Author: Kloeden W.  

Tags: biographie   religion   theologie  

ISBN: 978-3-643-15449-1

Year: 2024

Text
                    Wolfdietrich v. Kloeden

Der junge Søren Kierkegaard
Kindheit - Jugend - Studienbeginn

LIT

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Wolfdietrich v. Kloeden Der junge Søren Kierkegaard
THEOLOGIE Biographisch Band 5 LIT
Wolfdietrich v. Kloeden Der junge Søren Kierkegaard Kindheit – Jugend – Studienbeginn LIT
Umschlagbild: Kierkegaard-Denkmal in Kopenhagen, Foto: Lucian Freudenberg ½ Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier entsprechend ANSI Z3948 DIN ISO 9706 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-643-15449-1 (br.) ISBN 978-3-643-35449-5 (PDF) © LIT VERLAG Dr. W. Hopf Berlin 2024 Verlagskontakt: Fresnostr. 2 D-48159 Münster Tel. +49 (0) 2 51-62 03 20 E-Mail: lit@lit-verlag.de https://www.lit-verlag.de Auslieferung: Deutschland: LIT Verlag, Fresnostr. 2, D-48159 Münster Tel. +49 (0) 2 51-620 32 22, E-Mail: vertrieb@lit-verlag.de
I NHALT Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1. Zugang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 2. Der Vater in Jütland: Vorfahren, religiöse Strömungen, Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 3. Der Vater in Kopenhagen: Jugend, Aufstieg und Etablierung als Geschäftsmann . . . . . . . . . . . . . . . . 25 4. Das Heim (I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 5. Das Heim (II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 6. Vater und Sohn: „Erzogen von einem Greis“ – Die väterliche, christliche Erziehung des S. Kierkegaard. . . . . 61 7. Die Schule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 8. Zusammenfassung der eigenen Beurteilung von Kindheit und Jugend im Rückblick durch S. Kierkegaard selbst. . . . 91 9. Der Beginn des eigentlichen Studiums . . . . . . . . . . . . 93 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

VORWORT Bei allen Personen wird der Vorname meistens zuerst ausgeschrieben. In der Folge wird nur der Anfangsbuchstabe des Vornamens genannt. Bei Verwechslungsmöglichkeiten wird der Vorname immer ausgeschrieben. Die Grundlage für diese Arbeit bilden meine Artikel in Bibliotheca Kierkegaardiana: Kierkegaard’s View of Christianity: The Home and The School, Kopenhagen 1978 und Kierkegaard as a Person: Der Vater Michael Peder Kierkegaard, Kopenhagen 1983. Es galt neue Hintergründe aufzudecken. Unbekanntes wird so ans Licht gezogen. Bedeutsam ist die Prägung S. Kierkegaards durch seine Lehrer. Zwei Jahrzehnte liegt das Manuskript über den jungen Kierkegaard bei mir. Ursprünglich sollte der literaturgeschichtliche Rahmen eingearbeitet werden. Es geht um Schriftsteller wie Adam Oehlenschläger, Johan Ludvig Heiberg, Steen Steensen Blicher, Hans Christian Andersen und Nikolai Frederik Severin Grundtvig. Außerdem geht es um Persönlichkeiten wie Ludvig Holberg, der zur Zeit des jungen Kierkegaard das Kopenhagener Theater bestimmte. So war das Wochenblatt „Kjøbenhavns Flyvende Post“ eine willkommene Lektüre für das Bürgertum. J.L. Heiberg gab es heraus und „verzierte“ es fast in jeder Ausgabe mit seinen Gedichten. Diese Autoren wie andere große Dichter Dänemarks sollen extra in einer Literaturgeschichte Dänemarks behandelt werden. Nur Dichter wie Poul Martin Møller und Frederik Christian Sibbern, die in näherer Beziehung zu Kierkegaard standen, werden in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt. Ohne die Hilfe einiger Personen wäre die Fertigstellung dieses Büchleins nicht möglich gewesen. Ganz besonders danke ich Lucian und Matthias Freudenberg für umfangreiche redaktionelle Arbeiten und Gesine v. Kloeden für die Bearbeitung des Literaturzverzeichnisses und die Endredaktion. Dem L IT Verlag sei für die Aufnahme in seine Reihe „Persönlichkeit im Zeitgeschehen“ gedankt.

G ELEITWORT Søren Kierkegaard gilt zurecht als der erste genuin moderne Philosoph und Theologe. Er hat nicht nur die idealistische Vorstellung des Eingebundenseins der menschlichen Subjektivität ins Absolute durch die Idee des Einzelnen als eigenständiges geistiges Wesen ersetzt, er hat, in eins damit, auch den Glauben neu gefasst: er ist kein Wissen um einen der Seele eingeborenen Gottesbezug, sondern eine Option, pathetischer gefasst: ein zu ergreifendes Wagnis. Darin liegt zugleich Kierkegaards geschichtliche Bedeutung. Seine Schriften haben eine existenzialistische Anthropologie initiiert, die erst im 20. Jahrhundert philosophisch aufgegriffen wurde, sowie eine zeitgleiche „Dialektische Theologie“ inspiriert, welche die Offenbarung Gottes in Christus als ein aus nichts heraus zu klügelndes „absolutes“ Datum begreift. Ohne den Einfluss Kierkegaards sind weder Jaspers, Heidegger und Wittgenstein noch Barth, Brunner und Bultmann zu verstehen. Die Tatsache, dass Kierkegaard diese folgenreichen Neubestimmungen innerhalb von nur 14 Jahren bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts literarisch auszuarbeiten vermochte, hat schon immer die Neugier auf die Person entfacht. Wer war dieser Mensch, der die Vorstellungskraft und die logische Konsequenz aufbrachte, um solch grundstürzende Gedanken zu einer stimmigen Gesamtauffassung zu fügen? Und: In welchem persönlichen und intellektuellen Milieu konnten sie sich entwickeln? Es versteht sich von selbst, dass diese Fragen nicht leicht zu beantworten sind; sie haben daher auch allerlei Antworten hervorgebracht, die entweder durch eine zu große historische Nähe oder Distanz sowie eine beschränkte Übersicht über die biographischen Daten begrenzt, oder durch die jeweils eigene Kierkegaard-Deutung bestimmt sind. Ins Auge fällt vor allem die Konzentration auf den Komplex von Schuld und Sündenbewusstsein, dessen Bedeutung man allzu kurschlüssig aus der Beziehung zum Vater abzuleiten versucht.
4 G ELEITWORT Die vorliegende Darstellung von Wolfdietrich v. Kloeden (Mitglied der Kierkegaard Akademie und Member of Board des International Kierkegaard Commentary, Autor zahlreicher Abhandlungen und Aufsätze zu Grundbegriffen der Philosophie Kierkegaards) ist vor diesem Hintergrund zu lesen. Der Autor gibt einen Einblick in das vielgestaltige intellektuelle, literarische und religiöse Milieu, in dem der Vater (M.P. Kierkegaard) aufwuchs, sowie in die dramatischen politischen Veränderungen, in die Søren hineingeboren wurde, schildert die Herkunft und das ereignisreiche Leben des Vaters, beschreibt das familiäre und weitere Umfeld, in dem Søren aufwuchs, erzählt von seiner Schulzeit, zeichnet ein reizendes Charakterbild des späteren Autors und erörtert sein ambivalentes Verhältnis zum Vater. Den Abschluss bildet ein Bericht über Sørens frühes Studium und die Einflüsse seiner wichtigsten Lehrer. Der vorliegende Text ist dicht und reich, die Konsequenzen für eine Deutung des Werkes von Søren Kierkegaard werden nur angedeutet. Besonders hervorzuheben ist noch die Vertrautheit des Autors mit dem Dänischen. Allein die Färbung, die der Gebrauch des Begriffs Innerlichkeit im Dänischen hat, dürfte die Verwirrung über ein „Selbst, das sich zu sich selbst verhält“ in Luft auflösen. August 2023 Dr. Stefan Hübsch
1. Z UGANG Einen großen Denker kann man nicht durch Einzelbeobachtungen erfassen. Die ganze Person aus der Gesamtstruktur der Zeit heraus zu verstehen, muss die Devise lauten. So versteht es sich auch bei der Begegnung mit einem Genie wie Søren Kierkegaard. Seine Zeit, seine Umwelt, seine Familie, wurzelnd im Boden europäischer Geschichte, gilt es zu ergründen. Damit wird der Rahmen abgesteckt für ein Kierkegaardbild, das zugänglich ist. Um ein Beispiel zu geben: Die zentrale Figur von S. Kierkegaards Vater muss in das religiöse und politische Leben seiner Zeit hineingestellt werden. Das Bild des Vaters ist sowohl vom Pietismus Herrnhuts wie auch von der Persönlichkeit Bischof Jacob Peter Mynsters, des Vertreters der Staatskirche, her zu verstehen. S. Kierkegaards Entwicklung stand im Spannungsfeld zwischen dem frommen, zugleich patriotisch gesonnenen, Vater und dem Bischof der Staatskirche. Hoch empfindsame Glaubenssuche verband sich mit der kritischen Frage nach dem Zustand der Staatskirche. Der Leidensweg Christi und der ersten Zeugen auf der einen Seite, das Trachten nach den äußeren Dingen durch die Geistlichkeit auf der anderen Seite, brachte für S. Kierkegaard die Unruhe des Herzens, den Aufbruch zur großen Fragestunde: Wer und was ist noch redlich in dieser Zeit? Die Suche nach dem Menschen, der sich selbst hinterfragen kann, war dabei Ziel und Aufgabe. Es galt, aus der Schwermut, Angst und Verzweiflung heraus den Weg in das Leben zu finden. Das wird das große Thema sein, das sich mit den Strömungen der Zeit-, Denk- und Literaturgeschichte verbindet. Diesen gegenüber zeigte S. Kierkegaard sein ganzes Leben hindurch Interesse. Die Neugier
6 1. Z UGANG des jungen S. Kierkegaard zwang ihn zur Orientierung in der zeitgenössischen Literatur, Philosophie und Theologie. Die Vielfalt der Suchwege war nicht Ausdruck der Zerstreuung, sondern der Lebensaussage, die den Menschen trägt. Ein Rückblick sei gestattet. Das politische Leben in Dänemark war nach der restaurativen Periode von Ove Jørgensen HøeghGuldberg (1731–1808) und auch während dieser nicht ganz ohne Fortschritt. Spuren der Reformen durch Johann Hartwig Ernst von Bernstorff (1712–1772) und vor allem durch Johann Friedrich Struensee, geb. 1737, hingerichtet am 28. April 1772, ließen sich nicht verleugnen. Ein liberaler Grundzug trat ein, als O. Guldberg 1784 vom sechzehnjährigen Kronprinzen, dem späteren Friedrich VI. (1808–1839 König), abgelöst wurde. J.F. Struensees Erbe bestand in einem umfangreichen Sparprogramm und dem Ausbau des Rechts- und Gesundheitswesens. Zur Zeit J.F. Struensees hatte Kopenhagen 70.000 Einwohner. Im Mutterland Dänemark wohnten 785.000 Menschen. Das waren die Gegebenheiten, als der Vater S. Kierkegaards Michael Peder Kierkegaard 1768 als Elfjähriger aus Jütland nach Kopenhagen kam. Nahezu alle Bewohner Dänemarks gehörten der evangelisch-lutherischen Staatskirche an. König Friedrich VI. hatte es Anfang des 19. Jahrhunderts schwer. Er musste zwei britische Seeangriffe auf Kopenhagen 1801 und 1807 überstehen. Ein Teil der Innenstadt fiel dem Bombardement zum Opfer, darunter die Frauenkirche, die dann im klassizistischen Stil wiederaufgebaut wurde. Außerdem musste der König die dänische Flotte an die Briten ausliefern. Friedrich VI. verbündete sich daraufhin mit Napoleon I., was ihm keine Erleichterung verschaffte. Nach der Besiegung Napoleons 1813 musste der dänische König im „Kieler Frieden“ 1814 Helgoland an England ausliefern und, was noch viel schlimmer war, Norwegen an Schweden. Im Gegensatz zum politischen Abstieg gab es eine kulturelle Blütezeit, besonders in der bildenden Kunst und Dichtung. Aber
1. Z UGANG 7 auch die Wissenschaften einschließlich der Theologie erlebten einen Aufschwung. Von dem inhaltsreichen Zeitalter der dänischen Kunst spricht man auch heute. Bertel Thorvaldsens Skulpturen haben europäischen Rang. Zu erinnern ist an die Christusfigur in der damals neu errichteten Frauenkirche. Die Kopenhagener Kunstakademie hatte ebenfalls europäischen Ruf. Zu ihr kamen berühmte deutsche Maler wie Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich. Die dänische Malerei nahm ihren Aufschwung mit Christoffer Wilhelm Eckersberg. Die Blütezeit der Literatur wie der Kunstszene wird dänisch mit „Guldalder“ („Goldenes Zeitalter“) bezeichnet. Hier geht es um Weltliteratur. Die Hauptrepräsentanten sind Hans Christian Andersen und S. Kierkegaard. Von beiden wird noch ausführlich zu sprechen sein. Dazu ist hier Folgendes zu sagen: H.C. Andersens Durchbruch geschah 1835 mit der Herausgabe seiner ersten Märchen. Gelegenheitsstücke, Gedichte und Romane gingen den Märchen voraus. Das alles war die Vorbereitung für die Erneuerung des Volksmärchens und die eigene, erlebnisreiche Schöpfung literarischer Märchen. Der Ausgangspunkt des Märchens ist die Wirklichkeit, die nicht wie im romantischen Kunstmärchen aufgehoben wird. Deutlich wird das an einem Märchen wie „Den lille Pige med Svovlstikkerne“ („Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“). Von großem Einfluss über seine nordische Heimat hinaus war N.F.S. Grundtvig als Historiker mit biblischer Wegweisung, als Kirchenlieddichter und als Gründer des Volkshochschulwesens. S. Kierkegaard griff ihn immer wieder an, da er bei ihm die Entscheidung des Einzelnen vermisste. Umgekehrt predigte N.F.S. Grundtvig im „Kirchenstreit“ (1854/55) gegen S. Kierkegaards scharfe Kirchenpolemik. 1802/03 brachte Henrich Steffens die Romantik nach Dänemark. Seine Vorlesungen in Ehlers Kollegium wurden berühmt. Zu seinen Füßen saß die gesamte geistige Elite Kopenhagens bzw. Dänemarks. U.a. hörten ihn die Brüder Anders Sandøe und Hans Christian Ørs-
8 1. Z UGANG tedt, J.P. Mynster, N.F.S. Grundtvig und Adam Oehlenschläger. Letzterer sagte über H. Steffens, dass er ihn ganz zu sich selbst gebracht hätte. A. Oehlenschläger wurde der Repräsentant der Romantik in Dänemark schlechthin. Sein Schauspiel „Aladdin“ (1805) gilt heute noch als herausragende nationale Dichtung. Es begleitete auch Kierkegaard sein Leben lang. H. Steffens brachte seinem Publikum auch die Naturphilosophie Friedrich Wilhelm Joseph Schellings nahe. Die Theogonie verband er mit dem Naturverständnis. Harmonie war der Grundtenor, die Suche nach einer Naturmetaphysik. Hier hatte er großen Einfluss auf H.C. Ørsted, dessen Werk „Aanden i Naturen“ (1850/51), deutsch: „Der Geist in der Natur“ (1854) geradezu symptomatisch war für die Verbindung von romantischer Weltanschauung und Naturphilosophie. Epochemachend war H.C. Ørsteds Entdeckung des Elektromagnetismus (1820). Dieser bedeutende Physiker war mit H.C. Andersen befreundet und brachte diesem die Vorstellung einer Grundharmonie in der Natur nahe – mit Blickrichtung auf den Menschen. Das geistige Kopenhagen in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts ist aber undenkbar ohne den Kontrapunkt zur reinen Romantik – allerdings ohne Leugnung von deren Grundaussage. Es ist die Richtung, die in der dänischen Literaturgeschichte als „Romantismen“ bezeichnet wird. Ihr Hauptvertreter ist J.L. Heiberg. Bei ihm ging es um die Wegbereitung einer realistischeren Tendenz, einer Öffnung zum Alltag, verbunden mit einer hohen, fein abgestimmten Ausformung. Der Ästhetiker des „Guldalders“ brachte sich ein. Hier sehen wir die starke Verbindungslinie zum jungen S. Kierkegaard. J.L. Heiberg war in allen Sparten der Dichtung zu Hause. Er schrieb ästhetische Abhandlungen, eine Reihe von Vaudevilles, Epen und glänzende Zeitschriftenartikel. Er gab „Kjøbenhavns Flyvende Post“ heraus, worin sich bedeutende Köpfe sammelten. Seine kritische Haltung gegen jede Oberflächlichkeit des Publikums drückte sich in seiner Dichtung „En Sjael efter Døden“ („Eine Seele nach
1. Z UGANG 9 dem Tode“) und in seinen „Neuen Gedichten“ (beides 1841) aus. Die Skepsis gegenüber dem „Publikum“ übernahm dann S. Kierkegaard. In J.L. Heibergs gastfreiem Haus verkehrte ein Teil der Intelligenz von Kopenhagen. Die Familie war berühmt. J.L. Heibergs Vater Peter Andreas Heiberg war selbst ein bedeutender Dichter. Dieser musste wegen seiner liberalen Haltung die Heimat verlassen und lebte in Paris im Exil. J.L. Heibergs Mutter Thomasine GyllembourgEhrensvärd, geb. Buntzen, war selbst eine berühmte Schriftstellerin. Mit 54 Jahren begann sie ihre eindringlichen Novellen in der Zeitschrift ihres Sohnes zu veröffentlichen. Hier ist vor allem die Novelle „To Tisaldre“ („Zwei Zeitalter“), von 1845, die durch S. Kierkegaard berühmt wurde, zu nennen. Der ganze Komplex der Novellen von J.L. Heibergs Mutter wurde nach dem Titel der einen „Hverdagshistorier“ („Alltagsgeschichten“) genannt. Von ihnen waren nicht nur S. Kierkegaard, sondern auch Dichter wie Carsten Hauch und Poul Martin Møller begeistert. Mit P.M. Møller betrat eine liebenswürdige Erscheinung die Bühne der dänischen Dichtung und Philosophie. Seine Dichtung „En dansk Students Eventyr“ („Abenteuer eines dänischen Studenten“), Kapitel I–III, zuerst vorgelesen vor Studenten (1824), begeisterte das junge Publikum. Seine „Strøtanker“ („Streugedanken“ bzw. „Verstreute Gedanken“), erst posthum 1837 herausgegeben, beeinflussten direkt die „Diapsalmata“ in S. Kierkegaards großem Erstlingsroman „Enten – Eller“ („Entweder – Oder“) von 1843. P.M. Møller war zwar von Georg Wilhelm Friedrich Hegels Dialektik beeinflusst, betonte aber den Eigenwert der Persönlichkeit. Diese muss ihre Berechtigung behalten. In diesem Zusammenhang tauchte bei P.M. Møller der Begriff des „Existentiellen“ auf. Hier liegt die Verbindung zu seinem Schüler S. Kierkegaard. In dieser Hinsicht war auch der Philosoph Frederik Christian Sibbern von großem Einfluss auf S. Kierkegaard. Er, wie auch P.M. Møller, vertraten in Dänemark die Lebensphilosophie. F.C. Sibbern gelang das Zusammenspiel von Philosophie und Psychologie, um die individu-
10 1. Z UGANG elle Persönlichkeit zu unterstreichen. Er bettete sie aber in die historische Totalität ein. So konnte später S. Kierkegaard die Ideen beider Denker für seinen Kampf gegen das Hegelsche System verwenden. Es muss noch eines wichtigen Schriftstellers gedacht werden, der S. Kierkegaard maßgeblich beeinflusst hatte. Das ist der jütländische Dichterpfarrer St. Blicher. Mit seinen Erzählungen aus dem Alltag des Dorflebens gab er dem frühen Realismus in der dänischen Literatur Raum. Hier bot er zusammen mit T.C. Gyllembourg ein Gegenbild zur Romantik. Er setzte sich auch von dem „Romantismen“ eines J.L. Heiberg ab und bereitete den Weg des Realismus von Meïr Aron Goldschmidt vor, des einstigen Gegners von S. Kierkegaard. Bedeutend wurden für den jungen S. Kierkegaard auch andere Dichter des „Goldenen Zeitalters“ wie Christian Walther, Henrik Hertz und Frederik Paludan-Müller. Letzterer erregte Aufsehen mit seiner Dichtung „Dandserinden“ („Die Tänzerin“) von 1833, eine ironische Darstellung der Liebe. Wichtig wurde das gegen den Überschwang der Romantik gedichtete große Werk „Adam Homo“ (1841–1848). Es ist auf der Grundlinie der Heibergschen Romantikkritik zu verstehen. Ein Teil der erwähnten Dichter war mit dem „Bakkehus“ verbunden, jener Begegnungsstätte, die das Ehepaar Rahbeck geschaffen hatte. Die religiöse Situation zur Zeit von M.P. Kierkegaard war durch ein Erwachen in Richtung tiefgreifender Frömmigkeit geprägt. Hier spielten der Einfluss romantischer Dichtung und Strömungen der Transzendentalphilosophie Schellings hinein. Es gab religiöse Gruppenbildungen in Form freikirchlicher Vereinigungen, nicht immer von der Staatskirche geleitet. Pietistische Konventikelbildungen brachen sich ebenfalls Bahn. Große Bedeutung für Dänemark erhielt das herrnhutische Christiansfeld in Südjütland. Dieses beeinflusste die Erweckungsbewegung im Ganzen, deren Hauptvertreter im gemäßigten Sinne später J.P. Mynster, der Seelsorger des Hauses Kierkegaard, wurde.
1. Z UGANG 11 Das fromme Erlebnisgefühl brach sich auch unter dem Eindruck materieller Not nach den napoleonischen Kriegen und dem Staatsbankrott 1813 Bahn. Es war das Geburtsjahr S. Kierkegaards, das „verrückte Geldjahr“, wie es S. Kierkegaard selbst nannte. Von der äußeren Not blieb nur M.P. Kierkegaard durch geschickte Transaktionen verschont. Er wurde reich. Die Theologie passte sich dem Frömmigkeitsgefühl an. Man besann sich auf die Religiosität des Menschen unter dem Einfluss von Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers Theologie. Spielte noch am Ende des 18. Jahrhunderts der Rationalismus mit seiner hausbackenen Moral eine Rolle im theologischen Denken, so folgte nun der Umbruch. Es war kein Zufall, dass Schleiermacher selbst vom herrnhutischen Geist erzogen worden war. So konnte er das „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott“ in seine Theologie hineintragen. Das fromme Lebensgefühl lief aber nicht neben dem theologischen Anspruch her. Es verband sich mit dem Suchen nach umfassender Bildung. So forderte der Bischof von Seeland Friedrich Münter, Vorvorgänger von J.P. Mynster, gegen den primitiven Eudämonismus innerhalb der Geistlichkeit die tiefe Bildung. Der Dompropst und Professor Henrik Georg Clausen kämpfte ebenfalls gegen die Verflachung theologischen Denkens. Als Kantianer betonte er das Wirken der Vernunft als das Göttliche im Menschen. Sein Sohn Henrik Nicolai Clausen wurde eine wichtige Lehrgestalt im Leben des jungen S. Kierkegaard. Auch der oben erwähnte J.P. Mynster stritt gegen den Eudämonismus, aber er warnte auch vor einem zu vereinfachenden Kantianismus. Er blieb immer ein Mann der Kirche und bestach durch seine Bildung und seine Feinsinnigkeit. Ein hochgebildeter Theologe war auch Hans Lassen Martensen, der spätere Nachfolger von J.P. Mynster auf dem Bischofsstuhl von Seeland. Als junger Gelehrter brachte er den Hegelianismus nach Kopenhagen und baute dann sein theologisches System unter Einwirkung der Religionsphilosophie von Hegel aus. H.L. Martensens
12 1. Z UGANG Dogmatik (1849) forderte dadurch den Widerspruch S. Kierkegaards heraus. Allerdings wird bei der Gegensatzzeichnung zu S. Kierkegaard in der theologischen Literatur zu sehr die Hegel-Abhängigkeit von H.L. Martensen betont. Hier muss differenziert werden. Martensen war es wie Hegel unmöglich, ohne eine Voraussetzung zu denken. Das machte er in seiner Schrift „Autonomie des Selbstbewußtseins in der christlichen Dogmatik“ (1837) geltend. Es ginge nicht um das Privileg des Menschen, nur auf sich selbst zu pochen. Vielmehr gehe es um die Einsicht, dass der Mensch von Gott geschaffen sei, also in Gott und durch ihn seine Voraussetzung zum Denken erhalte. Das Schlüsselwort heißt nach H.L. Martensens früher Auffassung nicht Autonomie, sondern Theonomie. Diese Argumentation war auch für den jungen S. Kierkegaard interessant, es blieb ihm aber der Verdacht der zu großen Spekulation. Im Gegensatz zu ihm feierten die jungen Theologen Kopenhagens H.L. Martensens Lehre als Novum. So stand es mit dem geistigen Kopenhagen. Hier prallten die verschiedenen Strömungen aufeinander: vom Pietismus bis hin zur spekulativen Theologie, von der klassischen Prosa und Poesie hin zum Überschwang des romantisch gehaltenen Märchens. Unverkennbar war der Einfluss Goethes, spürbar auch das Nachwirken Hegels und Schleiermachers in der dänischen Geisteswelt. So können wir uns nun dem spezielleren Teil zuwenden, dem Leben von M.P. und S. Kierkegaard.
2. D ER VATER IN J ÜTLAND : VORFAHREN , RELIGIÖSE S TRÖMUNGEN , K INDHEIT Das Bild des Vaters von S. Kierkegaard überlagern Negativzeichnungen. In der bisherigen Forschung wurde mehr oder weniger differenziert ein entscheidender Fehler begangen. Man holte sich die Erkenntnisse über den Vater meistens aus den Beschreibungen des Sohnes. Das war und ist bequem. Sicherlich gibt es hier eine Reihe konkreter Anhaltspunkte. Die subjektive Seite der Auslassungen von Søren darf aber nicht außer Acht gelassen werden. Den Auftakt zur negativen Betrachtung des Vaters M.P. Kierkegaard in Skandinavien gab bereits 1877 der große dänische Freigeist Georg Brandes. Aus der liberalen Gegenposition heraus sah er die verhängnisvolle Verbindung von M.P. Kierkegaards angeborener jütländischer Schwermut mit der christlich gegebenen Leidensposition des Sohnes Søren. Seine Untersuchung „Søren Kierkegaard“ (1877, dt. 1879) zeigt die Einförmigkeit der jütländischen Heide, den Hang ihrer Bewohner zur Schwermut, die aus S. Kierkegaards Schriften entgegenwehen. Folgende Sätze von Brandes markieren das: „Die Heide ist ihr Naturhintergrund; die dumpf leidenschaftliche Bauernreligiosität, die bei der Verlassenheit draußen in der Seele des Vaters erzeugt ward, ist ihre geistige Voraussetzung.“1 Hier liegt ein frühes Zeugnis vor. Georg Brandes wurde 1842 geboren, also noch zu Lebzeiten, ja zum Zeitraum der vollen Wirk1 Dt. Ausgabe: Georg Brandes, Kierkegaard und andere skandinavischen Persönlichkeiten, Dresden 1924, S. 262.
14 2. D ER VATER IN J ÜTLAND Jütländer Heide, Foto: Gesine v. Kloeden samkeit S. Kierkegaards. Er hätte später noch Zeitzeugen befragen können. Hier wäre ein Ausgleich zu fehlenden Urkunden und Quellen gewesen. Die Zeichnung der düsteren Gemütslage des alten M.P. Kierkegaard passte aber zur Charakterisierung des Sohnes als ein Mensch, der, so G. Brandes, nicht bereit war, die Vielfalt der Lebenseindrücke zu empfangen.2 Drei Bemerkungen sind noch zu G. Brandes zu machen: Der deutsche Übersetzer, dessen Namen nicht erwähnt wird, gebraucht „dumpf“ für das dänische Adjektiv „tung“ (Grundbedeutung: „schwer“). Damit wird verschärft die religiöse Eigenschaft des M.P. Kierkegaard zum Ausdruck gebracht. Das passt zum oben an2 Georg Brandes, ebd., S. 307. Eine Generation nach Brandes gab der dänische Philosoph Harald Höffding ein differenzierteres Bild vom Vater und kam zu einem helleren Bild des Sohnes Kierkegaards in seinem Buch: S. Kierkegaard als Philosoph, 1892, dt. Stuttgart 1902, S. 34.
2. D ER VATER IN J ÜTLAND 15 gegebenen Trend und hatte auf die weitere deutsche wie europäische Kierkegaardforschung in Richtung Bußatmosphäre im Elternhaus S. Kierkegaards seine Auswirkung. Dass jene nicht allein vorherrschte, wird im Folgenden aufzudecken sein. Weiter ist zu sagen: Mit der kritischen Bemerkung zu Brandes soll nicht die Leistung dieses bedeutenden Kulturtheoretikers zu seinem Kierkegaardbuch herabgewürdigt werden. Dort finden sich glänzende Analysen, natürlich von der freisinnigen Position des Verfassers aus. Zu verweisen ist auf seinen Aufriss des Verhältnisses von S. Kierkegaard zu H.C. Andersen, dann auf die Darlegung der Kierkegaardschrift „Die Einübung im Christentum“ (1850) und die Beschreibung des „Kirchenkampfes“.3 Schließlich muss betont werden, dass sich tatsächlich als Erbe der jütländischen Vorfahren bei M.P. Kierkegaard ein Hang zur Schwermut findet. Aber es sei auch auf andere Anlagen und Charaktereigenschaften hingewiesen: Michel (später Michael) Pedersen Kierkegaard wurde am 12. Dezember 1756 als Sohn von Peder Christensen Kierkegaard (1712–1799) und dessen Ehefrau, geb. Seding, in der Gemeinde Sädding, die zum Pastorat Bølling und Sädding gehörte, geboren. Das Heimatgebiet und die Stellen der Wirksamkeit seiner westjütländischen Vorfahren lassen sich über M.P. Kierkegaards Großvater Christen Jespersen Kierkegaard (1673–1749) und dessen Ehefrau, Tochter von Peder Michelsen (ca. 1638–1714), auf die Umgebung von Sädding, Dejbjerg, Stavning und Vorgod zurückverfolgen. Die Orte liegen östlich und südöstlich von Ringkøbing. Wahrscheinlich war Christen Jespersen ein Sohn von Jesper Pedersen in Sdr. Leding in Dejbjerg.4 Die Mutter von M.P. Kierkegaard war, wie betont, eine geborene Seding, deren Bruder für diesen noch 3 4 Georg Brandes, a.a.O., S. 281 ff., 414 ff., 420 ff. Vgl. Sejer Kühle, Søren Kierkegaards Barradom og Ungdom, Kopenhagen, 1950, S. 9; dazu auch meine Darstellung zum Ganzen in: Kierkegaard as a Person. Der Vater M.P. Kierkegaard, Bibliotheca Kierkegaardiana, ed. N. and M.M. Thulstrup, Bd. 12, Kopenhagen 1983, S. 14.
16 2. D ER VATER IN J ÜTLAND eine bedeutende Rolle spielen sollte. Zum Anwesen, auf dem M.P. Kierkegaard geboren wurde, gehörten hundert Jahre vorher noch zwei Pferde und zwei Kühe sowie mehrere Schafe. Der kleine Hof mit drei „Steuertonnen“ (dän. Maßeinheit) konnte eine große Kinderschar kaum ernähren. Als Kleinbauern und Schafzüchter verdienten Kierkegaards Vorfahren also kaum das Nötige zum Lebensunterhalt. So erging es auch den Eltern von M.P. Kierkegaard. Verschärft wurde die Situation noch dadurch, dass das Anwesen ein Pachthof war, also ein beträchtlicher Pachtzins entrichtet werden musste. In Hungerperioden, umgeben von der im Winter sturmgepeitschten Heidelandschaft, kamen die Sehnsüchte nach Erlösung, nach dem himmlischen Paradies auf. So war es kein Wunder, dass religiöse Paradiesbilder wie Messiaserwartungen auf fruchtbaren Boden fielen. Auch merkwürdige, sektiererische Typen konnten hier wirken. Zur Zeit der Eltern und Großeltern von M.P. Kierkegaard wie zu seiner Kinderzeit gab es Strömungen der Erweckung in Jütland und in Nordschleswig, die in einer pietistischen Grundströmung zusammenklangen. Fromme Individualisten, Separatisten und Staatskirchenkritiker stießen auf die jütländischen Bauern und Häusler. Auch adlige Gutsbesitzer machten mit ihnen Bekanntschaft. Diese religiösen Persönlichkeiten predigten die Reinigung der Seele von unfrommen Handlungen, die Ergebung in die Buße und die Erhebung zu Christus. Skurrile Typen mischten zusätzlich die frommen Kreise auf. War es in Nordschleswig der Aufruhr der „Bordehimer Rotte“, der von der Obrigkeit durch Verhaftungen niedergeschlagen wurde, so war es in Jütland der Erweckungsprediger, Mediziner und Alchemist Johann Konrad Dippel (1673–1734), der für Unruhe sorgte. Es waren seine Gedanken, die vom dänischen Altona und später von Stockholm aus durch seine Anhänger nach Jütland kamen. J.K. Dippel ist ein Beispiel für die Überspitzung eines frommen Lebensgefühls in Richtung des Separatismus. Teilweise waren seine Gefolgsleute zahlreich. Menschen im Elend hörten aufmerksam auf ra-
2. D ER VATER IN J ÜTLAND 17 dikale Heilslehren, die Veränderung im Glaubensleben versprachen. Damit erhoffte man sich auch eine Verbesserung des äußeren Lebens. J.K. Dippel nannte sich auch „Christianus Demokritos“. Der Name war ihm Programm. Die Vielseitigkeit des Mannes, der am 10. August 1673 auf dem Jagdschloss Frankenstein bei Darmstadt geboren wurde, machte ihn auch außerhalb der theologischen Händel zu einer interessanten Figur. Er studierte in Gießen und erwarb 1693 den Magistergrad. Seine radikalen Thesen führten zur Ablehnung einer Lehrstuhlbewerbung sowohl in Gießen wie auch in Straßburg und Wittenberg. Die Begegnung mit Gottfried Arnold führte zur Wende von einem orthodoxen Theologen, einem gemäßigten Pietisten zum radikal-pietistischen Streiter. Daneben übte er sich als Arzt, Alchimist und Chemiker. Bei einem Aufenthalt in Berlin erfand er das „Berliner Blau“. Hier hielt er sich von 1704 bis 1707 auf. Der Aufenthalt wurde jäh unterbrochen, als der „Pietistenfresser“ Johann Friedrich Mayer (1650–1712) aus Greifswald ihn, Philipp Jacob Spener und den Hallischen Pietismus scharf angriff. J.K. Dippels heftige Antwort bezog auch das Pietistenmandat des schwedischen Königs Karl XII. mit ein. Dagegen verwahrte sich am Berliner Hof der schwedische Gesandte. J.K. Dippel wurde inhaftiert, doch durch seine Gönner, die Grafen Wittgenstein und Reventlov, mit einer Kaution wieder auf freien Fuß gesetzt. J.F. Mayer gab keine Ruhe; sogar der König von Preußen wurde eingeschaltet. J.K. Dippel floh verkleidet nach Köstritz, dem Zufluchtsort der Pietisten beim Fürsten Reuß. Von hier ging er nach Holland, um in Amsterdam als Arzt zu praktizieren. In Leyden erwarb er 1711 den Grad eines medizinischen Doktors. Seine theologischen Arbeiten finanzierte er mit dem Geld seiner Patienten. Es ging ihm vor allem um die Willensfreiheit, die er gegen Spinoza und die Anhänger Calvins verteidigte. Er wollte ein neues Grundgefühl des Glaubens in Freiheit. Ab 1714 war J.K. Dippel im dänischen Altona. Er hatte schon vorher den Titel eines dänischen Kanzleirates erhalten. Mit König Friedrich IV. von Dänemark führte er eine Korrespondenz über theo-
18 2. D ER VATER IN J ÜTLAND logische Fragen. Friedrich IV. war vom Hallischen Pietismus eingenommen, interessierte sich aber auch für J.K. Dippels Gedanken. Hier zeigt sich der Einfluss Dippels auf die religiösen Strömungen in Dänemark. Der staatskritischen Haltung entsprach es, dass J.K. Dippel den Statthalter von Altona, den Grafen Reventlov und seine Gemahlin, wegen Bestechlichkeit beim dänischen König anzeigte. Das war umso schlimmer, weil das Ehepaar sich als Gönner gegenüber dem umherreisenden Arzt und Theologen gezeigt hatte und die Schwester des Grafen die dänische Königin Anna Sophie war. J.K. Dippel wurde 1719 wegen Denunziation zu lebenslanger Haft in Hammerhus auf der Insel Bornholm verurteilt. 1726 kam er durch die Fürsprache der Königin wieder frei und wandte sich über die schonische Stadt Kristianstad nach Schweden. In Stockholm wurde er von König Friedrich I. als angesehener Arzt konsultiert. Der Adel wollte ihn gegen den orthodoxen Klerus benutzen, aber J.K. Dippel durchschaute das Spiel. Schließlich wurde er durch seine eigenen theologischen Aussagen aus Schweden ausgewiesen.5 J.K. Dippel ging nach Deutschland zurück und ließ sich in Liebenburg bei Goslar nieder. Er enthielt sich jeder theologischen Erörterung und widmete sich nur seinen chemischen Versuchen. Aber sein Ruf eilte ihm voraus. Nach kurzer Zeit schon wurde er durch die Geistlichkeit im welfischen Lande angegriffen, so dass er sich nach Berleburg zum Grafen Casimir von Sayn-Wittgenstein begab. Außerdem wohnte im Schloss Wittgenstein sein alter Förderer Graf August, mit dem er eine Reihe von Gesprächen führen konnte. Während eines dieser Besuche verstarb er in der Nacht vom 24. zum 25. April 1734 und wurde mit hohen Ehren in der Dorfkirche zu Laasphe beigesetzt. 5 Zum Aufenthalt Dippels in Schweden siehe K. Henning, J.C. Dippels vistelse i Sverige samt Dippelianismen i Stockholm 1727–1741, Uppsala 1881.
2. D ER VATER IN J ÜTLAND 19 Zuvor kam es 1730 zum Gespräch mit Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, der J.K. Dippel gegenüber freundschaftlich gesonnen war. Dippel hielt an der realistischen Erlösungslehre fest, während Graf N.L. von Zinzendorf auf die „satisfactio vicaria“ pochte. Zum Zerwürfnis kam es, als Zinzendorf nachträglich behauptete, er hätte J.K. Dippel bekehrt, wovon keine Rede sein konnte.6 Damit brach J.K. Dippel auch mit der Brüdergemeine und lebte seine eigenen religiösen Vorstellungen bis zu seinem Tode. Seine Lehre hatte verschiedentlich Fuß gefasst. Zusammengenommen bedeutet sie den Kampf gegen jede „scholastische Dogmatik“. Der Mensch soll von Grund auf gewandelt werden. Das geschieht durch die Predigt von Christi Leben und Vorbild und nicht wie bei Zinzendorf durch eine Kreuz- und Bluttheologie. Von der bedeutenden herrnhutischen Niederlassung Christiansfeld kam die Bewegung Zinzendorfs nach Randers und die ländliche Umgebung dieser Stadt in Ostjütland. Von hier aus gab es die Verbindung nach Ringköbing, also in die Nähe der Wohnorte von M.P. Kierkegaards Eltern und Großeltern. Der Schuhmacher Vitus Handrup aus der Umgegend von Randers bewegte die Gemüter durch seine zündenden Gnadenansprachen. Er reiste umher und redete in eigener Verantwortung. Es ging um den Dienst am Heiland. Berichtet wurde von großen Aufläufen, wenn Vitus Handrup auftrat. Man reiste von weit her, um diesen begnadeten Redner zu hören. All das konnte auch die Gemüter von Sädding durcheinanderbringen. Immer noch war ja auch der Einfluss des Dippelianismus vorhanden.7 6 7 Zum Gespräch und den Folgen davon 1730 in Berleburg siehe: Lorenz Bergmann, Grev Zinzendorf II, Kopenhagen 1961, S. 65–71; außerdem: Erich Beyreuther, Zinzendorf und die Christenheit, Marburg 1961, S. 62 f., 98 f. Zum Auftreten von Handrup in Jütland siehe auch die ältere Monographie von O.P. Monrad, Søren Kierkegaard. Sein Leben und seine Werke, Jena 1909, S. 22. Die anderen pietistischen Strömungen in Jütland sind hier eher vage behandelt.
20 2. D ER VATER IN J ÜTLAND Diese Strömungen wurden koordiniert und gefestigt durch das Wirken eines Mannes in der unmittelbaren Nachbarschaft von Sädding. Der dänische pietistische Theologe franckescher Prägung Peder Wedel (1698–1761) kam nach seinem Studium in Halle, Wittenberg und Kopenhagen nach Jütland, kurz nachdem er 1722 sein theologisches Attestatszeugnis erhalten hatte. Schon in seiner Heimat auf dem Pfarrhof Döstrup in Lø Herved hielt er mit seinen Brüdern erbauliche Versammlungen ab. 1722 wurde er zum Pfarrer der Gemeinde Stavning am Ringköbing Fjord berufen. So hielt er sich mit seinem enthusiastischen Wirken in der Nähe der Höfe von Kierkegaards Vorfahren auf. Die Verbindung Stavning – Dejberg – Sädding lässt sich auf der Landkarte gut verfolgen. In seiner eigenen Gemeinde und ihrem Umfeld drängte P. Wedel zur Erweckung. Er ging von Haus zu Haus, um in den Familien erbauliche Versammlungen abzuhalten. Im Sinne A.H. Franckes lehnte er jeden gelehrten Zugang zur Bibel ab. Er forderte das reine Gewissen und die Besserung des Lebens durch echte Buße: Auch der gerechtfertigte Mensch betet weiter, dass ihm die „anklebende Sünde“ – ein Lieblingswort A.H. Franckes – um Christi willen vergeben wird. Die Angriffe durch die orthodoxen Pfarrer blieben nicht aus. Man beschwerte sich auch beim Bischof von Ribe. Die Anfeindungen blieben für die Erweckten ohne Folgen. Später wurde P. Wedel Pfarrer in Hillerød-Herlev (Seeland) und Schlossprediger in Frederiksberg. Sein aus Halle mitgebrachter Pietismus kam der Neigung des Königs entgegen. Die pietistischen Strömungen Jütlands wurden in den kirchlichen Pietismus hineingelagert, der vor allem im Liedgut Hans Adolph Brorsons (1694–1764) weitergetragen wurde. P. Wedels Ruhm hielt in Jütland lange an, da seine Verkündigung praktisch-pädagogisch ausgerichtet war. Darin war er so eifrig, dass er aus eigenen Mitteln einen Schullehrer einstellte. Von seinen Aktivitäten profitierten natürlich auch die Bewohner Säddings. Nach P. Wedel und der Richtung des Hallenser Pietismus verstärkte sich um 1750 herum der Einfluss von Herrnhut. Die Strömung
2. D ER VATER IN J ÜTLAND 21 aus Randers verband sich nun mit der Wanderbewegung des herrnhutischen Pietismus um Ringköbing herum nach dem Limfjord. Es waren vor allem zwei „Emissäre“, die diese Vereinigung durch ihre fromme Hausagitation zustandebrachten. Es waren die „Brüder“ Zeidler und Bloch. Letzterer wirkte im Umfeld von Ringköbing auch mit starken Appellen an die Jugend. Das führte vor allem bei den Konfirmanden zu großen Sündenängsten. Aber auch kleinere Kinder wurden von der heftigen Schilderung des Schmerzensmannes und seinem Opfer für jeden Einzelnen erschreckt. Beide Glaubensmänner gingen in die einzelnen Wohnhäuser. Es ist aber überhaupt nicht erwiesen, dass z.B. Bloch in Sädding bei den Eltern M.P. Kierkegaards eingekehrt war.8 Tatsache ist, dass der Einfluss von Herrnhut in Jütland durch Christiansfeld und durch die Sendboten aus Deutschland groß war. Von dem Auftreten der „Brüder“ wurde das Land um den Ringköbing Fjord stark berührt und beunruhigt. Im kleinen Kotten auf dem „Kirchhof-Gelände“ („Kirkegaard“)9 saß M.P. Kierkegaard mit den acht Geschwistern und den Eltern auf kleinstem Raum zusammen. Man nahm an allem teil, was die Eltern bewegte, so auch an dem Gebetsleben. Von hier aus ist auch die starke Neigung von Sørens Vater zum Herrnhutismus zu verstehen. Im Gegensatz zur offiziellen „Hallenser“ Linie von Christian VI., veranlasst durch seinen Freund und Ratgeber, den Grafen Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode, hatte sich in Nordschleswig und Jütland die Lehre Zinzendorfs durchgesetzt. 8 9 O.P. Monrad sieht den Besuch Blochs als möglich an (O.P. Monrad, a.a.O., S. 24). Zum Einfluss Herrnhuts siehe: Jørgen Lundbye, Herrnhutismen i Danmark, Kopenhagen 1903; Ellen Jensen, Pietismen i Jylland, Kopenhagen 1944; Jens Holdt, Herrnhutismen i Ribe Stift, in: Ribe Bispesäde, 1948, S. 123–168; Hal Koch/Björn Komerup, Danske Kirkes Historie, Bd. V, Kopenhagen 1951, S. 77 f., 101–104, 296–300. Daher die Namensgebung für die Familie durch den Urgroßvater S. Kierkegaards, später mit dem lang gedehnten „i“.
22 2. D ER VATER IN J ÜTLAND Die Großeltern von S. Kierkegaard P.C. Kierkegaard und seine Frau Maren, geb. Andersdatter Steengaard, waren so arm, dass die Kinder oft Hunger litten und anderswo Arbeit und Unterkommen suchen mussten. Dies geschah schon im Kindesalter. So verdingte sich auch M.P. Kierkegaard als Hütejunge. Dabei ging es nicht, wie oft vermutet wird, um das Hüten der wenigen Schafe des väterlichen Hauses mit der abendlichen Heimkehr. Es handelte sich hier nicht um eine Familienidylle im Elend, sondern um die brutale Wirklichkeit in der jütländischen Heide auch des Nachts. Zu bewachen war eine große Schafherde. Übernachtet wurde im Freien oder in einem Schuppen, aus Torf und Heidekraut mühselig erstellt. Man bedenke das unheimliche Dunkel, die Paarung von Verantwortlichkeit und Angst, die Kälte wie den Hunger und das Kindesalter. Da M.P. Kierkegaard mit elf Jahren nach Kopenhagen kam, lässt sich errechnen, wie früh das Kind zuvor die schwere Aufgabe des Hütens zu bewerkstelligen hatte. Der Sohn Søren erwähnte zweimal das Schafehüten seines Vaters, als dieser ein kleiner Junge war. Beide Notizen sind bedeutungsvoll, da sie wichtige Züge von M.P. Kierkegaard offenbaren und das eigene Verhältnis des Sohnes zum Vater. Die erste Stelle stammt von Sørens Jütlandreise im Sommer 1840 vom 17. Juli bis Anfang August. Kurz bevor er nach Sädding kam, schrieb er: „Ich sitze hier ganz allein [ . . . ] und zähle die Stunden, bis ich Säding sehen werde. Ich kann mich niemals an eine Veränderung bei meinem Vater erinnern, und nun werde ich die Stellen sehen, wo er als armer Junge die Schafe hütete, die Stätten, nach denen ich auf Grund seiner Beschreibung Heimweh hatte. Wenn ich nun krank würde und auf dem Friedhof („Kirkegaard“) in Säding begraben würde! Seltsamer Gedanke! Sein letzter Wunsch an mich ist erfüllt, sollte wirklich meine ganze irdische Bestimmung darin aufgehen? In Gottes Namen!“10 10 Pap. III A 73, SKS, Bd. 19, Nr. 24, S. 200, Kommentarbd. 19, 5.266 f.; wegen der Länge nur in deutscher Übersetzung; heute wird „Säding“ mit „dd“ geschrieben.
2. D ER VATER IN J ÜTLAND 23 Dann gibt es noch Reflexionen über die Vaterliebe, die ihm ein Bild von der göttlichen Liebe gab. Die zweite Notiz über das Hungerdasein und die Verzweiflung des Kindes M.P. Kierkegaard ist zu Beginn des Jahres 1846 geschrieben worden. Sie ist ebenfalls sehr persönlich gehalten und wirkt durch die genaue Altersangabe für den alten Kierkegaard authentisch. Der Vorgang wurde später durch Sørens Bruder Peter Christian, dem damaligen Bischof von Aalborg, bestätigt. Die berühmte Notiz wurde und wird in der Forschung als Schlüsselnotiz gewertet, besonders auch hinsichtlich des später noch zu erörternden „Jordrystelse“ („Erdbebens“). Der Eintrag lautet in deutscher Übersetzung: „Das Entsetzliche mit dem Mann, der einmal als kleiner Junge, da er loszog und in der jütländischen Heide die Schafe hütete, viel Böses erlitt und verfroren war, sich auf eine Anhöhe stellte und Gott verfluchte – und der Mann war nicht imstande, das zu vergessen, als er 82 Jahre alt war.“11 Ein tiefes Sündenbewusstsein wird ein solches Geschehen nicht vergessen und damit grüblerisch das eigene Gottesverhältnis ausloten. Zuletzt war M.P. Kierkegaard Hütejunge bei einem Verwandten, dem Schafhändler Michael Graversen Ansbeck im Kirchspiel Lem. Er meinte es gut mit dem Jungen und nahm ihn 1768 auf einer Reise mit nach Kopenhagen. Dieser war, soweit es ersichtlich ist, gerade 12 Jahre alt. Das war die tiefgreifende Wende im Leben eines bisher ganz armen Jungen. 11 Pap. VII 1 A 5, SKS, Bd. 18, S. 278: JJ 416, Tagebücher II, S. 28, auch Anm. 83, S. 254 mit näheren Hinweisen zur Bestätigung durch P.C. Kierkegaard. Dazu: H.P. Barfod, Til Minde om P.C. Kierkegaard, Kopenhagen, 1888, S. 13 f., vgl. Valdemar Ammundsen, Søren Kierkegaards Ungdom, Kopenhagen 1912, S. 4 ff., 11 ff., der sich skeptisch zu den Äußerungen Barfods stellte. Barfod schildert in seinem Erinnerungsbuch, wie P.C. Kierkegaard unter Tränen sagte: „Dies ist die Geschichte meines Vaters und unser aller Geschichte!“ Das geschah 1865, als Barfod, damals Sekretär von P.C. Kierkegaard, die Papiere Sørens ordnete.

3. D ER VATER IN KOPENHAGEN : J UGEND , AUFSTIEG UND E TABLIERUNG ALS G ESCHÄFTSMANN In Kopenhagen kam M.P. Kierkegaard in die Lehre zu seinem Onkel, dem Bruder seiner Mutter, Niels Andersen Seding. Dieser war „Hosekrämmer“, also Wollwarenhändler. Er lebte von 1720–1796, zuletzt in der Wohnung seines Neffen. N.A. Seding hatte die Einbürgerungsurkunde 1750 erhalten und wirkte als Junggeselle in einer Souterrainwohnung in der Östergade. Bei ihm lebte nun der Neffe erst als Lehrjunge, dann als Gehilfe, bis er selbst die Einbürgerung erhielt. Dazu benötigte er einen Freipass, den er am 20. Dezember 1777 von Pfarrer Nicolai Satterup, dem Pfarrer der Gemeinden Bölling und Sädding, erhielt. Dieser war Eigentümer der „Gerechtsame“, des Filialhofes in Sädding, und dadurch autorisiert, einen solchen Pass, also ein Leumundszeugnis, auszustellen. Von Satterup gibt es genaue Angaben zur Geschwisterzahl von M.P. Kierkegaard (vier Brüder und vier Schwestern). Das wurde auch zur Begründung nebst der Armut für den Weggang aus Sädding angegeben.12 Der Onkel nahm M.P. Kierkegaard nicht nur in die Lehre, sondern ließ ihm auch eine gute Schulbildung angedeihen. Letzterer konnte später nicht nur christliche Erbauungsliteratur, sondern auch philosophische Texte lesen. Dabei kamen ihm z.B. die verständlich 12 Vgl. V. Ammundsen, a.a.O., S. 4 ff.; der deutsche Text des Freipasses findet sich bei Hermann Ulrich (Hg.), Søren Kierkegaard, 2. Teil: Die Tagebücher, Berlin 1930, S. 17.
26 3. D ER VATER IN KOPENHAGEN geschriebenen Gedanken des Philosophen Christian Wolff (1679– 1754) entgegen. Am 8. April 1773 wurde M.P. Kierkegaard in der Nikolaikirche von Kopenhagen konfirmiert. Sein Konfirmator war der von Herrnhut beeinflusste Pfarrer H.S. Lemming. Das war von großer Bedeutung für die weitere religiöse Entwicklung des jungen Gesellen. Der Geistliche bestätigte den pietistischen Grundzug des Säddingschen Elternhauses und legte den Samen für die spätere Mitgliedschaft M.P. Kierkegaards in der Brüderunität. Nachfolger an der Nikolaikirche von Pfarrer H.S. Lemming war der gleichfalls herrnhutisch geprägte Peder Saxtorph, der im Nachbarhaus von N.A. Seding wohnte. Zu jenem gab es seitens des Onkels wie des Neffens einen guten Kontakt. P. Saxtorph gehörte zu einer interessanten Pfarrersfamilie. 1752 wurde er cand. theol. Er schloss sich schon in jungen Jahren der Zinzendorfschen Bewegung an und zählte zu den ältesten Mitgliedern der Kopenhagener Brüdersozietät. Nach einer Tätigkeit im Waisenhaus und dem Dienst als Hausgeistlicher beim Grafen J.L. Holstein kam er 1774 an die Nikolaikirche der Hauptstadt. 1795 brannte die Kirche nieder. Er blieb aber Seelsorger der Nikolaigemeinde und verhandelte über den Wiederaufbau bis zu seinem Tode 1803. Bekannt war der Spruch über ihn: „Wenn alle Herrnhuter ihm gleichen würden, dann müßte man wünschen, dass alle Menschen Herrnhuter wären.“13 Von großer Bedeutung waren seine „Passionspredigten“, die 1762 herauskamen und mehrere Auflagen erhielten. Ihnen voraus ging 1761 die Schrift: „De Troendes Skat og Klenodie, som er den foragtede Jesus af Nazareth“ („Der Glaubenden Schatz und Kleinodie, welche der verachtete Christus ist“). Hier zeigt sich die von Zinzendorf angelegte theologische Grundlinie der Betonung vom Leiden und Sterben Jesu Christi. 13 Vgl. Kirkelexikon for Norden, Bd. IV, Kopenhagen 1929, S. 65; Sejer Kühle, a.a.O., S. 10.
3. D ER VATER IN KOPENHAGEN 27 Die späteren Aussagen von Søren bestätigen, dass sein Vater M.P. Kierkegaard die P. Saxtorph-Predigten gekannt haben musste. Zumindest war ihm das Gedankengut des drastisch geschilderten Leidensweges Jesu durch den Nikolaipfarrer bekannt. Die elementare Schilderung der Verspottung und Bespeiung Jesu während seiner Passionsgeschichte kommt besonders in der vom Kierkegaardforscher Villads Christensen hervorgehobenen Passionspredigt zur vierten Woche in den Fasten zum Ausdruck. Dazu heißt es bei P. Saxtorph: „Oh, wie groß ist diese Schmach gewesen. Wie jämmerlich hat hier Jesu gesegnetes Antlitz ausgesehen. Besonders da er mit gefesselten Händen dastand und die Unreinlichkeit nicht abwischen konnte.“14 Für den heranwachsenden M.P. Kierkegaard war die Saxtorph-Orientierung ein wesentlicher Einsatzpunkt gegen den Rationalismus und die Freigeisterei seiner Zeit. Die Linie der Verspottung Jesu läßt sich auch verfolgen über M.P. Kierkegaard hinaus zu den Passionsschilderungen des Sohnes, die ihren Höhepunkt in der „Indøvelse i Christendom“ („Einübung im Christentum“) von 1850 fanden.15 Nach der vollzogenen Einbürgerung erfolgte 1780 die königliche Anerkennung von M.P. Kierkegaard als „Hosekrämmer“, d.h. als Strumpf- bzw. Wollwarenhändler. Auf den Straßen von Kopenhagen nach Hilleröd und Helsingör durfte mit Wollwaren aller Art gehandelt werden. Es ging hier also nicht um das Herumtragen eines Bauchladens. Das Geschäft hatte – noch dazu für die damalige Zeit – größere Ausmaße. Im Handel war M.P. Kierkegaard so tüchtig, dass er bald zu Wohlstand kam. Zusammen mit dem Hosier Mads Nielsen Royen kaufte er auf der Köbmagergade Nr. 31 14 15 Zitat nach Villads Christensen, Søren Kierkegaard. Det Centrale i hans Livssyn, Kopenhagen 1963, S. 15; vgl. S. Kühle, a.a.O., S. 10, W. von Kloeden, Kierkegaard as a Person, a.a.O., S. 21. Dazu W. von Kloeden, Theological Concepts in Kierkegaard: Die Leidensgeschichte Christi, Bibliotheca Kierkegaardiana, Bd. 5, hg. von N./M.M. Thulstrup, Kopenhagen 1980, S. 71–75.
28 3. D ER VATER IN KOPENHAGEN ein Haus. Er selbst wohnte im Souterrain des Hauses Köbmagergade Nr. 43. Dieses diente ihm auch als Handelsstützpunkt. Auch daran sieht man, dass er weiterhin bescheiden auftrat. Seinen Onkel, der ihn so freundlich als Lehrling aufgenommen hatte und der ihm nun sein Geschäft übergeben hatte, nahm er bei sich auf. Michael Peder Kierkegaard, Quelle: Scan from Bakkehus og Solbjerg, vol. 3 Als Lehrherr wurde M.P. Kierkegaard von seinem ehemaligen Lehrling und Vetter wegen seiner Pünktlichkeit bestaunt. Diesem Michael Andersen Kierkegaard (1776–1867) verdanken wir auch andere Einblicke in das Verhalten von M.P. Kierkegaard. Sein „akkurates“ Auftreten in der Öffentlichkeit, sein streng gerechtes, aber forderndes Handeln gegenüber dem Dienstpersonal wurden hervorgehoben. Die Sorgfalt, die er an seine schlichte Kleidung legte, ist dar-
3. D ER VATER IN KOPENHAGEN 29 aus zu ersehen, dass der Lehrling, bzw. der Geselle beim Schuhputzen kein Sandkörnchen übersehen durfte. Dieses penible Verhalten hat er auch später als Privatmann und Familienvater durchgehalten.16 Die Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit wurde auch vom Sohn Søren bestätigt. In einem Gespräch mit Magister P. Adler, gegen den er im Jahre 1846 nachhaltig polemisierte, soll er betont haben: Der Vater wäre „födt“ („geboren“) zum Jermin“ („Termin“).17 Da M.P. Kierkegaard zusammen mit anderen Wollwarenhändlern einen schwunghaften Handel auch mit inländischen Artikeln, mit handgewebten Hauben und Waren vielfältiger Art betrieb, wurden die Konkurrenten, die Seiden- und Kleiderhändler der Hauptstadt, unwillig. Sie klagten M.P. Kierkegaard und die anderen Händler an, unerlaubte Geschäfte zu tätigen. Der „Oldermand“, also „Zunftmeister“, ließ eine Razzia in den Geschäften bzw. Lagerräumen der Wollwarenhändler durchführen. Hier fand man u.a. französisches Leinen. Es wurde eine Bußzahlung auferlegt. Die Wollwarenhändler, vor allem M.P. Kierkegaard, gaben aber nicht auf. Sie wandten sich an die zuständigen Ämter und klagten gegen die Seidenhändler mit der Begründung: Mit was soll denn gehandelt werden? Wo ist die Grenzziehung? Die königliche Kanzlei gab schließlich per Erlass vom 30. Juli 1787 die Erlaubnis, mit allen inländischen Leinen- und Wollwaren zu handeln.18 Hier zeigt sich übrigens ein weiterer Charakterzug des alten M.P. Kierkegaard, nämlich die Zähigkeit in der Verfolgung eines Zieles. In der Streitsache gab es aber immer noch keine Ruhe. Die Angelegenheit kam vor das Reichsgericht. Das Anliegen, einen umfas16 17 18 Vgl. Brev af 7.11.1869 fra Fr. Meiden til H.P. Barfod; dazu S. Kühle, a.a.O., S. 19 und auch H. Lund, Erindringer fra Hjemmet, Kopenhagen 1909, S. 21 f. Von dieser Enkelin M.P. Kierkegaards stammen wichtige Einblicke. Vgl. Hans Bröchner, Erindringer om Søren Kierkegaard (Det nittende Aarhundrede), Kopenhagen 1877, S. 342. Höjesterets protokol for aar 1788, wo die Erlaubnis bestätigt und erweitert wird. Vgl. dazu S. Kühle, a.a.O., S. 10.
30 3. D ER VATER IN KOPENHAGEN senden Handel zu treiben, wurde dort von den Kaufleuten Andreas Tvermoes, Heinrich Hansen Lund und M.P. Kierkegaard vertreten. In der Zwischenzeit hatte M.P. Kierkegaard schon die Erlaubnis bekommen, mit chinesischen und westindischen Waren aller Art zu handeln. Das wurde nun im Prozess vor dem Reichsgericht 1788 bestätigt.19 Die Gegenpartei der Kleiderhändler musste sich geschlagen geben. M.P. Kierkegaard hatte damit alle Vorteile bei sich. Er begann nun schwungvoll seinen Handel mit Seidenwaren und Baumwolle. Dadurch wurde er noch wohlhabender. Der Onkel des alten M.P. Kierkegaard N.A. Seding hatte ihn 1788 zum Universalerben eingesetzt. Als dieser 1796 verstarb, kam das Erbe dazu, und M.P. Kierkegaard konnte sich durch gute Kapitalanlagen und Häuserkauf vollends absichern. Der große Stadtbrand von 1795 konnte ihm nichts anhaben, während eine Reihe gut situierter Familien ruiniert wurde. Bei dieser Wohlhabenheit vergaß M.P. Kierkegaard nicht seine Verwandten im fernen Jütland. Er ließ für seine armen Eltern und Geschwister ein Haus in Sädding bauen. Bei Anders Nörregaards Hauge lag ein Stück unbebautes Land, das M.P. Kierkegaard von Christen Madsen Gade aus Sädding kaufte. Wie S. Kühle hervorhebt, wurde obiges Haus aus rotem Backstein errichtet, was für diese Gegend völlig neu war.20 M.P. Kierkegaards Vater starb hier 1799, der Bruder Peder wohnte hier bis zu seinem Tode 1810. Die Mutter verstarb in dem Haus 1813. Die Schwester Karen lebte hier bis zu ihrem Tode 1831, die andere Schwester Sidsel Marie verbrachte ihre alten Tage in diesem Haus, bis auch sie 1834 verstarb. M.P. Kierkegaard ging aber noch über diese fürsorgliche Maßnahme hinaus. Ja, er zeigte Weitblick und soziale Verantwortung. Er, der sich immer weitergebildet hatte, wollte in seinem Heimatort ein Zeichen setzen. Das 1796 errichtete Haus sollte nach dem Tode 19 20 Ebd. S. Kühle, a.a.O., S. 11.
3. D ER VATER IN KOPENHAGEN 31 des bzw. der letzten Verwandten dort als Schulgebäude dienen. Mit königlicher Bestätigung wurde ein Legat von 3.000 Reichstalern in königlichen Obligationen eingerichtet, das dazu bestimmt war, eine Lehrkraft zu besolden und Schulbücher anzuschaffen. Das Legat sollte zur Erinnerung an seinen Onkel den Namen „Niels Seding“ tragen, und eine dementsprechende Tafel sollte in der Dorfkirche angebracht werden. Die Oberaufsicht über die Geldverwendung sollten der Bischof wie der Amtspropst übernehmen. Tatsächlich wurde diese Tafel am 9. Juni 1822 in der Kirche von Sädding aufgehängt.21 Neben der erwähnten Fürsorge und dem sozialen Engagement ist es das Heimweh, das M.P. Kierkegaard dazu bewegte, einen Stützpunkt in Sädding zu schaffen.22 Das Ansehen des alten M.P. Kierkegaard als Geschäftsmann in Kopenhagen wuchs. Er wurde auch als rechtschaffener Kaufmann an der internationalen Börse bekannt. Seine Kenntnisse erwarb er vor allem durch persönliche Erkundigungen. Er ging regelmäßig zum Hafen und informierte sich bei den Kapitänen der einlaufenden Schiffe nach den Bedingungen des Handels im Ausland. Dadurch hatte er ein wichtiges Vorauswissen. Dass er dazu in die Hafenkneipen ging, um Erkundigungen einzuziehen, ist nicht erwiesen. Tatsache aber sind die Gespräche in der Weinstube „Glarmestrenes Kjälder“ auf der großen Kjöbmagergade mit seinem Geschäftsnachfolger und Neffen von Mads Nielsen Röyen. Hier ging es auch um den Austausch von Geschäftsnachrichten.23 1794 ging M.P. Kierkegaard die Ehe mit Kirstine Nielsdatter Röyen ein. Sie war die Schwester von M.N. Röyen und war 1757 in Öster Högild in Rind Sogn (Gemeinde Rind) geboren. Zuvor hatte sie als Hausgehilfin beim alten Seding gedient und brachte 568 21 22 23 Vgl. dazu SKS. K. 19, S. 270, Nr. 202. Vgl. dazu S. Kühle, a.a.O., S. 11. Der Nachweis über die Weinstubengespräche stammt von Camillo Bruun, Gjennem hundrede Aar, Kopenhagen 1879, S. 69, vgl. dazu K. Bruun Andersen, Søren Kierkegaards store Jordrystelser, Kopenhagen 1953, S. 45.
32 3. D ER VATER IN KOPENHAGEN Die Hafenstraße in Kopenhagen, Foto: Lucian Freudenberg Reichstaler mit in die Ehe, was damals eine beträchtliche Summe war. Schon am 23. März 1796 starb sie an einer Lungenentzündung. Die Ehe blieb kinderlos. Zweifellos war es für den rüstigen Ehemann ein schwerer Schlag. Der Tod dieser ersten Frau trug sicher dazu bei, dass M.P. Kierkegaard sein Geschäft aufgab. Noch bevor er die zweite Ehe mit Ane Sørensdatter Lund einging, die 1768 geboren worden war, übergab er das Geschäft an seinen Vetter M.A. Kierkegaard und an C. Agerskov (1783–1855). Es begann nun ein neuer Lebensabschnitt, die Gründung eines Familienheims, in das nun auch der jüngste Sohn Søren mit all den kommenden Problemen hineinwuchs.
4. DAS H EIM (I) Mit der Heirat von Ane bzw. Anne Sørensdatter Lund wurde nun ein ordentlicher Familienstand gegründet. Äußerlich war alles abgesichert. Der Wohlstand gab einen glanzvollen Rahmen ab. Aber der Schein trog. Todesfälle und Krankheiten führten oft genug zu einer traurigen Stimmung. Die überkam dann auch den jüngsten Sohn Søren. Die nunmehrige Haltung des Vaters, sein religiöses Ringen, das aufkommende Wissen vom Hang zur Schwermut belasteten den Sohn. Dies wird sich in den Schriften des genialen Jüngsten niederschlagen. Ane Sørensdatter Lund wurde 1768 als Tochter des Häuslers Søren Jensen (1725–1798) aus Lund bzw. Brandlund in der Gemeinde Brand geboren. Ihre Familie stammte also auch aus der jütländischen Heide. Anes Großvater war wahrscheinlich Jens Christensen (ca. 1701–1775). Der Name „Lund“ hängt, wie S. Kühle nachgewiesen hat, mit dem Ortsnamen „Brandlund“ zusammen, weniger mit dem gebräuchlichen Familiennamen „Lund“.24 Ane Sørensdatter Lund war 30 Jahre alt und zehn Jahre jünger als Kirstine Kierkegaard, als sie Dienstmagd und Köchin im Hause Kierkegaard wurde. Sie war verwandt mit dem alten Niels Seding. Als sie voller Erwartungen nach Kopenhagen kam, diente sie zuerst bei ihrem Bruder Lars Sørensen, der eine königlich konzessierte Schnapsbrennerei betrieb und zu Wohlstand gekommen war. Ane galt als fleißig, ehrlich und heiter. Sie brachte in das Haus von M.P. Kierkegaard mitten in die Atmosphäre der kränkelnden Ehefrau und des traurig-grüblerischen Ehemannes ein bisschen Sonnenschein. Dem Geschäftsmann M.P. Kierkegaard garantierte sie eine 24 S. Kühle, a.a.O., S. 13.
34 4. DAS H EIM (I) ordentliche Haushaltsführung, wenn er unterwegs war – dies besonders auch nach dem Tode von Kirstine. Anes Ausstrahlung blieb nicht ohne Folgen. M.P. Kierkegaard ließ sich mit ihr ein, was ihn bei seinem sensiblen Charakter und seiner streng christlichen Auffassung in reuevolle Stunden fallen ließ. Als Ane im 4. Monat schwanger war, heiratete M.P. Kierkegaard sie am 26. April 1797. Die älteste Tochter Maren Kirstine wurde am 7. September 1797, also fünf Monate nach der Eheschließung, geboren. Wieweit diese Heirat mit zum späteren Schuldbekenntnis des Vaters gegenüber den Söhnen Peter und Søren zum sogenannten Erdbeben führte, kann nicht eindeutig festgestellt werden. Die Basis zu dieser Vermutung steht in einer Notiz Søren Kierkegaards von 1838, die reichlich ausgewertet wurde und auch in Verbindung mit der Gottverfluchung, wie sie oben beschrieben wurde, in Beziehung gesetzt worden war.25 Folgendes darf nicht vergessen werden: Neben der Person mit den Skrupeln über das voreheliche Verhältnis gab es den nüchtern kalkulierenden Geschäftsmann M.P. Kierkegaard. Die Geschäftsübergabe am 13. Februar 1797 hatte dieser mit äußerstem Geschick vollzogen. Als Nachfolger wurden zwei Männer eingesetzt, die Verwandte bzw. angeheiratete Verwandte waren. Diese Übergabe war sorgfältig vorbereitet worden und kann nicht nur mit dem Wissen von der Schwangerschaft der künftigen zweiten Frau begründet werden. Denn M.P. Kierkegaard hatte vorgehabt, seinen Bruder Peder Pedersen Kierkegaard mit in das Geschäft zu nehmen, um ihn als möglichen Nachfolger einzuarbeiten. Er musste sich also schon zu diesem Zeitpunkt überlegt haben, das Geschäft abzugeben. Aus dem Plan mit seinem Bruder wurde nichts, da dieser schon vorher erkrankte, ins Hospital kam und später als geisteskrank entlassen wurde. Er 25 Vgl. Pap. II A 805, W. von Kloeden, Kierkegaard as a person, a.a.O., S. 117, wo auch weitere Forschungsergebnisse aufgezeichnet sind, dazu Gesamtliteratur im selben Werk, S. 24 f. – Auf die Erdbebenproblematik wird auch noch später hingewiesen.
4. DAS H EIM (I) 35 kehrte nach Jütland zurück. Sein Neffe Søren berichtete später über das skurrile Verhalten dieses Onkels.26 Die Geschäftsübergabe des Vierzigjährigen erregte in seiner Umgebung manches Kopfschütteln. In einem solchen Alter den Handel aufzugeben, passte nicht in das Bild des damaligen Kaufmannes. Es gab nun auch die Möglichkeit, nicht nur mit ostindischen Seiden- und Kleiderwaren zu handeln, sondern gerade zum Zeitpunkt der Aufgabe die Chance, der oben erwähnten Kaufmannsgruppe der Seiden- und Kleiderhändler beitreten zu können. 1801 erreichten das seine Nachfolger im Geschäft wie auch die Geschäftsfreunde Henrich, Ole und Jens Lund, dazu N. Aabye, dessen Name später S. Kierkegaard als Beinamen erhielt, und schließlich auch A.A. Kierkegaard. Der Philosoph und spätere Förderer von S. Kierkegaard F.C. Sibbern drückte sich 1863 rückblickend über M.P. Kierkegaards Geschäftsaufgabe dahingehend aus, dass dieser aus einer Art Hypochondrie gehandelt hätte.27 Glaubwürdiger ist die Aussage von S. Kierkegaard, der in einer Notiz auf den glücklichen Umstand eines nun sorgenfreien Lebens für den Vater hinwies. Dabei werden die großen Schwierigkeiten im Leben davor nicht verschwiegen.28 Tatsächlich hatte er ein großes Kapital an königlichen Obligationen, an Hausbesitz mit bedeutenden Mieteinnahmen wie an anderen Geldanlagen erworben. Außerdem blieb das Spekulieren an der Börse. Dazu kam aber die verantwortliche Fürsorge, die er einer eventuell zu gründenden Familie zukommen lassen musste. Ein entscheidender Punkt war auch die gewonnene Zeit zum Studium wissenschaftlicher und erbaulicher Werke wie die Möglichkeit, sein Wissen in ehrenamtliche Arbeit einzubringen. 26 27 28 Pap. X 3 A, S. 181; dazu S. Kühle, a.a.O., S. 14. Nachweis bei S. Kühle, a.a.O., S. 15. Pap. VIII 1 A 660, S. 313, SKS, Bd. 20, S. 343 ff.: NB IV 117; vgl. S. Kühle, a.a.O., S. 15.
36 4. DAS H EIM (I) Eine unschöne Angelegenheit bildete der geplante Ehevertrag mit der zweiten Frau. Dieser ist allein aus der schnellen Heirat heraus nicht zu erklären. Die demütigenden Passagen für die Ehefrau und das von ihr stammende Kind wie für eventuelle weitere Nachkommen waren eines reichen Mannes wie M.P. Kierkegaard unwürdig. Schon Tage vor der Eheschließung erschien dieser bei dem Prokurator Andreas Hyllstedt mit dem Plan eines Ehevertrages, um diesen bei der königlichen Administration vorlegen und bestätigen zu lassen. Der Vertrag selbst sieht Folgendes vor: Die neue Ehefrau soll nicht die vollen Rechte einer Ehegattin haben. Es wird ein getrenntes Wohnen gefordert, was für die damalige Zeit als ungewöhnlich galt. Beim Tode des Ehemannes soll die Witwe alles Mobiliar und 200 Reichstaler jährlich haben. Sollten Kinder vorhanden sein, dann sollen zum mütterlichen Erbe 2.000 Reichstaler zugeschlagen werden. Sollte zu Lebzeiten beider Ehegatten kein Verstehen miteinander mehr möglich sein, sollte bei der Trennung die Ehefrau die Kleidung und ihre Stoffe (Kleidertruhe) mitnehmen können. Sie bekäme dann eine Abfindung von 300 Reichstalern zur Möbelanschaffung und 100 Reichstaler Jahresunterhalt, solange sie lebt. Die Kinder sollen, wenn sie drei Jahre alt geworden sind, beim Vater bleiben. Unterschrieben wurde der geplante Ehepakt außer von den beiden Brautleuten von den Zeugen: Wittus Bering, Kompagniechirurg, Jens Jörgensen, Wollwarenhändler auf der Bräutigamseite, von den Zeugen auf Seiten der kommenden Ehefrau deren Bruder Lars Sørensen Lund und J. Henrik Hagen, Kupferschmied. Die zuständige, königliche Behörde empfand den vorgelegten Ehevertrag als misslich – und zwar aus folgenden Gründen: M.P. Kierkegaard war ein wohlhabender Mann, was noch dadurch unterstrichen wurde, dass er es sich leisten konnte, früh sein Geschäft aufzugeben und als Privatier zu leben. Die Knauserei gegenüber der neuen Ehefrau sei daher nicht einsehbar. Der Ehevertrag setzte außerdem voraus, dass seine Ehe geschieden werden bzw. es zu einer
4. DAS H EIM (I) 37 Trennung kommen könnte. Das bedeute einen schlechten und ungewöhnlichen Einstieg in ein gemeinsames Leben. Schließlich würden mögliche Kinder in der Versorgung schlecht gestellt, wenn man die Gesamtheit des Vermögens dagegenhalte. Es folgte dann aber die Genehmigung am 21. April 1797, wobei man besonders die geschaffenen Tatsachen der geplanten, notwendigen Eheschließung berücksichtigte und das Erbproblem bei den Kindern erst einmal auf sich beruhen ließ.29 Am 26. April 1797 wurde die Ehe geschlossen. Am 20. September 1802 machte M.P. Kierkegaard sein Testament und veränderte darin die für die Ehefrau und die Kinder ungünstigen Passagen entscheidend. Zwar blieb das Problem einer möglichen Trennung bestehen, aber jetzt wurde die jährliche Summe auf 200 Reichstaler verdoppelt. Völlig neu und sehr verbessert war die Verfügung im Falle seines Todes. So sollten die Witwe ein Drittel des Vermögens, die Kinder zwei Drittel erhalten. Von der Gesamtsumme ging das oben erwähnte Legat „Zum Gedächtnis von Niels Andreas Seding“ ab. Ane Sørensdatter Kierkegaard, geb. Lund, wurde durch das Testament nun endlich in den Rang einer würdigen Ehefrau und Mutter erhoben. Durch ihre sorgfältige Pflege und Erziehung der Kinder hatte sie ihren misstrauischen Mann überzeugt. Die geistige Erziehung behielt sich natürlich M.P. Kierkegaard vor. Die erste Tochter Maren Kirstine wurde 1797 noch im Haus in der Frederiksberggade, verlängerte Köbmagergade geboren. Wegen der zu engen Räumlichkeiten zog man in die schon bekannte Östergade um. Hier wurden 1799 Nicoline Christine und 1801 Petrea Severine geboren. Letztere wurde später die Lieblingsschwester von Søren. Sie trug auch den gleichen Vornamen wie er. „Søren“ ist die Kurzform von „Severin“. 29 Zu dem ganzen Problem des Ehepaktes siehe Själlandske aabne breve 1797, 21.4. und indläg 407. Supplikprotokol 8 N, Nr. 2732 und 3444, Magistratens resolutionsprotokol 1797, 17.3. und kopibog 1797 (A 151), Nr. 478; dazu S. Kühle, a.a.O., S. 13 und 201.
38 4. DAS H EIM (I) Auf Empfehlung von und zusammen mit Mads Röyen suchte M.P. Kierkegaard ein neues Domizil der ländlichen Ruhe. Es begannen ruhige Zeiten auf dem Lande für die Familie. Militärisch wurde Kopenhagen durch die Briten bedroht, wie es bereits oben geschildert worden ist. Auch M. Röyen hatte sein Geschäft 1796 an A.A. Kierkegaard und N.S. Aaby übertragen. M.P. Kierkegaard und M. Röyen fanden nun in Hilleröd zwei schöne Grundstücke, nämlich den „Slotskro“ („Schlosskrug“) und den Hof „Petersborg“. Letzteren wollte M. Röyen bewohnen. So zog dann M.P. Kierkegaard in den „Slotskro“. In der Nähe befand sich das königliche Schloss Frederiksborg und nördlich gab es den auch später von S. Kierkegaard so geliebten Gribskov, einen wunderbaren Laubwald. Man war dreißig Kilometer von Kopenhagen entfernt in guter Landluft und doch nicht zu weit vom geschäftigen Leben der Hauptstadt. In Hillerød kam 1805 der erste Sohn des Elternpaares Kierkegaard Peter Christian, der spätere Bischof, zur Welt. Im Herbst 1805 zog die Familie Kierkegaard wieder nach Kopenhagen, und zwar in ihre alte Gegend. Sie wohnten in der Østergade. Dort wurde 1807 der Sohn Søren Michael geboren. Der Umzug nach Kopenhagen geschah zu einem politisch und materiell gesehen ungünstigen Zeitpunkt. Die zum Eingang beschriebene Bedrohung durch die Engländer, verursacht durch das Bündnis Dänemarks mit Napoleon I., erreichte ihren weiteren Höhepunkt durch die Bombardierung des belagerten Kopenhagen vom 2. September 1807 an. Diese dauerte vier Tage. Die Nacht vom 4. zum 5. September war die furchtbarste: 1.600 Kopenhagener verloren ihr Leben. Die Engländer probierten eine neue Waffe aus, nämlich einen explodierenden Brandsatz mit Haken. Die zum Teil leichte Holzbauweise der Häuser ließ das Feuer sich rasch ausbreiten. Auch festere Bauten wie die Hauptkirche „Vor Fruen“ wurden zerstört.30 Glück hatte M.P. 30 Zum Bombardement durch die Briten vgl. John Danstrup/Hal Koch (Hg.), Danmarks Historie, Bd. 10 von Jens Vibäk, Kopenhagen 1971, S. 280–291. Romanhaft, aber quellenmäßig sorgfältig belegt wird die Belagerung durch die
4. DAS H EIM (I) 39 Kierkegaard. Sein Haus blieb erhalten, ebenfalls das Geschäft in der Köbmagergade. Durch die Kontinentalsperre kamen ja keine Waren mehr aus Westindien und anderen Teilen der Erde. Die Lebensmittel wurden knapp. Die Teuerung wuchs. Als Demütigung wurde auch das vor Kopenhagen an Land gegangene englische Expeditionschor empfunden. 1808 erfolgte ein Aufruf zur Sammlung von Geldern für den Aufbau einer neuen Flotte. Hier erwies sich nun M.P. Kierkegaard als echter Patriot. Zusammen mit M.N. Røyen, A.A. Kierkegaard, M.A. Kierkegaard, N.S. Aaby und C. Agerskov ließ er auf eigene Rechnung eine Kanonenschalupe bauen.31 Das Haus in der Østergade wurde nach der Geburt des Sohnes Niels Andreas im Jahre 1809 zu klein. Die Familie zählte nun acht Personen. Dazu kam das Dienstpersonal. M.P. Kierkegaard kaufte zur Verblüffung der Verwandten und Geschäftsfreunde noch im selben Jahr ein stattliches Haus mit drei Stockwerken in bevorzugter Lage. Es stand im Zentrum geschäftigen Treibens. Die neue Adresse ab Herbst 1809 lautete: Nytorv 2. Nytorv 1 war das neue Rathaus und Stadtgericht, das mit dem nachempfundenen griechischen Giebel wie Säulen herausragte und dem ganzen Platz ein lichtes und würdiges Aussehen gab. Die wiedererstehende Stadt Kopenhagen wurde neoklassizistisch nach den Plänen der Architekten Jørgen Henrich Rawert und Christian Frederik Hansen aufgebaut. Alles atmete Weite, vor allem dadurch, dass der „Gammeltorv“ mit dem „Nytorv“ zusammengelegt wurde. Nytorv 2 wurde das Heim Søren Kierkegaards, des jüngsten Sohnes. Søren Kierkegaard wurde am 5. Mai 1813 in dem großen Haus Nytorv 2 geboren. Das Jahr 1813 bildete zugleich den Tiefpunkt der Talfahrt des Reichstalers. Es war das Jahr des Staatsbankrotts. 31 Briten von Alfred Otto Schwede geschildert in: Die Kierkegaards, Berlin 1988, S. 129–136. Vgl. H. Degenkolv, Den danske Flaades Skibe, 1906, S. 186; dazu W. von Kloeden, Kierkegaard as a person, a.a.O., S. 18.
40 4. DAS H EIM (I) Nytorv, Foto: Lucian Freudenberg Gedruckt wurde nur noch wertloses Papiergeld. Die napoleonischen Kriege belasteten auf Dauer Regierung und Bürger. Das Staatssäckel war leer. Die Niederlage Napoleons I. vor Moskau tat ein Übriges. Mit ihr verloren auch eine Reihe dänischer Soldaten, die in den Krieg mitziehen mussten, ihr Leben. M.P. Kierkegaard hatte schon vor 1813 die Lage auf dem Geldmarkt richtig eingeschätzt. Er besaß die große Immobilie, und der übrige Wert der „Goldtonne“ (100.000 Reichstaler) – eine riesige Summe – war zum größten Teil in „Königlichen Obligationen“ angelegt. Diese behielten ihren Wert. M.P. Kierkegaard ging aus der Krise wohlbehalten und noch reicher hervor. Hier spielte nun eine Transaktion hinein, die kaufmännisch raffiniert eingefädelt war, aber große Folgen für das Seelenleben des alternden Geschäftsmannes gehabt haben musste. Gerade darum muss die damalige Handlungsweise des alten M.P. Kierkegaard näher beleuchtet werden. Der Schuldkomplex, der sich damit zusätzlich ge-
4. DAS H EIM (I) 41 bildet und das Unrechtsbewusstsein vertieft hatte, beeinflusste die christliche Erziehung des Sohnes Søren. Dieser sollte daher besonders sorgfältig im Sinne eines frommen Christen erzogen werden. Der Vater wollte damit auch seine eigene Schuld abtragen. Das grüblerische Fragen nach Gottes Gerechtigkeit kam bei M.P. Kierkegaard noch schärfer zum Ausdruck. Bei der Transaktionsgeschichte ging es um ein Finanzierungsvorhaben, das bereits um 1807 herum in den alten Herzogtümern eingefädelt worden war. Die Kontrahenten waren die Bankiers Bartels in Schleswig und Gromvold in Itzehoe. M.P. Kierkegaard hatte einen hervorragenden Leumund in der internationalen Finanzwelt. An den europäischen Banken war er bekannt und galt als Finanzfürst im edelsten Sinne. Daher vertraute man ihm. Wiederum begnügte sich M.P. Kierkegaard nicht mit den Börsenberichten der Zeitungen, sondern erkundigte sich, wie oben berichtet, am Hafen nach der wirtschaftlichen Lage. Daher hatte er, verbunden mit dem sicheren Gespür in Geldangelegenheiten, einen Vorsprung, den er nutzte. Die Krise 1807 noch vor dem Bombardement kündigte ihm einen möglichen Verlust der Wertpapiere an. Er suchte eine sichere Anlage in echtem Silbergeld. M.P. Kierkegaard lieh sich also eine große Summe des Silbergeldes zu hohen Zinsen. Die beiden Bankiers trauten ihm voll. Als Partner war den beiden der dänische Geldmann absolut seriös. Außerdem verließ man sich in Schleswig-Holstein darauf, dass die Krise im dänischen „Mutterland“ sich nicht auf die Herzogtümer ausbreiten würde. Das war ein Irrtum. Die deutschen Gebiete wurden in den Strudel der Geldentwertung mit hineingerissen. Die Altonaer Speziesbank wurde von der dänischen Regierung geschlossen. Die Grund- und Geldwerte der deutschen Herzogtümer sollten helfen, den dänischen Staat zu sanieren. Es wurde eine sechsprozentige Grundsteuer auf den Grundbesitz erhoben. Wer diese nicht hatte, stand ganz arm da; denn inzwischen waren die Papiere wertlos geworden. Mit solchen wertlosen Papieren zahlte nun M.P. Kierkegaard seine Schulden für die Silberbeträge an die beiden Bankiers zurück
42 4. DAS H EIM (I) und trieb sie in den Bankrott. Das war eine wissentlich unmoralische Handlung.32 Das alles vollzog sich in sechs Jahren bis 1813, dem Jahr der wirtschaftlichen Katastrophe. Gromvold erschoss sich, Bartels wanderte nach Südamerika aus. Zweifellos waren die herbeigeführten Folgen der Bankiersschicksale für M.P. Kierkegaards inneren Zustand verheerend. Es ist eine Sache, einen Menschen durch Klugheit und Raffinesse zu überlisten. Es ist eine zweite und ganz andere, einen Menschen ins Elend mit schrecklichen Folgen zu stürzen. Hier liegt zweifellos eine andere Dimension der Schuld vor als bei der kindlichen Verfluchung Gottes in der Heide. Auch die vorehelichen Beziehungen M.P. Kierkegaards zu seinem damaligen Dienstmädchen wie sexuelle Verfehlungen reichen nicht an das heran, was mit der hinterhältigen Transaktion verursacht wurde. Die Geschäftswelt ist hart. Bei einem solchen Ehrenmann wie dem alten M.P. Kierkegaard hätte man aber eine gewisse Offenheit erwartet. Die Chance, Schulden mit wertlosem Geld oder wertlosen Papieren zu begleichen, ist natürlich ein oft genutztes Mittel. Zu denken ist an die deutsche Inflationszeit, in der Schuldscheine mit abgewerteten Geldnoten beglichen wurden – dies auf dem Hintergrund der Dollarwährung. Dass der furchtbare Ausgang nach der Transaktion so von M.P. Kierkegaard nicht erwartet worden war, liegt auf der Hand und würde zu seinen Gunsten sprechen. Für sich selbst akzeptierte er bei seinem grüblerisch-frommen Seelenleben später eine solche Rechtfertigung nicht. Als vor ihm fünf Kinder und die Ehefrau starben, er sich einbildete, die ganze Familie zu überleben, verband er das mit einer Strafe, die von Gott käme. Der Segen des Alters wandelte sich zum Fluch. Das begünstigte die Anlage zur Schwermut. Wenn auch die Selbstzeugnisse des Sohnes 32 Aufgeführt ist diese Handlungsweise mit den tragischen Folgen bei Niels Møgelvang, Min sidste Prädikestol, Kopenhagen 1981, S. 22 ff. Die Problematik ist vorher nie deutlich gesehen worden. Allerdings ist sie vorher romanhaft beschrieben worden von Edmund Hoelme, Deutsche, Dänen und Kierkegaard, Hamburg 1948, S. 25 ff.
4. DAS H EIM (I) 43 Søren über den Vater, wie schon oben betont, natürlich subjektiv waren, so können wir aus jenen die Belastung erkennen, die den Sohn voll trafen. Mit Stützung auf die mit Goldschnitt versehenen Notizbögen, die von den Herausgebern der „Papirer“ auf das Jahr 1838 datiert wurden und sechs Aufzeichnungen enthalten, darunter die vom „store Jordrystelse“ („großes Erdbeben“) mit der „frygtelige Omvaeltning“ („fürchterliche Umwälzung“), kann ermessen werden, was die Schuldbekenntnisse M.P. Kierkegaards für die Familie bedeutet haben.33 Ob die Bankiersgeschichte, verbunden mit der Gottverfluchung und möglichen sexuellen Verfehlungen, wirklich Inhalt der Erdbebenoffenbarung war, lässt sich nicht mehr feststellen. Spekulationen helfen nicht. Die „fürchterliche Umwälzung“ kann sich auch auf S. Kierkegaards eigenes Innenleben beziehen. Eingebunden ist aber hierbei das Geschick des Vaters und der Familie: Die hervorragenden Geistesgaben trugen dazu bei, dass sich die Familienmitglieder gegenseitig aufrieben. Beschworen wird das Unglück des Vaters. Das sind nun die Gegebenheiten im Hause Nytorv 2, die das Kind Søren begleiteten. Trotz der Anfechtungen oder gerade deswegen legte M.P. Kierkegaard großen Wert auf die christliche Erziehung seiner Kinder. Dabei traf er auf hervorragende Seelsorger. Da die Frauenkirche durch die 33 Vgl. Pap. II A 802–807 mit Betonung von Pap. II A 805 unter Zuhilfenahme von Pap. II A 18–20, SKS K 17, BB 42–42 f., Pap. VI A 105, Pap. IX A 71 und die allerdings fiktiven Einschubstücke in den „Stadien auf dem Lebensweg“, besonders „Die stille Verzweiflung“ und „Salomos Traum“, SV 8, 22 f., 71–79, SKS, Bd. 6, S. 187 f., 234 f.; Aufstellung und weitere Nachweise: W. von Kloeden, Kierkegaard as a Person, a.a.O., S. 16 f. Wegen der erst 1839 erschienenen, von S. Kierkegaard benutzten Ortlepp-Übersetzung von Shakespeares „König Lear“ sind die oben behandelten Goldschnittdokumente nach Frithiof Brandt erst für 1839 anzusetzen; F. Brandt, The great earthquake in S. Kierkegaards life, in: Theoria, Jg. 15, Kopenhagen 1949, S. 38 ff. Das Erdbeben kann natürlich früher stattgefunden haben; hierzu die eben erwähnten Nachweise von mir.
44 4. DAS H EIM (I) Bombardierung zerstört worden war und sich noch im Wiederaufbau befand, begaben sich die Familie Kierkegaard und andere, umwohnende Bürger in die Heiliggeistkirche (Helligaands-Kirken). Dort wurde auch am 3. Juni 1813 S. Kierkegaard getauft. Nach der Eintragung in das Taufbuch waren außer den Eltern als „Gevattern“ (Paten) folgende Personen zugegen: Abelone Aabye, geb. Agerschou, Anders (Andersen) Kierkegaard (Seiden- und Tuchhändler, ein Vetter M.P. Kierkegaards, s.o.), Niels Aabye (Kompagnion von Anders Kierkegaard), Christen Aggerschou, Otto Møller und Peter Aabye.34 An der Heiliggeistkirche wirkte damals der norwegische Pfarrer J. Bull. Seine Predigtweise war schlicht. Er betonte eindringlich die Ethik des Evangeliums, die er gegen den vorherrschenden Rationalismus stellte. Dabei war J. Bull nicht wie die Theologen J.O. Thisted und J.P. Mynster aus der Erweckungsbewegung hervorgegangen. Er hatte sich auch nie zu ihr bekannt. Bull konfirmierte die drei Töchter von M.P. Kierkegaard: Maren Kirstine, Nicoline Christine und Petrea Severine. Die Familie Kierkegaard besuchte oft seine Gottesdienste. In J. Bull fand M.P. Kierkegaard einen aufrecht, lutherisch geformten Prediger und Seelsorger, den Garanten für eine klare, religiöse Unterweisung der Töchter. 1811 bekam Jacob Peter Mynster (1775–1854) die Anstellung als „Kapellan“ („Kaplan“) an der Frauenkirche in Kopenhagen. Seine Predigtstätte war aber zuerst die Trinitatiskirche. Der Wiederaufbau der zerstörten Frauenkirche brauchte Zeit. J.P. Mynster kam aus Spjellerup bei Vemmetofte, wo er seit 1801 Pfarrer war. Vorher war er Hauslehrer beim Grafen Adam Wilhelm Moltke in Bregentved. Die Familie Mynster stammt ursprünglich aus Deutschland.35 Schon in seiner ersten Predigtsammlung von 1809 ist – besonders in den letzten Predigten – die deutliche Spitze gegen den platten Ratio34 35 Vgl. Valdemar Ammundsen, a.a.O., S. 22, Anm. 1; Hermann Ulrich, a.a.O., S. 20. Zu J.P. Mynster siehe W. von Kloeden, Mynster, J.P., BBKL, Bd. VI, Sp. 414– 418.
4. DAS H EIM (I) 45 nalismus zu spüren. J.P. Mynsters Berufung nach Kopenhagen war nicht nur für die Familie Kierkegaard ein Glücksfall. Seine Offenheit in Gesprächen, seine umfassende Bildung, sein glänzender Predigtstil machten ihn bald zur führenden kirchlichen Persönlichkeit in der Hauptstadt. J.P. Mynster wurde der Seelsorger aller Familienmitglieder der Kierkegaards im Nytorv 2. Er wurde besonders der Wegbegleiter M.P. Kierkegaards und Sørens. Auch als Hofprediger ab 1826, als Schlossprediger ab 1828 und schließlich als Bischof von Seeland ab 1834 hielt er sein Seelsorgeamt gegenüber Vater, Sohn Søren und der übrigen Familie aufrecht. 1821 wurde der ältere Bruder Sørens Peter Kierkegaard von ihm konfirmiert.36 Es folgten 1823 Niels Andreas und 1828 – nun in der wiedererstandenen Frauenkirche – Søren. J.P. Mynster stand der Erweckungsbewegung nahe, ohne die lutherische Grundlinie zu vernachlässigen. Er war ein Mann der Ordnung und ließ sich nicht auf theologische und freikirchliche Extratouren ein. Für ihn war Grundbedingung für eine christliche Einstellung, dass die Vernunft ernst genommen wird. Sie sei dem Menschen vom Schöpfer gegeben worden, um zur Erkenntnis zu gelangen, dass der Glaube an Christus der rechte Lebensweg sei. Daraus ergibt sich: Es ist Pflicht zu glauben. Das war für M.P. Kierkegaard einleuchtend. J.P. Mynster wurde ihm immer mehr zur wichtigen theologischen Bezugsperson. Jener besaß die ersten drei Predigtbände und die 1833 erschienenen „Betragninger over de kristelige Troeslärdommel“ („Betrachtungen über die christlichen Glaubenslehren“). Im Besitz Sørens waren alle Predigtsammlungen Mynsters – die ers36 Gerd Pressier, Kierkegaard und Bischof Mynster. Auseinandersetzung zweier Theologen, Münster 1969, S. 21, setzt Peters Konfirmation für ca. 1819 an und datiert von dorther die mögliche nähere Bekanntschaft M.P. Kierkegaards mit Mynster. Wahrscheinlich ist das Jahr 1819 durch die Zählung Geburtsjahr plus 14 zustandegekommen. Auch damals wurden Jugendliche oft mit 15 oder 16 Jahren konfirmiert. Die Bekanntschaft der beiden prominenten Bürger M.P. Kierkegaard und J.P. Mynster konnte schon eher gemacht worden sein.
46 4. DAS H EIM (I) ten in späteren Auflagen. Mynsters „Betrachtungen“ besaß er in der zweiten Auflage von 1837. Dass J.P. Mynster auch zum festen Familienseelsorger wurde, geht daraus hervor, dass er Sørens Schwester Nicoline Christine mit Johann Christian Lund am 24. September 1824 traute. Später wird noch auf die Erziehung Sørens „mit Mynsters Predigten“ einzugehen sein. Denkmal von Jacob Peter Mynster in Kopenhagen, Foto: Lucian Freudenberg Auf eine weitere geistliche Persönlichkeit ist hinzuweisen. Bis J.P. Mynster die Anstellung als Kapellan bei der Frauenkirche in Kopenhagen erhielt, predigte er, wie schon bekannt, in der Trinitatiskirche. Hier, in der Trinitatiskirche, war bis 1824 J.O. Thisted Kapellan. Dieser wurde von seinen Gegnern als „Bluttheologe“ und „Herrnhu-
4. DAS H EIM (I) 47 ter“ verspottet. Nichtsdestotrotz zog er mit seinen glänzend aufgebauten, warmherzigen Predigten große Scharen des Bürgertums an. Zweifellos hatte J.P. Mynster recht, wenn er J.O. Thisted vorwarf, dass dieser C. Harms mit seiner Schlagworttechnik imitiert. J.O. Thisted würde also keinen Originalbeitrag innerhalb der dänischen Erweckungsbewegung liefern.37 Daher musste dem alternden M.P. Kierkegaard der unter dem Einfluss Friedrich Heinrich Jacobis stehende und der Vermittlungstheologie gegenüber offene J.P. Mynster mehr zusagen. Das bedeutete aber nicht die Ablehnung J.O. Thisteds. Schon dessen Liebäugeln mit Herrnhut war für M.P. Kierkegaard ein Grund, sich näher mit dem Pfarrer der Trinitatiskirche zu befassen. Immerhin erwarb M.P. Kierkegaard J.O. Thisteds Zeitschrift „For Christne“ (I–IV). Sie enthielt J.O. Thisteds eigene Predigten wie erbauliche Lehrstücke anderer Theologen aus verschiedenen Zeiten. 1825–1828 gab J.O. Thisted „En kristelig Postille“ („Eine christliche Postille“) von Martin Luther heraus.38 Letztere galt später S. Kierkegaard als Hauptquelle für sein Lutherstudium und die Auseinandersetzung mit dem Reformator. J.O. Thisted hatte Ende 1824 zuerst mit dem Pochen auf die Symbolverpflichtung den Streit gegen den rationalistisch eingestellten Theologen C.F. Hornemann begonnen, der in der Folge von N.F.S. Grundtvig, J.C. Lindberg und Andreas Gottlob Rudelbach – die beiden Letzteren als Freunde P.C. Kierkegaards – gegen H.N. Clausen und Carl Holger Visby besonders in der „Theologisk Maanedsskrift“ („Theologische Monatsschrift“) fortgeführt wurde. Von diesem Streit, der erst mit dem Prozess J.C. Lindbergs gegen C.H. Visby beigelegt wurde, erfuhr M.P. Kierkegaard sicherlich laufend durch seinen Sohn Peter Christian. Informationen darüber erhielt er auch durch dessen Freund A.G. Rudelbach, der im Hause Nytorv 2 ver37 38 Vgl. dazu J.P. Mynsters Brief an Propst Engelbreth vom 10.11.1822, dazu Kaj Baagø, Väkkelsernes Frembrud I, Kopenhagen 1960, S. 51 und W. von Kloeden, Kierkegaard as a Person, a.a.O., S. 19. Thulstrup, Ktl. Nr. 283.
48 4. DAS H EIM (I) kehrte.39 Interessant ist auch, dass die eben erwähnten Freunde von P.C. Kierkegaard regelmäßige Besucher der Gottesdienste von J.P. Mynster waren. Von großer Bedeutung war, dass M.P. Kierkegaard wie seine Herrnhuter Freunde Johannes Hammerich und Johannes Boesen zusammen mit den eben erwähnten Freunden P.C. Kierkegaards, dazu mit P.A. Fenger Mitglieder der dänischen Missionsgesellschaft („Det Danske Missionsselskab“ – „D.M.S.“) waren. Diese Gesellschaft wurde am 17. Juni 1821 gestiftet. Die genannten Persönlichkeiten hatten hier einen inneren Berührungspunkt, nämlich in der Befolgung der Zielsetzung des Gründers der „D.M.S.“ Bone Falck Rönne. Dieser Mann hatte verschiedene Auffassungen christlicher Lehrhaltung durchlaufen. Er war zuerst halb Rationalist, halb Supranaturalist, ehe er zu einer schlichten Christentumsauffassung gelangte.40 B.F. Rönne war von der Erweckungsbewegung inspiriert, aber seine Gesellschaft war für alle Kreise offen. M.P. Kierkegaard, der sich sehr an J.P. Mynsters Theologie hielt, zugleich aber von der Philosophie Wolffs beeinflusst war, musste sich zu dem nüchternen Grundcharakter dieser Gesellschaft mehr hingezogen fühlen als zu dem mit Emotionen geladenen Kreis um seinen ältesten Sohn Peter Christian. So konnte M.P. Kierkegaard hier eine Trennungslinie ziehen, was an S. Kierkegaard nicht spurlos vorübergehen konnte, zumal dieser in seinen älteren Schülerjahren die Auseinandersetzungen um die Symbolverpflichtung erlebte. So griff Søren schon in den ersten Tagebuchnotizen N.F.S. Grundtvig und seinen Kreis scharf an.41 Hieraus rührt auch das tiefe Unbehagen gegenüber dem älteren Bruder, soweit es dessen Theologie betraf. 39 40 41 Zu J.C. Lindberg siehe W. von Kloeden, BBKL, Bd. V, Sp.74–76; zu A.G. Rudelbach: W. von Kloeden, BBKL, Bd. VIII, Sp. 919–923. Vgl. Kaj Baagö, a.a.O., S. 33; Hal Koch, Den danke Kirkes historie, a.a.O., VI, 1954, S. 113. Vgl. Pap. I A 60, 61, 62.
4. DAS H EIM (I) 49 Schon erwähnt ist der frühe Einfluss der Brüdersozietät durch H.S. Lemming und P. Saxtorph auf den jungen M.P. Kierkegaard. Es war daher natürlich, dass dieser als reifer Mann die Verbindung zur Herrnhuter Brüdergemeine in Kopenhagen suchte. Er wollte hier aktiv werden, sah er doch in der Verbundenheit mit Gleichgesinnten die Chance christlich motivierten Handelns unter der Voraussetzung eines möglichen Gnadenerlebnisses. Von dieser Möglichkeit hing sein innerer Frieden durch den Zuspruch der Vergebung ab. Die Kopenhagener Brüdersozietät wurde am 14. September 1739 gegründet. Um die Herrnhuter Bewegung innerhalb des dänischen Kirchenlebens zu integrieren, stellte Christian VI. damals die Bedingung, dass die Brüdersozietät in der Hauptstadt unabhängig von N.L. Graf von Zinzendorf agieren sollte. 1740 gab es bereits 29, 1750 dann 242 und 1760 schließlich 417 Mitglieder innerhalb der Kopenhagener Sozietät. Die innere Kraft dieser Gemeinschaft zeigte sich in der Wirkungslosigkeit des gegen sie gerichteten „Konventikelplakates“ vom 13. Januar 1741. Die Brüdergemeine fand nämlich schnell unter den verschiedenen Pfarrern der Staatskirche Anerkennung, sodass man sie nicht zu bekämpfen brauchte. Außerdem lockerte sich die Wachsamkeit des Staates, bedingt durch die Aufklärung, gegenüber den Konventikelströmungen. So konnte man an den Einzug in ein eigenes Versammlungshaus in der Stormgade im Jahre 1784 denken. Wesentlich für die geistliche Entwicklung der Sozietät wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Zulauf der studierenden Jugend. Unter ihr befanden sich eine Reihe von Theologen. Die Namen dieser, von denen einige später bekannte Geistliche innerhalb der Staatskirche wurden, sind in Christiansfeld archiviert. Wenn man damals vom „Saale“ oder „in dem Saale“ sprach, dann meinte man das Haus in der Stormgade, für den alten M.P. Kierkegaard eine wichtige Begegnungsstätte und ein Wirkungsort zugleich. Bedingt durch den Einfluss des Rationalismus ging die Mitgliederzahl um die Jahrhundertwende auf die Hälfte zurück. Die Brüdersozietät blühte aber nach den napoleonischen Kriegen wieder auf. Diese
50 4. DAS H EIM (I) entscheidende Zeit nach 1815 wurde in der Stormgade durch M.P. Kierkegaard mitgeprägt. Die zentrale Rolle aber spielte der in Christiansfeld geborene Vorsteher Johann Christian Reuss. Dieser sollte für M.P. Kierkegaard von großer Bedeutung sein. Die beiden Männer arbeiteten zusammen. J.C. Reuss wurde 1775 als Sohn des Johann Conrad Reuss und der Anna Sophie, geb. Nielsen, geboren. Reuss war zuerst Tischler, dann Gastwirt in Christiansfeld. 1804 kam er als Pfleger nach Neusalz und wurde kurz danach Vorsteher dieser Gemeinschaft. 1806– 1809 war er Vorsteher in Zeist, danach in Herrnhut. 1815 kam er schließlich in der gleichen Funktion nach Kopenhagen. Als Reuss nach Kopenhagen zog, fand er in den „Gehülfen“ eine große Unterstützung. Die „Gehülfen“ waren ausschlaggebend im Sozietätsausschuss, also in leitenden und betreuenden Funktionen. Die Tätigkeit des Ausschusses erwies sich bei steigender Mitgliederzahl und verstärkten Versammlungen als besonders wichtig. Zu diesen „Gehülfen“ gehörte M.P. Kierkegaard. So wurde letzterem „seiner Erfahrungen wegen“ die Inspektion für den Bau des neuen Saales in der Stormgade übertragen, wie aus einem im Herrnhuter Archiv befindlichen Brief von Reuss an H. Wied vom 12. August 1815 hervorgeht. Außer M.P. Kierkegaard und seinen Angehörigen waren die Familien Boesen und Hammerich in der Brüdergemeine der dänischen Hauptstadt tonangebend. Die Kierkegaards verband Freundschaft und Gemeinsamkeit mit diesen beiden Familien. Wichtig für M.P. Kierkegaard war der Gedankenaustausch mit dem Kaufmann J. Hammerich und dem Justizrat J. Boesen. Die Verbindung war wesentlich für das Familienleben, in das Søren hineinwuchs. Wie oben schon angedeutet, schätzte J.C. Reuss M.P. Kierkegaard außerordentlich. Dieser wiederum blieb bis zu seinem Tod Mitglied der Brüdergemeine. Besondere Freude wird ihm die Einweihung des neuen Saales in der Stormgade im Jahr 1816 bereitet haben. Dieser umfasste 600 Plätze. Über M.P. Kierkegaards Aktivitäten findet sich ein Zeugnis des Vorstehers J.F. Matthiesen an Johann Christian Breutel vom 28. August 1838 anlässlich des Todes
4. DAS H EIM (I) 51 von M.P. Kierkegaard. Hier wird ausdrücklich seine Treue gelobt.42 Da heißt es: „Unsere Sozietät verliert an ihm eines der treuesten Mitglieder sowohl für das Äussere wie für das Innere, u. mancher Hausarme wird ihn schmerzlich vermissen. – Er hat gewiss in der Stille mehr Gutes getan, als viele gedacht haben, die ihn für einen Geizhals hielten u. ausschrieen, weil er nicht ohne Unterschied zur Rechten u. zur Linken ausstreute. Wir kannten seine Grundsätze und mussten ihm Recht geben. Ich verliere an ihm einen treuen Bruder im wahren Sinne des Wortes, der mir bey jeder Gelegenheit seine Meinung unverholen, aber auf eine sehr anspruchslose Weise sagte, und der in unsren Societäts- Angelegenheiten, welche er mit besonderer Liebe umfaßte u. auf dem Herzen trug, uns manches Jahr guten Rat gegeben hat [ . . . ].“ Hingewiesen wird auf die große Erfahrung und die klare Entscheidungsfreude des alten M.P. Kierkegaard. Auch sind die näheren Umstände des Todes angegeben. So hat das Herrnhuter Leben in der Stormgade doch erheblichen Einfluss auf die Familie Kierkegaard und ihre Freunde gehabt. Die ermunternden Predigten von J.C. Reuss haben neben denen von J.P. Mynster den alten M.P. Kierkegaard erhoben und ihm Trost gegeben.43 Sie haben aber auch neben dem Wirken der oben erwähnten Geistlichen wie G. Bull und J.O. Thisted Wegweisung für die Erziehung des Sohnes Søren und seiner Geschwister gegeben. 42 43 Auch dieser Zeugnisbrief findet sich im Herrnhutarchiv; vgl. Kaj Baagø, Vaekkelsemes Frembrud, a.a.O., S. 21. Bei dem folgenden, diesbezüglichen Zitat wird die alte deutsche Rechtschreibung beibehalten. Eine Predigt von Reuss ist erhalten und zeigt den Ruf nach dem Retter: „Unser Retter erbarme sich unser, er kennt unsere Herzen, kennt unsere Sündigkeit, weiß, wie wir nach Hilfe drängen.“ Diese Predigt liegt im Archiv von Herrnhut; vgl. Kaj Baagö, Vaekkelsernes Frembrud, a.a.O., S. 23 und W. von Kloeden, Kierkegaard as a person, a.a.O., S. 22. Diese Gedanken bilden das Tor zur Glaubenswelt des alten M.P. Kierkegaard. Der Einfluss solcher Predigtsätze lässt sich bis in das schriftstellerische Werk S. Kierkegaards verfolgen, wie z.B. in SV 13, 239 ff. und SV 13, 249 ff.; SKS, Bd. 10, S. 265 ff., SKS, Bd. 10, S. 279.

5. DAS H EIM (II) Das vorherige Kapitel gibt Auskunft über den Wirkungskreis von M.P. Kierkegaard im öffentlichen und kirchlichen Leben. Es zeigt auch die Kontaktsuche zu den Seelsorgern für seine Familie und seinen freundschaftlichen Verkehr mit Gleichgesinnten. Hier liegt die Basis für die christliche Erziehung seiner Kinder, vor allem die von Søren. Die Glaubensgemeinschaft innerhalb der Brüdersozietät spiegelte sich im Familienleben wider. In Strenge und Pünktlichkeit war der Vater die Säule für seine Angehörigen. Bei aller Sparsamkeit waren seine Spenden und Liebesgaben ein Vorbild für die Seinen und die ihnen verbundenen Bürger der Stadt. So gab M.P. Kierkegaard regelmäßig Geld zum Erhalt zweier Waisenhäuser. Der Hang zur sinnvollen Sparsamkeit tat der Gastfreundschaft keinen Abbruch. Gäste aus der Verwandtschaft, der Geschäfts- und Geisteswelt des damaligen Kopenhagen waren im Haus am Nytorv willkommen. Hier erlebte das Kind Søren bereits die Diskutierfreudigkeit seines Vaters, die für die spätere, angewandte Dialektik von wesentlicher Bedeutung war. Nicht nur Henriette Lund, Hans Bröchner und Carl Weltzer, sondern auch weniger bekannte Zeugen wie Eline Heramb, bestätigt durch P. Bojsen, bezeugten die Gastfreundschaft und die Diskutierfreude des alten M.P. Kierkegaard.44 Intensiv waren M.P. 44 Vgl. H. Lund, Erindringer, a.a.O., S. 21; H. Bröchner, Erindringer om Søren Kierkegaard, udg. 1953 ved S. Johansen, S. 14; P. Bojsen, Budstikkens Udgiver. Prästen Frits Engelhart Bojsens Liv og Levned, Kopenhagen 1883, S. 94; hierzu noch folgende Briefe von F. Meidell an Barfod vom 7.11.1869 wie von den Geschwistern Rudelbach an ihren Bruder Andreas vom 5.1., 23.3., 9.7, 5.8., 20.8., 1.9.1830, befindlich in der Königlichen Bibliothek und zugänglich gemacht durch Carl Weltzer, Peter og Søren Kierkegaard I, Kopenhagen 1936, S. 28 ff. – F.E. Bojsen war der Schwager von Peter Christian.
54 5. DAS H EIM (II) Kierkegaards Diskussionen mit seinem Sohn Peter, denen Søren zuhörte und an denen er sich später rege beteiligte. M.P. Kierkegaard war durch die „Wolffsche Philosophie“ geschult. Besonders Christian Wolffs „Deutsche Metaphysik: Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt“ (1720), bis 1752 zwölfmal neu aufgelegt, auch dänisch erschienen, galt dem alten M.P. Kierkegaard als Richtschnur. Bevor auf das Familienleben der Kierkegaards weiter einzugehen ist, soll noch etwas zu der von M.P. Kierkegaard bevorzugten Wolff-Lektüre gesagt werden. Es ist merkwürdig, dass ein Denker in der Linie der Aufklärungsphilosophen und am Ende der Barockphilosophie solchen Einfluss auf seine und die nachfolgende Zeit – und das besonders in Dänemark – gehabt hatte. Ein suchendes, frommes Gemüt, wie M.P. Kierkegaard es war, würde man eher in die Ecke eines Lesers von pietistischer Literatur setzen, als umgekehrt ihn am Schreibtisch mit scharfsinnigen Betrachtungen sehen zu wollen. Und war nicht Wolff (1679–1754) inzwischen überholt? Zusätzlich käme noch die Frage, warum ein Denker wie Wolff, der vom pietistisch eingestellten König Friedrich Wilhelm I. von Preußen aus Halle verbannt wurde, von einem pietistisch orientierten Mann wie M.P. Kierkegaard zum bevorzugten Autor wurde. Erwähnt wurde schon der gut lesbare Stil der Wolffschen Schriften. Dazu kam die klare Scheidung des Hallenser Philosophen zwischen Körper (gleich Maschine) und Seele. Dadurch wurde Raum für metaphysische Grundfragen gegeben. Für Wolff war es wichtig, das unendliche All vom Denken her zu durchdringen. Damit stand er in der großen philosophischen Tradition, die von Giordano Bruno bis Gottfried Wilhelm Leibniz reichte. Wolff war der aristotelischen Beweisführung und damit auch der Lehre des Thomas von Aquin verbunden. Einfach war für ihn die Konzeption des Körpers als Maschine. Dieser war nur materiell im Gegensatz zu G. Bruno und G.W. Leibniz zu sehen. Die Körpermaschine ist streng unterschieden von der Seele. Jene Maschine ist durchaus mit mathematischer Methode
5. DAS H EIM (II) 55 nachzukonstruieren. Zwei Stichworte eröffnen den weiteren Denkweg Wolffs: „Vernünftige Gedanken“ und „Bewusstmachung“. M.P. Kierkegaard lernte auf dieser Basis, denkerisch zu unterscheiden und auf ein Gedankenziel hin zu arbeiten. Einen wichtigen Teil in Wolffs System bildet die Gotteslehre. Darum wird sich M.P. Kierkegaard besonders bemüht haben. Diese Lehre deckte ihm Grundprinzipien der Fragen nach dem Gottesverhältnis auf, und hierauf konnte er dann im tieferen Sinne von J.P. Mynster und Herrnhut her sein Glaubensverständnis ausbauen. Chr. Wolffs Gotteslehre findet sich in den §§ 928–946 innerhalb des oben angegebenen Hauptwerks. Hier wird das nicht selbständige Wesen (der Mensch) von dem selbständigen Wesen, das ohne Anfang und Ende ist, unterschieden. Es ist in sich und aus sich, ist in Kraft und unabhängig. Dieses Wesen ist notwendig, da es ohne Anfang und Ende ist. Das wird besonders in den §§ 931 und 932 erhellt. Wenn dem so ist, dann ist der Begriff Ewigkeit anwendbar. Die Ewigkeit ist unermesslich. Dann heißt es weiter im § 934: „Was kein Ende haben kann, ist unverweslich. Da nun das selbstständige Wesen kein Ende haben kann, so ist es unverweslich.“ Von hier aus ist es dann möglich, den Gottesbegriff zu kreieren. Gott ist das selbständige Wesen. In ihm ist die Wirklichkeit der Welt zu suchen und zu finden. Damit konnte die christliche Offenbarungslehre stehenbleiben. Wichtig war dem Hallenser Philosophen, dass sie zwar übervernünftig, aber nicht widervernünftig ist. Es ist anzunehmen, dass M.P. Kierkegaard auch in andere Werke Wolffs hineingeschaut hatte. Er wird sich auch Kenntnisse in der deutschen Sprache angeeignet haben. Jedenfalls halfen ihm Wolffs Gedankengänge, deutlich zu diskutieren. Dass dieser nicht überladen physikotheologisch vorging, machte ihn dem alternden Kaufmann M.P. Kierkegaard sympathisch. Warum suchte sich M.P. Kierkegaard zuerst seinen Sohn Peter Christian als Diskussionspartner? Als Søren 13 Jahre alt war, hatte Peter bereits sein Attestatszeugnis im Jahre 1826 erhalten. Durch sein Alter, seine glänzende Ausbildung war er dem Vater als Ge-
56 5. DAS H EIM (II) sprächspartner willkommen. Später kam dann, wie schon erwähnt, der jüngste Sohn Søren dazu. Peter unterrichtete Griechisch in der Borgerdydsskole und war auch eine Zeit lang Sørens Lehrer. Er begann noch in Kopenhagen an seiner Studie über die Lüge („De mendacio“) zu arbeiten. Nach der Konfirmation seines Bruders Søren im Jahre 1828 reiste Peter Christian nach Deutschland. Über Berlin kam er nach Göttingen, wo er 1829 über das eben angegebene Thema promovierte. Der frisch gebackene Dr. phil. fiel auch hier durch seine glänzende Disputierkunst auf. Er wurde in Göttingen „der Disputierteufel aus dem Norden“ genannt.45 Nach der Promotion reiste Peter Christian Kierkegaard weiter nach Paris und erlebte dort 1830 die Julirevolution. Der Aufenthalt zu dieser Zeit in der französischen, unruhigen Metropole bereitete der Familie große Sorge. Im September 1830 war aber Peter wieder daheim und erlebte beachtliche Erfolge als Manuduktör, besonders im Lateinischen. Schüler und Studenten, die sich darin ihm anvertrauten, wurden gut vorbereitet. Übrigens wurde die Disputierkunst auch in direkten Übungsstätten vertieft. Søren Kierkegaards spätere, geschliffene Dialektik ist also nicht nur das Ergebnis der Studien in den Schriften seines Antipoden Hegel, sondern auch das der Teilnahme an den Disputationsstunden mit seinem Vater und Bruder. Welchen Platz nahm nun die Mutter Ane Sørensdatter ein? In den „Papirer“ wird sie nicht erwähnt. M.P. Kierkegaard aber wusste, was er an ihr hatte. Sonst hätte er nicht, wie oben geschildert, sein Testament zu ihren Gunsten verändert. Von den Zeitzeugen wird ihre stille, fürsorgliche Art geschildert. Sie war vor allem um die Gesundheit ihres Jüngsten besorgt. Dafür gibt es Belege.46 Sehr bekannt in der 45 46 Vgl. S. Kühle, a.a.O., S. 59; C. Jörgensen, I, a.a.O., S. 18. Zum Ganzen hier über P.C. Kierkegaard auch Steen Johansen (Hg.), Erindringer om Søren Kierkegaard, Kopenhagen 1980, S. 19, 128 und Bruce H. Kirmmse (Hg.), Encounters with Kierkegaard, Princeton, N.J. 1996, S. 8 und Anm. S. 316, 317. Vgl. P. Bojsen, a.a.O., S. 94; dazu C. Jörgensen, I, a.a.O., S. 38 und Grethe Kjär, Barndommens ulykkelige Elsker, Kopenhagen 1986, S. 38 f. – Die Schwestern
5. DAS H EIM (II) 57 Forschung ist die Schilderung von Henriette Lund über die beherzte Fürsorge an den Kindern und Enkelkindern. Diese wird mit dem schönen Bild von Henne und Küken umschrieben. Abends beim Zubettgehen war die kleine Gestalt der Mutter bzw. Großmutter maßgeblich. Sie brachte die Kinderschar mit der Ruhe, die sie ausstrahlte, zum Einschlafen.47 Völlig falsch ist es, von der Nichterwähnung der Mutter in den Tagebuchnotizen her zu einer Negativzeichnung zu kommen. Selbstverständlich dominierte der Vater als Patriarch und geistvoller Gesprächspartner, aber Herzlichkeit und Mühen um das leibliche Wohl der Kinder waren bei der Mutter unbegrenzt. Ihr gesundes Naturell war ein wichtiger Gegenpol zu dem mit Schwermut sich quälenden Mann und jüngsten Sohn. Um das Bild von der Mutter abzurunden, ist auf dreierlei aus dem Quellenmaterial hinzuweisen. Es hängt mit der Achtung und Liebe der Söhne gegenüber der Mutter A. Sørensdatter zusammen. Der zweitjüngste Sohn Niels Andreas, geb. 1809, hatte eine besondere Beziehung zur Mutter. Er lernte bei seinem Schwager J.C. Lund in Kopenhagen und war 1830 zuerst Manufakturhändler in seiner Vaterstadt. Im Sommer 1833 ging er nach Nordamerika. In Patterson starb er am 21. September 1833 an Typhus. Erst am 31. Oktober desselben Jahres kam die Todesnachricht nach Kopenhagen. Nach dem Tod von Niels Andreas schrieb der mit ihm befreundete P. Munthe Brun in sein Tagebuch, dass jener nach Amerika reiste, weil er es daheim nicht mehr aushalten konnte. In der Fremde sprach Niels Andreas vor den Freunden ausschließlich von seiner Mutter. Nur sie erhielt die Todesnachricht. Wie G. Kjär mitteilt, musste das den Vater M.P. 47 Rudelbach haben in einem Brief an ihren Bruder vom 9.7.1830 die Fürsorge der Mutter besonders hervorgehoben (siehe Carl Weltzer, Peter og Sören Kierkegaard, Kopenhagen 1936, I, a.a.O., S. 28). Vgl. H. Lund, a.a.O., S. 18 ff., dazu S. Kühle, a.a.O., S. 21.Von hier aus gesehen ist das negativ gehaltene Bild der Mutter in der Schilderung von Arnold Künzli (Die Angst als abendländische Krankheit, Zürich 1948, S. 37 ff.) eine Überzeichnung aus tiefenpsychologischer Sicht.
58 5. DAS H EIM (II) Kierkegaard sehr verbittern.48 Wahrscheinlich war das Verhältnis des zweitjüngsten Sohnes zum Vater vor der Abreise sehr gespannt. Er wollte wie seine Brüder mehr Freiraum haben und nicht den ganzen Tag im Geschäft stehen. Peter Christian, der älteste Sohn, schenkte seiner Mutter am 1. Januar 1832 das Gesangbuch „Zions Harpe“ („Zions Harfe“). Im Dezember des gleichen Jahres vermachte er ihr außerdem L.C. Hagens „Historiske Psalmer og Riim til Börnelaerdom“ („Historische Lieder und Reime zur Kinderlehre“).49 Beide Gesangbücher erfreuten sie. Von dorther ist es sicher, dass Sørens Mutter lesen konnte. Sonst hätte ihr ältester, anspruchsvoller Sohn Peter Christian die Geschenkidee gar nicht gehabt. Das zeigt aber auch die Zuneigung zur Mutter. Von Søren weiß man aus einer gewichtigen Quelle, dass er bei dem Tode seiner Mutter 1838 völlig erschüttert war. Das äußerte er bei einem Besuch gegenüber der Mutter von H.L. Martensen, der diesen Vorgang in seinen Erinnerungen festhielt.50 Der Vater M.P. Kierkegaard hielt alle Fäden seiner Familie zusammen. Er korrespondierte noch bis in das hohe Alter hinein mit seinen Schwestern im fernen Sädding. Äußerlich gab er sich weiter bescheiden. Oft machte er die größeren Besorgungen auf dem Markt selbst. Das alles vollzog sich im Rahmen äußerster Bescheidenheit. Die häufigen Todesfälle in seiner Familie beugten ihn, ließen ihn weiter in schwermütiges Grübeln verfallen, vermochten aber nicht, seinen Glauben zu erschüttern. Dass er nach dem Tod aller drei Töchter, zweier seiner Söhne und schließlich der zweiten Frau im hohen Alter übrigblieb, versteifte seine Bußgedanken: Gott hätte ihn aufgehoben, damit er voll das Leid als Buße erleben sollte. Das Denken und Grübeln über die Todesfälle in der Familie übertrug sich 48 49 50 Vgl. G. Kjär, a.a.O., S. 22; S. Kühle, a.a.O., S. 82. Hier wird das Tagebuch von P. Munthe Brun (Privatbesitz) zitiert. Vgl. S. Kühle, a.a.O., S. 22. Hans Lassen Martensen, Af mit Levnet, I, 1882, S. 79; deutsche Ausgabe, 2. Aufl. Berlin 1890, S. 53.
5. DAS H EIM (II) 59 auch auf Søren. Dieser war später davon überzeugt, dass er seinen 34. Geburtstag nicht überleben werde. Christus wurde ja auch nur 33 Jahre alt! K. Bruun Andersen gab hierfür in seinem Werk „Søren Kierkegaards store Jordrystelser“ („Søren Kierkegaards große Erdbeben“) von 1953 die Belege. Er verband einen Brief Søren Kierkegaards an seinen Bruder Peter mit einer Tagebuchnotiz von Søren aus dem Jahre 1837, wo jener über die 33 Lebensjahre von Christus, sinnbildlich für eine Generationen-Einheit, spricht.51 Tatsächlich lässt der eben erwähnte Brief keinen Zweifel daran, dass es beim Vater M.P. Kierkegaard und seinem Sohn Søren die fixe Idee gab, dass dieser nicht über 34 Jahre alt werden würde: „ Det 34de Aar skulde altsaa vaere Graendsen og Fader skulde overleve os alle“ („Das 34. Lebensjahr sollte folglich die Grenze sein, und Vater sollte uns alle überleben.“).52 Der Aberglaube des alten M.P. Kierkegaard spielte im Familienleben eine Rolle, wurde aber durch des Hausherrn tiefe Gläubigkeit aufgefangen. Jener Aberglaube war das Erbe seiner jütländischen Heimat. Mit seiner Bibelkenntnis, dem Umgehen mit großen biblischen Gestalten, mit dem Ernstnehmen von Warnzeichen durch besondere Vorgänge im alltäglichen Leben war er Vorbild und Patriarch. 51 52 K.B. Andersen, a.a.O., S. 41 f.; C. Weltzer, a.a.O., S. 116; N. Thulstrup (Hg.), Breve og Aktstykker vedrörende Søren Kierkegaard, I, Kopenhagen 1953– 1954, Nr. 149; Pap. 1 A 325. N. Thulstrup, a.a.O., Nr. 149.

6. VATER S OHN : „E RZOGEN VON EINEM G REIS “ – D IE VÄTERLICHE , CHRISTLICHE E RZIEHUNG DES S. K IERKEGAARD UND Das Verhältnis von Vater M.P. Kierkegaard und Sohn Søren gehört zu den geistesgeschichtlich bedeutenden Vater-Sohn-Beziehungen. Jenes Verhältnis ist oft in Diskussionen mit dem Vaterverhältnis von Friedrich II. von Preußen und dazu mit dem von Franz Kafka verglichen worden. Das stellt eine große Vereinfachung dar und wird der Persönlichkeit M.P. Kierkegaards, seinem Mühen um den Sohn, nicht gerecht. Bei Friedrich Wilhelm I. von Preußen, dem Vater von Friedrich II., gab es den von August Hermann Francke beeinflussten, pietistisch gebundenen Glauben wie den Willen zur Redlichkeit in der Glaubenserziehung. Diese musste streng sein. Die Methoden von Friedrich Wilhelms Pädagogik waren brutal, führten zur Entfremdung mit dem Sohn und schließlich zu dessen verzweiflungsvoller Flucht. Diese schlug fehl. Es folgten Inhaftierung und die Hinrichtung des Freundes und Fluchthelfers Hans Hermann von Katte vor den Augen Friedrichs. Es war ein grausames Exempel und überstieg weit das, was einst Francke gelehrt hatte. Erst kurz vor dem Tode Friedrich Wilhelms kam die Versöhnung zustande. Der schwierige Charakter von Friedrich Wilhelm I. wird in dem Roman „Der Vater“ von Jochen Klepper (1937) ausgezeichnet dargestellt. In dem berühmten „Brief an den Vater“ von F. Kafka offenbart sich eben-
62 6. VATER UND S OHN falls eine strenge Vaterfigur, die dem Sohn kaum Eigenständigkeit zugestand.53 Betrachtet man die Vaterbeziehung S. Kierkegaards, so stellt sich die Sachlage aus den Quellen ganz anders dar. Ein Vergleich zu den eben angegebenen Vaterpersönlichkeiten würde immer hinken und trifft nicht die äußerst sensible kierkegaardsche Vater-SohnBeziehung. Mit folgenden Gesichtspunkten kann das begründet werden: 1. M.P. Kierkegaard war kein brutaler Mensch. Er war selbst voller Zweifel und Ängste in der Not wachsender Schwermut. 2. Das Bemühen um den Sohn in seiner ganzen Redlichkeit brachte Nähe. 3. Äußere Zucht unterblieb ganz. – Die Wunde in der Beziehung zwischen Vater und Sohn Kierkegaard lag in der absoluten Überforderung durch die Erziehung. Es gab ein Zuviel bei der inneren, pädagogischen Linie. Diese wurde verdichtet durch die strenge Auffassung des Christentums im Sinne des Opferleidens Jesu für uns. Der gekreuzigte Jesus spielte die entscheidende Vorbild- und Heilsrolle. Hier zeigt sich zweifellos das Erbe von Herrnhut. Es gibt verschiedene Gruppierungen von Zeugnissen zur Erziehung S. Kierkegaards durch den Vater. Hier muss sorgfältig geschieden werden. Es ist misslich, persönliche Aussagen des Sohnes mit fiktiven Darstellungen in den pseudonymen Werken desselben zu vermischen. Folgende Gruppierungen von Texten sollen in Augenschein genommen werden: 1. direkte, aber subjektiv gehaltene Meinungen über die väterliche Erziehung in den Tagebuchnotizen („Papirer“) und in den Briefen der ersten Zeit. 2. Zeugnisse von Zeitgenossen, besonders von ehemaligen Mitschülern und Verwandten. 3. indirekte Hinweise, die sich an mögliche Erinnerungen Sørens knüpfen, aber mit Vorbehalt zu werten sind. Dazu gehören Passagen aus „Entweder – Oder II“ in der Maske des Assessors Wilhelm, die Darstellung in dem unveröffentlichten Entwurf „Johannes Climacus 53 Vgl. Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, hg. v. Max Brod, FTB Nr. 2067, Frankfurt/Main 1980, S. 119–162, vor allem S. 129.
6. VATER UND S OHN 63 oder De omnibus dubitandum est – Eine Erzählung“ vom November 1842 bis Frühjahr 1843, Sätze aus der Introduktion der Abhandlung „Hat ein Mensch das Recht, sich für die Wahrheit totschlagen zu lassen?“ (1847) und schließlich ein Abschnitt aus dem „Gesichtspunkt für meine Verfasserwirksamkeit“, posthum durch P.C. Kierkegaard herausgegeben.54 Eine große Versuchung für den Kierkegaardinterpreten bilden die sechs Einschubstücke in der Leidensgeschichte: „Skyldig – Ikke Skyldig“ („Schuldig – Nicht Schuldig“) innerhalb der zweiten Hälfte des Romans „Stadier paa Livets Vej“ („Stadien auf dem Lebensweg“) von 1845. Die Einschubstücke sind dichterisch gestaltet und bilden jeweils einen Anhaltspunkt im „psychologischen Experiment“ des „Frater Taciturnus“. Es handelt sich um folgende Stücke in der deutschen Wiedergabe: „Die stille Verzweiflung“, „Selbstbetrachtung eines Aussätzigen“, „Salomos Traum“, „Eine Möglichkeit“, „Zum Inwendiglernen (Periander)“, „Nebukadnezar“.55 Besonders das erste Stück und „Salomos Traum“ haben die Phantasie der Kierkegaardforscher bewegt. So meinte man, hier Tatbestände aus der Kindheit bzw. Jugend zu finden. Emanuel Hirsch hat in der Polemik gegenüber P.A. Heiberg auf die spekulative Gefahr hingewiesen.56 54 55 56 In der Reihenfolge: SV 3, 246 f., SKS, Bd. 3, S. 253 f; Pap. W B 1, S. 104 ff., bes. S. 106 und 110; SV 15, S. 17, SKS, Bd. 11, S. 61; SV 18, S. 126 f. Wegen der Titelfülle nur deutsche Wiedergabe. In der Reihenfolge: SV 8, S. 23 f., 52–54, dazu Pap. IV A 110–111, SKS, Bd. 18, JJ Nr. 118, S. 179, Pap. IV A 68–71, 91–101, 133–137, 165–168, dazu Pap. IV A 119, SKS, Bd. 18, JJ Nr. 126, S. 182; siehe oben. E. Hirsch, Einleitung zur deutschen Ausgabe (15. Abt.) der „Stadien auf dem Lebensweg“, Köln/Düsseldorf 1958, S. XIII; P.A. Heiberg, En Episode i Kierkegaards Ungdomsliv, Kopenhagen 1912. Die Versuchung, die Einschubstücke kommentarlos in den Lebenslauf Kierkegaards einfließen zu lassen, hat sich z.B. bei Peter P. Rohde in seiner Kierkegaard-Monographie niedergeschlagen: Kierkegaard, rm 28, Hamburg 1959, S. 25.
64 6. VATER UND S OHN In den Selbstzeugnissen S. Kierkegaards finden sich zum Problem Vater und Sohn folgende Schwerpunkte: 1. Es war die Schwermut („Tungsind“), die lastend auf dem Vater lag und dann auf den Sohn übertragen wurde. Jene wurde zwar vom Sohn durch die Spannkraft des Geistes verborgen, konnte aber nicht behoben werden.57 Diese Spannkraft wurde vom Vater erkannt und genutzt, um dem Sohn das Gegengewicht zu seiner leiblichen Schwäche zu geben. Diese wurde verstärkt durch eine mögliche Rückgratverkrümmung, die nicht unbedingt von einem Unfall als Kind herzurühren braucht.58 Später findet sich in einer Notiz die Aussage, dass ihm, dem Sohn, die körperlichen Voraussetzungen fehlten. Darum musste er den „Salto mortale op i den reene Aands-Existens“ 57 58 Vgl. Pap. IV A 107, SKS, Bd. 18, JJ Nr. 115, S. 177–179, Pap. VIII 1 A 177, SKS, Bd. 20, NB 2 Nr. 69, S. 170, Pap. X 1 A 234, SKS, Bd. 21, NB 10 Nr. 453, S. 153, Pap. X 2 A 92, SKS, Bd. 22, NB 13 Nr. 23, S. 288, Pap. XI 1 A 273, SKS, Bd. 25, NB 30 Nr. 91, S. 458 f., SV 18, 125 f.; dazu W. von Kloeden, Kierkegaards View of Christianity: Kierkegaard’s Acquaintance with various Interpretations of Christianity – The Home and School, Bibliotheca Kierkegaaardiana, ed. N./M.M. Thulstrup, Kopenhagen 1978, S. 11–14. Vgl. Henriette Lund, a.a.O., S. 51 f. Bei einem Besuch bei Agerskovs in Buddinge fiel Søren Kierkegaard von einem Baum und bekam einen Schlag in den Rücken. H. Lund verweist darauf, dass die neuvermählte Schwester Petrea beim Unglück dabei war und sich sehr um den Bruder sorgte. Da diese 1828 frisch vermählt worden war, musste das Ereignis des Unfalls kurz danach, also 1829 stattgefunden haben. Hier liegt in der Zeitangabe wohl ein Irrtum vor; denn 1829 wäre Søren 16 Jahre alt gewesen. Dann aber hätte er nicht weinend den Trost von Madame Agerskov gesucht. Aus diesem Grunde haben S. Kühle und Troels-Lund angenommen, dass das Unglück um 1825 stattgefunden hatte. Auch hatte der Schulrektor Søren Kierkegaards diesen Unfall nicht vermerkt. Dazu S. Kühle, a.a.O., S. 62–63; Troels-Lund, Et liv, udg. af Knud Fabrizius, Kopenhagen 1924, S. 25 ff. – Zum Ganzen siehe auch C. Jörgensen, a.a.O., I, S. 29–30. Der Buckel Kierkegaards wurde dann sogar literarisches Signum bei Theodor Haecker mit dem gleichen Titel, in: Opuscula, München 1949, S. 225–310. Der Buckel des dänischen Denkers ist nicht erwiesen. Vielmehr ging es bei dem physischen Leiden um die schwächliche Konstitution. Diese vertiefte dann die schwermütige Grundhaltung.
6. VATER UND S OHN 65 („Salto mortale hinauf in die reine Geistesexistenz“) machen, und zwar vor dem Hintergrund der Schwermut des Vaters, der sie „et Stakkels Bam“ („einem armen Kinde“) auflädt.59 Diese seelischen und körperlichen Gebrechen wurden dann der „Paelen i Kjödet“ („Pfahl im Fleisch“) genannt. Sie bildeten schon für den jungen Kierkegaard die Voraussetzung für die Verbindung von Leiden und Christentum.60 Christentum ist Leiden für die Wahrheit! Auch das Schwergewicht des Wirkens Jesu wird dann auf dessen Leidensgeschichte als seelisches Leiden gelegt. Die Qualen, die Søren seelisch wie körperlich erlebte, ließen ihn gleichzeitig Außerordentliches leisten und hoben ihn geistig aus der Misere des Unwohlseins heraus. Die übertragene Last der Schwermut mit der damit verbundenen Angst wie die übersteigerte Erziehung zum Christentum ergaben das Widerspruchsschema der Aussagen über den Vater: Erzogen von einem Greis, aber ungeheuer streng im Christentum, was als großes Unrecht angesehen wurde. Zugleich wird dieser alte Mann als der beste Vater angesehen. Die Erziehung durch den schwermütigen Geist wird als das Leidvolle schlechthin gewertet.61 2. Die Erziehung mit J.P. Mynsters Predigten wurde als seelische Last empfunden: „Ich bin mit Mynsters Predigten erzogen worden – von meinem Vater. Hier steckt der Knoten; denn meinem Vater konnte natürlich niemals etwas anderes einfallen, als diese Predigten buchstäblich zu nehmen. Erzogen mit Mynsters Predigten – von 59 60 61 Pap. VIII 1 A 177, SKS, Bd. 20, NB 2, 69, S. 170, dazu Pap. XI 1 A 268, 277 u.ö. Zur körperlichen Verfassung S. Kiekegaards siehe Rikard Magnussen, Søren Kierkegaard set udefra, Kopenhagen 1942. Zum „Pfahl im Fleisch“ („Paelen i Kjödet“) siehe bes. Pap. IX A 208, Pap. IX 331 f., Pap. X 2 A 20, SV 18, S. 123. Ausdrucksvoll wird das Leiden geschildert in der Rede zum gleichlautenden Thema über 2. Kor. 12,7 von 1844 in SV 4, S. 290–306, dazu Anm. S. 366; SKS, Bd. 5, S. 317–334, dazu Anm. in: SKS K 5, S. 334 ff. Vgl. Pap. VIII 1 A 177, SKS, Bd. 20, NB 2, Nr. 69, 5.170; Pap. IX A 170, SKS, Bd. 21, NB 6, Nr. 20, S. 19.
66 6. VATER UND S OHN Mynster: ja, das ist eine Frage.“62 Ehe auf die Frage zurückgegriffen wird, muss noch einmal bekräftigt werden, wie tief der Einfluss von J.P. Mynster auf den alternden M.P. Kierkegaard war. Ab 1810 erschienen die verschiedenen Predigtsammlungen des Bischofs. Es ist sicher, dass M.P. Kierkegaard die zweibändige Predigtsammlung von 1823 besaß. Der Sohn Søren schaffte sich später die verschiedenen Ausgaben der Predigtsammlungen von J.P. Mynster an.63 J.P. Mynsters „Betragtninger“ („Betrachtungen“) erschienen erst 1833. Bei der Erziehung des Sohnes Søren musste also M.P. Kierkegaard auf die ersten Predigtsammlungen von J.P. Mynster zurückgreifen. Von einer Tagebuchnotiz her ist es klar, dass M.P. Kierkegaard dahin tendierte, Søren die Predigten J.P. Mynsters memorieren zu lassen, um den Glauben in Verbindung mit dem Gedächtnis zu schulen. Dem Vater war es damit sehr ernst; denn er bot Geld dafür. Er versprach ihm einen Reichstaler dafür, dass er eine Predigt J.P. Mynsters laut vorlese, und vier Reichstaler dafür, dass er eine gehörte Predigt von J.P. Mynster aus dem Kopf abschrieb. Søren betonte, dass er das natürlich nicht tun würde, obgleich das Geld eine starke Versuchung darstellte. Der Fehler des Angebots, so folgerte er, hätte aber nicht beim Vater, sondern bei ihm gelegen, da er nie Kind gewesen wäre.64 Dem Vater galten die Predigten J.P. Mynsters im Laufe der Jahre immer mehr, da sie nicht nur die Spuren der Erweckungsbewegung trugen, sondern auch wie die Predigten zum Reformationsjubiläum 1817 eine gesunde Luther-Orientierung. Nun soll auf obige Fragestellung S. Kierkegaards eingegangen werden: Aufgewachsen mit Mynsters Predigten – „ja, das ist eine Frage“. Inwiefern? Zuerst muss beachtet werden, dass S. Kierke62 63 64 Pap. VIII 1 A 397, SKS, Bd. 20, NB 2, Nr. 267, S. 240; vgl. Pap. X 6 B 212, S. 334, dt. wegen der Textlänge. Ktl. Nr. 228–255, siehe auch Anhang, dazu W. von Kloeden, J.P. Mynster, BBKL, Bd. V, Sp. 74 –76. Pap. X 1 A 137, SKS, Bd. 22, NB 10, Nr. 59, S. 288 f., vgl. Pap. X 5 A 54, SKS, Bd. 25, NB 27, Nr. 53, 165/166.
6. VATER UND S OHN 67 gaard die Einwirkung J.P. Mynsters auf seine Erziehung vermittels des Vaters als wesentliches Faktum vor seiner eigenen reifen Begegnung mit J.P. Mynster ansah. So sind auch die späten kritischen Notizen zu verstehen mit dem Inhalt, dass es eines großen inneren Ringens bedurfte, um sich von J.P. Mynster losreißen zu können. Denn von Jugend an waren dessen Gedanken ihm vertraut gewesen. Der Gottesdienstbesuch bei J.P. Mynster, zusammen mit dem Vater, das Lesen der Predigten Mynsters und dessen Besuche im Elternhaus Nytorv 2 waren von großer Bedeutung für den aufgeweckten Knaben.65 J.P. Mynster hatte sich nach S. Kierkegaard am Bestehenden festgehalten. Gerade von dieser Sicherheit musste sich S. Kierkegaard losreißen, um in der Spannkraft des Geistes einen Weg der eigenen Entscheidung zu suchen. Die geheimnisvolle Pointe dieses Prozesses lag nun gerade darin, dass er einen geistigen Spannungsbogen von Geburt an durch die Anlage zur Schwermut und Phantasie besaß, diese aber ergänzt wurde durch die strenge Erziehung des Vaters zum Christentum hin von frühester Jugend an. Hier spielten nun J.P. Mynsters Theologie und dessen religionspädagogischen Ziele eine große Rolle, denn er betonte ja im Gegensatz zu Herrnhut, dass gerade die geistige Vervollkommnung die Begegnung mit der Gnade und ein echtes Christenleben erst möglich machen. Diese Auffassung J.P. Mynsters wurde von M.P. Kierkegaard zur Erziehung des Sohnes Søren methodisch ausgewertet.66 Genau das aber sah S. Kierkegaard immer wieder als ein Unglück an. Wäre er auf allgemeine Weise erzogen worden, so hätte er, wie er bekennt, seine Schwermut durchbrechen können. Der Vater hatte ihm das Stadium der Kindheit genommen, nämlich das harmonische Beziehungsgeflecht von Geist, Seele und Leib. Mit J.P. Mynsters Programm im Rücken hätte der Vater immer nur den Geist betont, 65 66 Vgl. Pap. XI 2 A 253. Vgl. J.P. Mynster, Betrachtungen über die christlichen Glaubenslehren, deutsche Ausg. 3. Aufl. Gotha 1856, Kap. 4 und 5, S. 25–45. Pap. X 5 B 228, auch X 5 B 149.
68 6. VATER UND S OHN das bedeute für ein Kind immer Grausamkeit und könne niemals vom Christentum her verantwortet werden. Das Stadium der kindlichen Unschuld, der Unmittelbarkeit konnte S. Kierkegaard später nur dichterisch nachempfinden. Die neue, potenzierte, religiöse Unmittelbarkeit musste von ihm schwer genug erstritten werden.67 S. Kierkegaard spürte als Kind, dass er von seiner Konstitution her den Mitschülern unterlegen war. Umgekehrt war er auf geistiger Ebene unschlagbar.68 Die „Einübung“ in eine christliche Grundhaltung, die Geist und Seele stärkt, die der Anforderung des Tages mit Gottvertrauen gegenübersteht, hatte der junge S. Kierkegaard sehr nötig. Insofern war J.P. Mynsters Auffassung der Geistesstärke durch den christlichen Glauben die Richtschnur für die Erziehungsbemühungen des alten M.P. Kierkegaard. Denn die kindliche Seele Sørens war nicht nur durch Schmerz um das Leiden des Vaters erfüllt. S. Kierkegaard musste die Angst in sich selbst eindämmen.69 Äußere Begebenheiten taten ein Übriges. Mit sechs Jahren erlebte S. Kierkegaard den Tod des Bruders Michael, der auf dem Schulhof unglücklich mit einem Jungen zusammenstieß, sich am Kopf verletzte und einige Tage danach am 14. September 1819 starb. Mit neun Jahren stand er am Grabe seiner am 15. März 1822 verstorbenen Schwester Maren Kirstine, der ältesten Schwester, die nur 24 Jahre alt wurde. Bis in seine Jünglingsjahre hinein begleitete ihn das Sterben der beiden anderen Schwestern, des Bruders Niels in den U.S.A. und schließlich der Mutter. Für den alten M.P. Kierkegaard war es die Strafe Gottes, die ihn, wie er meinte, bis zuletzt aufhob. Diese Skrupel übertrug er auf den jüngsten Sohn. 67 68 69 Vgl. Pap. XI 1 A 311 f., SKS, Bd. 25, Nb 30, Nr. 124 f., S. 484. Vgl. Pap. X 1 A 521, SKS, Bd. 22, NB 11, Nr. 213, S. 132. S. Kierkegaard klagte in mehreren Notizen über seine eingeborene Angst und verwies auf sein Sonderschicksal, das sich von einer gesunden Kindheit abhob. Vgl. z.B. Pap. V A 71, SKS, Bd. 18, JJ Nr. 263, S. 224.
6. VATER UND S OHN 69 Als S. Kierkegaard 13 Jahre alt war, brach in der Nachbarschaft ein Feuer aus. Ein chemisches Laboratorium in der Frederiksberggade Nr. 4 brannte in der Nacht vom 1. zum 2. April 1826. Das Feuer griff rasch um sich und bedrohte die Häuser der Nachbarschaft. Das Haus Nr. 4 brannte völlig nieder. Die umliegenden Häuser mussten geräumt werden. Die Familie Kierkegaard flüchtete auf den Marktplatz. Das Haus Nytorv 2 wurde leicht betroffen. P.C. Kierkegaards schriftliche Unterlagen wurden dabei zerstört. Für den ängstlichen Bruder Søren war es ein schockierendes Erlebnis. Um seinem Sohn Søren geistige Kraft als Wappnung gegen die Angst zu geben, griff M.P. Kierkegaard zu verschiedenen Erziehungspraktiken. Die Erziehungsmethoden von M.P. Kierkegaard wurden in der Rückschau des Sohnes, ergänzt durch andere Zeugnisse, bei allen schockierenden Eindrücken als Voraussetzung für die spätere geistige Kräftigung gesehen. Zuerst sollen die die Fantasie anregenden Spaziergänge im Zimmer genannt werden, wo der Vater ihn lehrte, das Große in dem Kleinen zu sehen.70 Nicht nur gegen die Angst wurden die von S. Kierkegaard indirekt angegebenen Spaziergänge auf der Diele und im Zimmer unternommen. M.P. Kierkegaard wollte auch das Denkvermögen seines Sohnes, gepaart mit der Phantasieanstrengung, erweitern. Der Vater hatte die frühe Begabung seines Sohnes erkannt. Alles Äußere sollte im inneren Bild nochmals entstehen und zum Erlebnis potenziert werden. Das war eine gut gemeinte Methode, deren Ergebnis aber in der Unerfüllbarkeit bestand. In der kindlichen Seele musste dieses zu neuen Ängsten führen. Es stellte eine Überforderung dar, die Søren versuchte, elastisch auszuhalten. Der Dialog mit dem Vater, der seine wachsende Schwermut nicht verhehlen konnte, tat ein Übriges. Frühreife braucht nicht zu Ängsten zu führen. Bei Søren aber kam alles zusammen. Die eigene Anlage zur Schwermut, die unterschwelligen Ängste und der Wille, 70 Vgl. Pap. IV B 106, S. 156 ff.; N. Thulstrup, Breve og Aktstykker I, Nr. 112.
70 6. VATER UND S OHN dem verehrten Vater alles recht zu machen, wirkten sich schädigend aus. Ein weiterer Faktor in der Erziehung durch den Vater bildete die gut gemeinte Schockmethode, die aber nicht heilsam war. Der Vater zeigte dem Sohn Bildfolgen, bestehend aus den „Nürnberger Bilderbögen“. Dazwischen tauchte plötzlich das Bild des gekreuzigten Christus auf. Hier zeigt sich der Einfluss Herrnhuts deutlich. Für ein Kind bilden solche Erlebnisse traumatische Erfahrungen.71 Immer wieder wird S. Kierkegaard als reifer Mann auf die blutvolle Leidensgeschichte Jesu zurückkommen und auf die eigenen maßlosen Ängste. Nicht zuletzt ist das Schlusskapitel von „Begrebet Angest“ („Der Begriff Angst“) von 1844 ein Appell an sich selbst. In einer großen Notiz aus dem Jahre 1849 „Digterisk om mig selv“ („Dichterisch über mich selbst“) beschrieb er nochmals seine Kindheitserlebnisse, besonders die Eindrücke der Passionsgeschichte Jesu. Die Menge verspottete Christus. Die Wahrheit wurde verspottet, was auf das Kind Søren einen furchtbaren Druck ausübte. Bitter ist die Bemerkung: „Jeg var, religieust forstaaet, allerede tidligt som Bam forlovet“ („Ich war, religiös verstanden, bereits zeitig als Kind verlobt“).72 Hier zeigt sich noch ein verschärfter Einfluss von Herrnhut. Denn mit dem Motiv der Verlobung mit Jesus Christus und der Betonung seiner Passion ergeben sich zwei Grundsäulen der Christentumsauffassung N.L. Zinzendorfs. Dazu kommt noch Folgendes: S. Kierkegaard nahm die Krankheit als Wesenszug in sein Leben hinein. Nun ist bekannt, dass auch N.L. Zinzendorf die Krankheit als etwas Ganzheitliches sah, 71 72 Vgl. Pap. IX A 68 = SKS, Bd. 20, NB 5, Nr. 65, S. 399, SV 15, 17, SKS, Bd. 11, S. 61 ff., SV 16, S. 167, SKS, Bd. 12, S. 175. Eine gute Zusammenstellung der Erziehungspraktiken durch den Vater M.P. Kierkegaard, allerdings ohne Stellenangaben, bietet Frithiof Brandt, Søren Kierkegaard, Kopenhagen 1963 (deutsch). Pap. X 1 A 272, SKS, Bd. 21, NB 10, 191 a– j, S. 358, SV 9, 178 ff= SKS, Bd. 7, S. 196 f.
6. VATER UND S OHN 71 unabhängig vom Tod. Die besten Genesungskräfte finden sich „in der kindlich-freudigen Selbstverständlichkeit des Verhältnisses zum Heiland“.73 M.P. Kierkegaard wird in Anlehnung an Herrnhut ein ähnliches Verständnis seiner eigenen Schwermut gehabt haben. Sie war ihm zur Bewährung im Glauben beigegeben. In dem äußeren wie inneren Leiden seines Sohnes Søren sah er sicherlich die Basis für eine tiefe Glaubensaneignung.74 Diese drei erwähnten Pfeiler Verlobung (mit Christus), Passion, Krankheit aus dem Erbe herrnhutischer Frömmigkeit sind zu beachten. Sie vertiefen radikal die vorgegebene Theologie J.P. Mynsters. Während bei Søren die körperliche Konstitution schwach war, wurde umso mehr der Geist geschult. Für M.P. Kierkegaard war es selbstverständlich, die geistige Schulung seines Sohnes voranzutreiben. Die Schärfe des Verstandes sollte erprobt werden. Dazu gehörte die oben erwähnte Aufgabe des Memorierens von Mynsters Predigten. Auch als Zuhörer bei den Diskussionsstunden, die sein Vater mit Freunden und dem älteren Sohn veranstaltete, war Søren willkommen. So erlebte Søren den Bruder Peter und andere, wie den emeritierten Pastor J. Homsyld zusammen mit dem disputierenden Vater, in seinen späteren Schülerjahren auch selbst als teilnehmender Partner. Von J. Homsyld ist bekannt, dass er seine theologischen Gespräche noch auf der Straße fortsetzte, wie es später S. Kierkegaard auch tat. Beachtenswert sind die nächtlichen Gespräche M.P. Kierkegaards mit den beiden Söhnen, die in die zwanziger Jahre fallen und bei denen Søren und Peter von den Schuldquälereien und Selbstbezichtigungen des Vaters erfuhren.75 M.P. Kierkegaard 73 74 75 Erich Beyreuther, Zinzendorf III, Marburg/Lahn 1959, S. 153 f. Vgl. die wichtige Notiz Pap. X 2 A 619, SKS, Bd. 23, NB 17: 45, S. 193 f. und die gezogene indirekte Querverbindung zu Paulus in Pap. X 1 A 334, SKS, Bd. 22, NB 11, 38 a, S. 29. Vgl. Meddelelser ved afdøede direktör J. Munthe Brun bei S. Kühle, a.a.O., S. 44; dazu E. Nyström, Peter Munthe Brun og Ane Munchs Slägt, Kopenhagen 1910, S. 2.
72 6. VATER UND S OHN erkannte die Gabe seines Sohnes, dialektisch scharf zu argumentieren. In der Familie wurde für den jungen S. Kierkegaard das Scherzwort „Gafften“ („Gabel“) verwandt. Darüber ist in den Erinnerungen H. Lunds folgende Bemerkung zu finden: „Onkel Søren verkehrte in seinen Knabenjahren regelmäßig im Hause Agerskov; er war von zartem, schmächtigen Aussehen, lief in einem rotkohlfarbigen Rock herum und wurde von seinem Vater gewöhnlich mit Gabel betitelt auf Grund der früh entwickelten Neigung zu satirischen Bemerkungen.“76 Beim Memorieren der Mynsterschen Predigten, veranlasst durch Lockmittel des Vaters in Form von Geld, kam zum Ausdruck, dass S. Kierkegaard schon als Kind eine scharfe Unterscheidungsgabe besaß. Er konnte deutlich zwischen Freiwilligkeit und Zwang, hervorgerufen durch die Lockmittel, trennen.77 M.P. Kierkegaard legte aber auch Wert auf die körperliche Stählung des Sohnes Søren in der Natur mit gleichzeitigem Wecken der Liebe zu dieser, was wieder die Phantasie anregen sollte.78 Die Wurzeln zu den späteren, in allen Schriften sich findenden schönen Naturschilderungen sind hier zu suchen. Die geweckte Freude an der Natur bildete außerdem die Basis für die Zuneigung zu dem Naturforscher und dem Bruder seiner Schwäger Johan Christian und Henrik Ferdinand Lund, der auch mit P.C. Kierkegaard oft zusammen war. Es handelt sich um Peter Wilhelm Lund. Interessant ist – als Erbe seiner jütländischen Heimat – M.P. Kierkegaards Hang zum Aberglauben. Als das Kind Søren einmal ein Salzfass verschüttete, deutete sein Vater dies als Zeichen für ein be76 77 78 H. Lund, a.a.O., S. 17 und 21 in der Übersetzung von Theodor Haecker, Die Tagebücher Kierkegaards 1834–1855, Anhang, München 4. Aufl. 1953, S. 651 f.; vgl. auch C. Weltzer, Peter og Søren Kierkegaard I, Kopenhagen 1936, S. 28. ff. Vgl. Pap. X 5 A 54., SKS, Bd. 25, Nb 27, Nr. 53, S. 166. Vgl. Brief des Vaters M.P. Kierkegaard vom 29.7.1826 an seinen Sohn Peter, bei S. Kühle, a.a.O. S. 29, dazu Pap. II A. 205, 238; SKS, Bd. 17, DD 99, S. 250, DD 122a, S. 257.
6. VATER UND S OHN 73 vorstehendes Unglück.79 Diese Geschichte zeigt aber auch die patriarchalische Dominanz des Vaters, der den Vorfall verallgemeinert und Søren mit seiner ganzen Autorität als Vater grundsätzlich „verlorenen Sohn“ schalt. Der Vorfall hinterließ tiefe Spuren in der Psyche des Sohnes, wurde aber zugleich von Søren selbst später als notwendige Autorität erachtet: „Es liegt etwas von der Größe des Altertums in dieser kleinen Geschichte. Diese Objektivität, die nicht schilt im Verhältnis, wie man selbst affiziert wird, sondern rein objektiv im Verhältnis, wie das Schelten notwendig ist.“80 Als ein weiteres Zeichen für den Aberglauben des alten M.P. Kierkegaard kann man die schon erwähnte Vorstellung von einem termingerechten Sterben der Familienmitglieder vor ihm werten. Gott würde ihn für die aufgeladene Schuld als Letzten in der Familie aufheben. So würde er Stufe für Stufe das Leiden aus der Trauer heraus durchmachen. Unter dem Einfluss des Vaters und durch den frühen Tod der Geschwister bis auf Peter war S. Kierkegaard ursprünglich davon überzeugt gewesen, seinen 25. Geburtstag, den 5. Mai 1838, nicht zu erleben. Als zu diesem Datum nichts geschah, übertrug er zusammen mit seinem Vater die Frist des Todes vor seinen 34. Geburtstag, vor dem bis dahin die älteren Geschwister gestorben waren. Diese fixe Idee wurde auch verbunden mit dem Tode Jesu Christi, den dieser nach der damaligen theologischen Erkenntnis mit 33 Jahren erlitt. Auch gegenüber H. Bröchner erwähnte S. Kierkegaard, dass er jung sterben würde.81 79 80 81 Pap. X 3 A 78, SKS, Bd. 23, NB 18: 34, S. 272, vgl. S. Kühle, a.a.O., S. 57. Ebd. Vgl. Pap. VIII A 100, SKS, Bd. 20, NB.NR. 210, S. 123; dazu H. Bröchner, Erindringer om Søren Kierkegaard. Det 19. Aarhundrede, Kopenhagen 1877, S. 339; F. Brandt, Den unge Søren Kierkegaard, Kopenhagen 1929, S. 12; ders., Søren Kierkegaard, deutsch, Kopenhagen 1963, S. 12; Arnold Ljungdal, Problemet Kierkegaard, Stockholm 1964, S. 33. Eingearbeitet ist diese fixe Idee von S. Kierkegaard bzw. von seinem Vater in SV 4, S. 249, SKS, Bd. 5, S. 274; vgl. dazu die Anm. 349 von E. Hirsch zur deutschen Ausgabe dieser Rede über Joh. Ev. Kap. 3, Vers 30, in: S. Kierkegaard, Gesammelte Werke, 7. bis 9. Abt.,
74 6. VATER UND S OHN Patriarchalisch gebundene Weisheit auf der einen, religiösgrüblerisches Ringen um die Gnade, gepaart mit der angeborenen Schwermut, auf der anderen Seite sind die Pole, die S. Kierkegaards Ringen um das Verständnis für die Persönlichkeit des Vaters in Spannung hielten: „Meinem Vater schulde ich menschlich gesprochen alles. Er hat mich in jeder Weise so unglücklich wie möglich gemacht, hat bewirkt, dass meine Jugend eine Qual ohnegleichen wurde, dass in meinem stillen Sinn ich nicht weit davon entfernt war, mich am Christentum zu ärgern oder dass ich Ärgernis nahm, wenn ich auch aus Ehrerbietung vor diesem beschloss, niemals darüber ein Wort zu einem Menschen zu sagen und aus Liebe zu meinem Vater das Christentum so wahr wie möglich darzustellen im Gegensatz zu dem Geschwätz, das in der Christenheit Christentum genannt wird: und doch war mein Vater der liebevollste (dän.: „kjerligste“) Vater, und meine Sehnsucht war und ist innigst nach ihm; keinen Tag habe ich ausgelassen, sowohl am Morgen wie am Abend seiner zu gedenken.“82 In diesen Sätzen liegt die ganze Lebenslinie S. Kierkegaards begründet. 82 Düsseldorf/Köln 1956, S. 190. Pap. IX A 71 (1848), SKS, Bd. 20, NB 5: 68, S. 401.Wegen der Länge des Textes in deutscher Sprache.
7. D IE S CHULE Für seine Schulbildung war S. Kierkegaard stets dankbar. Seine hervorragenden Kenntnisse der alten Sprachen waren Voraussetzung für seine eigenen wissenschaftlichen Arbeiten. Die „Philosophiske Smuler“ („Philosophischen Brosamen“) von 1844 z.B. sind ohne gute, klassische Bildung nicht denkbar. Die Dissertation „Om Begebet Ironi med stadigt Hensyn til Socrates“ („Über die Ironie mit ständiger Hinsicht auf Sokrates“) von 1841 ist nicht nur eine Huldigung an den Weisen aus Athen, sondern ein dankbares Bekenntnis zur antiken Geisteskultur. Das Schulwesen selbst wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts einer gründlichen Reform unterzogen. 1814 wurde die große Schulreform eingeleitet. Auch äußerlich machte sich das beim Neubau von Schulgebäuden bemerkbar. Man legte Wert auf geräumige, lichte Klassenzimmer. Über die Schulzeit finden sich mehrere Zeugnisse. Zunächst ist auf die Berichte über die ersten Schuljahre hinzuweisen. Diese finden sich als indirekte Zeugnisse in „Enten – Eller II“ („Entweder – Oder II“) von 1843 und in dem Entwurf „Johannes Climacus eller De omnibus dubitandum est“ aus den Jahren 1842/43, veröffentlicht erst 1872.83 Hinter diesen Ausführungen, die mit einiger Vorsicht zu lesen sind, stecken Grunderfahrungen S. Kierkegaards aus seiner Schulzeit. Dann finden sich zwei längere Briefe S. Kierkegaards vom 8. und 25. März 1829 an seinen Bruder P.C. mit detaillierten Angaben über die spätere Schulzeit. Hier liegen auch prägnante Beschreibungen von Charakterzügen einiger Lehrer vor.84 Ergänzt werden diese Aussagen von Erörterungen in den Tagebuchnotizen. Vor allem ist 83 84 Vgl. SV 3, S. 247 f., SKS, Bd. 2, S. 254; der Entwurf: Pap. N B I, S. 107 ff. Die beiden Briefe sind bei S. Kühle, a.a.O., S. 65–70 wiedergegeben.
76 7. D IE S CHULE hier eine Notiz vom Sommer 1838 zu nennen.85 Dazu kommen Berichte von ehemaligen Schulkameraden wie die Zeugnisse der Borgerdydsskole selbst. Zuerst sind die Aussagen von Frederik Welding, dem späteren Stiftspropst zu nennen. Sie sind eine der wichtigsten Quellen zum Verhalten S. Kierkegaards gegenüber seinen Mitschülern. Eine Bestätigung dieser Niederschrift stammt von dem späteren Pfarrer Edvard Julius Anger. Dazu gesellen sich Erinnerungen von Peter Engel Lind, Martin Attrup, Harald Peter Ipsen und von dem Dichter Hans Peter Holst.86 Nach der Ausstellung eines Taufattestes wurde S. Kierkegaard Ostern 1818 in einer Vorbereitungsschule unterrichtet, ehe er später in die Borgerdydsskole aufgenommen werden konnte. In „Enten – Eller II“ („Entweder – Oder II“) gibt es eine idealisierte Darstellung des Schulbeginns: „Da ich fünf Jahre alt war, wurde ich eingeschult [ . . . ]. Ich kam in die Schule, wurde dem Lehrer vorgestellt und bekam nun meine Lektion für den nächsten Tag, die ersten zehn Zeilen in Balles Lehrbuch, die ich auswendig lernen sollte. In dem Alter wusste ich ja wenig Bescheid über meine Pflichten, ja ich hatte sie noch nicht in Balles Lehrbuch kennengelernt, ich hatte nur eine Pflicht, nämlich die, meine Lektion zu lernen, und doch kann ich ganz meine ethische Lebensbetrachtung davon ableiten.“87 Dieses Werk wird ihn auch in den unteren Klassen der Borgerdydsskole begleitet haben. Bischof Nikolai Edinger Balles „Laerebog“ war eine Gemeinschaftsarbeit des orthodox gebundenen N.E. Balle und dem dem Rationalismus zugewandten Christian Bastholm. Es war eine Auftrags85 86 87 Pap. II A 238, SKS, Bd. 17, DD 122 a, S. 257. Vgl. S. Kühle, a.a.O., S. 38–43; S. Johansen (Hg.), Erindringer om Søren Kierkegaard, Kopenhagen 1980, S. 12–20; B.H. Kirmmse (Hg.), Encounters with Kierkegaard, Princeton N.J., 1996, S. 6–14, mit einer zusätzlichen Bemerkung von F. Hammerich. SV 3, 247 f., SKS, Bd. 2, 254. Wegen der Textlänge erfolgt die Wiedergabe deutsch.
7. D IE S CHULE 77 arbeit durch die „Kommission til Almensskolens Reform“ („Kommission für die Reform der Allgemeinschulen“). Ab 1794 wurde das Lehrbuch zur Einführung an allen Schulen empfohlen und sollte die bis dahin geltende Katechismus-Erklärung Erik Pontoppidans ablösen. Von der ererbten Dogmatik wurde die Auffassung von Christus als Beispiel, Lehrer und Versöhner in seinem aktiven wie passiven Gehorsam übernommen. Das ergab wichtige Einflüsse für die später von S. Kierkegaard ausgebaute Christologie. Außerdem wurde die Lehre von der Erbsünde und Versöhnung, von Gesetz und Evangelium aufgenommen. Das Buch trug aber auch den Stempel C. Bastholms, da es ausführlich die Pflichtlehre gegenüber Gott und sich selbst und weniger den dritten Bekenntnis-Artikel behandelte. Dafür bot es naturwissenschaftliche Mitteilungen.88 Für die Entwicklung S. Kierkegaards war es wichtig, dass er hier nicht einseitig festgelegter Theologie begegnete und dass er unabhängig vom Vater eine zweite Quelle für sein Christentumsverständnis in der Vertiefung der Pflichten, der Umreißung des Liebesgebotes fand. 1821 wurde S. Kierkegaard in die solide Borgerdydsskole aufgenommen. Einen guten Einblick in die Verhältnisse der Schule geben die oben erwähnten Berichte. Leiter der Schule war Rektor Michael Nielsen. Dieser wurde von seinen ehemaligen Schülern als strenger, fast tyrannischer Lehrer geschildert. S. Kierkegaards Klassenkamerad Hans Peter Holst hob allerdings M. Nielsens große Willensstärke hervor und wertete sie als Pluspunkt. Hinter der äußeren Strenge musste sich aber ein feines Gespür für die seelische Entwicklung seiner Zöglinge verborgen haben. Das geht aus der sorgfältigen Begutachtung S. Kierkegaards durch M. Nielsen in den beiden Zeugnissen vom 29. Juli 1830 und 29. September 1830 hervor.89 Betont wurde 88 89 Vgl. H. Koch, Den Danske Kirkes Historie V, 1951, S. 435 ff. Iindirekt SV 8, S. 104, SKS, Bd. 6, 5.271, Pap. III A 11; Universitetes arkiv Nr. 1674 – Rigsarkivet u.a., wiedergegeben bei S. Kühle, a.a.O., S. 73–75; dazu B.H. Kirmmse (Hg.), Encounters, a.a.O., S. 14 f.
78 7. D IE S CHULE die Entwicklung der Pflichtauffassung des Schülers S. Kierkegaard, die immer wieder mit dem Erziehungsprogramm des Vaters in Verbindung gebracht wurde. M. Nielsen gab Latein. Sein diesbezüglicher Unterricht schulte den Blick für die grammatischen Regeln als Voraussetzung für jeden Denkansatz. Damit wurde auch der Grund für die Methode geschliffener Dialektik gelegt. Hier ist auch eine Rückverbindung zum Vater zu sehen, der dem jungen Søren wie eine „Incarnation af Reglen“ („Inkarnation der Regel“) erschien.90 M. Nielsen wurde Søren Kierkegaard zum Vorbild. Die Dedikation, die S. Kierkegaard auf ein Exemplar der drei Reden 1843 für Nielsen schrieb, lautet: „min Ungdoms uforglemmelige Laerer, min senere Aars Paradigma“ („dem unvergesslichen Lehrer meiner Jugend, dem bewunderten Paradigma meiner späteren Jahre“).91 Das war durchdacht. Die Anfangspassage der letzten von den eben erwähnten drei Reden 1843 enthält die Betonung der inneren und äußeren Ordnung im Menschen und kann als Spiegelbild der Persönlichkeit von M. Nielsen, aber auch vom Vater M.P. Kierkegaard gewertet werden. In zwei Tagebuchnotizen werden M. Nielsens „aedle Simpelthed“ („edle Einfachheit“) und seine Hilfsbereitschaft hervorgehoben.92 Letztere Eigenschaft des ehemaligen Rektors ist in Reflexionen über die Grundverwirrung im gegenwärtigen christlichen Verhalten eingearbeitet. Dagegen wird die Gottesfurcht im Menschen gestellt. Gerade daraus rekrutiert sich das Engagement für die Hilfe bei den anderen Menschen, vor allem der Jugend gegenüber. Zu M. Nielsens Lebenslauf ist Folgendes zu sagen: Er wurde 1776 in der Nähe von Kolding geboren. 1801 begann er sein Studium in Kopenhagen. 1802 wurde er in der üblichen Weise in Phi90 91 92 Vgl. SV 3, 248 f., SKS, Bd. 3, 256. N. Thulstrup (Hg.), Breve, a.a.O., I, 337. Wegen der Textlänge erfolgt die Wiedergabe deutsch. Pap. VII 1 A ll, SKS, Bd. 18, JJ Nr. 421, S. 280, Pap. X 5 A 40, SKS, Bd. 25, NB 27, Nr. 40, S. 153 f.
7. D IE S CHULE 79 losophie geprüft und konnte dann von dieser Basis her Theologie studieren. Aus pekuniären Gründen musste er vorzeitig das Studium abbrechen. Er unterrichtete nun an verschiedenen Schulen, bis er 1811 zum Rektor der Borgerdydsskol berufen wurde. Hier fungierte er auch, wie schon berichtet wurde, als Lateinlehrer, der auch S. Kierkegaard von 1821 bis 1830 unterrichtete. Wegen seiner Verdienste um das Schulwesen erhielt M. Nielsen 1822 den Ehrentitel „Professor“. In seiner Zeit wurde das Lernen intensiviert. Dazu holte er tüchtige Pädagogen an seine Schule. So wuchs die Schülerzahl. 1844, im Alter von 68 Jahren, wurde M. Nielsen in den Ruhestand versetzt. Im Februar 1846 verstarb er. M. Nielsens Strenge war nicht tyrannisch ausgerichtet. Alles ordnete er der Disziplin unter. Er verlangte, wie verschiedene seiner Schüler bezeugten, auf präzise Fragen präzise Antworten.93 Nach den Briefzeugnissen von F. Welding und E.J. Anger aus dem Jahre 186994 war neben M. Nielsen der Lehrer Severin Claudius Wilken Bindesböll für S. Kierkegaard von großer Bedeutung. Letzterer hatte S.C.W. Bindesböll als Lehrer in Dänisch in der Klasse I A, also in der Oberstufe. Hier lernte S. Kierkegaard exakt die grammatischen Regeln der dänischen Sprache und die Handhabung eines guten Sprachstils, worin er bald Meister wurde. Auf diesen wichtigen Lehrer ist näher einzugehen. S.C.W. Bindesböll wurde am 16. Februar 1798 auf dem Ledöje Pfarrhof als 93 94 Vgl. die Briefberichte seiner ehemaligen Schüler F. Welding, dem späteren Stiftspropst in Viborg, und Edvard J. Anger, dem späteren Pfarrer. Letzterer war acht Jahre lang mit Søren Kierkegaard in einer Klasse. Die Briefberichte sind aufgenommen in: S. Johansen (Hg.), Erindringer, a.a.O., S. 6–10, B.H. Kirmmse (Hg.), Encounters, a.a.O., S 6–10 (engl. Ausg.), H. Ulrich (Hg.), Kierkegaard-Auswahl I, a.a.O., S. 31–36 (deutsch), vgl. auch dazu S. Kühle, a.a.O., S. 35 ff., C. Jörgensen, Søren Kierkegaard I, a.a.O., S. 23, schließlich S. Johansen, M. Nielsen, in: Bibliotheca Kierkegaardiana, hg. von N. Thulstrup/M.M. Thulstrup, Bd. 10, Kopenhagen 1982, S. 9 ff. mit Quellenangaben und dem vollständigen Text der Widmung. Siehe Anm. 13.
80 7. D IE S CHULE Sohn des angesehenen Pfarrers Jens Bindesböll geboren. Er wurde Schüler der damals bedeutenden Roskilde-Schule und zog dann mit seinem jüngeren Bruder Mikael Gottlieb Birkner Bindesböll (1800– 1856, u.a. Erbauer des Thorwaldsen-Museums im Zentrum von Kopenhagen) in die Hauptstadt zum Studium der Theologie. Dieser Bruder spielte im Leben von S.C.W. Bindesböll eine bedeutende Rolle. Als Architekt führte er seinen Theologenbruder in die Ästhetik der Baukunst ein. Diesem verdankte S.W.C. Bindesböll den Blick für die Schönheit von Kunst und Leben. So wurde S.C.W. Bindesböll selbst Ästhet. Er brachte seinen Schülern den Blick für das Ebenmaß der Poesie nahe. Über das Theologiestudium hinaus galt der dänischen Literatur sein besonderes Interesse. Nach dem theologischen Kandidatenexamen war er Notarius bei der Theologischen Fakultät und gab Religionsunterricht, was ihn in der Hauptstadt sehr bekannt machte. Unter anderem unterrichtete er auch in der Borgerdydsskol ev. Religion und Dänisch. Dadurch übte er Ende der zwanziger Jahre großen Einfluss auf S. Kierkegaard aus, der bei ihm diese Unterrichtsfächer in der Oberstufe bis 1830 hatte. Von 1832–1834 machte S.C.W. Bindesböll eine Auslandsreise. 1838 wurde er zum Gemeindepfarrer von Nakshov und Brönderslev berufen. 1851 wurde er zum Bischof des AalborgStiftes, 1856 zum Bischof des Laaland-Falster-Stiftes ernannt. In dieser Funktion starb er am 30. Januar 1871. S.C.W. Bindesböll war nicht nur ein tüchtiger Bischof, sondern gab sich auch theologisch-erbaulichen Gedanken hin. U.a. schrieb er die damals beliebten „Tanker til Eftertanke over Sön- og Festdagsevangelier“ („Gedanken und Nachgedanken über die Sonn- und Feiertagspredigten“), 2. Auflage 1875. Schon als Pfarrer übte er ein politisches Amt aus. Er wurde 1848 geistliches Mitglied der Ständeversammlung in Roskilde. Als süddänischer Bischof war er von 1866 bis 1870, also bis kurz vor seinem Tode, Mitglied des Land-
7. D IE S CHULE 81 stings für das Amt Maribo. 1868 wurde er außerdem zum Mitglied der Kirchenkommission berufen.95 Bei diesem ausgezeichneten Lehrer hatte S. Kierkegaard in der obersten Klasse nur noch wenige Stunden Dänisch und Religion. Das wurde ausgeglichen durch das ebenfalls von jenem gegebenen Fach „Stil“ bzw. „Dänische Stilübungen“. Die Begegnungen zwischen Lehrer und Schüler waren intensiv. Hier kamen Geist und Geist zusammen. Die Schnelligkeit und Präzision in der Erfüllung der Stilaufgaben durch S. Kierkegaard wurden von seinem ehemaligen Schulkameraden E.J. Anger besonders hervorgehoben.96 In den Stilübungen teilten sich S.W.S. Bindesbøll für die dänische und Rektor Nielsen für die lateinische Sprache. Diese Stilübungen wurden wichtig für die spätere schriftstellerische Tätigkeit S. Kierkegaards. Der Unterricht im sprachlichen Stil wird im Weldingbrief vom 3. September 1869 an Hans Peter Barfod ausdrücklich erwähnt.97 Hier werden auch noch andere Lehrerpersönlichkeiten genannt, die S. Kierkegaard ab 1826 unterrichteten. Neben Rektor Nielsen gab teilweise Professor Carl Emil Scharling Lateinunterricht. Der Pfarrer J.E. Storch (richtig: „Storck“) gab zeitweise Unterricht in Dänisch und Religion. Unter ihm schrieb S. Kierkegaard einen stilistisch fundierten und inhaltsreichen Aufsatz über das Thema von Reise und Vergnügen nach bzw. in Charlottenlund. Er alludierte hierin geschickt den Namen der Verlobten von Storck: „Charlotte Lund“.98 Professor L.H. Warncke, der den beliebten Lehrer in Geographie und Geschichte D.V. Friedensreich abgelöst hatte, kam nicht so gut weg. Er wurde zwar als fleißiger Mann geschildert, aber zugleich als schwache Persönlichkeit. S. Kierkegaard kritisierte ihn wegen seiner Übertreibungen. Er durchschaute die Schwächen dieses Lehrers.99 In 95 96 97 98 99 Vgl. KLN I, 321. S. Johansen, Hg., Erindringer, a.a.O., S. 15; siehe auch Anm. 93. S. Johansen, Hg., Erindringer, a.a.O., S. 12. S. Johansen, Hg., Erindringer, a.a.O., S. 17. Vgl. S. Kühle, a.a.O., S. 38, 41.
82 7. D IE S CHULE Mathematik wurde S. Kierkegaard in der Klasse I B der Oberstufe von G.J. Martensen unterrichtet, der von Beruf her eigentlich Kontorchef war. Der Deutschlehrer Boy Mathiesen, ebenfalls Professor, wurde von F. Welding als schwache Persönlichkeit charakterisiert. Er schien gegenüber den intelligenten Jungen völlig hilflos.100 Beeindruckend als Lehrerpersönlichkeit war Ludvig K. Müller. Er gab Religion und Hebräisch. Müller war umfassend gebildet und auch als Historiker und Sprachwissenschaftler auf hohem Niveau. Latein und Hebräisch gab auch der spätere Rektor in Odense Rudolph Johannes Frederik Henrichsen. Neben dem späteren Rektor in Aarhus C.F. Ingslev und dem späteren Rektor in Sorø und Roskilde Ernst Frederik Christian Bojesen gab P.C. Kierkegaard bis zu seinem Weggang 1828 dem Bruder Søren Griechischunterricht. Dieser schien den älteren Bruder nicht für voll genommen zu haben. Es gab immer wieder kleine Störungen. S. Kierkegaard gab später selbst an seiner ehemaligen Schule Lateinunterricht.101 Im Gegensatz zu den heutigen Unterrichtsplanungen war die Woche damals mit Unterrichtsstunden von früh bis abends ausgefüllt. Nur der Mittwochnachmittag war frei. Vorrang hatten die alten Sprachen, in deren Beherrschung S. Kierkegaard meisterlich war. Ohne die glänzenden Kenntnisse in Griechisch und Latein, aber auch in Hebräisch wäre er nicht in der Lage gewesen, die Dissertation wie die pseudonym herausgegebenen Werke geschrieben zu haben.102 Übrigens war der oben erwähnte Hebräischlehrer L.K. Müller häufiger Gast bei M.P. Kierkegaard.103 Es gab also über die Schule hinaus auch private Verbindungen zu den Lehrkräften der Borgerdydsskol. Zu beachten ist Folgendes: Von den 45 Wochenstunden Unterricht in 100 101 102 103 Siehe Anm. 98. Vgl. S. Kühle, a.a.O., S. 38 ff. Vgl. Sophia Scopetea, Kierkegaard og graeciteten. En kamp med ironi, Kopenhagen 1993. Siehe W. von Kloeden, Kierkegaards View of Christianity: The Home and the School, a.a.O., S. 15.
7. D IE S CHULE 83 den obersten Klassen dienten 22 den alten Sprachen.104 Nimmt man die Stilübungen im Lateinischen hinzu, dann ergibt sich für die alten Sprachen die größere Hälfte. Seitens der Klassenkameraden wird über die Schülerjahre S. Kierkegaards nichts Aufregendes berichtet. Er galt als fleißig und von den verschiedenen Lehrern her als ordentlicher Schüler. Der Dichter H.P. Holst berichtet, dass man an Søren keine großen Erwartungen knüpfte. Nicht einmal wurde er als „et godt Hoved“ („ein kluger Kopf“) angesehen. Allerdings galt er als ein guter „Lateiner“. Er zeigte keine Anlage zum Schriftsteller, keine Lust zum Disputieren. In ihm fand sich nach H.P. Holst kein Zeichen einer scharfsinnigen Dialektik, die ja später zum tragenden Grund seines Denkens wurde.105 So wurde auch betont, dass keine besondere Leistungs- und Verhaltensart von Søren den anderen Schülern als mustergültig vorgestellt wurde. Allerdings war er zum Necken aufgelegt und sein „beskidte mund“ („ungewaschenes Maul“), wie sich E.J. Anger erinnert, „kostede ham mangen blodige naese“ („kostete ihn oft eine blutige Nase“).106 Dieser Ausbruch zum Foppen der Mitschüler ist auch bei F. Welding belegt.107 Drei weitere Zeugen mögen noch angeführt werden, um die Tendenzen zum Spott an seinen Mitschülern zu erhärten. Ein Brief von Pastor F. Schiödte in Aarhus vom 12. September 1869 an Barfod enthält folgende Charakterisierung: „Sein Sinn fürs Lächerliche war groß, und dieser Sinn bekam frühzeitig eine höhere Weihe dadurch, dass er durch seine eigene Innerlichkeit hindurch den Mangel an Innerlichkeit und die Leere bei den anderen fühlte und perzipierte.“108 104 105 106 107 108 Zur Rekonstruktion des Stundenplans siehe Emanuel Skjoldager, Søren Kierkegaard og mindesmaerkerne, Kopenhagen 1983, S. 57. Siehe Anm. 86 und die Quellenangabe bei C. Jörgensen, Søren Kierkegaard, a.a.O., S. 22 f. Ebd. Siehe Anm. 86 und C. Jörgensen, a.a.O., S. 24. Text bei H. Ulrich, Kierkegaard, Tagebücher, a.a.O., S. 36; dieser Briefauszug
84 7. D IE S CHULE Vertieft wird diese Aussage durch eine Betrachtung von Bischof P.E. Lind in Aalborg, mitgeteilt in einem Brief vom 16. September 1869 an H.P. Barfod. Lind betonte, dass S. Kierkegaard von seinen Mitschülern als „et vittigt Hoved“ („ein witziger Kopf“) betrachtet wurde. Es war gefährlich, mit ihm Streit zu bekommen, „da er seine Gegner lächerlich zu machen verstand“. Dabei war die Einstellung der Mitschüler die, „dass er im Grunde ein guter Junge sei“.109 Schließlich sei auf das Zeugnis der Familie Munthe-Brun hingewiesen. Hier geht es um eine an jeder Schule sich begebende Handlungsweise seitens eines oder mehrerer Schüler bzw. Schülerinnen. Folgendes wird berichtet: Eines Tages saß ein großer Junge in der Schule und weinte. Als ein Lehrer vorbeikam und den Jungen fragte, warum er Tränen vergießen würde, antwortete er: „Søren driller“ („Søren neckt“). Aber der Lehrer sagte nur: „Hvad saa? Du kunde jo let putte ham i den bukselomme“ („Was soll das? Du könntest ihn ja leicht in deine Hosentasche stecken“).110 Diese Berichte bestätigen die Schärfe des Geistes verbunden mit der Wehrhaftigkeit von dem jungen Schüler Søren. Spott und Neckereien bildeten die unsichtbare Abwehrmauer. Zu den eben angeführten drei Zeugen muss sich der Bericht über ein weiteres Ereignis gesellen. Jener ist in der bisherigen Forschung zu wenig beachtet worden. Es geht um den Bericht des Leutnants Frederik Meidell, eines Freundes von P.C. Kierkegaard, mitgeteilt in einem Brief an H.P. Barfod vom 7. November 1869. Die entsprechenden Zeilen zeigen die Gegenwehr der Schulkameraden, gereizt durch die scharfe Dialektik des jungen S. Kierkegaard. Hier offenbart sich die Brutalität des „Alle gegen Einen“. Diese zieht tiefe seelische Wundmale bei den Opfern nach sich. Das Ereignis einer „Klas- 109 110 kommt nicht bei S. Kühle, S. Johansen und B.H. Kirmmse (s.o.) vor. Textpassagen wegen der Länge deutsch. Vgl. S. Johansen, Erindringer, a.a.O., S. 16, B.H. Kirmmse, Encounters with Kierkegaard, a.a.O., S. 11, deutscher Text bei H. Ulrich, Kierkegaard Tagebücher, a.a.O., S. 36 f. Berichtet von S. Kühle, a.a.O., S. 42.
7. D IE S CHULE 85 senkeile“ hinterlässt immer tiefe Spuren, besonders in einer zarten Seele. F. Meidell berief sich in seinem Brief auf S. Kierkegaards früheren Schulkameraden, späteren Justizrat Thorup, der ihm vom Zorn der Klasse über Sørens ätzende „Dialektik“111 berichtet hatte. Die Klasse beschloss demnach, ihm, Søren, deshalb „Strammbuchs“ zu geben, d.h. ihn mit Linealen, Buchriemen usw. zu traktieren.112 Der junge S. Kierkegaard hatte es nötig, sich mit der Schärfe seines Geistes zu wehren. Umgekehrt gab es nämlich viel Spott, aber auch Mitleid über seine Kleidung. Diese war aus grobem Tuch und merkwürdig geschnitten. Er kam immer mit Schnallenschuhen, nicht mit den üblichen Stiefeln und trug Wollstrümpfe. Diese Kleidung ähnelte der des Kirchenschülers. Daher wurde er „Chordrengen“ („Chorknabe“) genannt. Die einfache, altmodische Kleidung führte mit Hinweis auf den früheren Beruf des Vaters als Strumpf- und Wollwarenhändler zu dem weiteren, wenig schmeichelhaften Spitznamen „Søren Sock“.113 In S. Kierkegaards Schulzeit fiel die Konfirmation am 20. April 1828 in der Frauenkirche durch den damaligen Hausseelsorger und Schlosskapellan J.P. Mynster, der ja im Leben von Vater und Sohn Kierkegaard eine entscheidende Rolle spielte. Hier ist folgender Einschub für die Zeitspanne des Schulbesuchs von S. Kierkegaard wichtig: Für Vater und Sohn Søren war es, wie schon oben erwähnt, ein schwerer Schlag, als in Folge eines Unfalls auf dem Schulhof der elfjährige Bruder Sørens, Søren Michael, 1819 starb. Vermutlich war die Todesursache eine Hirnblutung. Drei Jahre später 1822 starb die 111 112 113 Bei V. Ammundsen, Søren Kierkegaards Ungdom, a.a.O., S. 50, Anm. 1; H. Ulrich, Kierkegaard Tagebücher, a.a.O., S. 576, Erläuterung zu Anm. 54. Ebd. Nach dem Welding-Bericht, u.a. bei S. Johansen, Erindringer, a.a.O., S. 13, deutsch bei H. Ulrich, Søren Kierkegaard, 2. Teil: Die Tagebücher, a.a.O., S. 31 f.; Joakim Garff hat einen diesbezüglichen Unterabschnitt im 1. Teil seiner umfassenden Biographie über Kierkegaard mit „Socken-Søren“ betitelt; deutsche Ausgabe München 2004, S. 29 ff., die dänische Ausgabe ist 2000 in Kopenhagen erschienen.
86 7. D IE S CHULE Die berühmte Christusdarstellung von Bertel Thorvaldsen in der Frauenkirche, in der Sören 1828 konfirmiert wurde. Foto: Internet älteste Schwester Maren Kirstine, wahrscheinlich an einer Nierenentzündung. Sie war die Lieblingstochter des alten M.P. Kierkegaard. Auf diese Schicksalsschläge muss noch einmal deutlich hingewiesen werden. Eine gewisse Gegenwirkung ergaben die Hochzeiten der beiden schon erwähnten Schwestern Søren Kierkegaards. Nicoline Christine, geb. am 25. Oktober 1799, wurde am 24. September 1824 mit dem Tuchhändler und späteren Handelsagenten Johan Christian Lund durch den Hausseelsorger J.P. Mynster getraut. Petrea Severine, die Lieblingsschwester Sørens, geb. am 7. September 1801, feierte am 11. Oktober 1828 mit dem damaligen Assistenten, dem späteren Justizrat und Kontorchef an der Nationalbank, Henrik Fer-
7. D IE S CHULE 87 dinand Lund Hochzeit. Die beiden Schwager S. Kierkegaards waren Brüder. Zu Henrik Ferdinand Lund ergab sich ein besonderes Verhältnis, indem S. Kierkegaard ihm sein ganzes Geldvermögen zur Aufbewahrung in der Bank anvertraute. Diese sollte ohne Zinsgewinn geschehen. Jener wandte sich energisch gegen den Plan, willigte schließlich ein und bewahrte das Geld auf, bis S. Kierkegaard sich von seinem Schwager H.F. Lund den letzten Teil aushändigen ließ.114 Am Ende der Schulzeit in der Borgerdydsskol reichte Rektor Nielsen, wie es damals üblich war, zur Dimittierung von S. Kierkegaard am 29. Juli 1830 ein „Skole-Vidnesbyrd“ („Schulzeugnis“) und ein lateinisches Testimonium für die ihn aufzunehmende Kopenhagener Universität ein. Ohne diese Zeugnisse war das Examen Artium, das vor der Aushändigung des akademischen Bürgerbriefes bestanden werden musste, nicht möglich. Nielsens Zeugnis enthält folgende Merkmale zum Charakter und zum Verhalten S. Kierkegaards:115 Er sei zwar „et godt Hoved“ („ein guter Kopf‘), aber zeigte doch lange Zeit ein kindliches Wesen. Ihm würde der „Alvor“ („Ernst“) fehlen. Er zeige eine „Lyst“ („Neigung“, „Lust“) zur „Frihed og Uafhaegighed, der ogsaa i hans Opförelse viser sig i en godmodig untertiden pudselig Ungeneerthed“ („Freiheit und Unabhängigkeit, die sich aber in seinem Auftreten in einer gutmütigen, bisweilen possierlichen Ungeniertheit“) offenbare. Er habe keine lange Ausdauer im geistigen Eindringen in die vorgegebene Materie. Hervorzuheben sei aber die gute geistige Tätigkeit in den späteren Schuljahren. Hier sei auch ein Anwachsen von Ernst zu verspüren. Daraus ist zu folgern, dass S. Kierkegaard später ähnlich wie sein Bruder an der Universität zu den „Dygtige“ („Tüchti114 115 Vgl. H. Lund, Erindringer, a.a.O., S. 42, 166–168; T. Lund, Et Liv, Kopenhagen 1924, S. 211–213. Der vollständige Text findet sich u.a. bei S. Johansen, Erindringer, a.a.O., S. 20 f.
88 7. D IE S CHULE gen“) gehören wird. Gelobt wird sein „aaben“ („offener“) und „ufordaervet“ („unverdorbener“) Charakter. Erwähnt wird dann das Schicksal des auf dem Schulhof beim Spielen verunglückten Bruders, das Folgen für die Entwicklung S. Kierkegaards gehabt haben könnte. Dann folgt die Aufzählung von dessen selbst angegebener Lektüre. Es sind vor allem die üblichen Werke altgriechischer und lateinischer Autoren. Soweit das Zeugnis. Bedenkt man allerdings, dass S. Kierkegaard selbst die Auswahl von Homer bis Horaz getroffen hat, dann ergibt sich ein noch reicherer Literaturhintergrund. Auch im Deutschland des 19. Jahrhunderts – bis in das 20. Jahrhundert hinein – gab es am Humanistischen Gymnasium ein großes Angebot an altgriechischer und lateinischer Literatur. Die bedeutende humanistische Bildung zeigte sich bei dem jungen S. Kierkegaard in der Lektüre der frühplatonischen Dialoge „Eutyphron“ und „Kriton“. Jene ermöglichte die Vertiefung in die griechisch-philosophischen Denkprozesse und in das Philosophieren überhaupt. Das erwies sich, wie schon angedeutet, als wichtig für die Dissertation 1841 mit dem Eingehen auf die sokratische Ironie und für die pseudonymen Grundschriften 1844. Das auch lateinisch gefasste „Testimonium“116, das an Rektor und Professorenschaft der Universität Kopenhagen gerichtet ist, beginnt sehr weitschweifig mit Gedanken von Cicero: „Zuerst, sagt Cicero, müssen die Bürger davon überzeugt sein, dass alle Begebenheiten in Kraft ihrer göttlichen Macht geschehen. [ . . . ] Dass Menschen, deren Sinn von diesen Gedanken durchtränkt ist, keineswegs vom Wahren abweichen [ . . . ].“ Dann heißt es weiter, auf den jungen S. Kierkegaard bezogen: „Der ehrwürdige junge S.A. Kierkegaard hat sich zeitig daran gewöhnt, die Grundlage für sein Leben in dieser Überzeugung zu suchen, nämlich den Ausgang der Geschehnisse danach zu beurteilen.“ Dann kommt Nielsen auf den Einfluss der Eltern auf 116 Siehe Anm. 115. Das gilt auch für die folgende Übersetzung und die Gedankengänge des „Testimonium“. Wegen der Länge hier deutsche Übersetzung.
7. D IE S CHULE 89 den Sohn Søren, besonders auf deren tiefe Religiosität, zu sprechen. Dabei bezieht jener, was selten genug ist, die Mutter mit ein. Nielsen kommt dann auf das Vorbild des Bruders Peter Christian zu sprechen, in der Hoffnung, dass S. Kierkegaard ihm gleich wird. Erwähnt wird dann nochmals der Vater und dessen Verbindung von Berufstätigkeit und philosophisch-theologischer Orientierung: „Sein Vater hat nämlich nach der Vorschrift der Philosophie Handel getrieben und mit seiner Geschäftsführung das Lesen theologischer, philosophischer und schön literarischer Bücher vereint. Und seine Weisheit und Güte ist in seinem Verhalten und besonders in seiner Kindererziehung zu sehen.“ Es spricht für den Pädagogen alten Schlages, dass er das Umfeld seines Zöglings beleuchtet und damit selbst seine eigene, innerste Saite zum Klingen bringt. Dem großen Lob auf das Elternhaus folgt daher der Hinweis, dass der junge Mann auf das Beste für das Studium empfohlen wird.

8. Z USAMMENFASSUNG DER EIGENEN B EURTEILUNG VON K INDHEIT UND J UGEND IM RÜCKBLICK DURCH S. K IERKEGAARD SELBST Bei diesem Rückblick geht es um Einsicht in die Tagebuchnotizen. Problematisch ist es immer, die Aussagen in den pseudonym gehaltenen und schriftstellerisch begründeten Quellen zu suchen. Natürlich spielen hier eigene Erfahrungen hinein. Doch steht das Poetische im Vordergrund, wie es die Einsatzstücke in den „Stadier paa Livets Vei“ („Stadien auf dem Lebensweg“) von 1845 bekunden.117 Im Zentrum der Tagebuchnotizen über die Kindheit steht das Schlüsselwort der „olykkelige Individualität“ („unglücklichen Individualität“). Von früh an hat sich S. Kierkegaard so verstanden. Diese liegt in dem „Missverhältnis zwischen Leib und Seele“ begründet. Der „alte Mann“, wie S. Kierkegaard weiter mitteilt, war in seiner Schwermut den Anfechtungen auf dem Gebiet des Glaubens ausgeliefert. Er legte die ganze Last seines Alters auf den Sohn. Die Spannkraft des Geistes machte es diesem möglich, dass er dennoch wirken konnte.118 In der strengen Liebe ist dann der Vater im „Dennoch“ zu sehen: Er ist der „bedste Fader“ („beste Vater“).119 Durch 117 118 119 Vgl. SV 8, S. 52–168, SKS, Bd. 6, S. 217–337. In der Zusammenfassung alle Zitate in deutscher Übersetzung. Pap. VII 1 A 126, SKS, Bd. 20, NB: 34, S. 35. Pap. VIII I A 177, SKS, Bd. 20, NB 2: 69, S. 170.
92 8. Z USAMMENFASSUNG diese Hypothek der Belastung brauchte der Sohn lange Zeit, „um im tiefsten Sinne zu sich selbst Du zu sagen“.120 Das Geheimnis der Schwermut ist zu sichern. Es liegt tief im Inneren des Menschen, und schon ein Kind kann in der Schwermut sein.121 Das bezieht S. Kierkegaard natürlich auf sich. Auch das Bekenntnis zum Leiden führt in die eigene Kindheit zurück. Und auch hier ist es die erste Last der Schwermut, die das Kind erlebt hat: „Seit meiner frühesten Kindheit hat ein Pfahl des Kummers in meinem Herzen gesteckt. So lange er da sitzt, bin ich ironisch, wird er herausgezogen, sterbe ich.“122 Ein gesunder, starker Mensch war er nie. Dieses Unglück hat sein ganzes Leben bestimmt.123 Hier spielt auch seine Ängstlichkeit hinein, die er mit H.C. Andersen teilt. Wie oft hat er sich gewünscht, voll körperlicher Kraft zu sein: „In der Zeit meiner Jugend ist meine Qual furchtbar gewesen.“124 Auch wenn er von einem schwermütigen Greis erzogen worden ist, so bleibt das Bekenntnis, dass die strenge Erziehung zum Christentum durch diesen greisen Vater entscheidend für das Leben und seine Theologie gewesen ist. Es ist „det glade Budskab – for Tungsindige“ („die frohe Botschaft für Schwermütige“).125 120 121 122 123 124 125 Pap. VIII lA 27, SKS, Bd. 20, NB: 141, S. 97. Pap. VIII 1 A, 179, 191, 239, SKS, Bd. 20, NB 2: 71, NB 2: 79, NB 2: 125, S. 171, 173. Pap. VIII 1 A 205, SKS, Bd. 20, NB 2:92, S. 179. Pap. IX A 74, SKS, Bd. 20, NB 5:71, S. 402. Pap. IX A 74, SKS, Bd. 20, NB 5:71, S. 402. Pap. IX A 70, SKS, Bd. 20, NB 5:67, S. 400, hier: Pap. VIII 1 A, 341, SKS, Bd. 20, NB 2:219, S. 225.
9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS S. Kierkegaard ist jetzt 18 Jahre alt. Zur Studienzeit ist Folgendes vorauszuschicken: Die Basis für ein Interesse an theologischen Grundfragen wurde durch die Erziehung bei S. Kierkegaard gelegt. Ein Studium der Theologie – auch nach dem Willen des Vaters – bedeutete für den jungen Kierkegaard alles andere als ein striktes Durchhalten von Besuchen theologischer Lehrveranstaltungen. Das Pensum war breit gestreut. Der Orientierungswille war also weitgehend. So hatte die dänische wie deutsche Literatur einen großen Stellenwert. Vorrang aber hatte die Einübung in die Exegese, das Übersetzen neutestamentlicher Texte und die Lektüre der lateinischen Quellen zur alten Kirchengeschichte. All das bietet das Bild einer soliden Vorbereitung. In den gestreuten Notizen der ersten Zeit kommen immer wieder Anmerkungen zum christlichen Glaubensgut vor, die sich ab 1838 verdichten. Vor dem Tod des Vaters und vor allem danach im gleichen Jahr 1838 zeigt sich die Besinnung auf dessen Erbe. Die Reifeprüfung wurde damals in Dänemark nicht am Ende der Schulzeit vor dem Kollegium der Schule gemacht. Zuständig war die Universität, die eine Gewähr dafür haben wollte, dass der kommende Student für das Studium gewappnet war. Die Universität verlangte für die Sicherung des akademischen Bestandes zwei Examen. Außerdem galt als Voraussetzung für die Annahme des Studierenden ein Schreiben des Rektors der Höheren Schule, das Leistung und Charakter hervorheben sollte. Dies geschah, wie schon erörtert, durch Rektor M. Nielsen in zwei Schreiben S. Kierkegaard betreffend.
94 9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS Das „Examen artium“ im Oktober 1830 vor der Kommission der Universität Kopenhagen bestand S. Kierkegaard mit Bravour. Er wurde im dänischen Aufsatz, in Geschichte, Griechisch, Französisch, Latein, Hebräisch, Religion, Arithmetik, Geometrie und Deutsch geprüft. Das Examenszeugnis wies für die ersten vier Fächer ein „laud. prae ceteris“ („ausgezeichnet gut“) auf, für die übrigen Fächer ein „laud.“ („laudabilis/sehr gut“). Mit dem Prüfungsergebnis vom 30. Oktober 1830 war das erste Examen beendet.126 Der Ordnung nach wurde S. Kierkegaard am 1. November 1830 in das Dänische Königliche Leibkorps und zwar in die 7. Kompanie des Studentenkorps aufgenommen. Bereits am 4. November wurde er wieder als untauglich für den Militärdienst entlassen. So konnte er sich für das „Studium generale“ einschreiben, an dessen Ende das zweite Examen stand. Bevor auf S. Kierkegaards Eintritt in das Universitätsleben eingegangen wird, muss Grundsätzliches zur Universität Kopenhagen gesagt werden. Vom 4. Oktober 1478 stammt die alte Privilegurkunde, welche die Universität der dänischen Hauptstadt zu einer in sich selbständigen Lehranstalt unter der Oberaufsicht des Bischofs von Roskilde als Kanzler machte. Das Personal der neuen Universität erhielt eine eigene Jurisdiktion. Der Dompropst Peder Albertsen wurde zum Prokanzler ernannt. Er nahm Kontakte mit der Universität Köln auf und holte von dort die ersten Lehrer und Studierenden. Im Jahre 1539 erfolgte eine neue Ordnung: „fundats og ordinans“ durch Johanes Bugenhagen. Als Vorbild diente die Universität Wittenberg. Die bisher scholastisch ausgerichtete Universität Kopenhagen wurde nun vom protestantischen Geist durchwirkt. In der Novelle Christian IV. („novellae constitutiones“) wurde eine Reform durchgeführt. Die Universität erweiterte man von außen und innen. 126 Vgl. S. Kühle, Søren Kierkegaard. Barradom og Ungdom, Kopenhagen 1930, S. 71; N. Thulstrup (Hg.), Breve og Aktstykker vedrörende Søren Kierkegaard, I, Kopenhagen 1953/1954, S. 6; C. Jörgensen, Søren Kierkegaard. En Biografi, Bd. I, Kopenhagen 1964, S. 31 f.
9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS 95 1623 wurde das „Regens“ eingerichtet, das als Wohnstatt für die Studenten ausersehen war. 1642 errichtete man das Observatorium im „Rundetaarn“ („Runden Turm“). Dazu kam ein „anatomisches Theater“. In dieser und der nachfolgenden Zeit gab es bedeutende Lehrer, wozu man auch Nicolaus Steno (Niels Stensen, 1638–1686) rechnen kann. Dieser war Anatom, Begründer der modernen Geologie, später Konvertit, Prinzenerzieher und apostolischer Vikar. Er entdeckte den Speichelkanal und die Tränendrüsen. Schon früh also spielten die Naturwissenschaften im Universitätsangebot eine große Rolle. Der „Runde Turm“, Foto: Lucian Freudenberg 1647 wurde die Universitätsbibliothek erbaut, die zusammen mit dem alten Universitätsgebäude 1728 niederbrannte. Nach dem Wiederaufbau wurde die Universität 1732 durch H. Grams Einsatz neu durchorganisiert. 1778 richtete man den botanischen Garten ein. 1790 schließlich wurde die lateinische Sprache bei den Vorlesungen
96 9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS offiziell zugunsten der dänischen Muttersprache abgeschafft. Doch noch zu Zeiten S. Kierkegaards hielt sich das Lateinische bei einzelnen Vorlesungen, bei Disputationen und Examina. Die erste dänisch abgefasste Magisterabhandlung stammte von 1736. Zur Zeit S. Kierkegaards dominierte an der Theologischen Fakultät für die Fachsprache das Dänische. Die Thesen aber zur Magisterverteidigung wurden oft lateinisch verfasst. Søren Kierkegaards Dissertation von 1841 wurde von 15 lateinisch formulierten Thesen eingeleitet.127 Die Voraussetzung zum Studium des gewählten Faches, nämlich – auch auf Wunsch des Vaters – der Theologie bildete das „filologikum“ („Philologicum“), das mit zwei zeitlich verschiedenen Examina absolviert werden musste. S. Kierkegaard erlebte auch nach außen die architektonische Leistung des Wiederaufbaus nach den napoleonischen Kriegen. Das Hauptgebäude der Universität, das heute noch zu bestaunen ist, wurde durch Peder Malling von 1831 bis 1836 neu errichtet. Für das sogenannte „Zweite Examen“ belegte S. Kierkegaard Vorlesungen über verschiedene Wissensgebiete, die für die Prüfungen relevant waren. Es waren die Philosophie (einschließlich der Psychologie), die Geschichte und Literatur der Antike, Höhere Mathematik und die Naturwissenschaften. Abgesehen von diesen Vorbereitungen war der Besuch dieser Lehrveranstaltungen eine geeignete allgemeine Vorbereitung für das kommende Theologiestudium. Im Wintersemester 1830/31 hörte S. Kierkegaard vier Vorlesungen über das klassische Altertum. Von Johan Nikolaj Madvig (1804– 1886) nahm er zwei Angebote wahr: Es handelte sich um die Vorlesungen „Cicero de finibus“ (3st.) und „Geschichte der römischen Literatur“ (3st.). J.N. Madvig war erst 1829 auf den Lehrstuhl für Klassische Philologie berufen worden. Er war als Cicero-Forscher 127 Vgl. SV, 3. Ausg. Kopenhagen 1962 durch A.B. Drachmann u a., Bd. 1, S. 63 f.
9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS 97 Die Universität von Kopenhagen, Foto: Lucian Freudenberg ein glänzender Vertreter seines Faches und hatte schon bis 1830 mehrere Untersuchungen über Cicero geschrieben.128 Madvig ging später auch in die Politik und wurde für einige Zeit bis 1851 Kirchen- und Unterrichtsminister. 1867 wurde er Präsident der Wissenschaftsgesellschaft in Dänemark. Für S. Kierkegaard war es ein Glücksfall, eine so hervorragende Persönlichkeit als Lehrer zum Beginn seiner Studienzeit erhalten zu haben. Die zwei anderen Vorlesungen, die S. Kierkegaard besuchte, beinhalteten die Gräzität. Es handelte sich um die „Graekisk Literaturhistorie“ („Griechische Literaturgeschichte“) (3st.) und um die „Eumeniden“ von Aeschylos (3st.), den dritten Tragödienteil der 128 J.N. Madvig erschloss wichtige Werke Ciceros. So schrieb er z.B. „Emendationes in Ciceronis libros philosophicos“, Part I, Kopenhagen 1826; M. Tullii Ciceronis orationes selectae XII. Recognoscit et emendavit, Kopenhagen 1830. J.N. Madvig spielte auch in der späteren Zeit S. Kierkegaards eine Rolle (vgl. Pap. X 1 A, 497, SKS Bd, 22, NB 11 Nr. 193, S. 116).
98 9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS „Orestie“, jenem ausgereiften, meisterhaften Spätwerk des antiken Dichters. Beide Lehrveranstaltungen wurden von dem Professor für Griechisch an der Kopenhagener Universität Frederik Christian Petersen abgehalten. Dieser war nicht nur ein tüchtiger Altphilologe, sondern auch ein guter Archäologe. F.C. Petersen wurde am 9. Dezember 1786 in Antvorskov/Seeland geboren. Er promovierte mit der Untersuchung. „De Aeschyli vita et fabulis commentatio“ an der Universität Kopenhagen zum philosophischen Doktor. Die Arbeit wurde 1816 veröffentlicht. Nach der Lehrtätigkeit ab 1815 wurde er 1818 zum ordentlichen Professor der Altphilologie an die Universität Kopenhagen berufen. Von 1819 bis 1821 lehrte er auch vorübergehend an der Theologischen Fakultät. Im Jahre 1826 wurde er Mitglied der dänischen Akademie der Wissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen machten ihn auch über Dänemark hinaus bekannt. 1819 erschien seine Arbeit „Om den aristoteliske Poetik“ („Über die aristotelische Poetik“) in der Reihe „Det Skandinaviske Litteratur Selskabs Skrifter“, Band 16. Im gleichen Jahr wurden die „Observationes in Sophoclis tragoediam, quae inscribitur Oedipus Rex“ veröffentlicht. Die Weite seines Forschungsgebietes zeigt auch die im Jahr 1819 erschienene Untersuchung „Amphiktionske Forbunds Oprindelse“ („Der Ursprung des Amphiktionischen Verbandes“), Sonderdruck aus der Reihe „Det Skandinaviske Litteratur Selskabs Skrifter“. 1825 gab F.C. Petersen die „Almindelig Inledning til Archaeologiens Studium“ („Allgemeine Einführung in das Studium der Archäologie“) heraus. Das Werk wurde schnell bekannt und 1829 ins Deutsche übersetzt.129 1826 erschien das „Handbog i den graeske Litteraturhistorie“ („Handbuch der griechischen Literaturgeschichte“). Die zweite Edition erfolgte 1830; 1834 kam die deutsche Übersetzung heraus.130 Die 129 130 Erscheinungsort war Leipzig. Erscheinungsort war Hamburg.
9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS 99 zweite Edition des vorzüglichen Übersichtswerkes von F.C. Petersen besaß S. Kierkegaard.131 Ebenfalls 1826 erschien die Studie „De statu culturae qualis aetatibus heroicis apud graecos fuerit“. Ein Jahr später erfolgte eine Vergleichsstudie „De arte poetas veteres graecos romanosque in nostras linguas convertendi“. Die von S. Kierkegaard erlebte Vorlesung über die Eumeniden von Aeschylos hatte ihre Wurzeln u.a. in der Schrift „Oberservationes in Aeschyli Eumenides“ von 1827. Es folgte innerhalb von zwei Jahren das Hauptwerk „De Libanio Sophista commentationes quatuor“ (Kopenhagen 1827/1828). Das vierbändige Grundlagenwerk über den Sophisten und Rhetor Libanios (lat.: Libanius), der von 315 bis 393 n. Chr. lebte, zeigt am Wirken und hinterlassenem Schrifttum des Rhetors das letzte Aufleuchten der heidnisch-hellenistischen Kultur. Noch einmal wurden Tugend und Religiosität der vorhellenistischen Klassik gegen das junge Christentum – allerdings im Toleranzsinn – ausgespielt. Libanios war heimlicher Lehrer und Freund von Kaiser Julian („Apostata“), aber auch Lehrer in Rhetorik von Chrysostomos. Er lehrte in Konstantinopel, Nizäa und Nikodemien Rhetorik, bis er in seine Geburtsstadt Antiochien zurückkehrte. Er, der in Wort und Schrift dem großen klassischen Vorbild Demosthenes verpflichtet war, wurde der „kleine Demosthenes“ genannt. Sein am klassischen Griechisch geschulter Sprachstil wurde als Orientierungsmöglichkeit noch im Mittelalter geschätzt. Er hinterließ eine Reihe von Musterreden („Deklamationes“), eine Biographie über Demosthenes, eine Selbstbiographie und 1.600 Briefe.132 Es war daher für F.C. 131 132 Søren Kierkegaards Bibliotek ved N. Thulstrup, Kopenhagen 1957, Kat. Nr. 1037. Zur Antiposition gegenüber dem Christentum vgl. u.a.: Franz Xaver Funk/Karl Bihlmeyer, Kirchengeschichte I, Paderborn 1936, S. 195, S. 349, 357 (hier als Lehrer des Chrysostomos). Søren Kierkegaard musste auf Libanios auch in dem zweibändigen Werk von August Neander über Chrysostomos gestoßen sein, das er Ende 1850 durchgearbeitet hatte. Es handelt sich um die 1.
100 9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS Petersen eine große Verlockung, diesen späten Vertreter eines hervorragenden Griechisch ausführlich zu behandeln. Seinen Schülern brachte er das Erbe griechischer Sprache und Kultur nahe. F.C. Petersen gab auch die „Maanedsskrift for Litteratur“ („Monatsschrift für Literatur“) in 20 Bänden (Kopenhagen 1829–1838) und die „Tidsskrift for Litteratur og Kritik“ („Zeitschrift für Literatur und Kritik“) in 7 Bänden (Kopenhagen 1839–1842) heraus. S. Kierkegaard erwarb später noch zwei weitere Werke von F.C. Petersen. Es handelt sich um „Om Epheteme og deres Diskasterier i Athen“ („Über die Epheter und ihre Diskasterien in Athen“), Kopenhagen 1847133 und um „Platons Forestillinger om Statemes Oprindelse, Statsforfatninger og Statsbestyrelsel“ (Platons Vorstellungen über den Ursprung der Staaten, die Staatsverfassungen und die Staatsregierung“), Kopenhagener Universitätsfestschrift 1854.134 Die Wertschätzung gegenüber F.C. Petersen durch S. Kierkegaard kam darin zum Ausdruck, dass dieser ein Jahr vor dessen Tod noch ein Werk des Altphilologen anschaffte. Das Interesse F.C. Petersens an S. Kierkegaards Entwicklung zeigte sich in der kritischen Achtsamkeit bei der Durchsicht von dessen Dissertation und bei der diesbezüglichen Thesenverteidigung.135 F.C. Petersen war Propst am Regens, Ritter des Danebrog-Ordens. Er verstarb 1856 in Kopenhagen. S. Kierkegaards Lehrer im Alten Testament während des Wintersemesters 1830/31 war Matthias Hagen Hohlenberg. S. Kierkegaard hörte bei ihm „Philosophische Vorlesungen über die kleinen Propheten“. Später wird er nachweislich im Sommersemester 1833 133 134 135 Aufl., Berlin 1821, Bd. I, erster Abschnitt. Er selbst besaß die große Ausgabe der „Declamationes“: Libanii Sophistae Orationes et declamationes“, rec. J.J. Reiske. Vol. I–IV, Altenburg 1791–1797, Søren Kierkegards Bibliotek, a.a.O., Kat. Nr. 1124–1127. Søren Kierkegaards Bibliotek, a.a.O., Kat. Nr. 720. Søren Kierkegaards Bibliotek, a.a.O., Kat. Nr. 1171. Vgl. J. Garff, Søren Aabye Kierkegaard, deutsche Ausgabe München/Wien 2004, S. 235 ff.
9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS 101 eine Vorlesung über „Der letzte Teil der Genesis“ besuchen. Beide Lehrveranstaltungen waren jeweils vierstündig. M.H. Hohlenberg wurde am 18. März 1797 in Kopenhagen geboren. Er wurde 1814 Student der „Odense Schule“ und 1819 theologischer Kandidat. Früh übte er sich in der Hebräischlektüre und Exegese des Alten Testaments. Für eine alttestamentliche Abhandlung erhielt er 1821 die Goldmedaille der Universität. 1822 promovierte er zum Dr. phil. mit einer Abhandlung „De originibus et fatis ecclesiae christianae in India Orientali“. Nach diesem Erfolg reiste er ins Ausland zu Studienzwecken. Seine Ziele waren Berlin, Halle, Paris, London und Oxford. Es handelte sich also bei ihm um einen gut vorbereiteten Alttestamentler und Orientalisten. Er blieb drei Jahre bis 1825 im Ausland. Nach der Rückkehr wurde M.H. Hohlenberg Privatdozent für das Alte Testament an der Universität Kopenhagen. 1826 wurde er Lektor für Theologie. 1827 folgte die Ernennung zum Extraordinarius an der Theologischen Fakultät. 1828 promovierte er zum Dr. theol., Voraussetzung für die Berufung zum ordentlichen Professor der Theologie. Das Dissertationsthema lautete: „De Capite decimo libri Geneseos“. 1831 wurde er zum Ordinarius für Altes Testament an der Theologischen Fakultät in Kopenhagen berufen. Bis zu seinem Tod gab er zusammen mit seinem Kollegen Henrik Nicolai Clausen die „Tidsskrift for udenlandsk theologiske Litteratur“ („Zeitschrift für ausländische theologische Literatur“) heraus. Von 1829 bis 1838 war M.H. Hohlenberg Mitarbeiter an der „Maanedsskrift for Litteratur“ („Monatsschrift für Literatur“). Außerdem war er Mitglied der Kommission für die revidierte Übersetzung des Alten Testaments. 1845 gab er Teile von Übersetzungen aus dem Buche Hiob, aus den Psalmen und aus dem Buche Amos heraus. Er war ein gründlicher theologischer Arbeiter und Lehrer.136 136 Vgl. auch Kirke Leksikon for Norden, Kopenhagen, II, 1904, S. 447 und Bibliotheca Danica, Kopenhagen, Bd. 1, S. 18. Ihn als „leidlich anonym“ zu bezeichnen, wie es J. Garff tut, ist nicht gerechtfertigt. Dazu J. Garff, a.a.O.,
102 9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS Zuletzt soll für das Wintersemester 1830/31 die wichtigste Lehrkraft für S. Kierkegaard genannt werden. Sie wird ihn auch später begleiten. Es handelt sich um Frederik Christian Sibbern (1785–1872), den Lehrer in Psychologie und Philosophie. Diese Fachgebiete sah F.C. Sibbern eng zusammen. Einige Sätze zum Lebenslauf werden die Bedeutung dieses Vertreters für Philosophie auf dem Kopenhagener Lehrstuhl für beleuchten. Die Familie Sibbern stammte aus Holstein. F.C. Sibbern wurde am 18. Juli 1785 in Christianshavn, das zwischen der Altstadt Kopenhagen und Amager liegt, geboren. Sein Vater Frederik Gabriel Sibbern war als Arzt in einem Erziehungsheim in Christianshavn tätig. Er stammte aus Segeberg, während die Familie der Mutter in Plön ansässig war. Diese Frau war tief religiös, hochgebildet und gab ihre Gaben an die sechs Kinder weiter. Im Hause Sibbern wurde gemäß den heimatlichen Wurzeln viel Deutsch gesprochen. 1791 kaufte der Vater ein eigenes Haus in der Lille Torvegade – ein Zeichen des bescheidenen Wohlstands. Der Vater starb mit 50 Jahren. Es war nun für die Mutter eine schwierige Aufgabe, die sechs Kinder zu ernähren. Sie schaffte es durch die Teilvermietung des Hauses. Ab 1794 erhielten F.C. Christian Sibbern und einer seiner Brüder Hausunterricht bei Jens PaludanMüller, dem späteren Bischof. Nach dem Tod des Vaters sorgte dieser dafür, dass sein Zögling Frederik Christian einen Freiplatz an der Herlufsholm Skole („Herlufsholm-Schule“) erhielt. Nach den notwendigen Studentenexamina studierte dieser Jura. Er besuchte auch die berühmten Vorlesungen von Heinrich Steffens in Eler’s Kollegium vom 11. November 1802 an in Kopenhagen, konnte aber zuerst keinen Gefallen daran finden.137 137 S. 52. Heinrich Steffens, Inledning til philosophiske Forelaesninger („Einleitung zu philosophischen Vorlesungen“), zuerst in Buchform: Kopenhagen 1803, 2. Ausg. 1905, TB 1968.
9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS 103 Das Interesse ging über die Rechtswissenschaft hinaus, besonders als Niels Treschow (1751–1833) die Professur für Philosophie 1803 an der Universität Kopenhagen übernahm. Dieser war von Immanuel Kant beeinflusst, suchte aber einen selbstständigen Weg. Kants Auffassung von der Unmöglichkeit, in das Wirkliche einzudringen, dem „Ding an sich“, lehnte er ab. Niels Treschow verband die platonische Ideenlehre mit der Wissenschaft von der Erfahrung. Damit ebnete er den Weg zur dänischen Lebensphilosophie – und über diese zu S. Kierkegaards Existenzdenken. Zur Vertiefung theoretischer Rechtsfragen orientierte sich F.C. Sibbern im Verlaufe des Studiums bei N. Treschow. Während der Studienzeit hatte F.C. Sibbern Umgang mit bedeutenden Persönlichkeiten. Es ergab sich eine intensive Begegnung mit N.F.S. Grundtvig (1783–1872). Bei aller Verschiedenheit der Charaktere kam es auch später nie zum Bruch. Freundschaft schloss F.C. Sibbern mit dem norwegischen, späteren Theologieprofessor Svend Borchmann Hersleb (1784–1836). Begegnungen hatte er auch mit den beiden Brüdern Hans Christian Ørsted (1777–1851), dem bedeutenden Physiker, und Anders Sandøe Ørsted (1778–1860), dem Rechtsgelehrten und Staatsmann. Die Begegnung mit Letzterem führte zum tragischen Lebensproblem von F.C. Sibbern. Er verliebte sich unglücklich in die Frau von Anders Sandøe Ørsted. F.C.Sibbern verarbeitete später diese für ihn unerfüllte Liebeserfahrung in dem Briefroman „Efterladte Breve af Gabrielis“ („Nachgelassene Briefe von Gabrielis“, 1826/1850), ein Werk, das bis Ende des 19. Jahrhunderts fünf Auflagen erlebte. In diesem schöngeistigen Werk wird versucht, unglückliche Leidenschaft durch das Harmoniestreben zu überwinden. Es ist eine Leitlinie, die sich auch in den philosophischen Arbeiten von F.C. Sibbern findet. 1810 wurde F.C. Sibbern cand. jur. (juridisk kandidat). 1811 promovierte er mit einer Arbeit über philosophische Prinzipien der Rechtswissenschaft „De principiis philosophicis disciplinae juris“. Im gleichen Jahr wurde er als Nachfolger für N. Treschow, der an
104 9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS die neu gegründete Universität Kristiana (Oslo) ging, vorgeschlagen. Der junge Gelehrte unternahm aber erst eine zweijährige Auslandsreise. Hier begegnete er Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher, Johann Wolfgang von Goethe und schließlich Heinrich Steffens. Jetzt erkannte er die Bedeutung des Letzteren für das Gespräch zwischen Naturwissenschaft und Philosophie. Daraus entstand eine tiefe Verbundenheit. Nach seiner Rückkehr wurde F.C. Sibbern als Professor der Philosophie an der Universität Kopenhagen von 1813 an bis 1870 der Lehrer für Generationen. Bis 1830, zu dem Sommersemester, als S. Kierkegaard mit dem Besuch der Universität und den Vorlesungen F.C. Sibberns begann, hatte dieser bereits 13 Abhandlungen veröffentlicht. Für das Gebiet der Psychologie kamen vier wichtige Untersuchungen infrage, aus denen man die Grundlinie der Psychologie-Vorlesungen entnehmen kann. Bereits 1819 erschien in Kopenhagen: „Om Elskov eller Kjerlighed imellem Mand og Quinde“ („Über die erotische Liebe138 und die Nächstenliebe zwischen Mann und Frau“). Ebenfalls 1819 kam der 1. Teil des Lehrbuchs „Menneskets aandelige Natur og Vaesen. Et Udkast til en Psychologie“ („Des Menschen geistige Natur und Wesen. Ein Entwurf zu einer Psychologie“) in Kopenhagen heraus. Der 2. Teil erschien 1828 unter dem Titel „Menneskets aandelige Natur og Vaesen, befragtet i pathologisk Henseende“ („Des Menschen geistige Natur und Wesen, betrachtet in pathologischer Hinsicht“) oder auch unter dem Titel „Psychologisk Pathologie“ („Menneskets aandelige Natur og Vaesen, 2. Del“). Der Erscheinungsort war ebenfalls Kopenhagen. Der letztere Titel wurde dann gebräuchlich, vor allem seit Herausgabe des Werkes insgesamt zum Jubiläumsjahr 1885. Der Begriff „Pathologie“ wurde 138 „Elskov“ ist immer die erotische Liebe. Daher musste das Adjektiv bei der Übersetzung eingefügt werden. „Kjerlighed“ (jetzt „Kaerlighed“) wurde dann erweitert zur „Nächstenliebe“. Eigentlich ist sie einfach die „Liebe“, aber nicht im sexuellen Sinn.
9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS 105 von F.C. Sibbern im weitesten Sinne gebraucht. Er bezog ihn auf die Gesamterfassung von Gefühlen und Leidenschaften. In der großen, zweibändigen Psychologie geht es um das ganze menschliche Leben in seinem Beziehungsgeflecht, also nicht allein um die Psyche. Das Gebiet der Psychologie umreißt die Gefühle des Menschen und sein Denken. Seelisches Leiden wird verbunden mit Denkansätzen zum Ertragen bzw. Überwinden. Hier bahnt sich das Gespräch zwischen Psychologie und Philosophie zu einer umfassenden Sicht auf den Menschen an. F.C. Sibbern betonte immer wieder, dass er aus dem Hang zur Lebensbeobachtung heraus zuerst Psychologe wäre.139 Das schließt nicht aus, dass psychologische Grundeinsichten in philosophische Erörterungen eingeflossen sind. So gibt es zuweilen keine klare Abgrenzung. Es finden sich im Vorwort vom ersten Teil seiner oben angegebenen Psychologie aus dem Jahre 1819 Hinweise für die philosophische Erkenntnislehre. Es geht also um die Vielfalt und Besonderheit der Gegenstände und Formen, die sorgfältig im Sinne einer sich entwickelnden Totalansicht beobachtet werden müssen. Das fördert ein Einheitsstreben. F.C. Sibberns Einheitsstreben tritt in dem erwähnten Buch über die Liebe zwischen Mann und Frau von 1819 zu Tage. Liebe im umfassenden Sinn („Kaerlighed“) wird als ein psychisches und geistiges Streben nach einer Einheit angesehen. Echte Liebe verbindet Geist und Sinnlichkeit (Naturtrieb), erweitert den Horizont und das Verständnis für ewige Werte. Es gibt bei F.C. Sibbern nicht die platonisch-traditionelle Unterscheidung zwischen dem Ewigen und dem Endlichen. Der Einheitsgedanke ist Ausdruck des Harmoniebedürfnisses. Dieses begleitete F.C. Sibbern im Nachklang zu seiner unglücklichen Liebesgeschichte ein Leben lang. 139 Vgl. dazu auch J. Himmelstrup, Sibbern. En Monografi, Kopenhagen 1934, S. 77, 124.
106 9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS Nach F.C. Sibbern kann sich das Unendliche wie das Ewige in der Welt entfalten. So steht auch die Vernunft nicht über den Dingen, sondern zeigt sich im Menschen aus der Natur heraus. Hier ist Schellings Einfluss vorhanden, ohne dass der dänische Lebensphilosoph dem deutschen Idealismus völlig huldigt.140 Das bedeutet nun dialektisch: Indem das Individuum sich selbst verwirklicht, verwirklicht es das allgemeine Leben. Dieses tritt dann in individueller Form hervor. Im weitesten Sinne ist das die „Totalorganisation“. Das wirkliche Leben ist mit einbezogen. Diese Gedanken werden auch in dem Einführungswerk „Om Erkjendelse og Granskning“ („Über Erkenntnis und Forschung“), erschienen in Kopenhagen 1822, deutlich ausgesprochen. Die Lebenskraft ruft nach der Vernunft. Die Vernunft wiederum lebt von der Empirie. Die Dynamik des Lebens tendiert nach der Ganzheit. Insofern hat F.C. Sibbern einen klaren Entwicklungsgedanken. Aber dieser sieht nicht so wie bei G.F.W. Hegel aus, der alles unter das System einordnet. Nach dem dänischen Philosophen hat die Entwicklung ganz verschiedene Ausgangspunkte. Es ist das „Sporadiske“ („Sporadische“), das Streben nach einer lebendigen Einheit von verschiedenen Erfahrungsebenen aus.141 Die Selbstverwirklichung geschieht in der Suche nach der Wahrheit. Der Mensch muss sich ganz darüber im Klaren sein, die Wahrheit finden zu wollen. Diese muss im Zusammenhang mit dem Leben stehen. Sie kann nicht davon losgelöst sein. Das Harmoniestreben soll aus der Wahrheitssuche herauskommen, eben zum Wohle des Ganzen. Bei seinem Schüler S. Kierkegaard wird später dieses Stre140 141 Vgl. Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Von der Weltseele, 1798, in: Werke, hg. von Manfred Schröter, Bd. 1, München 1927, S. 571–576; siehe auch Carl Henrik Koch, Strejftog i den danske filosofis historie, Kopenhagen 2000, S. 57 ff., S. 70. Vgl. dazu auch das spätere Werk von F.C. Sibbern: Speculativ Kosmologi med Grundlag til en speculativ Theologi („Spekulative Kosmologie mit der Grundlage für eine spekulative Theologie“), Kopenhagen 1846, S. 107.
9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS 107 ben, die Selbstsuche und -findung christlich motiviert sein und zuerst dem Wohle des Einzelnen dienen. Erst von diesem her kann dann ein Gemeinschaftsgefühl aufgebaut werden. Die Spuren seines Lehrers lassen sich bei S. Kierkegaard erkennen. Fasst man diese Gedanken zur Psychologie zusammen, dann kann Folgendes festgestellt werden: Die Psychologie setzt voraus, dass man sich selbst verstehen will. Um sich selbst verstehen zu können, muss man sich beobachtend und verstehend zum anderen wenden. Die Beobachtung ist entscheidend für eine Totalanschauung. Der Psychologe muss etwas vom Dichter haben. Darum ist die „Lebenspoesie“ so wichtig. Diese hatte F.C. Sibbern im Briefroman „Efterladte Breve af Gabrielis“ (Kopenhagen 1826/1850)142 so deutlich hervorgehoben. Die Psychologie verhilft zur Lebensphilosophie. Diese wird durch die „Lebenspoesie“ gespeist. S. Kierkegaard hatte sich sieben Bücher von F.C. Sibbern erst ab 1835, beginnend mit der „Logik“143 , angeschafft. Am 25. April 1831 folgte für S. Kierkegaard der erste Teil des sogenannten „Zweiten Examens“, also des „filologikums“. Er bestand es in Latein, Griechisch, Hebräisch, Geschichte mit „laud.“, also „sehr gut“, und in Niederer Mathematik mit „prae“, also „ausgezeichnet gut“. Zur Vorbereitung des zweiten Teils vom obigen Examen, dem „filosofikum“, hörte er nun im nächsten Semester weiter bei seinem Lehrer F.C. Sibbern Psychologie mit vier Wochenstunden, dann Logik mit drei Wochenstunden. Ein Glücksfall für die Universität Kopenhagen war, dass aus Kristiania (Oslo) der Dichterphilosoph Poul Martin Møller (1794–1838) im Sommersemester 1831 auf den zweiten Lehrstuhl für Philosophie berufen wurde. Die142 143 S.o. Logik som Taenkelaere, fra en intelligent Iagttagelses Standpunkt og i analytisk-genetisk Fremstilling af F.C. Sibbern („Logik als Denklehre vom Standpunkt einer intelligenten Beobachtung aus und in einer analytischgenetischen Darstellung“), 2. Aufl. Kopenhagen 1835. Vgl. dazu Søren Kierkegaards Bibliotek, a.a.O., Kat. Nr. 777, dazu Kat. Nr. 778–782, 1097.
108 9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS ser vertrat nun mit seinem Kollegen F.C. Sibbern die dänische Lebensphilosophie, die so bedeutsam für S. Kierkegaard wurde. P.M. Møller war im Sommersemester 1831 zuständig für die Vorlesungen in Moralphilosophie und löste den zum Bischof von Seeland ernannten Theologen Peter Erasmus Møller ab. Bei Georg Frederik Krüger Ursin (1797–1849), dem Mathematiker der Universität Kopenhagen, hörte S. Kierkegaard zwei Vorlesungen mit insgesamt sechs Wochenstunden, worüber noch zu sprechen ist. Auf die Gedankenwelt von F.C. Sibberns Logik-Vorlesung im Sommersemester 1831 gilt es genauer einzugehen. Hier zeigt sich der Gegensatz zu G.F.W. Hegel. Die Vorarbeit für S. Kierkegaards spätere Existenz – und Angstanalyse wurde hier geleistet. Erwähnt wurde schon, dass F.C. Sibbern die Grundlage seiner Psychologie für philosophische Erörterungen benutzte. Das ist wichtig für die Durchdringung der philosophischen Logik mit Erkenntnissen über die menschliche Psyche. So bilden die erwähnten Werke über die Psychologie einen Einblick in das philosophische Arbeiten von F.C. Sibbern, besonders auf den Gehalt seiner Vorlesung über Logik im Sommersemester 1831. Dazu sind folgende drei Werke, die bis 1830 erschienen waren, hinzuzuziehen: Wichtig ist zuerst die Arbeit „Logikkens Elementer. Som Manuskript for Tilhörere“ („Elemente der Logik. Als Manuskript für Zuhörer“), erschienen 1822 in Kopenhagen. Dazu kommt die schon erwähnte „Logik som Taenkelaere. Ny Udarbeidelse, endnu som forelöbigt Aftryk for Tilhörere“ („Logik als Denklehre. Neue Ausarbeitung, noch als vorläufiger Abdruck für Zuhörer“), die 1827 in Kopenhagen erschienen war. Wie schon erwähnt, war die neue Fassung als 2. Auflage von 1835 im Besitz S. Kierkegaards. Wichtig für die Beschreibung der Logik-Vorlesung sind drittens die Gedankengänge F.C. Sibberns in dem von ihm 1829–1830 in Kopenhagen herausgegebenen „Archiv og Repertorium“ („Archiv und Repertorium“).
9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS 109 Zu F.C. Sibberns philosophischem Gedankengang, wie er sich in der Logik-Vorlesung präsentierte, kann Folgendes hervorgehoben werden: Das intelligente Erkennen als Grundvorhaben der Philosophie kann nicht im luftleeren Raum stattfinden, sondern im Seinsgrund der Dinge. Das ist eine deutliche Wendung gegen die spekulative Vorgehensweise Hegels. Die Grundlage für diese Sicht des dänischen Lebensphilosophen besteht in einer zusammenhängenden Ordnung der Dinge an sich. Aber das ist nicht das letzte Wort dazu. Es ist die Grundlage des ersten Schrittes zum umfassenden Denken. Diesem ersten Schritt folgt die Idee. Die Idee ist erst der Einheitspunkt. Sie ist Ausdruck eines alles durchdringenden Ersten, das sich wiederum in der Aussagekraft der Idee offenbart. Die philosophische Logik drückt diese Erkenntnis aus.144 Hier ist der Einfluss Platos zu spüren. Die Idee ist also bereits in den Dingen zur Stelle. Die Wissenschaft aber arbeitet die Idee heraus, lässt sie umso stärker werden. Es bedarf immer eines sorgfältigen Studiums, um zu einem Grundgedanken der Philosophie zu kommen. Daher ist ein weites Forschungsfeld vonnöten. Dass uns das Ziel der Ideal-Erreichung nicht vollständig gelingt, liegt an dem, was F.C. Sibbern das schon oben erwähnte „Sporadiske“ („Sporadische“) im Dasein nennt, d.h.: Es gibt eine Vielfalt von Erfahrungen, die zeigen, dass das Individuum den Reichtum der Ideenwelt zwar spüren kann, aber ihn nie erreicht. Von dorther ist es auch kein Wunder, dass es so viele Anschauungen in der Philosophiegeschichte gibt. Jeder Denker sieht nur einen Teilbereich. Das aber kann nicht zum Pessimismus führen. Im Gegenteil! Gerade in der Vielfalt der Anschauungen manifestiert sich das reichhaltige Angebot von Gedankenführungen und Denkstrukturen, die aber doch in einem Zusammenhang stehen. Auf diese Zusammenhänge des einen mit dem anderen beruft sich F.C. Sibbern und baut darauf seine Erkenntnislehre auf.145 Alles zusam144 145 Vgl. Om Erkjendelse og Granskning, a.a.O., S. 87 ff., 95. Vgl. dazu Harald Höffding, Mindre Arbejder: Frederik Christian Sibbern, Kopenhagen/Oslo 1899, S. 61–112, bes. 85.
110 9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS men ergibt eine Ganzheit. Jedes einzelne Ding wird durch das andere bestimmt und steht in Wechselwirkung mit ihm. Das ist gut in der Natur zu sehen. Sie tritt in einem einzigen Wechselprozess vor Augen. Es ist ein Ringen aller gegen alles, was das Daseinsprinzip im Ganzen ausmacht. Allerdings geht es hier nicht um einen Vorlauf zum Darwinismus. Der Wechselprozess im Allgemeinen wird durch zwei Faktoren bestimmt: (a) durch die Ordnung selbst, die in den Dingen liegt; (b) durch eine Bestimmung nur für das eine Ding, das für dieses gültig ist. Mit dem dargelegten Wechselspiel kann es keine abgehobene Systemdialektik geben. Der Lebensprozess selbst erweist sich als treibende Kraft. Damit kann auch der historische Prozess nicht einseitig beleuchtet werden, denn darin liegen ganz unterschiedliche Entwicklungsstufen und Wechselwirkungen. Mit diesem Ausgangspunkt des Philosophierens ergibt sich für F.C. Sibbern eine Logik aus der Erfahrung. Es zeigt sich hier eine Weiterführung der von ihm erarbeiteten psychologischen Grundgedanken. F.C. Sibbern hat S. Kierkegaard siebzehn Jahre überlebt. Seinen oben angegebenen Standpunkt über die Entwicklung der Natur hatte er in der „Speculativ Kosmologi med Grundlag til en speculativ Theologi“ („Spekulative Kosmologie mit einer Grundlage für eine spekulative Theologie“), Kopenhagen 1846, niedergelegt. Er näherte sich dabei immer mehr einer Entwicklungsphilosophie. Die Ablehnung der Hegel-Schule wurde dadurch schärfer. Vom Nebelhaften her könne sich die Entwicklung bis zu den höchsten Formen des Geistes zeigen. In seinem Spätwerk warb F.C. Sibbern für die ursprüngliche und lebendige Religiosität in dem Leben des einzelnen Individuums. So kann er in der Schrift „Meddelse af Indholdet af et Skrift fra Aaret 2135, I–II“ („Mitteilung vom Inhalt einer Schrift aus dem Jahre 2135, I–II“, Kopenhagen 1858–1872) ein utopisches Staatsleben vorstellen, worin er das kirchliche Christentum scharf kritisierte. Seine polemische Zielrichtung war aber eine andere als die seines Schülers
9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS 111 S. Kierkegaard. Er wollte die Gesinnung für eine freie Hingabe an Gott wecken. Wie schon erwähnt, hatte bis 1830 P.E. Møller (1776–1834) als Theologe den zweiten Lehrstuhl für Philosophie inne. 1830 wurde er zum Bischof des Stiftes Seeland ernannt. Er zeichnete sich durch intensive Studien über die isländische Sprache und isländische Historiographie aus. Die altnordische Sprache wie die Saga-Welt wurden von ihm neu erschlossen. Für diesen vielseitigen Theologen und Sprachforscher wurde nun der ebenfalls hoch gebildete P.M. Møller auf den zweiten Lehrstuhl für Philosophie der Universität Kopenhagen berufen. Vorher lehrte er das gleiche Fach an der Universität Kristiania (Oslo) seit 1826. Zuerst war er dort Lektor, 1828 dann Professor. Verband F.C. Sibbern Psychologie mit der Philosophie und versuchte sich mit Erfolg im Literarischen, so verband P.M. Møller die Philosophie mit der Poesie. Hier bildete die klassische griechische Philosophie einen Schwerpunkt. Angeregt zu Studien über die Antike wurde er durch den Vater. P.M. Møller wuchs in einem Pfarrhaus auf, dessen Inhaber Rasmus Møller (1763–1842), ab 1831 Bischof des Stiftes Lolland, ein ausgezeichneter Kenner der lateinischen Klassiker war, deren Werke er zum Teil übersetzte. P.M. Møller wurde am 21. März 1794 in Uldum bei Vejle/Jütland geboren. Er hatte noch einen jüngeren Bruder. 1802 erfolgte der Wechsel in das Pfarrhaus von Købelev auf Lolland. Ab 1807 besuchte P.M. Møller die Gelehrtenschule in Nakskov. Bis dahin wurde er zusammen mit seinem jüngeren Bruder Hans Ulrik vom Vater unterrichtet. 1809/1810 wurde er nochmals vom Vater zur Vorbereitung auf die Kathedralschule in Nykøbing Falster unterwiesen. Diese Schule besuchte er wieder mit seinem Bruder ab 1810 bis 1812. 1810 verstarb die Mutter fünfundvierzigjährig in geistiger Umnachtung. Nach dem Tode von Bodil Maria Møller ging R. Møller 1812 eine zweite Ehe mit der Pastorenwitwe Hanne Winther ein. Diese Eheschließung wurde auch für P.M. Møller bedeutsam, da er mit Christi-
112 9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS an Winther (1796–1876) einen Halbbruder erhielt, der zu den besten Dichtern Dänemarks im 19. Jahrhundert zählt. So gab es in der erweiterten Familie Møller zwei Poeten, welche die dänische Literatur bereicherten. Nach dem notwendigen „Zweiten Examen“ als Ausweis für ein gelungenes „Studium generale“ studierte P.M. Møller von 1813 bis 1816 Theologie an der Universität Kopenhagen. Die von ihm selbst gesetzte kurze Studienfrist wurde verursacht durch seine einseitige Liebe zu Margrethe Bloch. Sie gab ihm 1816 einen Korb. Nie hatte sie einen Zweifel darüber gelassen, dass sie ihn nicht liebte.146 Aber P.M. Møller blieb bei seinem Anspruch auf die von ihm geliebte Frau. Für ihn brach eine Welt zusammen, als er ihre Ablehnung erfuhr. Was ihm Trost gab, war die Dichtkunst. Diese wurde zum Ventil seiner Trauer. Das Dichten beflügelte ihn in einer ähnlichen Situation durchlebter unglücklicher Liebe, wie es die von F.C. Sibbern war. P.M. Møller, seit seiner Gymnasialzeit ein Liebhaber homerischer Gesänge und der altgriechischen Kultur überhaupt, übersetzte 1816 einen Teil des neunten Gesanges der Odyssee. Hier geht es um den Besuch des Odysseus beim Zyklopen.147 Die Vorarbeit zu der Homer-Dichtung brachte Sicherheit im Ausdruck, gefördert durch ein hohes Sprachgefühl. Jenes floss in die eigene Dichtkunst ein, mit der er das Unglück der verschmähten Liebe bewältigen wollte. Impulse gaben ihm die skandinavischen Dichter Adam Oehlenschläger (1779–1850), Esaias Tegner (1782–1846) und Erik Gustaf Geijer (1783–1847). 146 147 Margrethe Bloch hatte schon am 30.9.1815 in einem Brief an Marie Aagaard klar ihre Ablehnung gegenüber P.M. Møllers Werben bekundet. Vgl. Motten Borup (Hg.), Poul Martin Møller og hans Familie i Breve I–III, Bd. I (1810– 1819), Br. Nr. 12, Kopenhagen 1976, S. 22. P.M. Møller, Efterladte Skrifter I–VI in drei Bänden, 2. Aufl. Kopenhagen 1848–1850 („ES“), Bd. I, S. 238–253.
9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS 113 In dem Gedicht „Torbisten of Fluen“ („Der Mistkäfer und die Fliege“) vom Winter 1816/17 erhielt der Liebeskummer seinen tiefen Niederschlag.148 Das Motiv kommt in den von Büsching und v. d. Hagens gesammelten deutschen Volksliedern von 1807 vor. Es wurde ausgeweitet zur Selbstdarstellung des unglücklichen Liebhabers in Gestalt des Mistkäfers und der bezaubernden Fliege. Das Werben um diese ist schon wegen der äußeren hässlichen Gestalt aussichtslos. Wie entsetzlich musste P.M. Møller gelitten haben, dass er sich mit einem Mistkäfer verglich! Als frisch gebackener Kandidat der Theologie hielt sich P.M. Møller im Winter 1816/17 bei den Eltern in Köbelev auf, wo er dem Vater beim Predigtdienst helfen konnte. In der Zeit vom Frühling 1817 bis Herbst 1818 war P.M. Møller Hauslehrer des Grafen Moltke auf dem Gut Espe bei Skelskör. Hier kam es zu weiteren inneren Auseinandersetzungen über die unglückliche Liebe in Gedichtform. Im Frühjahr 1817 entstand das Gedicht „Den Enbenede“ („Der Einbeinige“).149 Resignation und gleichzeitiges Wissen von der Möglichkeit eines Liebesverlustes führten zu einer gewissen Gelassenheit mit einem Unterton von Humor. Dies wird in der ersten wie elften gleichlautenden Strophe besonders deutlich. In dem Gedicht „Den gamle Elsker“ („Der alte Liebende“)150 vom Herbst 1817 wurde eine versöhnliche Note hineingebracht. Sehnsucht und Hoffnung durchziehen die Strophen. Ab Herbst des gleichen Jahres erlebte P.M. Møller die Freude, die Söhne des Grafen Moltke zum Studium nach Kopenhagen begleiten zu können. So hat148 149 150 ES I, S. 17–20; zuerst aufgenommen in J.M. Thieles (Hg.) Gedichtsammlung „Rosenblade“ („Rosenblätter“) von 1818. Erschienen auch in der Werkauswahl von V. Andersen: Udvalgte Skrifter“ („Ausgewählte Schriften“, „US“), Kopenhagen 1895, Bd. I, S. 11–14. ES I, S. 20 f., US I, S. 54–57; aufgenommen auch in J.M. Thieles Gedichtsammlung. ES I, S. 22–24, US I, 59–62; zuerst gedruckt in Hauchs Nytaarsgave („Neujahrsgabe“) for 1819. S. Kierkegaard benutzte dieses Gedicht in einer Aufzeichnung während der Verlobungskrise 1840/41; vgl. Pap. III A, 95, SKS, Bd. 19, Not 7:9, S. 208; vgl. Thulstrup (Hg.), Breve og Akst. Nr. 18, S. 50 ff.
114 9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS te er die geliebte Universitätsstadt wieder. Erwähnenswert ist noch, dass P.M. Møller in dem Baggesen-Oehlenschläger-Streit aktiv auf die Seite A. Oehlenschlägers trat, damit auf die Seite des romantischen Ideals. Jens Baggesen (1764–1826) vertrat die klassische Seite der Poesie. Er war ganz nach Weimar hin orientiert. Um sich von dem Liebeskummer zu befreien, wollte P.M. Møller auf Distanz zu Dänemark gehen. Er fuhr als Schiffspastor auf der „Christianshavn“ am 1. November 1819 nach China. Über Kapstadt, wo er drei Wochen blieb, reiste er mit dem Segler weiter über Batavia (heute Jakarta) und Manila nach Kanton, wo das Schiff am 21. September 1820 vor Anker ging. Die Rückreise begann am 19. Januar 1821 und ging über St. Helena und Ascension zurück nach Kopenhagen, wo die „Christianshavn“ am 14. Juli 1821 anlegte. Die Schiffsreise trug wesentlich zur Selbstbesinnung und Lebenszuversicht von P.M. Møller bei. Er konnte die unglückliche Liebesgeschichte überwinden. Durch die erfolgreichen Gespräche mit den Mitgliedern der Schiffsmannschaft wurde P.M. Møller im sprachlichen Ausdruck sicher. Der lebensnahe Umgang mit den einfachen Menschen wirkte sich positiv auf die Prosa aus. Er brachte eine Reihe von Arbeiten von der Reise mit, denn er hatte ja genügend Zeit, um sich schriftstellerisch zu betätigen. Für den späteren Philosophielehrer P.M. Møller war die Arbeit an den „Strötanker“ („Verstreute Gedanken“) von 1819 bis 1821, also an der ersten Folge, von wesentlicher Bedeutung.151 Sie nahmen die späteren philosophischen Essays vorweg. Die „Strötanker“ bezogen sich auf Augenblickseinfälle zu Problemen des Lebens und ihrer gedanklichen Auslotung. Diese Notizen in Kurzform sollten auch zu späteren Diskussionen in den Studentenkreisen Kopenhagens dienen. Die meisten Gedanken sind auf einzelnen Blättern geschrieben worden. Gleich zum Anfang der „Strötanker“ von der Chinareise wurde betont, dass das Lesen jener keine Arbeit, sondern ein Ersatz 151 Insgesamt: ES III, S. 1–140, US II, S. 295–438; vgl. Pap. III A, 95.
9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS 115 für das Gespräch bilden sollte.152 Lebensäußerungen, gesellschaftliches Zusammenspiel wie Gedanken zur Poesie wurden hintergründig notiert. Eine Rückbindung an die Klassische Philologie und Philosophie ergab sich von der Interessenlage P.M. Møllers. Das hatte wesentlichen Einfluss auf seinen späteren Schüler S. Kierkegaard. In den weiteren Aphorismen, die unter dem Titel „Strötanker“ („Verstreute Gedanken“) bis 1831 niedergeschrieben wurden, verstärkte sich dieser Aspekt. Die Niederschrift jener dauerte also bis zur Begegnung P.M. Møllers als Lehrer an der Universität Kopenhagen mit S. Kierkegaard. Auf der Chinareise entstanden auch die „Optegneleser paa Kinarejsen“ („Aufzeichnungen auf der Reise nach China“)153 , die besonders eine farbenreiche Schilderung der angesteuerten Städte im ostasiatischen Raum beinhalten. Die Sehnsucht nach der dänischen Heimat war auf dieser Reise übermächtig. So entstand das später mit „Gläde over Danmark“ („Freude über Dänemark“) überschriebene Gedicht. Es fehlt heute kaum in einem dänischen Schullesebuch. Ausdrucksstark heißt es zu Beginn der dritten Strophe: „Mine Venner i den danske Sommer!/ Mindes I den vidtforrejste Mand“ („Meine Freunde in dem dänischen Sommer!/ Erinnert euch an den weit gereisten Mann“).154 Das Gedicht mit seinem dritten Vers ist später von S. Kierkegaard in die Widmung für P.M. Møller zum Beginn von „Begrebet Angest“ („Der Begriff Angst“, 1844) aufgenommen worden. Es zeigt die tiefe Verehrung des Schülers gegenüber dem liebenswürdigen Lehrer.155 152 153 154 155 Vgl. ES III, S. 1 f., US II, S. 296. ES II, S. 223–259, US II, S. 35–70. Das Gedicht steht: ES I, S. 63–65, US I, S. 96–98. Vgl. SV (3), Bd. 6, S. 103; SKS, Bd. 4, S. 311, Bd. K 4, 5.344–346 mit Einzelhinweisen; dazu H.P. Rohde, Poul Martin Møller og Søren Kierkegaard, FS zum 70. Geburtstag von Masaru Otani. Søren Kierkegaard-Taenkning og Sprogbrug i Danmark, Kopenhagen, S. 1–22 (als dänische Manuskriptfassung).
116 9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS Von Heimweh spricht auch das während des Chinaaufenthaltes oder auf der Rückreise geschriebene Werk mit sechs Gedichten „Scenere i Rosenborg Have“ („Scenen im Rosenborg-Garten“).156 Hier ist es die Sehnsucht nach dem Kopenhagen des Studienaufenthaltes. Dazu gesellt sich die leicht ironisch gehaltene Schilderung aus der Zeit der Chinareise: „Statistisk topografisk Skildring af Laeggsgaarden i Ölseby-Magle“ („Statistisch-topographische Schilderung vom Bezirkshof in Ölseby-Magle“).157 Stilistisch gesehen ist es eine Parodie auf den pinnigen Kanzleistil. Mit der Ortsbezeichnung ist das Haus des Großvaters gemeint. Für den poetischen Realismus in Dänemark bahnbrechend war und ist die unvollendete Gegenwartsnovelle „En dansk Students Eventyr“ („Die Abenteuer eines dänischen Studenten“).158 Auch dieses Werk wurde auf der Chinareise entworfen und 1824 mit den ersten drei Kapiteln innerhalb der Studentenvereinigung in Kopenhagen vom Dichter vorgelesen. Es gilt als das poetische Hauptwerk P.M. Møllers, da es seinem Streben gemäß die Wirklichkeit sehr genau aufnahm. Wichtig war auch die im Roman vorgenommene Selbstanalyse, die eine Vorreiterrolle hatte für die folgende Literatur des Realismus. Im Oktober 1822 wurde P.M. Møller Adjunkt für Griechisch und Latein an der Metropolitanschule in Kopenhagen. Er liebte diesen Beruf, klagte aber darüber, dass er zu viele Stunden unterrichten musste.159 Tatsächlich hatte er am Tag zuweilen zwölf Stunden zu geben. 1824 wurde er Rezensent für die „Dansk Litteratur Tidende“ 156 157 158 159 ES I, S. 44–46, US I, S. 100–116. Mit „Garten“ ist der Schlossgarten von Rosenborg in Kopenhagen gemeint. ES II, S. 195–222, US II, S. 3–34; auch in Gyldendals Bibliotek, udgivet med Efterskrift Af Frederik Nielsen, 2. Aufl. Kopenhagen 1971, S. 119–142. ES II, S. 59–159, US I, S. 217–421, auch in Gyldendals Bibliotek, a.a.O., S. 7– 115. Vgl. V. Andersen, Poul Møller, Kopenhagen 1944, S. 154; B. Henningsen, Poul Martin Møller oder die dänische Erziehung des Søren Kierkegaard, Studienreihe Humanitas, Frankfurt/Main, 1973, S. 55
9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS 117 („Dänische Literaturzeitung“). April 1825 veröffentlichte P.M. Møller seine Übersetzung der ersten sechs Gesänge der Odyssee, eine Meisterleistung der Übersetzungskunst.160 Die Antike bildete überhaupt die Basis für seine spätere philosophische Erkenntnisarbeit. F.C. Sibbern wollte P.M. Møller gern als Kollegen an die Universität Kopenhagen haben. Er bemühte sich seit 1824 darum. P.M. Møller war durchaus dazu bereit, wenn er auch selbst das weite Feld der Philosophiegeschichte und ihrer Probleme nicht voll erarbeitet hatte. Aber es blieb ihm die Zuversicht durch die hervorragenden Basiskenntnisse in der klassischen Philologie und Philosophie. 1826 wurde eine Dozentenstelle für Philosophie nicht in Kopenhagen, sondern in Christiania (Oslo) an der 1811 gegründeten Universität frei. Diese Stelle konnte er einnehmen. Er hatte die damals klassischen Fächer der Philosophie – Logik, Psychologie, Metaphysik und Ethik – wahrzunehmen. Später, in Kopenhagen, wurden diese Angebote noch erweitert durch die Moralphilosophie. Am 30. Juni 1827 heiratete P.M. Møller die aus Fünen gebürtige Betty Berg. Sie entstammte einem angesehenen Bauerngeschlecht. Ein Jahr später am 10. Juli 1828 wurde er zum Professor für Philosophie an der Frederiksuniversität Christiania ernannt. Am 7. August 1828 wurde der erste Sohn Rasmus Christian geboren. Ihm folgten drei weitere Söhne, wobei der dritte Sohn, also der vorletzte in der Reihe der vier Söhne, 1831 kurz nach der Geburt verstarb. Das große Unglück war schwer erträglich. Ein Trost war für das Ehepaar Møller, dass Poul Martin im gleichen Jahr, am 1. April 1831, zum Philosophieprofessor in Kopenhagen ernannt wurde. P.M. Møller kam also zu der Zeit als Universitätslehrer nach Kopenhagen, als S. Kierkegaard sein Studium begann. Es war eine fruchtbare Begegnung zwischen den beiden Männern. Die Liebe zur klassischen Philosophie, zur Dichtkunst und zur ironisch gehaltenen Befragung der Zeit vereinte beide. Aus den „Strötanker“, die 160 ES I, S. 135–137.
118 9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS ja zum größten Teil bis 1831 vorlagen, kann man gut das Anliegen P.M. Møllers verstehen. Ein Hauptzug darin war die Skepsis gegenüber der philosophischen Spekulation, wenn diese die persönliche Erfahrung des Menschen nicht beachtete. Dichter und Denker zu sein war für P.M. Møller kein Widerspruch. Witz und Ironie gehören dazu, Gedanken zum Leben richtig anzubringen und einzuordnen. Er reihte sich ein in die Kritiker des Hegelschen Systems, das er selbst vorher bewundert hatte. Der wichtige Wahrheitsbegriff muss das Leben widerspiegeln. So kann er auch zur Dichtkunst sagen: „Lüge ist die Poesie, die nicht vom Leben kommt. Je näher sie zum Leben kommt, desto wahrer, je ferner, desto mehr Lüge ist sie.“161 Dabei kann die Poesie die Probleme des Lebens nicht lösen, so aber doch in Frage stellen. Von der entscheidenden Begegnung Lehrer – Schüler 1831 her ist noch Folgendes als Vorausschau zu beachten: 1834 starb P.M. Møllers Ehefrau Betty, was ihn dazu führte, die Frage nach Tod und Unsterblichkeit näher zu betrachten. Dabei ging es ihm um die wichtige Aufgabe, der Persönlichkeit ihr Recht zu geben, was bei Hegel vernachlässigt worden war. Der einzelne Mensch kann nicht im Denkprozess des Systems einfach verschwinden. Deutlich sah P.M. Møller sich durch die Kunst bestätigt. Würde man das ewige Leben verleugnen, würde echte Kunst keinen Bestand haben. So ist es auch mit der Fantasie des Menschen. Soll diese ihm Antrieb sein, so kann das Bewusstsein hierfür nur durch die Realität des Unsterblichkeitsbegriffes kommen. Der Titel seines Essays darüber lautet: „Tanker over Muligeden af Beviser for Menneskets Udødelighed, med Hensyn til den nyeste derhen hørende Litteratur“ („Gedanken über die Möglichkeit von Beweisen für des Menschen Unsterblichkeit, im Hinblick auf die neueste dazu gehörende Literatur“).162 1835 wurde P.M. Møller Re161 162 Aus den „Strøtanker“ 1822–1826, US II, S. 341, vgl. C. Jörgensen, Søren Kierkegaard. En Biografi, Bd. I, a.a.O., S. 91. ES V, S. 38–140, US II, S. 199–291.
9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS 119 daktionsmitglied der „Maanedsskrift for Literatur“ („Monatsschrift für Literatur“). Hier konnte er seine Schrift über die Unsterblichkeit 1836/37 unterbringen. Diese Zeitschrift galt als Plattform der Idealisten.163 Zweifellos gelang P.M. Møller mit seinem Essay die Darstellung einer Gegenposition zu Hegel. Weihnachten 1836 heiratete P.M. Møller Eiline von Bülow. Für die Vorausschau ist auch die 1837 erfolgte Betrachtung „Afhandling om Affektionen“ („Abhandlung über die Affektion“)164 wichtig, die durch Kurzaussagen in den „Strötanker“ vorbereitet worden war. In den Gedanken über die „Affektion“ geht es um den Kontrast zwischen Wirklichkeit bzw. Natürlichkeit auf der einen, der Scheinwelt durch Selbstbetrug auf der anderen Seite. Der affektierte Mensch ist nicht imstande, sich selbst durch die Freiheit zu bestimmen, was später bei Søren Kierkegaard durch den Begriff „Wahl“ vertieft wurde. Der affektierte Mensch übernimmt im Leben eine falsche Rolle, die ihm niemals zugewiesen worden ist. Solche Gedanken waren von P.M. Møller schon 1830/31 entwickelt worden. In einer Spätnotiz vom Sommer 1854 mit Randbemerkung griff S. Kierkegaard in Erinnerung auf zwei Worte P.M. Møllers zurück.165 Sie zeigen das tiefe Interesse desselben an seinem Schüler, mit dem er oft Gespräche seit Studienbeginn führte. Beide wohnten ja nicht weit voneinander entfernt. In der einen Aussage ging es P.M. Møller um die umsichtige Warnung vor einem zu groß angelegten Studienplan. In der anderen Aussage gegenüber seinem Kollegen F.C. Sibbern betonte er, dass S. Kierkegaard durch und durch polemisch wäre, „dass es ganz schrecklich wäre“. 163 164 165 Vgl. dazu B. Henningsen, Poul Martin Møller, a.a.O., S. 70, Anm. 21. ES III, S. 163–176, US II, S. 438–448. Pap. XI 1 A 275 f., SKS, Bd. 25, NB 30 Nr. 93,93a, S. 461, vgl. Pap. XI 2 A 26. Wieweit P.M. Møllers Ahasver-Notizen vom Charakterbild seines Schülers bestimmt waren, lässt sich nicht sicher feststellen; vgl. F. Brandt, Den unge Søren Kierkegaard, Kopenhagen 1929, S. 347 ff., 365, 412–414.
120 9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS Zuletzt ist des Mathematikers und Astronomen der königlichen Universität Kopenhagen G.F.K. Ursin (1797–1849) zu gedenken. Zum umfassenden „Studium generale“ mit Abschluss gehörte die Teilnahme an Lehrveranstaltungen der Höheren Mathematik. Mit Georg Frederik Krüger Ursin traf S. Kierkegaard auf einen umfassend gebildeten Mann, der auch für die Volksbildung in Kopenhagen tätig war. Die Gebiete der Mathematik und der Astronomie konnten damals übergreifend gelehrt werden. So belegte S. Kierkegaard im Sommersemester 1831 eine zweistündige Vorlesung von Ursin über „Sfärisk Trigonometri“ und eine vierstündige Lehrveranstaltung über „Elementär Astronomi“. G.F.K. Ursin lagen für seine Forschungs- und Lehrarbeit bedeutende Entdeckungen des 18. Jahrhunderts vor. Zu denken ist an Leonhard Euler (1707–1783). Er entwickelte die Variationsrechnung, die Wellentheorie des Lichts und die Theorie der Planetenbewegung. Zu nennen ist weiterhin der französische Astronom und Mathematiker Pierre Simon Marquis de Laplace (1749–1827) mit einer detaillierten Darstellung der Bewegungsabläufe von den Himmelskörpern. Das hatte er in seinem Hauptwerk „Traité de mecanique Celeste“ in fünf Bänden (1799–1825, dt.: „Abhandlung über die Himmels-Mechanik“) niedergelegt. Von großer Bedeutung für die astronomische Forschung war auch der Engländer James Bradley (1692–1762). Er entdeckte die Aberration mit der daraus resultierenden Berechnung der Lichtgeschwindigkeit. J. Bradley bestimmte die Position von über 3.200 Fixsternen. Wichtig für die damalige Forschung waren die geodätischen und astronomischen Arbeiten Friedrich Wilhelm Bressels (1784–1846). Schließlich gab es tiefe Einsichten durch Josef Louis de Lagrange (1736–1813), der die theoretische Mechanik ausbaute. Das meiste Forschungsmaterial lag dem dänischen Mathematiker und Astronomen vor, als er seine Dissertation für den Doktor der Philosophie einreichte. Der Titel lautete „De eclipsi Solari 7. Sept. 1820“. Jene bezog sich auf die Untersuchung über die Sonnenfinster-
9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS 121 nis vom 7. September 1820: „Om den ringformige Soelformödelse 7. Sept. 1820 isaer for Danmark med Kaart og Kobber“ („Über die ringförmige Sonnenverdunklung 7. Sept. 1820, besonders für Dänemark mit Karte und Kupfer“), Kopenhagen ohne Jahreszahl. Für viele, die sich für das Grundstudium vorbereiten wollten, war das Lehrbuch für Mathematik von G.F.K. Ursin ein wichtiges Hilfsmittel: „Laerebog i den rene Mathematik isaer med Hensyn til dem, der forberede sig til Universitaetet, 1. Deel“ („Lehrbuch der reinen Mathematik besonders mit Hinblick auf die, die sich auf die Universität vorbereiten, 1. Teil“), Kopenhagen 1822. Das Buch hatte zwei Tafeln. Ohne diese erschien es dann in zweiter Auflage 1826. 1824 erschien dann der zweite Teil des umfassenden Werkes: „2. Deel indeholdende Stereometrien, Trigonimetrien, Algebra og det Endeliges Analysis“ („2. Teil, beinhaltend die Stereometrie, Trigonometrie, Algebra und die Analyse des Endlichen“). Auch dieser Teil hatte zwei Tafeln. Beide Teile wurden zusammengefasst als „Laerebog i den rene Mathematik i tvende Deele“ („Lehrbuch der reinen Mathematik in zwei Teilen“), Kopenhagen 1824. Populär war das Ursinsche Rechenbuch „Regnebog eller Anviisning hensigtmaessigen at udföre Huus- og Handelsregning“ („Rechenbuch oder Anweisung für den Zweck, Haus- oder Handelsrechnung auszuführen“), Kopenhagen 1824. Noch 1841 erreichte das Buch die dritte Auflage. S. Kierkegaard benutzte es schon im Schulunterricht. Er erinnerte sich besonders daran wegen der Rückseite des Titelblattes. Hier war vermerkt, dass dem Ersten, der jeden Fehler in der Endsumme aufdecken sollte, ein Spezies Reichstaler zukommen würde. S. Kierkegaard verarbeitete diese Bemerkung in einem Zeitungsartikel des „Faedrelandet“ („Das Vaterland“) Nr. 26 von 1851: „Foranlediget ved en Yttring af Dr. Rudelbach mig betraeffende“ („Veranlasst durch eine mich betreffende Äußerung von Dr. Rudelbach“). Ein weiteres praktisches Handbuch neben anderen Untersuchungen stellte folgendes dar: „Begyndelsesgrunde af den geometriske tegnelaere til brug isaer for Kunst- og Haandverks-
122 9. D ER B EGINN DES EIGENTLICHEN S TUDIUMS Skoler“ („Anfangsgründe der geometrischen Zeichenlehre zum Gebrauch besonders für Kunst- und Handwerksschulen“), Kopenhagen 1829. Mitverfasser dieses Buches war Gustav Frederik Hetsch. Diesem Handbuch waren 48 Foliozeichnungen angefügt. 1828 erschien auch in Kopenhagen mit einer ähnlichen Zielrichtung wie bei dem letzten angeführten Werk „Geometrie, udarbeidet med stadigt Hensyn til Anvendelsen i Kunsten og Haandvaerker“ („Geometrie, ausgearbeitet mit ständiger Hinsicht zur Anwendung in der Kunst und bei Handwerkern“). 1829 wurde in Kopenhagen die „Polytechnische Lehranstalt“ gegründet, deren erster Direktor kein Geringerer als H.C. Ørsted war. Dieser sorgte auch für die Gleichstellung der Lehranstalt mit den Fakultäten der Universität in Kopenhagen. Die Idee zur Gründung des Polytechnikums kam aber von G.F.K. Ursin. 1830 erschien dessen „Astronomie Nr. 1–2“ in Kopenhagen. Das Werk hatte vier Tafeln. Im Sommersemester 1831 hörte S. Kierkegaard also bei G.F.K Ursin „Sphärische Trigonometrie“ mit zwei Wochenstunden und „Elementare Astronomie“ mit vier Wochenstunden. Am 22. Oktober 1831 bestand er den zweiten Teil des „Zweiten Examens“ mit lauter „prae“ („ausgezeichnet gut“). Dieser zweite Teil umfasste die Prüfungen in „Theoretischer Philosophie“, „Praktischer Philosophie“, „Physik“ und „Höherer Mathematik“. Zu beachten ist die gute Orientierung auch in den gegebenen naturwissenschaftlichen Fächern. Der Weg war nun frei, das eigentliche Studium, zuerst der Theologie, zu beginnen. Die Einflüsse und Grundlagen dafür habe ich versucht, im vorliegenden Büchlein darzustellen.
A BKÜRZUNGSVERZEICHNIS 123 A BKÜRZUNGSVERZEICHNIS BBKL Betr. Ktl. Pap. SKS SV Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, begründet und herausgegeben von Friedrich Wilhelm Bautz, fortgeführt von Traugott Bautz, Herzberg, später Nordhausen 1980 ff. Jakob Peter Mynster, Betrachtungen über die christlichen Glaubenslehren. Aus dem Dänischen übersetzt, 3. Aufl. Gotha 1856. Katalog over Søren Kierkegaards Bibliotek. En Bibliografi ved Niels Thulstrup, udgivet af Søren Kierkegaard Selskabet, Kopenhagen 1957 (mit nachgeordneter Nummernangabe). Søren Kierkegaards Papirer nach der ersten von P.H. Heiberg/V. Kuhr/E. Torstung veranstalteten Ausgabe, neu herausgegeben mit zwei Ergänzungsbänden durch N. Thulstrup, Kopenhagen 1968 ff. (mit nachgeordneter Band- wie Gebietsnummer und Notizziffer, dazu oft unterteilte Bandnummer; Beispiel: X 4 A 12 usw.). Søren Kierkegaards Skrifter, hg. vom Søren Kierkegaard Forschungszentrum, Kopenhagen 1997 ff. – mit jeweiligem Kommentarband: „K“. Søren Kierkegaard, Samlede Skrifter, Bind 1–20, udgivet af A.B. Drachmann/P.A. Heiberg/H.O. Lange, 3. Ausgabe ved Peter P. Rohde, Kopenhagen 1962–1964.
124 L ITERATURVERZEICHNIS L ITERATURVERZEICHNIS W ERKAUSGABEN ( DÄNISCH ) Søren Kierkegaard, Samlede Vaerker, Bind 1–20, udgivet af A.B. Drachmann/L. Heiberg/H.O. Lange, 3. Udg. ved Peter P. Rohde, Kopenhagen 1962–1964. Søren Kierkegaard, Papirer, udg. af P.A. Heiberg/V. Kuhr/E. Torstung, 2. Oplag ved N. Thulstrup (erweitert mit zwei Bänden), Kopenhagen 1968–1978 (zur Band- und Ziffernangabe siehe Abkürzungsverzeichnis). Søren Kierkegaard Skrifter, udg. af Søren Kierkegaard Forskningscentrum, Kopenhagen 1997 ff. (mit jeweiligen Kommentarbänden). Breve og Aktstykker vedrörende Søren Kierkegaard, udg. af N. Thulstrup, Kopenhagen 1953–1954. Søren Kierkegaard, Gesammelte Werke in 36 Abteilungen. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Emanuel Hirsch/Hayo Gerdes/Martin Junghans. Abt. 1 ff., Düsseldorf 1950 ff. Dazu Registerband, erstellt von Ingrid Jacobsen/Hartmut Waechter, unter Mitwirkung von Hayo Gerdes, Düsseldorf 1969. Diese Gesamtausgabe auch als Gütersloher Taschenbuch Siebenstern („GTB“) Nr. 600–631, 32 Bände einschließlich Registerband, Gütersloh 1979 ff. mit Nachdrucken. Søren Kierkegaard, Philosophisch-theologische Schriften. Unter Mitwirkung der Søren Kierkegaard Gesellschaft Kopenhagen, hg. von Hermann Diem/Walter Rest, Bd. 1–4, Köln 1951 ff. Nachdrucke im dtv Taschenbuchverlag, zuletzt München 2005. Søren Kierkegaard, Briefe. Übersetzt, ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Walter Boehlich, Köln/Olten 1955. Søren Kierkegaard, Werke. Übersetzt und mit Glossar, Bibliographie sowie jeweils einem Essay „Zum Verständnis des Werkes“ hg. von Liselotte Richter, Hamburg Rowohlt Klassiker TB, 1960–1962, Bd. 2 und 3 (RK
L ITERATURVERZEICHNIS 125 81 und RK 89) mit „Erinnerungen von Hans Bröchner“. Übernommen mit jeweiligen Nachdrucken durch Europäische Verlagsanstalt, Syndikat, Athenäum, Frankfurt/Main 1986/1991. Søren Kierkegaard, Schriften 1–4. Übersetzt mit Einleitung und Kommentar, hg. von Hans Rochol: Phil. Bibl. Meiner, Hamburg 1984–2000: „Der Begriff Angst“ (Phil. Bibl. 340, 1984), „Philosophische Bissen“ (Phil. Bibl. 417,1989), „Die Krankheit zum Tode“ (Phil. Bibl. 470, 1994), „Die Wiederholung“ (Phil. Bibl. 575, 2000). Sonderkassette außer „Die Wiederholung“, 2005. Søren Kierkegaard, Zweiter Teil: Die Tagebücher (in Auswahl) 1832–1839. Übersetzt und hg. von Hermann Ulrich, Berlin 1930. Søren Kierkegaard, Tagebücher 1834–1855 (Auswahl). Ausgewählt und übertragen von Theodor Haecker, München 1949, 4. Aufl. 1953. Søren Kierkegaard, Die Tagebücher. Ausgewählt, neu geordnet und übersetzt von Hayo Gerdes, Bd. 1–5, Düsseldorf 1962–1974. Søren Kierkegaard, Geheime Papiere (Tagebuchnotizen). Aus dem Dänischen übersetzt, kommentiert und hg. von Tim Hagemann. Mit einem Essay von Klaus Harpprecht. Die andere Bibliothek, hg. von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt 2004. Deutsche Søren Kierkegaard Edition (DSKE), hg. von Heinrich Anz/Niels Jörgen Cappelörn/Hermann Deuser/Heiko Schulz. In Zusammenarbeit mit dem Søren Kierkegaard Forschungszentrum Kopenhagen: Bd. 1: Journale und Aufzeichnungen AA–DD (entspricht der Aufgliederung in SKS, s.o.), Berlin/New York 2005. Die Edition wird fortgesetzt. B ERICHTE , S AMMLUNGEN , U NTERSUCHUNGEN Amundsen, Valdemar, Søren Kierkegaards Ungdom. Hans Slaegten og hans relgiose Udvikling, Kopenhagen 1912. Andersen, Vilhelm, Poul Møller, Kopenhagen 1894, 3. Aufl. 1944. Ders. (Hg.), Poul Møller: Udvalgte Skrifter med Forord, I–II, Kopenhagen 1895.
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A BBILDUNGSVERZEICHNIS Jütländer Heide, Foto: Gesine v. Kloeden . . . . . . . . . . . . . . . 14 Michael Peder Kierkegaard, Quelle: Scan from Bakkehus og Solbjerg, vol. 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Die Hafenstraße in Kopenhagen, Foto: Lucian Freudenberg . . . . . . 32 Nytorv, Foto: Lucian Freudenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Denkmal von Jacob Peter Mynster in Kopenhagen, Foto: Lucian Freudenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Die berühmte Christusdarstellung von Bertel Thorvaldsen in der Frauenkirche, in der Sören 1828 konfirmiert wurde. Foto: Internet . . 86 Der „Runde Turm“, Foto: Lucian Freudenberg . . . . . . . . . . . . 95 Die Universität von Kopenhagen, Foto: Lucian Freudenberg . . . . . 97

Die Kindheit und Jugend großer Denker und Denkerinnen ist in der Regel gut erforscht. Bei Søren Kierkegaard ist dies bisher HLQVHLWLJPLW%H]XJDXIGLH(LQÀVVHGHV9DWHUVJHVFKHKHQ'DV 0DWHULDO GDIU VWDPPWH ]XPHLVW DXV GHQ 7DJHEXFKQRWL]HQ GHV 6RKQHV GLH GHQ 9DWHU DOV VFKZHUPWLJHQ *UHLV EHVFKUHLEHQ 0LW GHP YRUOLHJHQGHQ %FKOHLQ ZLUG GDV 9HUKlOWQLV YRQ 9DWHU XQG6RKQXQGGHU(LQÀXVVDXIGLH3KLORVRSKLH.LHUNHJDDUGVQHX EHOHXFKWHW 'DIU ZHUGHQ DXFK DQGHUH 4XHOOHQ KHUDQJH]RJHQ :ROIGLHWULFKYRQ.ORHGHQVWHOOWGDPLWGLH-XJHQGGHVJUR‰HQGlQLVFKHQ3KLORVRSKHQLQHLQQHXHV/LFKW 'HU 9HUIDVVHU LVW 3KLORVRSK 7KHRORJH XQG 3IDUUHU XQG LQ GHU LQWHUQDWLRQDOHQ .LHUNHJDDUG)RUVFKXQJ GXUFK ]DKOUHLFKH 9HU|IIHQWOLFKXQJHQDXVJHZLHVHQ 978-3-643-15449-1 LIT www.lit-verlag.de ;1*@,+?(< ?