsenttäuschungen der persönlichen Beziehung und der strukturellen sind notwendige (normative) Bedingungen einer Führungsattribution. Die Erfüllung dieser Erwartungen ist nicht hinreichend für eine Führungsattribution. Die Erwartungen innerhalb der Dimension des direkten Führungsverhaltens sind zwar wie die der strukturellen Führung als ein exklusiv für eine Führungsbeziehung zu bezeichnendes Konstrukt zu verstehen, doch unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer Bewertung. Wie bereits oben erwähnt, wurden diese meist eher als „Kleinigkeiten“ bezeichnet und trotzdem drehte sich die große Mehrheit der Gesprächsminuten in den Interviews um Themen aus diesem Bereich. Beinahe alle Teilnehmer äußerten sich in einer langfristigen Betrachtung im Hinblick auf das direkte Führungsverhalten. Dabei waren viele der Aussage von skeptischer Natur, ob man „denn alle seine Ziele hier in Zukunft erreichen kann“ (Teilnehmer B). Die Art und Weise wie nun eine Erwartungsenttäuschung in diesem Bereich durch die Teilnehmer beurteilt wird, ist für das Verstehen der Verbindung zu den Handlungskonsequenzen sehr wichtig. Bereits in der Diskussion um die strukturelle Führung wurde die Unterscheidung von Vergehen am Arbeitsplatz durch Bies und Tripp (2005) eingeführt. Die dort enthaltene Kategorie des (1) „goal obstruction“ als eine Verhinderung von Zielen oder einer Zielerreichung wird bei den Erwartungsenttäuschungen des direkten Führungsverhaltens relevant. Im Gegensatz zu der strukturellen Führung als zweite führungsexklusive Dimension handelt es bei den Enttäuschungen scheinbar nicht um (2) Regelverletzungen („violation of rules, norms and promises“), sondern um eine Verhinderung der persönlichen Zielerreichung. Diese Interpretation lässt sich direkt aus den Daten herleiten. Insbesondere dann, wenn man die zentralen Tendenzen innerhalb der Dimension des direkten Führungsverhalten hervorruft: Offenbar waren für die Teilnehmer Wahrnehmungen innerhalb der theoretischen Katego-
4.1 Beitrag zur Führungsforschung: Ein differenziertes Modell der Führungsattribution 203 rie der Delegation von ganz besonders hoher Bedeutung, aber auch die Kategorien Feedback und Kommunikation waren klar zu identifizieren. Von allen Teilnehmern wurden Aspekte von entweder allen drei Bereichen, mindestens aber immer von einem Bereich, entweder als Enttäuschung oder aber als besonders positive Überraschung angesprochen. Im Sinne einer „goal obstruction“ lassen sich bei einer Betrachtung der fallindividuellen Auswertung der sehr große Bereich der Delegation, aber auch der große Bereich des Feedbacks unmittelbar im Enttäuschungsfall als eine Verhinderung einer Zielerreichung begreifen. Die dominante Wahrnehmung (Teilnehmer A, B, E, F, G) im Bereich der Delegation war ein Mangel an Entscheidungs- oder Handlungsspielraum (bzw. bei H als besonders positives Erlebnis aufgrund einer Erwartungsübererfüllung). Der Wille nach Handlungsspielraum lag bei vielen Teilnehmern in der Verbindung zu persönlichen Zielen verortet, wie beispielsweise Teilnehmer B, der sich auf dem Weg zur Führungskraft gerne mit mehr Verantwortung beweisen wollte und sich dann aber „ausgebremst“ fühlte (vgl. Abschnitt 3.4.2.1). Der Wille zur persönlichen Weiterentwicklung drückte sich bei B, E, F, G und H immer auch durch die Erwartung nach möglichst viel Handlungsspielraum und aber auch Feedback zum Aufzeigen von Verbesserungen oder zum Lernen aus. So wird schnell klar, dass hinter den Erwartungsenttäuschungen zum direkten Führungsverhalten häufig eine Hinderung der Zielerreichung auf persönlicher (bzw. karrieretheoretischer) Ebene steht. Analog zu den Ergebnissen in dieser Studie konnte beispielweise Polach im Rahmen der Sozialisationsforschung bei einer Studie über die Erfahrungen von amerikanischen Collegeabsolventen im Beruf unter anderem ein „lack of feedback“, oder aber teilweise eine große Begeisterung über die Häufigkeit von Feedback, feststellen (2004, S. 17f.). Schon 1985 konnte Kieser in einer quantitativen Studie zur Sozialisation Handlungsspielraum und Eigenverantwortung als eine der häufigsten Erwartungsenttäuschungen von Berufsanfängern identifizieren (Kieser, 1985, S. 71ff.). Die Begriffe des Handlungsspielraums und des Feedbacks sind feste Bestandteile der Lehre von motivierenden und zufriedenstellenden Arbeitsinhalten, wie sie von Hackman und Oldham bereits in 1970er Jahren formuliert worden sind (Hackman &
204 4. Diskussion Oldham, 1975, S. 161). Die Delegation von Handlungs- oder Entscheidungsspielraum wird als großer Einflussfaktor auf die Entwicklung von jüngeren Mitarbeitern und potenziellen Führungskräften positioniert (Klein, Ziegert, Knight, & Yan, 2006, S. 613). In vielen prominenten Führungsstildebatten, bei denen jeweils positive Effekte auf die Leistung und Motivation der Mitarbeiter diskutiert werden, sind Delegation, Feedback und Kommunikation zentrale Elemente. Beispiele hierfür sind insbesondere „empowering leadership“ (Martin, Liao, & Campbell, 2013; Zhang & Bartol, 2010) und „shared leadership“ (Carson, Tesluk, & Marrone, 2007; Pearce, Wassenaar, & Manz, 2014). Nimmt ein Mitarbeiter, der sich dementsprechend weiterentwickeln möchte, keine Delegation von Handlungs- oder Entscheidungsspielraum wahr, dann ist es verständlich, dass er seine persönliche Zielerreichung in Gefahr sieht. Für die Teilnehmer in der Studie war dies ein Grund, sich langfristig eine andere Entwicklungsmöglichkeit außerhalb der aktuellen Führungsbeziehung zu suchen. Insofern konnten Aquino und Co-Autoren auch die Verbindung von „goal obstruction“ zu Racheverhalten nicht feststellen, da ihrer Meinung nach nicht direkt ein Problem einer Gerechtigkeitsverletzung vorliege. Allerdings ist das Bild der Forschung nicht eindeutig, so dass es auch Hinweise auf Gerechtigkeitsverletzungen gäbe (2006, S. 662, 666). Wiederum können die in dieser Arbeit aufgedeckten Verbindungen zu den Handlungskonsequenzen als in einer vergleichbaren Logik funktionierend verstanden werden. Nach ersten Reaktionen der Investition traten im weiteren Enttäuschungsfall beide möglichen weiteren Handlungskonsequenzen auf, sowohl Konfrontation als auch Desinvestition. Allerdings trat die Verbindung zur Desinvestition viel stärker hervor. Dieser Punkt wäre unter dem Aspekt der Hinderung einer Zielerreichung zu interpretieren. Ähnlich wie im Bereich der persönlichen Beziehung empfinden die Geführten scheinbar ihr Mandat als zu schwach, um beispielsweise bei einer Enttäuschung der Delegation oder der Proaktivität der Führungskraft an die organisationalen Gerechtigkeitsmechanismen zu appellieren und die Führungskraft „anzuklagen“. Anders als bei der persönlichen Beziehung mit dem gleichen Me-
4.1 Beitrag zur Führungsforschung: Ein differenziertes Modell der Führungsattribution 205 chanismus handelt es sich aber nun nicht um eine notwendige Bedingung, sodass die Handlungskonsequenz der Desinvestition mehr als ein Ergebnis langfristiger Frustration durch mangelnde eigene Zielerreichung zu verstehen ist. So ließen sich die Äußerungen der Teilnehmer erklären, wenn sie von „Kleinigkeiten“ gesprochen haben, welche aber auf lange Sicht „schon schlimm“ wären (gleichzeitig aber insgesamt die Führungskraft als „gut“ bewerteten). Besonders an dieser Stelle muss aber auch wieder die Limitation der Absichtsäußerung bedacht werden: fast durchgängig sprachen die Teilnehmer von hypothetischen Reaktionen in der Zukunft, bei einer langfristig ausbleibenden Verbesserung. Die vereinzelt vorkommenden Verbindungen zu Handlungskonsequenzen der Konfrontation lassen sich in dem bisherigen Verständnis ebenso gut erklären. Eine nähere Betrachtung dieser Verbindungen deckt auf, dass sie hauptsächlich innerhalb der theoretischen Kategorie Kommunikation verursacht worden sind. Einerseits kann man sicherlich auch die Auffassung vertreten, dass Kommunikation von vorneherein in die Dimension der strukturellen Führung mit ihrer starken Verbindung zu den Konsequenzen der Konfrontation gehören müsste. Allerdings sind die Kodierungen vornehmlich auf der Basis situativer Wahrnehmungen entstanden, die eben nicht einer grundsätzlichen Ausrichtung allgemein oder einem Führungssubstitut entsprechen. Die näherliegende Begründung eröffnet sich nach einer noch tieferen Betrachtung, da auch nicht alle Kategorien erster Ordnung der theoretischen Kategorie der Kommunikation von dieser Verbindung betroffen sind, sondern vornehmlich die der Transparenz. Aus den individuellen Einflüssen des Charakters von unterschiedlichen Mitarbeitern heraus ist es durchaus vorstellbar, dass es unterschiedliche Ansprüche an die Transparenz der Kommunikation einer Führungskraft gibt, die sie eher mit Konfrontation reagieren lassen als mit einer Desinvestition. Auch insgesamt vorstellbar kann die Persönlichkeit eines Mitarbeiters generell mit einer stärkeren Neigung zu destruktiv-konfrontativen Reaktionen eine Konsequenz der Konfrontation auch bei einer Zielverhinderung ermöglichen. Diese Möglichkeit ist dann auch analog zu dem obigen Verweis auf Aquino und Co-Autoren zu verstehen, die von nicht durchgängig abzulehnenden Verbindungen zwischen „goal
206 4. Diskussion obstruction“ und Racheverhalten sprachen. Die in Abbildung 10 formulierte Abgrenzung zu der persönlichen Beziehung und der strukturellen Führung in Form einer Unterscheidung, zwischen diesen beiden als notwendige und dem direktem Führungsverhalten als eine hinreichende Bedingung, lässt sich aus einer weiteren Perspektive wie folgt begründen. In keiner anderen Dimension der Erwartungen traten neben den Enttäuschungen auch teilweise so klare positive Überraschungen in den Wahrnehmungen hervor. So waren die Teilnehmer D, E, H und I über die Ausgestaltung des Feedbacks positiv überrascht, H sogar auch über seinen delegierten Handlungsspielraum. Scheinbar kann nur durch die Dimension des direkten Führungsverhaltens auch eine Art Begeisterung für die Führungskraft geschaffen werden, sodass erst hierdurch eine komplette Führungszuschreibung entstehen kann. Insofern kann es für manche Personen wichtig sein, erst über diese hinreichende Bedingung final Führung zu attributieren. Dieser Aspekt ist nicht als generell zu verstehen. Je nach Charakter, vor allem aber nach den individuellen Ambitionen der Berufseinsteiger ist es auch denkbar, dass beispielsweise eine weitreichende Delegation von Handlungsspielraum oder eine besondere Proaktivität gar nicht sonderlich gewünscht ist. In diesen Fällen würden den Mitarbeitern die Erfüllungen der notwendigen Bedingungen schon ausreichen, um Führung zu attributieren, sie zumindest aber zu dulden34. Ambitioniertere Mitarbeiters hingegen streben möglicherweise nach einer intensiveren Förderung und Berücksichtigung (vgl. Teilnehmer B, E und I), welche daher auch höhere Ansprüche an das direkte Führungsverhalten stellen könnten und durch eine reine Führungsduldung, aufgrund der nur erfüllten notwendigen Bedingungen, langfristig zu Frustration neigen und sich daher mit Konsequenzen eines Desinvest beschäftigen. Mit Blick auf die Studie P und die dort identifizierten kritischen Bereiche fällt auf, dass sich mit dem Bereich der Delegation von Handlungsspielraum, dem Feedback und der Proaktivität von Führungskräften drei der vier kritischen 34 Darum der Begriff „graduell“ aus S. 145: Es kann somit Mitarbeiter geben, die bereits nach der Erfüllung der notwendigen Bedingungen vollständig Führung attributieren.
4.1 Beitrag zur Führungsforschung: Ein differenziertes Modell der Führungsattribution 207 Bereiche als theoretische Kategorien des direkten Führungsverhaltens wiederfinden lassen. Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass sich im Interview mit den Studenten diese bei der Beschreibung ihres Bildes vornehmlich auf das Idealbild im Sinne einer impliziten Führungstheorie bezogen haben und dabei unterbewusste Selbstverständlichkeiten im Sinne der strukturellen Führung nicht direkt vor Augen hatten. Dies würde eine Erklärung dafür bieten, dass im Sinne einer hinreichenden Bedingung und auf dem Weg zur Erfüllung eines Ideals diese drei Bestandteile des direkten Führungsverhaltens in Studie P eine so deutliche Betonung widerfuhren. Diese Argumentation lässt sich auch empirisch stützen. In einer umfassenden quantitativen Analyse haben van Quaquebeke et al. untersucht, ob für den Vergleich von wahrgenommenem direktem Führungsverhalten mit der eigenen impliziten Führungstheorie eher die zentrale Tendenz der Ausprägungen der mentalen Kategorisierung von Führung das Muster prägt, oder aber ein idealisierter Prototyp. Letzteres idealtypisches Bild von Führung konnte dabei klar als der bessere Maßstab für die Reaktionen der Geführten identifiziert werden (Quaquebeke et al., 2014, S. 208). Eine Person prüft somit die Informationsart „consensus“ einer Führungsattribution (vgl. Abschnitt 2.4.1) über den Vergleich mit dem prototypischem Ideal. In Konsequenz dieses Ergebnisses erscheint es schlüssig, dass auch für die Interviews der Vorstudie der Idealtyp eines Prototyps von Führung hauptsächlich hinter den Antworten der Studenten stand. Die Erfüllung eines Idealtyps in der Realität käme dem Erfüllen der Erwartungen einer hinreichenden Bedingung über die notwendigen Bedingungen (als eher durchschnittlicher Prototyp von Führung) hinaus gleich. Trifft die implizite Führungstheorie einer Person, wie in Studie F, nun aber in der Realität der Führungsbeziehung auf wahrgenommenes Verhalten der Führungskraft, werden durch die persönliche Beziehung und die strukturelle Führung Erwartungsenttäuschungen erlebt, die nicht in der Nähe eines Idealtypes diskutiert werden. Wie oben bereits diskutiert, stellen sie unterbewusste Grundlagen dar, auf die sich der Idealtyp stützt. Darum konnte Studie P vermutlich auch keine Aspekte der strukturellen Führung als kritische Bereiche aufdecken.
208 4. Diskussion Die weiter oben aufgeworfene Argumentation hinsichtlich des Prinzips notwendiger und hinreichender Bedingungen, verknüpft mit der Logik von Herzbergs Hygienefaktoren und Motivatoren, lässt sich auch für die hinreichende Bedingung des direkten Führungsverhaltens weiter fortführen. Prinzipiell würde die Dimension des direkten Führungsverhaltens den Motivatoren entsprechen, da deren Abwesenheit keine negativen Folgen nach sich zieht, deren Vorhandensein für viele Mitarbeiter aber erst die volle Attribution von Führung ermöglicht. Auch im direkten Vergleich der Bestandteile fällt auf, dass sich theoretische Kategorien des direkten Führungsverhaltens begrifflich nur unter den von Herzberg als Motivatoren bezeichneten Ergebnissen wiederfinden (Anerkennung = „second-order code“ Inhalt der theoretischen Kategorie Feedback, Verantwortung = Verantwortung und Freiraum unter Delegation, Arbeit selbst = Aufgabencharakter unter Delegation) (Herzberg, 1968, S. 57). Für eine typenbezogene Diskussion des Erwartungsbegriffes könnten die Erwartungen zum direkten Führungsverhalten daher als Kann-Erwartungen mit der Möglichkeit zu besonderer Belohnung durch hohe Führungsattribution (Begeisterung) und geringem Sanktionspotenzial verstanden werden. Allerdings sind sie aber auch teilweise, je nach individuellem Anspruch der Mitarbeiter möglicherweise wiederum als Soll-Erwartungen zu verstehen. Vor allem kann der Eindruck aus den Aussagen der Teilnehmer gewonnen werden, dass die Erwartungen des direkten Führungsverhaltens kurzfristig eine geringere Rolle spielen und sich erst langfristig in ihrer Wirkung vollständig entfalten. Kurzfristig dominieren im Enttäuschungsfall die notwendigen Bedingungen und führen schnell zu den diskutierten Konsequenzen. Im Regelfall erleben die Teilnehmer aber keine Enttäuschungen in diesen Dimensionen, sodass die hinreichende Bedingung der Führungsattribution durch das direkte Führungsverhalten mehr in den Fokus rückt. Eine Ursache hierfür könnte das in Abschnitt 3.4.2.2 angesprochene „optimistische Framing“ sein, welches bei Neueinsteigern in den ersten Wochen für eine Maxime sorgt, alles möglichst positiv zu nehmen. Analog dazu sprachen viele Teilnehmer bei den Enttäuschungen des direkten Führungsverhaltens von „Kleinigkeiten, die momentan noch nicht schlimm sind“ –
4.1 Beitrag zur Führungsforschung: Ein differenziertes Modell der Führungsattribution 209 aber langfristig negativer beurteilt werden. Vermutlich geben viele Geführte ihren Führungskräften in diesem Bereich mehr Chancen oder „Kredit“, da es keine unmittelbare Regelverletzung darstellt. Der situative Charakter der Wahrnehmungen wird durch Investition lange versucht, positiv zu beeinflussen und zukünftige Situationen anders zu gestalten. Daher lässt sich schlussfolgern, dass die Erwartungen des direkten Führungsverhaltens kurzfristig kognitiver Natur sind und reine Kann-Erwartungen darstellen. Abhängig von den individuellen Zielen der Mitarbeiter können sie sich langfristig, aufgrund der Gefährdung persönlicher Ziele, in normative Erwartungen mit einem Soll-Charakter verwandeln. Dies entspricht im Prinzip der grundlegenden Eigenschaft dieser Unterscheidungsform von normativen und kognitiven Erwartungen, sich situationsabhängig anpassen zu können (Luhmann, 1987, S. 437ff.). Proposition 4a: Erwartungen des direkten Führungsverhaltens besitzen kurzfristig einen kognitiven Charakter und sind als Kann-Erwartungen zu verstehen. In Abhängigkeit von der Verhinderung persönlicher Ziele des Geführten können sie sich langfristig in normative Soll-Erwartungen wandeln. Proposition 4b: Enttäuschte Erwartungen des direkten Führungsverhaltens führen nur zu einer Führungsduldung aufgrund langfristig verhinderter persönlicher Zielerreichung. Nur die langfristige Erfüllung dieser Erwartungen führt zu einer kompletten Führungsattribution. Proposition 4c: Eine Attribution in Fom der Führungsduldung aufgrund langfristiger Enttäuschungen des direkten Führungsverhaltens führt bei Geführten nach gescheiterten Handlungen der Investition zur Desinvestition. Zusammenfassend lassen sich nun mehrere Beiträge dieser Arbeit zur Führungsforschung festhalten. Zuallererst muss im Rahmen einer Würdigung eines Erkenntnisbeitrags die direkt in der Problemstellung dieser Arbeit problematisierte geführtenzentrierte Führungsattribution angesprochen werden. Dort wurde kriti-
210 4. Diskussion siert, dass in dem bisherigen Ansatz, vor allem repräsentiert durch Calder (1977, S. 195ff.), keine differenzierte Betrachtung verschiedener Erwartungsformen oder -typen geleistet werden kann. Das in Abbildung 10 vorgestellte und anschließend diskutierte Modell einer nach Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen differenzierenden Attributionstheorie der Führung stellt einen wertvollen Beitrag dar. Die Ergebnisse dieser Arbeit helfen, Situationen zu erklären, in denen nicht von einer vollständigen Führungsattribution oder einer kompletten Führungsablehnung gesprochen werden kann. So sind nun durch die Unterscheidung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen Situationen durch eine Theorie umfasst, in denen eine Führungskraft beispielsweise „nur geduldet“, aber langfristig nicht umfassend anerkannt wird – mit möglichen Konsequenzen auf das Geführtenverhalten. Zusammenfassend könnte parallel zu dem von Calder postulierten Flussmodell als Basis einer chronologisch-deskriptiven Erläuterung der geführtenzentrierten Attributionstheorie, das in dieser Arbeit postulierte Modell die Basis für eine Katalogisierung der einzelnen verschiedenen Erwartungstypen und -formen bereitstellen, um unterschiedliche Ergebnisse des Flussmodells und die entsprechenden Reaktionen der Geführten zu erläutern. Die bereits in Abschnitt 2.5 aus der konzeptionellen Analyse abgeleitete Rolle von Erwartungen als Prüfstein oder Maßstab einer Führungsattribution, kann nun durch eine präziseres Prüfschema oder einen Kriterienkatalog ergänzt werden. Betrachtet man die allgemeine Attributionsforschung im organisationalen Kontext, abstrahiert von der Begrenzung auf die Attribution von Führung durch Geführte, so bestätigen die differenzierenden Ergebnisse dieser Arbeit eine Studie, die den generell unscharfen Charakter von Attributionen betont. Sie sind eben nicht 0 oder 1 im Ergebnis, sondern irgendwo zwischen 0 und 1 in vielen Fällen (Martinez, Martinko, & Ferris, 2012, S. 17ff.). Diese allgemeine attributionstheoretische Erkenntnis bestätigt die differenzierenden Ergebnisse, die zwischen einer Führungsablehnung (0) und vollständigen Attribution (1) mehrere Optionen aufzeigen. In dieser differenzierenden Betrachtung von Führungsattribution ist der größte Beitrag dieser Arbeit zu verstehen. Die Wirkungen von
4.1 Beitrag zur Führungsforschung: Ein differenziertes Modell der Führungsattribution 211 enttäuschten Erwartungen können nun besser verstanden und hinsichtlich ihrer Effekte unterschieden werden, als vor der empirischen Analyse dieses Dissertationsprojektes. Darüber hinaus sind noch weitere Erkenntnisbeiträge in anderen Zweigen der Führungsforschung erkennbar. In der Forschung zu abusiver Führung werden die Verhaltensweisen von Geführten als ein möglicher Ursprung diskutiert. Hierbei werden insbesondere Widersetzungen der Geführten auf der Grundlage bestimmter negativer Wahrnehmungen diskutiert (Martinko, Harvey, Brees, & Mackey, 2013, S. 129f.). Im Grunde kann die Erwartungsenttäuschung als negative Wahrnehmung verstanden werden, während eine Widersetzung im generellen Sinne (in dieser Arbeit ohne die häufig im Rahmen der abusiven Führung diskutierten Aggressivität und Schärfe) Bestandteil der Dimension der Konfrontation ist. Somit könnte ein Erkenntnisbeitrag dieser Arbeit darin liegen, dass ein Ursprung von Widersetzung auf Seiten der Geführten aufgrund von vor allem wahrgenommenen Enttäuschung zu der Dimension der strukturellen Führung zu definieren ist, welches sich anschließend im Sinne einer eskalierenden Spirale zwischen Reaktion und Gegenreaktionen von Führungskraft und Mitarbeiter (Klaussner, 2014, S. 314ff.) zu der Wahrnehmung von abusiver Führung führen könnte. Die LMX-Forschung widmet sich seit langem der Untersuchung, wie und unter welchen Umständen sich high-exchange Beziehungen entwickeln und welche Faktoren hierzu förderlich sind (vgl. Abschnitt 2.3). Die Rolle der Zeit im Sinne einer langfristigen Entwicklung spielt dabei zunehmend in der Forschung eine Rolle (Park et al., 2015, S. 670ff.; Shamir, 2011, S. 310f.). Die Ergebnisse speziell zu der hinreichenden Bedingung des direkten Führungsverhaltens tragen in gewisser Weise den Faktor Zeit mit sich, da von vielen Teilnehmern hier auf eine lange Frist des weiteren Beobachtens hingewiesen wurde. Wenn man im Rahmen des LMX die hinreichende Bedingung als eine Voraussetzung für die Entstehung einer in-group auffasst, dann stellt sich für die LMX-Forschung ein weiteres Argument für die Einbeziehung einer längerfristigen Perspektive. An-
212 4. Diskussion dererseits können die Ergebnisse zu den Erwartungen des direkten Führungsverhaltens die für eine in-group besonders relevanten Erwartungen präzisieren. Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse aber auch Situationen auf, in denen weder ein in- noch eine out-group entstehen kann: Immer dann, wenn für den Mitarbeiter weitgehende Enttäuschungen hinsichtlich der notwendigen Bedingungen wahrgenommen werden, entzieht sich entweder die Grundlage einer Anerkennung von Führung, oder die Führungskraft, wird eventuell sogar abgelehnt. In beiden Fällen entstehen schon vor der Entwicklung einer LMX-Unterscheidung wichtige Effekte in Form von Handlungskonsequenzen. In einem Review über die Rolle von impliziten Führungs- oder Geführtentheorien im organisationalen Kontext, sprechen Junker und van Dick die Bedeutung von impliziten Führungstheorien für das Verhalten von Geführten nach der Überprüfung des beobachteten Verhaltens der Führungskraft mit den eigenen Vorstellungen von Führung an (2014, S. 1170). Die in dieser Arbeit aufgezeigten Verbindungen zwischen Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen können an dieser Stelle die Effekte von impliziten Führungstheorien auf das Geführtenverhalten nun präzisieren, indem sie jeweils unterschiedliche oder tendenziell typische Handlungskonsequenzen nach Erwartungsdimensionen aufzeigen können. Insgesamt tragen die Ergebnisse dazu bei, ein interdisziplinäres Feld zwischen der Führungsforschung der Betriebswirtschaftslehre, der Kognitionspsychologie und der Soziologie zu erweitern. Die Arbeit hat gezeigt, wie die Begriffsverständnisse soziologischer Differenzierungen von Erwartungen auf die Führungsforschung angewendet werden können, um einen deutlichen Erklärungsbeitrag für das Verständnis der Führungsattribution zu leisten. Die Arbeit konnte ebenso zeigen, wie groß der Einfluss von kognitionspsychologischen Mechanismen aus einem Zusammenwirken von Wahrnehmung und Informationsverarbeitung mit subjektiven Urteilen für das Gelingen von Führung sein kann. Insofern wird die Bedeutung betont, sich im Rahmen der Führungsforschung nicht auf führerzentrierte Ansätze zu reduzieren, sondern geführtenzentrierte Perspektiven mit
4.2 Implikationen für die organisationale Praxis 213 beziehungstheoretischen Ansätzen der Austauschtheorie zu verbinden, diese insgesamt durch psychologische und soziologische Aspekte zu ergänzen, um so neue Einblicke und vertiefende Theorieansätze für das komplexe Phänomen Führung zu schaffen. 4.2 Implikationen für die organisationale Praxis Aus Sicht der Führungskräfteauswahl (und größtenteils auch einhergehend für die Führungskräfteentwicklung) unterstreichen die Ergebnisse dieser Arbeit einige Notwendigkeiten. Vor dem Hintergrund der notwendigen Bedingungen wird deutlich, wie wichtig die Auswahl von Führungskräften ist, die über die hierfür konkret notwendigen Fähigkeiten verfügen. Aus Sicht der Erwartungen zur persönlichen Beziehung ist ein gewisses soziales Gespür oder Einfühlungsvermögen wichtig, um zu erkennen, welche Art der Beziehungsgestaltung bei den Mitarbeitern eventuell droht Grenzen der Akzeptanz zu überschreiten. In der Regel sollte aber dieser Aspekt ein geringes Problem darstellen. Vermutlich dringlicher sind die Erkenntnisse vor dem Hintergrund der Erwartungen zur strukturellen Führung. Vor allem Entscheidungsfreude, Steuerungs- und Koordinationsfähigkeit sowie wiederum soziale Fähigkeiten eine Gruppenintegration zu fördern stellen deutliche Anforderungen dar, die von Mitarbeiterseite eingefordert werden. Damit werden mehr oder weniger die Mindestanforderungen an eine Führungskraft gestellt. Im Umkehrschluss formuliert könnte man auch behaupten, dass diese Eigenschaften absolute Ausschlusskriterien in der Auswahl von Führungskräften darstellen könnten, oder zumindest Kernkriterien zur Bewertung sein sollten. Wie die Ergebnisse dieser Arbeit gezeigt haben, reichen die notwendigen Bedingungen aber noch nicht sicher aus, um „gute Führungskräfte“ in den Augen der Geführten auszuwählen. Solche Führungskräfte zu haben, sollte aber Ziel eines jeden Unternehmens sein, beziehungsweise wird von vielen Unternehmen auch so proklamiert. Ein besonderer Fokus liegt auf den Erwartungen unter der
214 4. Diskussion Dimension des direkten Führungsverhalten. Erst durch Erfüllungen von Erwartungen hinsichtlich der Kommunikation, Delegation, Feedback und Proaktivität kann eine vollständige Führungsattribution und somit eine Überzeugung der Mitarbeiter von ihrem Chef mehr oder weniger sichergestellt werden. Wie bereits aufgezeigt, nehmen insbesondere die Fähigkeiten zur Delegation und dem Feedback hierbei den größten Raum ein. Hierzu in einer Führungskräfte Auswahl die richtigen Methoden und Instrumente zu gestalten, die diese Fähigkeiten sicher identifizieren, stellt eine große Herausforderung dar. Zur Delegationsfähigkeit gehört beispielsweise auch die Einstellung der potenziellen Führungskräfte dazu, wie sie sich selbst bestätigen oder woraus sie selbst Motivation und Zufriedenheit entwickeln. Entsteht dies hauptsächlich über das Bewältigen schwieriger Aufgaben und dem Lösen von besonderen Problemen, so kann es durchaus sein, dass es diesen späteren Vorgesetzten schwerfällt, genügend Verantwortung und Handlungsspielraum zu delegieren. Sie „verbrauchen“ diese Aufgaben eventuell selbst für ihre eigene Bestätigung. Häufig sind potenzielle Führungskräfte aus Sicht des Unternehmens solche Mitarbeiter, welche durch besondere Leistung hervorstechen. Um auf diese Art und Weise bemerkt zu werden, ist häufig das alleinige Bewältigen von großen Herausforderungen ein wichtiger Weg. Als Führungskraft kann es dann schwerfallen, diese Herausforderungen an die eigenen Geführten in der angemessenen Dosis weiterzureichen und gleichzeitig auch noch „coachend“ zu agieren (Peterson & Hicks, 1996, S. 10ff.; Schreyögg, 2010, S. 17ff.; von Sassen & Vogelauer, 2005, S. 1ff.). Von daher sind vor allem auch in einer begleitenden Führungskräfteentwicklung Konzepte gefragt, die jungen Führungskräften während ihrer Führungsarbeit unterstützend zur Seite stehen. Dabei sollten sie in den Bereichen der Delegation, des Feedbacks, der Proaktivität und der Kommunikation unterstützen. Konkret könnte dies eine Argumentation für ein begleitendes Mentoring durch erfahrene Führungskräfte darstellen (Bell, 2002, S. 5ff.), wobei man sicherstellen müsste, dass diese auch über die Fähigkeiten zur Erfüllung von Erwartungen des
4.2 Implikationen für die organisationale Praxis 215 direkten Führungsverhaltens selbst verfügen und diese auch vermitteln können (Schreyögg, 2010, S. 31ff.). Eine theoretische bessere Alternative wären daher eine professionelle Entwicklung dieser Führungsfähigkeiten per Maßnahmen „on the job“ und individuell auf die jeweiligen Situationen fokussiert. Auf den ersten Blick könnte man nun aber trotzdem die notwendigen Bedingungen als die für Unternehmen besonders kritischen Variablen verstehen. Dies ist aber auf einen zweiten Blick deutlich zu hinterfragen. Klammert man die Erwartungen der persönlichen Beziehung als eine Art Ausnahmefall aus, in der eine Führungskraft mit keinem einzigen Mitarbeiter eine entsprechende Basis eines vernünftigen Miteinanders finden kann, dann stellt sich in erster Linie die Frage nach der strukturellen Führung. Aus der Perspektive der Unternehmensleitung heraus sind diese aber mitunter als gar nicht so sehr negativ zu sehen. Durch den wahrgenommenen Regelbruch neigen die Mitarbeiter zu Handlungskonsequenzen der Konfrontation. Damit wäre häufig ein Appell an die organisationale Gerechtigkeit in Form von hierarchisch höheren Instanzen oder einem Betriebsrat verbunden. Dadurch würden die Mitarbeiterreaktionen eine Art Kontrollmechanismus für schlechte Führung darstellen, sodass auf jeden Fall das Problem bekannt sein würde. Natürlich sind auch andere dysfunktionale Reaktionen in der Dimension der Konfrontation enthalten und entstehende Konflikte können belasten. Andererseits bergen Konflikte auch immer das Potenzial einer anschließend besseren Lösung. Im Gegensatz dazu stellt sich bei den Handlungskonsequenzen des direkten Führungsverhaltens langfristig ein viel größeres Problem, da die Reaktionen der Desinvestition vermutlich wahrscheinlicher sind. In solchen Fällen würde ein unzufriedener Mitarbeiter weniger deutlich auf sich aufmerksam machen, da kein Widerstand geleistet wird. Das Problem würde möglicherweise unentdeckt bleiben, sodass nach einer gewissen Zeit ein Mitarbeiter plötzlich nahe der Kündigung steht. Besonders sehr ambitionierte oder leistungsstarke Mitarbeiter könnten so durch Mangel in der Führung „schleichend“ verloren gehen. Dadurch könnte man zu dem Schluss kommen, die hinreichenden Bedingungen als langfristig gefährlicher für das gesamte Unternehmen zu beurteilen.
216 4. Diskussion 4.3 Güte und Limitationen der empirischen Untersuchung Im Rahmen einer empirischen Untersuchung werden Schlussfolgerungen aufgrund der Analyse von Daten gezogen. Als Prinzip einer induktiven Wissenschaftslogik gilt es hierbei insbesondere darauf zu achten, anhand von anerkannten Methoden systematisch, transparent und nachvollziehbar zu Ergebnissen zu kommen, die dem Blick und der Prüfung durch andere Personen standhalten können. Grundsätzlich ist es für die Würdigung der Qualität einer empirischen Untersuchung wichtig, die Gründlichkeit und Nachvollziehbarkeit der Arbeitsweise zu belegen. Zur Schaffung einer Transparenz der Daten und der Interpretationsschlüsse gilt es allgemein verständliche, objektive und möglichst breit anerkannte Qualitätskriterien zu erfüllen. Der erste Teil dieses Abschnitts stellt sich daher der Diskussion um die Güte von qualitativer Forschung und der in diesem Lichte zu beurteilenden Robustheit der hier vorgenommenen Studie. Dazu wird anhand ausgewählter Qualitätskriterien die Vorgehensweise in dieser empirischen Untersuchung gewürdigt. Weiterhin obliegt jede empirische Studie, unabhängig von ihrer technischen Güte im Sinne einer Durchführung vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Standards, einigen Limitationen, welche für eine Diskussion des Erklärungsgehaltes und des Wertbeitrages der Ergebnisse für die Forschung berücksichtigt werden müssen. Auch im Rahmen dieser empirischen Studie sind vereinzelte Limitationen zu nennen, welche auf die Ergebnisse einen Einfluss haben können und daher im zweiten Teil dieses Abschnittes vorgestellt werden sollen. 4.3.1 Diskussion von Gütekriterien Während im Rahmen eines quantitativen Forschungsparadigmas ein sehr breiter Konsens über anerkannte Gütekriterien existiert, die je nach Methodenwahl in leichten Variationen anhand von Messwerten ausgerechnet werden können und somit einfach zu interpretierende Kennzahlen für die Konzepte der Objektivität, Reabilität und Validität und liefern, ist schon allein schon die Wahl von Kon-
4.3 Güte und Limitationen der empirischen Untersuchung 217 zepten dieser Art im Rahmen der qualitativen Forschung als verhältnismäßig jüngere Methodendisziplin umstritten, wie das folgende Zitat beispielhaft verdeutlicht: „As noted, the rise of qualitative research over the last 25–30 years represents one of the reasons for the growing interest in research quality criteria because it is widely assumed that whereas quality criteria for quantitative research are well known and widely agreed, that is not the case for qualitative research.“ (Alan Bryman, Becker, & Sempik, 2008, S. 262) Auf Probleme dieser Art wird in vielen Publikationen zum Thema der Güte oder Qualität von qualitativer Forschung hingewiesen (Amis & Silk, 2008, S. 456; Easterby-Smith, Golden-Biddle, & Locke, 2008, S. 419). Ein Weg zur konkreten Bewertung im Rahmen dieser Arbeit führt über eine Diskussion der Güte im Bezug auf die Grounded Theory als prägende Methodenlehre für die in dieser Arbeit vorgenommene Theorieentwicklung. Auch wenn in dieser Arbeit keine Grounded Theory in Reinform betrieben wurde, so lehnt sich doch die hier vollzogene Theorieelaboration an viele Prinzipien an. Fendt und Sachs (2008) diskutieren in ihrem methodischen Aufsatz einen solchen Bezug der Güte von qualitativer Forschung genau vor dem Hintergrund der Grounded theory. Allerdings entwickeln sie hierbei ebenfalls keine konkreten Maßstäbe, sondern erläutern Güte über die Nähe zum Forschungsobjekt, als eine Betonung auf die Daten und den Fall selbst, ohne sich dabei in einen gesteigerten Anspruch und eine Art falsch verstandenen Stolz zu verfallen, die eine allumfassende Theorie entwickeln zu müssen und sich ständig gegen positivistische Paradigmen wehren zu müssen: „Still, at many moments, while engaged in ‚just doing’, we (candidate and adviser) could not help but wonder if some of the insistence on the rigidity of fractioning and coding does not result from a kind of false pride or inferiority complex of GTM propo-
4. Diskussion 218 nents, an attempt to justify an essentially interpretivist method visá-vis a research world still prejudiced in favor of positivism [...] What we claim is we „just did it“ [...] we propose to tone down its promise of theory generation. Perhaps grounded inquiry may have been a more appropriate label for the method than grounded theory is.“ (Fendt & Sachs, 2008, S. 447f.) In anderen Worten verstehen die Autoren die Qualität von einer Studie unter den Prinzipien der Grounded Theory nicht als eine Rechtfertigung der möglichst allgemeingültigen Theorie mittels verschiedener Nachweise der Korrektheit des Kodierens und Interpretierens, sondern als eine Besinnung auf die Daten und die Fragen an diese, innerhalb ihres realen Kontextes.35 Dabei gilt es, die in den Daten fundierten Aspekte aufzugreifen („grounded“) und versuchen, sie in Mustern oder Propositionen zu formulieren, um zu innovativen Perspektiven gelangen – aus diesen Gründen könne es in weiterer Konsequenz keine Messung von Güte in Form eines positivistisch geprägten Verständnisses von Nachweisbarkeit geben. In diesem Sinne empfehlen Easterby-Smith und Co-Autoren (2008, S. 423f.), sich mehr an der Nähe zum Forschungsobjekt messen zu lassen, anstatt der möglichst maximalen Objektivität oder einer möglichst hohen Quantität an Daten. Man soll die Güte einer qualitativen Untersuchung anhand einer möglichst engen Involvierung des Forschers in die realen Zusammenhänge und der dadurch entstandenen Möglichkeit messen, die Perspektiven der Beteiligten möglichst gut nachzuvollziehen und zu beschreiben. Einem solchem Verständnis von Qualität wird in dieser Studie sehr gut entsprochen: 35 Diese Meinung deckt sich mit einer Studie von Bryman und Co-Autoren (Alan Bryman et al., 2008): Mittels eines internetbasierten Fragebogens wurden über 800 Forscher, sowie mittels vertiefender Telefoninterviews weitere 28, hinsichtlich ihrer Meinung zu der Bedeutung von Qualitätskriterien in qualitativer und quantitativer Forschung befragt. Eine Generalisierbarkeit wurde dabei von nur rund 31% der Teilnehmer für qualitative Forschung gefordert, gegenüber 71% bei quantitativen Designs. Auch die Validität und Reabilität wurden von deutlich weniger Teilnehmern für die qualitative Forschung eingefordert, als für die quantitative. Stattdessen wurden vor allem Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit als Gütekriterien genannt.
4.3 Güte und Limitationen der empirischen Untersuchung 219 Wie bereits in Abschnitt 3.3 erwähnt ermöglicht der gewählte Ansatz zur Datenerhebung mittels der Kombination aus Tagebüchern und Interviews eine maximal mögliche Nähe zu der Perspektive der Fallstudienteilnehmer. Da eine direkte Teilnahme an der Führungsbeziehung in Form einer Beobachtung die Wahrscheinlichkeit einer Verzerrung durch die Anwesenheit des Forschers zu stark erhöhen würde und auch schlichtweg in den meisten Unternehmen nicht realisierbar wäre, bieten die Tagebücher eine annähernd gleichwertige Nähe zum Phänomen und zur Involvierung des Forschers. Durch die Tagebücher wurde das Datenerhebungsinstrument des Interviews quasi durch den Teilnehmer selbst konfiguriert. In den Interviews konnten gezielt die wahrhaftigen Erfahrungen der Geführten verarbeitet werden. Die im theoretischen Rahmen der Arbeit angesprochenen Kognitionen, sprich die Gedanken der Mitarbeiter hinter den Wahrnehmungen, Erlebnissen und Handlungen, fließen durch die Tagebucheinträge direkt und mit ihren eigenen Worten in die Studie ein. Anders als durch die Verbalisierung der Teilnehmer selbst, können Kognitionen gar nicht aufgedeckt werden. Maximal wurden in den zweiten Interviews (auch als Konsequenz aus dem Forschungsprozess insgesamt) Erfahrungen anderer Teilnehmer mit ihrem jeweiligen Kontext präsentiert, jedoch frei von Interpretationen durch den Forscher. Hinsichtlich einer Nähe zum „reale Welt“-Kontext wurde dem Qualitätsanspruch einer qualitativen Erhebung, speziell einer Fallstudie unter den Richtlinien einer Grounded Theory, in dieser Arbeit entsprochen. Wie noch in der Diskussion im anschließenden Kapitel 5 zu verarbeiten, wird sich rein auf die transparent vorliegenden Daten aus den Fällen bezogen. Selbst die Verbindungen zwischen Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen (Abschnitt 3.4.2.3) sind anhand der Nähefunktion von MAXQDA keine Interpretationen, sondern direkt aus den Daten ermittelte Zusammenhänge. Selbst die das Problemfeld strukturierende Vorstudie basiert auf den Aussagen aus dem realen Kontext und sind somit direkt übertragbar.
4. Diskussion 220 Von daher wird auch im Sinne der Studie von Bryman (2008) (siehe Fußnote 35) nicht eine Generalisierbarkeit der Ergebnisse als Güte versucht zu belegen, sondern die Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit der Daten als Gradmesser der Qualität aus den oben genannten Gründen an dieser Stelle betont. Das zentrale Argument der Güte dieser Arbeit bildet die oben diskutierte Nähe zum Forschungsobjekt. Trotzdem können und müssen noch weitere Kriterien in Betracht gezogen werden. Yin (2009, S. 40), stellt verschiedene Formen der Validität vor, um die Qualität von qualitativer Forschung und insbesondere Fallstudien zu bewerten: (1) Die Konstruktvalidität, (2) die interne Validität, (3) die externe Validität. Unter der (1) Konstruktvalidität wird verstanden, korrekte Operationalisierungen für die untersuchten Phänomene zu finden. Dies ist vor allem für Fallstudien eine große Herausforderung (Yin, 2009, S. 41). Yin empfiehlt dazu, mehrere Quellen zu (Yin, 2009, S. 116) nutzen und eine Kette von Nachweisen („chain of evidence“)36 innerhalb der Fallstudie aufzustellen. Letzteres bezieht sich dabei auf die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse, sodass jeder Schritt von der Forschungsfrage bis hin zur Interpretation transparent nachzuvollziehen ist (Yin, 2009, S. 122). Der Empfehlung, mehrere Daten zu nutzen, wurde durch die Unterschiede in den Studien P und F entsprochen. Beide Studien wurden separat erhoben und erst im Endergebnis der Arbeit zusammengeführt. Sie beziehen sich dabei auf unterschiedliche Quellen (Vergleich Prototypen vs. Rollenwissen auf der einen Seite und reale Wahrnehmungen in der Führungsbeziehung auf der anderen Seite). Damit wurde dem Prinzip einer Datentriangulation entsprochen (Denzin, 1978, S. 295). Insbesondere wird hierbei empfohlen, die Daten anhand von verschiedenen Personen und zu verschiedenen Zeitpunkten zu erheben (Denzin, 1978, S. 295; Flick, 2011, S. 13). Studie F berücksichtigt durch die Tagebücher den Faktor Zeit, während mit Studie P eine andere Personengruppe als weitere Datenquelle hinzukommt. Die Operationali36 An dieser Stelle wurde bewusst nicht der Begriff der Kausalkette zur Übersetzung von „chain of evidence“ genutzt, da dieser im Rahmen von empirischen Methoden bereits mit einer anderen Bedeutung belegt ist und sich mehr auf den Einfluss von einer Variablen auf eine andere fokussiert.
4.3 Güte und Limitationen der empirischen Untersuchung 221 sierung der Messung des Phänomens der Erwartungsenttäuschung führte somit auf zwei unterschiedlichen Wegen zu konsistenten Ergebnissen, sodass eine solche Konstruktvalidität geschaffen werden konnte. Die Datentriangulation in dieser Arbeit stellt nach der Nähe zum Forschungsgegenstand den zweiten „starken“ Nachweis der Güte der Untersuchungen. Weiterhin wird die Konstruktvalidität durch die transparente Dokumentation des Verfahrens gestützt (Mayring, 2002, S. 144f), in dem die Daten für alle Leser lückenlos offengelegt wurden: In den Abschnitten 3.1 bis 3.3 wurde die Vorgehensweise erläutert. Dort wurden die geplanten Schritte, sowie die sich aus dem Prozess heraus entwickelten Veränderungen beschrieben, sodass ein transparentes Gesamtbild über den Ablauf des Forschungsprozesses entstand. Abschnitt 3.4 hat anhand von Datenstrukturen, Ankerbeispielen, Kodierregeln, Ergebnissen der Nähefunktion sowie einer Vielzahl von direkten Zitaten aus den Interviews die Daten dokumentiert, sodass eine „chain of evidence“ an jedem Punkt zu erkennen ist und eine Glaubwürdigkeit und Authentizität (Guba & Lincoln, 2005, S. 198) der Ergebnisse belegt werden kann. Das Kriterium der (2) internen Validität ist nach Yin vor allem dann anzuwenden, wenn ein Zusammenhang zweier Variablen erklärt werden soll. Insbesondere gilt es, von den Ergebnissen abweichende alternative Erklärungen der Zusammenhänge auch wirklich ausschließen zu können (Yin, 2009, S. 42). Im Rahmen dieser Arbeit handelt es sich aber nicht um eine Erklärung eines Zusammenhangs, sondern um eine erstmalige mögliche Herstellung eines solchen (Erwartungsenttäuschungen, attributionstheoretische Wirkung und Handlungskonsequenzen). Vorherig bekannte Muster oder Erklärungen existierten nicht. Insofern ist das Kriterium in dem Verständnis von Yin zu vernachlässigen. Andere Autoren füllen den Begriff der internen Validität in Bezug auf qualitative Forschung inhaltlich vergleichbar mit der Konstruktvalidität (Glaubwürdigkeit, Authentizität) (Steinke, 2009, S. 320), der bereits entsprochen wurde. Die Ursache hierfür liegt in der Diskussion über die Übertragbarkeit und Anpassung von ursprünglich quantitativen Kriterien für die qualitative Forschung (Steinke, 2009, S. 323).
222 4. Diskussion Das Kriterium der (3) externen Validität bezieht nach dem Verständnis von Yin auf eine Generalisierbarkeit der Ergebnisse. Dabei ist es wichtig zu verstehen, die Generalisierbarkeit qualitativer Forschung als analytisch zu begreifen, da sie sich auf eine Theoriebildung (oder eine Elaboration) bezieht und nicht auf eine statistische Generalisierbarkeit mit Bezug zu einer Grundgesamtheit (Yin, 2009, S. 43). Ziel dieser Arbeit ist es in diesem Sinne nicht, Zusammenhänge einer Grundgesamtheit zu erklären, sondern die Weiterentwicklung einer Theorie zu leisten. Durch den Aspekt der Replikationslogik wird im Rahmen der Mehrfachfallstudie dieser Arbeit (vgl. Abschnitt 3.1.2, S.71) dem Empfehlungen Yins gefolgt, um eine externe Validität abzusichern. Die Interpretation und Schlussfolgerungen dieser Arbeit basieren allesamt auf wiederkehrenden Mustern in den Daten, die sich über alle Fälle hinweg erkennen ließen. 4.3.2 Limitationen der Daten und Ergebnisse Aus einigen Rahmenbedingungen und Entwicklungen im Laufe der empirischen Untersuchung ergeben sich einige Limitationen. Diese sind teilweise in dem Verhalten der Teilnehmer begründet, teilweise methodisch indiziert oder grundsätzlich diskutable Aspekte. Vor allem um den Effekt auf die Ergebnisse besser beurteilen zu können, werden im Folgen die zu verzeichnenden Limitationen zusammengefasst. Die Teilnehmer der Hauptstudie wurden gebeten, über ihre Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen seit Anbeginn der Führungsbeziehung zu reflektieren. Dabei waren viele der genannten Punkte noch keine abgeschlossenen Episoden, sodass sich vor allem in Bezug auf die Handlungskonsequenzen viele Aussagen auch als Handlungsabsichten verstehen lassen. Beispielsweise wurde eine Konsequenz von den Teilnehmern im Zusammenhang mit Aussagen wie „wenn das so weitergeht, werde ich wahrscheinlich...“ formuliert. Von daher muss festgehalten werden, dass mit den Ergebnissen der Hauptstudie keine definitiven Handlungen postuliert werden, da es keine Garantie geben, dass sich die Personen in dem konkreten noch einzutretenden Fall tatsächlich
4.3 Güte und Limitationen der empirischen Untersuchung 223 gemäß ihrer formulierten Absicht verhalten. Insbesondere gravierende Handlungskonsequenzen wie die Absicht zu kündigen sind „leichter gesagt als getan“. Selbst wenn die Teilnehmer häufig sehr entschlossen wirkten und im Fall A tatsächlich eine Kündigung eingereicht wurde, ist nicht immer automatisch von einer Konvergenz zwischen früh formulierter Absicht und tatsächlichem Handeln auszugehen. Auch wenn die Muster der Verbindungen zwischen Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen in Abbildung 10 teilweise sehr deutlich sind, so können vor allem die nicht erkennbaren Muster nicht völlig ausgeschlossen werden. Es werden lediglich besonders typische Verbindungen unterstellt. Nicht nur für Berufseinsteiger ist die Führungsbeziehung ein sensibles Thema. Aber gerade für diese Gruppe ist ein besonderes Ereignis, da sie zum ersten Mal in einem „vollwertigen“ Beschäftigungsverhältnis stehen. Von daher ist er nur allzu verständlich, dass die Möglichkeit besteht, eine gewisse Scheue vor der absoluten Offenheit und Ehrlichkeit dabei zu haben, über die Zusammenarbeit mit ihren Vorgesetzten mit einer völlig fremden Person zu sprechen und diese Gespräche auch noch aufzeichnen und transkribieren zu lassen. Sicherlich ist bei der freiwilligen Teilnahme eine Reflektion über die generelle Bereitschaft mit einem positiven Ergebnis anzunehmen, jedoch ist auch ein gewisses Verpflichtungsgefühl nicht auszuschließen. Die Teilnehmer wurden von den Unternehmen ausgewählt und zuerst angesprochen, sodass die Teilnahme eher aus der Motivation entstanden sein könnte, vor dem Arbeitgeber einen guten Eindruck zu machen – obwohl man möglicherweise nicht so gerne über ein solches Thema sprechen würde. Aus diesen beiden Gründen kann nicht von einer absoluten Offenheit und Ehrlichkeit ausgegangen werden, sodass manche Wahrnehmungen eventuell verschwiegen oder verändert wiedergegeben wurden. Die Erwartungsenttäuschungen, die Handlungskonsequenzen und die Verbindungen zwischen diesen beiden Phänomenen entstammen direkt aus den Daten und können konkret mittels einer transparenten Auswertungstechnik belegt werden, da es Aspekte sind die von Teilnehmern bewusst formuliert worden
224 4. Diskussion sind. Im Gegensatz dazu sind die Effekte auf die Attribution von Führung nicht direkt beobachtbar, bzw. direkt von den Befragten formuliert worden. Da es sich um mehr unterbewusste Prozesse handelt, müssen diese im Vergleich zu den anderen Ergebnissen besonders stark interpretiert werden. Auch wenn die Interpretationen hierzu in Kapitel 5 fortlaufend durch transparente Argumente aus den Daten zu gestützt wurden, so stellen sie doch den am wenigsten deutlichen und objektiven Teil der Ergebnisse dar, sodass an dieser Stelle auch potenzielle Fehlinterpretationen nicht ausgeschlossen werden können. Bereits mehrfach wurde auf die Kontextsensitivität von Führung hingewiesen. In diesem Fall handelt es sich um den spezifischen Kontext von Akademikern als Berufseinsteigern. Teilweise völlig andere Kontexte würden beispielsweise durch erfahrene Mitarbeiter oder durch Mitarbeiter mit anderen Bildungsniveaus oder mit einem völlig anderen Tätigkeitsprofil gegeben sein. Somit lassen sich die hier vorzustellenden Ergebnisse immer nur mit Vorsicht und besonderer Beachtung der kontextuellen Unterschiede auf andere Führungsbeziehungen übertragen. Bei den Vorstellungen, Wahrnehmungen, Urteile und Handlungskonsequenzen von Erwartungsenttäuschungen ist davon auszugehen, dass sie stark von den individuellen Persönlichkeiten und Charaktereigenschaften der jeweils betroffenen Personen abhängen. Teilweise spielen auch die Wahrnehmungen von Kollegen und die Situation in der Gruppe eine Rolle. All diese charakterlichen Aspekte und sozialen Umstände wurden in der Studie ausgeblendet, sodass die Ergebnisse immer relativ vor der jeweiligen Persönlichkeit eines zukünftigen Geführten beurteilt werden müssen, da sich aufgrund diverser Charaktereigenschaften unterschiedliche Wahrnehmungs- und Reaktionstendenzen vermuten lassen. Das geplante Erhebungsdesign mit je zwei Interviews konnte bei Teilnehmer F nicht eingehalten werden. Nach dem ersten Interview war beim Befragten aus nicht weiter erläuterten Gründen keine Bereitschaft für ein zweites Interview
4.3 Güte und Limitationen der empirischen Untersuchung 225 vorhanden. Nichtsdestotrotz waren einige sehr brauchbare Informationen im ersten Interview nutzbar. Die in der Vorstudie ausgewählten Studenten sollten noch keine Berufserfahrung haben, um möglichst „unverfälschte“ Erwartungen an Personalführung vorfinden zu können, da sie noch nicht durch eventuelle Enttäuschungen verzerrt worden sind. Bei einigen Teilnehmern lagen jedoch bereits einer Festanstellung in Ansätzen vergleichbare Erfahrungen in einer Führungsbeziehung vor, da sie vor allem durch Praktika bereits befristet in Unternehmen beschäftigt waren.
5. Schlussbetrachtung Am Ende dieser Dissertationsschrift gilt es die neben den Ergebnissen insgesamt auch den Gang der Arbeit und die einzelnen Schritte final zusammenzufassen, um ein abschließenden Gesamtbild zu zeichnen. Damit ist die Arbeit selbst aber noch nicht abgeschlossen. Auf der Basis des Fazits erfolgt ein kurzer Ausblick auf mögliche direkte Folgeuntersuchungen und Anschlusspunkte oder Implikationen und Anregungen für auf die Ergebnisse dieser Arbeit aufbauende weitere Forschungsansätze und -vorhaben. 5.1 Zusammenfassung der Ergebnisse und Fazit Führung ist ein alltägliches Phänomen in jedem Unternehmen. In der Einleitung wurde die aus der Praxis motivierte Frage formuliert, wie ein Mitarbeiter behaupten könne seine Führungskraft sei „kein Chef wie ich es mir eigentlich vorstelle“ und aber trotzdem noch mehr oder weniger zufrieden in dem Unternehmen arbeitet. Aus theoretischer Perspektive ließ sich herleiten, dass es sich hierbei um eine Frage der Führungsattribution, sprich der Zuschreibung oder Anerkennung von Führung durch einen Mitarbeiter handeln könnte. Es mussten also gewisse Erwartungen an Führung oder ein Bild von Führung in den Gedanken der Mitarbeiter vorhanden sein, welches nicht der wahrgenommenen Realität in Form des Verhaltens des Vorgesetzten entsprach. So konnte am Ende des ersten Kapitels die konkrete Forschungsfrage im Kontext einer kognitiven und geführtenzentrierten Führungsforschung formuliert werden, die nach der Wirkung von enttäuschten Erwartungen an Personalführung auf die Führungsattribution und den damit verbundenen Handlungskonsequenzen fragt. Auf dieser Basis wurde zuerst in Kapitel 2 eine Diskussion des Erwartungsbegriffs vollzogen. In diesem Rahmen konnten Einflüsse aus der Soziologie genutzt werden, um ein präziseres Bild von verschiedenen Erwartungsformen und © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 H. Seele, Die Wirkung von enttäuschten Mitarbeitererwartungen an Personalführung, DOI 10.1007/978-3-658-14618-4_5
228 5. Schlussbetrachtung ersten Verbindungen zu Reaktionen zu zeichnen. Als Eckpfeiler eines Verständnisses des Erwartungsbegriffs wurde die Unterscheidung nach Muss-, Solloder Kann-Erwartungen mit unterschiedlichen Reaktionen, sowie die ex post einer Enttäuschung vollzogene Kategorisierung in kognitive (veränderte) oder normative (unveränderte) Erwartungen identifiziert. Den Kern des Erwartungsbegriffs stellt die Auffassung von Erwartungen als ein Bündel von Verhaltenserwartungen an die soziale Rolle der Führung. Anschließend wurde versucht, den Erwartungsbegriff in die Führungsforschung zu implementieren. Ziel war es, Verbindung zu einer konkreteren Teildisziplin der Führungsforschung aufzudecken, damit der Forschungsfrage eine konkrete Grundlage zur Beantwortung zur Verfügung gestellt werden konnte. Es wurde festgestellt, dass sich einzelne Aspekte der Rollen-/Austauschtheorien in Form der LMX-Theorie eignen, um erste orientierende Erkenntnisse zu gewinnen. Diese lagen einerseits in der Bestimmung von Erwartungen als ein Austauschgut zu Beginn der Führungsbeziehung (rollentheoretische Ursprünge LMX) und der Einbeziehung eines Fokus’ auch auf die Verhaltensebene von Geführten (Weiterentwicklung des Followership). Schließlich konnten die impliziten Führungstheorien und die geführtenzentrierte Attributionstheorie als die Basis eines theoretischen Rahmens und Grundlage der Forschungsfrage identifiziert werden. Erwartungen an Personalführung basieren auf den impliziten Führungstheorien einer Person, die für die mentale Kategorisierung von Führung verantwortlich sind und hieraus Prototypen von Führungskräften im Unterbewusstsein der Mitarbeiter bilden. Innerhalb dieser Prototypen manifestieren sich die Erwartungen an Personalführung, die einen Prüfstein für das wahrgenommene Verhalten von Führungskräften bilden. Dieser Prozess wird in der geführtenzentrierten Attributionstheorie verkörpert. Somit konnten die ersten beiden Untersuchungsfragen nach der Verankerung und der Rolle von Erwartungen in der Führungsforschung beantwortet werden. Den finalen theoretischen Bezugsrahmen einer empirischen Untersuchung bildeten somit hauptsächlich diese beiden Ansätze der kognitiven Führungsforschung, anlehnend an Elemente des LMX. Da aber nach Abschluss der konzeptionellen Untersuchung noch immer vier Untersu-
5.1 Zusammenfassung der Ergebnisse und Fazit 229 chungsfragen offen und somit auch die Forschungsfrage insgesamt nicht ausreichend beantwortet blieb, konnte die Notwendigkeit einer explorativen empirischen Untersuchung abgeleitet werden. Die empirische Untersuchung wurde anschließend in Kapitel 3 der Arbeit vorgestellt. Nach einer Diskussion der grundsätzlichen Möglichkeiten eines empirischen Vorgehens, wurde ein qualitatives Basisdesign mittels der Untersuchungsstrategie einer Fallstudienarbeit als das zum Ziel der Arbeit passende Forschungsdesign vorgestellt. Im Rahmen dieser Entscheidungen für das Vorgehen bezüglich der Datenerhebung und -auswertung wurden einige Prinzipien einer Grounded Theory als übergreifendes Paradigma erläutert, an die sich die Theorieelaboration dieser Arbeit weitgehend angelehnt hat. Weiterhin wurde das Zusammenwirken der Prototypen- und der Führungsbeziehungsstudie diskutiert. In Studie P wurden mittels teilstrukturierter Leitfadeninterviews erfahrene Führungskräfte und Studenten, nahe des universitären Abschlusses als potenzielle Berufseinsteiger, nach ihren Bildern über Personalführung befragt. Dieser Schritt war notwendig, um einerseits die Möglichkeit einer Erwartungsenttäuschung zu belegen, sowie andererseits die hierzu kritischen Bereiche als für eine Erwartungsenttäuschung besonders viel Potenzial hegende Aspekte zu identifizieren. Diese bezogen sich auf das (1) Verhältnis zwischen Nähe und Distanz auf persönlicher Ebene der Führungsbeziehung, der (2) Delegation von Handlungsspielraum und der damit verbundenen Wahrnehmung von Vertrauen, dem (3) Inhalt und der Ausgestaltung von Feedback sowie (4) des proaktiven Verhaltens der Führungskraft. Auf Basis der Datenerhebung anhand von neun Berufseinsteigern, konnten in Studie F, mittels Tagebüchern über die Interaktion mit dem Vorgesetzten und hierauf basierenden Interviews, wertvolle und aussagekräftige Daten gesammelt werden. Diese enthalten einige deutliche Tendenzen und wiederkehrende Muster, die in gesonderten Datenstrukturen zu den Erwartungsenttäuschungen einerseits und den Handlungskonsequenzen andererseits aufgezeigt werden konnten. Den Abschluss der Datenauswertung bildete eine Darstellung der in den Daten erkennbaren Verbindungen zwischen Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen.
230 5. Schlussbetrachtung Die in Daten erkennbaren Muster und Verbindungen bedurften zur Beantwortung teilweise Interpretationsleistungen vor dem Hintergrund des theoretischen Rahmens und aktueller Ergebnisse anderer Forschungsvorhaben. Dieser finale Schritt wurde in der Diskussion durch Kapitel 4 vollzogen. Als zentrales Ergebnis dieser Arbeit konnte ein nach Erwartungsenttäuschungen und Handlungskonsequenzen differenzierendes Modell der Führungsattribution mit konkreten Propositionen für die weitere Forschung formuliert werden. Das postulierte Modell stellt einen großen Erkenntnisgewinn vor allem als Ergänzung der Attributionstheorie dar, liefert aber auch viele weitere Beiträge zu weiteren Richtungen der Führungsforschung. Die offenen Untersuchungsfragen zusammenfassend beantwortend, ist es durch diese Arbeit möglich, Erwartungen an Führung und ihre Wirkung auf die Attribution differenziert zu betrachten. Auf der einen Seite existieren durch die persönliche Beziehung und die strukturelle Führung zwei notwendige Bedingungen im Sinne von normativen Soll-Erwartungen der Führungsattribution, welche trotzdem hinsichtlich ihrer Handlungskonsequenzen noch unterschieden werden können. Ebenso existiert durch das direkte Führungsverhalten eine hinreichende Bedingung, welche wiederum mit Handlungskonsequenzen verbunden werden konnten. Je nach den Zielen der Geführten besitzen diese hinreichenden Bedingungen kurz- und langfristig mehr einen kognitiven Charakter und stellen Kann-Erwartungen dar – oder sind langfristig als wiederum tendenziell normative Soll-Erwartungen zu beschreiben. Auf der Ebene der Handlungskonsequenzen unterscheiden sich funktionale Reaktionen der Investition von dysfunktional-konfrontativen Reaktionen der Konfrontation, sowie den beziehungsterminierenden Reaktionen der Desinvestition als Umgangsformen mit Erwartungsenttäuschungen auf Seiten der Geführten. Durch den alternativen Ansatz der Prototypenstudie, Führungsprototypen mit den Rollenbildern erfahrener Führungskräfte zu vergleichen, konnten die Ergebnisse der Führungsbeziehungsstudie durch den zusätzlichen Kontext validiert werden.
5.2 Ausblick und Anknüpfungspunkte für die weitere Forschung 231 5.2 Ausblick und Anknüpfungspunkte für die weitere Forschung Im Rahmen der hier vorgenommenen Theorieelaboration auf Basis von qualitativer Forschung bietet es sich an, die formulierte Theorie zu bestätigen. Hierzu bietet das diskutierte Modell und die formulierten Propositionen eine Grundlage für die Entwicklung spezifischer Hypothesen, welche im Rahmen einer quantitativen Studie überprüft werden könnten. Allerdings sind auch einige Herausforderungen mit diesem Schritt verbunden. Neben der Frage der Operationalisierung der einzelnen Variablen auf Basis der Erwartungsdimensionen und Handlungskonsequenzen spielt vor allem vor dem Hintergrund der hinreichenden Bedingungen der Faktor Zeit eine große Rolle. Vermutlich müsste eine Untersuchung über mehrere Monate, wenn nicht sogar Jahre, konzipiert werden um der Herausforderung einer validen Überprüfung gerecht zu werden. Viele Verbindungen zwischen Enttäuschung und Handlungskonsequenz können erst über längere Zeit sicher erhoben werden. Vielversprechend erscheint dabei die weitere Verwendung von tagebuchbasierten Ansätzen, da sie eine sehr gute Gelegenheit bieten, durch die Teilnehmer eigeninitiiert die für sie selbst relevanten Momente und Wahrnehmungen zu definieren. Dadurch könnten einige potenzielle Verzerrungen und Fehler vorab ausgeschlossen werden. Vorausgesetzt die Messinstrumente werden dem Anspruch einer validen Erhebung gerecht, könnten vermutlich mittels regressionsanalytischer Methoden die Verbindungen innerhalb des vorgeschlagenen Modells überprüft werden. Eine Vielzahl weiterer Anknüpfungspunkte bietet sich durch die bewusst ausgeblendeten potenziellen Einflussfaktoren. Beispielhaft zu nennen wäre hier vor allem die Persönlichkeit eines Mitarbeiters, die vorstellbar für die eher stärkere oder schwächere Neigung zu bestimmten Reaktionsformen, aber auch für eine Priorisierung von Erwartungen an Führung verantwortlich sein könnten. In ähnlicher Weise könnten auch kulturelle Hintergründe als mögliche Einflussfaktoren eine Rolle spielen. Zukünftige Forschungsansätze könnten sich auch auf die Übertragung in andere, mehr oder weniger spezielle Führungskontexte, wie beispielsweise in der Produktion und anhand von Auszubildenden oder Gesel-
232 5. Schlussbetrachtung len, beziehen. Grundsätzlich sind eine Menge Einflusspotenziale auf die Wahrnehmung von Erwartungsenttäuschungen und auf die Handlungskonsequenzen isoliert, aber auch auf die Verbindungen von diesen beiden Elementen denkbar. Ein weiterer möglicher Schritt stellt sich durch die Einbeziehung der Führungskraft in die Analyse. Dabei sind vor allem Fragen interessant, welche die Möglichkeiten einer Gegenreaktion oder einer präventiven Agitation behandeln. Die klassische Führungsstilforschung könnte eine große Rolle insbesondere bei der Wahrnehmung von Erwartungserfüllung oder -enttäuschung im Rahmen der hinreichenden Bedingung des direkten Führungsverhaltens spielen, sodass eventuelle bestimmte Führungsstile zum Beispiel wahrscheinlicher zu einer positiven Wahrnehmung von Handlungsspielraum innerhalb der Delegation zu führen, als es durch andere der Fall wäre.
Erratum Erratum zu: Die Wirkung von enttäuschten Mitarbeitererwartungen an Personalführung Hagen Seele © Springer F achmedien Wiesbaden 2 016 H. Seele, Die Wirkung von enttäuschten Mitarbeitererwartungen an Personalführung, DOI 10.1007/978-3-658-14618-4 Erratum zu: Titelseite, Hagen Seele, Die Wirkung von enttäuschten Mitarbeitererwartungen an Personalführung, Untertitel: Attributionstheoretische Effekte und Handlungskonsequenzen Der Haupttitel wurde entsprechend geändert: Die Wirkung von enttäuschten Mitarbeitererwartungen an Personalführung Die aktualisierte Originalversion des Buches kann hier abgerufen werden DOI 10.1007/978-3-658-14618-4 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 H. Seele, Die Wirkung von enttäuschten Mitarbeitererwartungen an Personalführung, DOI 10.1007/978-3-658-14618-4_6 E1
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