Cover
Vorwort
Versuch einer topischen Bestimmung
Der verrückte Blick der Naturphilosophie
Geschichte des Wissens über die Natur vs. Naturgeschichte
Begriffe als Gegenstandsbereiche und analogische Erklärungen
Was ist die Natur?
Die (All-)Einheit der Natur
Sinnkritische Philosophie des Geistes
Die Idee der Seele als Seinsform des personalen Subjekts
Die Metapher von der Herrschaft der Seele
Zur Gliederung der Themen des subjektiven Geistes in Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie
Naturphilosophie
Hegels Einleitung in die Philosophie der Natur
Betrachtungsweisen der Natur
Begriff der Natur
Einteilung
Erste Abteilung der Naturphilosophie. Die Mechanik
Raum und Zeit
Der Raum
Die Zeit
Der Ort und die Bewegung
Die Materie und Bewegung
Endliche Mechanik
Die träge Materie
Der Stoß
Der Fall
Absolute Mechanik
Zweite Abteilung. Physik
Physik der allgemeinen Individualität
Die freien physischen Körper
Das Licht
Die Körper des Gegensatzes
Der Körper der Individualität
Die Elemente
Die Luft
Die Elemente des Gegensatzes
Individuelles Element
Der elementarische Prozeß
Physik der besondern Individualität
Die spezifische Schwere
Kohäsion
Der Klang
Die Wärme
Physik der totalen Individualität
Die Gestalt
Die Besonderung des individuellen Körpers
Verhältnis zum Licht
Der Unterschied an der besonderten Körperlichkeit
Die Totalität in der besondern Individualität; Elektrizität
Der chemische Prozeß
Vereinung
Galvanismus
Feuerprozeß
Neutralisation, Wasserprozeß
Der Prozeß in seiner Totalität
Scheidung
Dritte Abteilung der Naturphilosophie. Organische Physik
Die geologische Natur
Die vegetabilische Natur
Der tierische Organismus
Die Gestalt
Die Assimilation
Gattungs-Prozeß
Die Gattung und die Arten
Das Geschlechts-Verhältnis
Die Krankheit des Individuums
Der Tod des Individuums aus sich selbst
Philosophie des Geistes
Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes
Begriff des Geistes
Einteilung
Erste Abteilung der Philosophie des Geistes. Der subjektive Geist
Anthropologie. Die Seele
Die natürliche Seele
Natürliche Qualitäten
Natürliche Veränderungen
Empfindung
Die fühlende Seele
Die fühlende Seele in ihrer Unmittelbarkeit
Selbstgefühl
Die Gewohnheit
Die wirkliche Seele
Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein
Das Bewußtsein als solches
Das sinnliche Bewußtsein
Das Wahrnehmen
Der Verstand
Das Selbstbewußtsein
Die Begierde
Das anerkennende Selbstbewußtsein
Das allgemeine Selbstbewußtsein
Die Vernunft
Psychologie. Der Geist
Der theoretische Geist
Anschauung
Die Vorstellung
Die Erinnerung
Die Einbildungskraft
Gedächtnis
Das Denken
Der praktische Geist
Das praktische Gefühl
Die Triebe und die Willkür
Die Glückseligkeit
Der freie Geist
Zweite Abteilung der Philosophie des Geistes. Der objektive Geist
Einteilung
Das Recht
Eigentum
Vertrag
Das Recht gegen das Unrecht
Die Moralität
Der Vorsatz
Die Absicht und das Wohl
Das Gute und das Böse
Die Sittlichkeit
Die Familie
Die bürgerliche Gesellschaft
Das System der Bedürfnisse
Die Rechtspflege
Die Polizei und die Korporation
Der Staat
Inneres Staatsrecht
Das äußere Staatsrecht
Die Weltgeschichte
Dritte Abteilung. Der absolute Geist
Die Kunst
Die geoffenbarte Religion
Die Philosophie
Literatur
Personenregister
Sachregister
Text
                    Philosophische Bibliothek

Pirmin Stekeler
Hegels Realphilosophie
Ein dialogischer Kommentar zur Idee der
Natur und des Geistes in der Enzyklopädie
der p­ hilosophischen Wissenschaften




PIRMIN STEKELER Hegels Realphilosophie Ein dialogischer Kommentar zur Idee der Natur und des Geistes in der ­»Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 762 Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-4239-6 ISBN eBook 978-3-7873-4240-2 © Felix Meiner Verlag Hamburg 2023. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Tanovski Publ. Serv., Leipzig. Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellsto=. Printed in Germany.www.meiner.de
Inhalt Vorwort 11 Erster Teil: Versuch einer topischen Bestimmung 27 1. Der verrückte Blick der Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . 27 2. Geschichte des Wissens über die Natur vs. Naturgeschichte . 31 3. Begri=e als Gegenstandsbereiche und analogische Erklärungen 38 4. Was ist die Natur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 5. Die (All-)Einheit der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 6. Sinnkritische Philosophie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . 54 7. Die Idee der Seele als Seinsform des personalen Subjekts . . . 57 8. Die Metapher von der Herrschaft der Seele . . . . . . . . . . . 72 9. Zur Gliederung der Themen des subjektiven Geistes in Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie . . . . . . . 78 Zweiter Teil: Naturphilosophie Hegels Einleitung in die Philosophie der Natur 89 90 Betrachtungsweisen der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Begri= der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Erste Abteilung der Naturphilosophie. Die Mechanik 119 A. Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 a. Der Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 b. Die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 c. Der Ort und die Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 B. Die Materie und Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 a. Endliche Mechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 b. Die träge Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 c. Der Stoß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 d. Der Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
6 Inhalt C. Absolute Mechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Zweite Abteilung. Physik 229 A. Physik der allgemeinen Individualität . . . . . . . . . . . . . 231 a. Die freien physischen Körper . . . . . . . . . . . . . . . . 232 α) Das Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 β) Die Körper des Gegensatzes . . . . . . . . . . . . . . . 247 γ) Der Körper der Individualität . . . . . . . . . . . . . . 251 b. Die Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 α) Die Luft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 β) Die Elemente des Gegensatzes . . . . . . . . . . . . . 258 γ) Individuelles Element . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 c. Der elementarische Prozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 B. Physik der besondern Individualität . . . . . . . . . . . . . . 269 a. Die spezifische Schwere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 b. Kohäsion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 c. Der Klang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 d. Die Wärme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 C. Physik der totalen Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . 298 a. Die Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 b. Die Besonderung des individuellen Körpers . . . . . . . . 313 α) Verhältnis zum Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 β) Der Unterschied an der besonderten Körperlichkeit . . 329 γ) Die Totalität in der besondern Individualität; Elektrizität 331 c. Der chemische Prozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 α) Vereinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 1) Galvanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 2) Feuerprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 3) Neutralisation, Wasserprozeß . . . . . . . . . . . . 365 4) Der Prozeß in seiner Totalität . . . . . . . . . . . . 366 β) Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
Inhalt Dritte Abteilung der Naturphilosophie. Organische Physik 7 385 A. Die geologische Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 B. Die vegetabilische Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 C. Der tierische Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 a. Die Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 b. Die Assimilation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 c. Gattungs-Prozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 α) Die Gattung und die Arten . . . . . . . . . . . . . . . 452 β) Das Geschlechts-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . 457 γ) Die Krankheit des Individuums . . . . . . . . . . . . . 460 δ) Der Tod des Individuums aus sich selbst . . . . . . . . 465 Dritter Teil: Philosophie des Geistes 471 Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes 472 A. Begri= des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 a. Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 Erste Abteilung der Philosophie des Geistes. Der subjektive Geist 507 A. Anthropologie. Die Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 a. Die natürliche Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 α) Natürliche Qualitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 β) Natürliche Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . 533 γ) Empfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 b. Die fühlende Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 α) Die fühlende Seele in ihrer Unmittelbarkeit . . . . . . 572 β) Selbstgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 γ) Die Gewohnheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 c. Die wirkliche Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 B. Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein . . . . . . 624 a. Das Bewußtsein als solches . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 α) Das sinnliche Bewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . 638 β) Das Wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 γ) Der Verstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643
8 Inhalt b. Das Selbstbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 α) Die Begierde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 β) Das anerkennende Selbstbewußtsein . . . . . . . . . . 650 γ) Das allgemeine Selbstbewußtsein . . . . . . . . . . . . 660 c. Die Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664 C. Psychologie. Der Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666 a. Der theoretische Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 α) Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690 β) Die Vorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699 1) Die Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700 2) Die Einbildungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . 708 3) Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739 γ) Das Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753 b. Der praktische Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761 α) Das praktische Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766 β) Die Triebe und die Willkür . . . . . . . . . . . . . . . 773 γ) Die Glückseligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786 c. Der freie Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 789 Zweite Abteilung der Philosophie des Geistes. Der objektive Geist 797 Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 A. Das Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 a. Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 b. Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 812 c. Das Recht gegen das Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 816 B. Die Moralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827 a. Der Vorsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 832 b. Die Absicht und das Wohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . 834 c. Das Gute und das Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 837 C. Die Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847 a. Die Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 852 b. Die bürgerliche Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 856
Inhalt Inhalt 9 9 α) Das System der Bedürfnisse . . α System der Bedürfnisse β)) Das Die Rechtspflege . . . . . . .. .. β ) Die Rechtspflege . . . . . . . γ) Die Polizei und die. Korporation . . . . .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . .. .. .. .. .. .. .. .. . 857 857 .. 864 .. 864 875 γ) Die Polizei c. Der Staat . . .und . . die . . Korporation . . . . . . . c. Der Staat . . . . . . . α) Inneres Staatsrecht .. .. .. .. .. .. .. α Staatsrecht . . .. .. .. .. .. β)) Inneres Das äußere Staatsrecht .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 880 875 .. 880 884 .. 884 921 β Das Weltgeschichte äußere Staatsrecht 921 γ)) Die . . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 922 γ) Die Weltgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 922 Dritte Abteilung. Der absolute Geist Dritte Abteilung. A. Die Kunst Der . . absolute . . . . . Geist . . . . . . . . A. Die Kunst . . . . . . . B. Die geo=enbarte Religion. .. .. .. .. .. .. .. B. Die Philosophie geo=enbarte Religion C. Die . . . . . .. .. .. .. .. .. .. . . . . .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . .. .. .. .. .. .. .. .. C. Die. Philosophie Literatur . . . . . . . Literatur . . . . . .. .. .. Personenregister .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. 963 963 966 966 982 .. .. 982 996 996 1035 .. 1035 1047 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1047 1053 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1053
Wolfgang Neuser und Dieter Wandschneider in Erinnerung an Olaf Breidbach gewidmet
Vorwort Eine Darstellung von Hegels Philosophie wäre ohne seine Naturphilosophie und die Philosophie des Geistes in der Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse nicht vollständig. Erst in dieser zweigeteilten Realphilosophie (Enz. §§ 245–577, 3. Aufl. 1830, hier nachgedruckt und kommentiert nach Phil. Bibl., Bd. 331) werden die allgemeinen Formen skizziert, die für die Entwicklung eines geistigen oder, was dasselbe ist, personalen Lebens der Menschen auf der Grundlage der Gegebenheiten der natürlichen Welt notwendig sind. Das geschieht in einer realbegri=lichen oder, wie ich lieber sage, materialbegri=lichen Di=erenzierung grundsätzlicher Themen und Gegenstandsbereiche und der zugehörigen Formen des Wissens und Könnens. Das System der Enzyklopädie ist daher nichts Anderes als ein erster Entwurf einer übersichtlichen Darstellung der verschiedenen Sachbereiche und Methoden, Darstellungsweisen und Erklärungsarten der philosophischen, und das heißt hier zunächst nur: theoretisch artikulierten, Natur- und der Geisteswissenschaften. Diese waren damals in der Tat entsprechend sachgemäß zu gliedern. Diese Gliederungen haben Folgen für die institutionelle Arbeitsteilung disziplinärer Fokussierung, wie sie dann unter anderen in den deutschen Universitäten bis ca. 1900 tatsächlich etabliert wurde. Hegels sogenanntes System der Philosophie ist in dieser Betrachtung zunächst die Begründung eines frühen Vorschlags zur themenbezogenen Ordnung der akademischen Disziplinen. Die Naturphilosophie ist allerdings weit mehr als bloße Reflexion auf das System der Naturwissenschaften. Sie ist erster Teil einer ra1 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hgg. von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler, Hamburg: Meiner 1991; es werden auch die Parallelstellen der Gesammelten Werke, Bd. 20, hgg. v. W. Bonsiepen und H.-C. Lucas, Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Düsseldorf 1992 angegeben werden.
12 Vorwort dikalen Verweltlichung des Geistes. Die Philosophie des Geistes ist notwendiger zweiter Teil dieses Projekts. Es geht dabei insbesondere darum, jede Naturalisierung von Wissen und Erkennen zu vermeiden. Naturalisierungen menschlicher Kognitionen begehen nämlich fundamentale Kategorienfehler. In ihrem unmittelbaren Objektivismus sprechen sie schon, ohne sich dessen bewusst zu sein, eine spekulative Sprache. Man abstrahiert von jeder endlichen, subjektiven, empirischen Perspektive, also auch von jedem Ort und jeder Zeit. Man blickt auf sich selbst sideways-on (John McDowell) und auf die Welt von Nirgendwo (Thomas Nagel).2 Die übliche Kritik an Hegels ominösen Wörtern »Spekulation« und »Totalität« tri=t daher den Boten für die Nachricht. Das Wort »spekulativ« ist ja nur Signal für eine besondere logische Form. Es geht sozusagen darum, dass man im Fokus auf Einzelgegenstände und Einzeltatsachen die Welt als ein Ganzes übersieht, in deren Rahmen alles bloß Einzelne in einem begri=lichen System von hoffentlich gemeinsamen Unterscheidungen, Beziehungsaussagen und inferentiellen Erwartungen allererst bestimmt ist. Dabei ergibt sich die ›objektive‹ Rede von Unterschieden, Relationen und (richtigen) Schlüssen, wie Hegel in der Wissenschaft der Logik auf unbezweifelbare Weise ausarbeitet, erst aus einer reflexionslogischen Abstraktion. Die Betonung der besonderen spekulativen Sprachform ist nötig, da man in berichtenden Aussagen nicht über Themenbereiche oder Begri=e, Arten und Typen sprechen kann. Man kann Formen und Inhalte, auch die ›geistigen‹ Vollzugsformen verständigen und vernünftigen Redens und Handelns, trivialerweise nicht unmittelbar beobachten, so wenig wie abstrakte Gegenstände reflektierender Rede, zu denen unter anderem die (reinen) Zahlen und geometrischen Formen gehören. Für die Rede über Arten, Formen und Begri=e braucht man eine generische, für die Rede über ganze Bereiche solcher Formen und Begri=e, erst recht über den Begri= als Gesamt aller Begri=e, die Welt als Gesamt allen Seins und dann auch über Natur und Geist braucht man spekulative Sprache. Es bedarf also einer besonderen ›metastufigen‹ 2 Vgl. dazu John McDowell, Mind and World, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1996 und Thomas Nagel, The View from Nowhere, Oxford: Oxford University Press 1986.
Vorwort 13 Kompetenz, um die holistischen Aussagen über ganze Seinsbereiche und die zugehörigen Begri=e zu verstehen. Das gilt insbesondere für alle Reden sub specie aeternitatis, also aus dem Blick eines allwissenden Gottes, wie sie keineswegs nur in den Religionen, dort immerhin in metaphorischen Bildern explizit, sondern in allen Wissenschaften aufgrund der Di=erenzierung von Wissensanspruch und Wahrheit, hier allerdings zumeist nur implizit vorkommen. Philosophie ist explizite Reflexion auf das Implizite in allen unseren Reden von Wahrheit. Hegels ominöser Ausdruck »der Begri=« im generischen Singular nennt dabei, wie eben skizziert, entweder alle möglichen sprachlich erschlossenen Themenbereiche des Wissens und steht jeweils für einen ganzen Gegenstandsbereich, so wie wir vom Begri= der Zahl sprechen, nicht aber vom Begri= der Primzahl größer als zwei. Wenn wir auf unsere Sprache hören, werden wir in der Tat nur selten vom ›Begri=‹ des Hundes reden, nämlich wenn es uns auf die Artbestimmung verschiedener Hunderassen ankommt, wohl aber vom Begri= des Staates, des Rechts, der Religion, des Gebets, der Kunst oder des Geistes. Insbesondere ist nicht jedes Prädikat ein Begri=, pace Kant und Frege. Heute spielen Wörter wie »System« in sogenannten Systemtheorien oder »Struktur« im sogenannten Strukturalismus eine ganz analoge Rolle wie das Wort eidos bei Platon und dessen früher übliche Übersetzung durch »Begri=« im Deutschen, wie bei Schleiermacher, der das Wort aber auch schon mal mit »Gestalt« wiedergibt, obwohl bei Platon dafür schēma, schēsis oder auch idea steht. Mit dem Wort »Idee« verweist Hegel auf einen realisierten Begri=, genauer, auf seine Instanziierungen. Im generischen Gebrauch steht daher »die Idee« grob für alle ausreichend guten Instanzen eines Begri=s an sich. Ein Begri= an sich wiederum ist die jeweilige eidetische bzw. generische (Gesamt-)Form. Er ist nicht nur ein Wort, sondern wie im Fall der Rede vom Staat an sich das relational oder sogar schon prozessual strukturierte idealtypische System des Staates. Analoges gilt für das Recht, die Religion oder die Wissenschaft. Je mein Leben ist Idee des Begri=s des Geistes insofern, als sich nur im geistigen Leben das Begreifen von Formen realisiert. Narrative Paradigmen und damit Hegels Ideen lassen Formen und Begri=e weit plastischer hervortreten als ihre abstrakten Benennungen, Beschreibungen und Kommentierungen. Daher meint man, dass
14 Vorwort Beispiele oder dann auch auf besondere Weise Gleichnisse für Klarheit sorgen. Der Mangel bloßer Beispiele aber ist analog zum Problem des Verstehens von Metaphern. Es bedarf gut gebildeter reflektierender Urteilskraft, um im Ausgang von Beispielen die relevante Form in der relevanten Gattung als Artbegri= zu finden. Deutlich bestimmt sind Begri=e und Formen erst über allgemeine Kommentare zu den wesentlichen Relationen und Prozesstypen bzw. zu den bestimmten Negationen, also den einschlägigen Prädikaten ›in‹ ihnen. Wir sind im Allgemeinen dennoch ganz gut darin, an geeigneten Prototypen allgemeine Formen zu erkennen – und wissen doch auch, dass dies empirisch, also durch reine Beobachtung, nicht möglich ist. Platons Sokrates führt das im Dialog Menon am Beispiel der Geometrie und dem Verfahren der Verdoppelung der Fläche eines Quadrats paradigmatisch vor. Obwohl Platon dabei von einer Wiedererinnerung spricht, führt das Argument von einem einzelnen Beispiel zu einer allgemein reproduzierbaren Form und korrespondiert daher weitgehend dem, was Kant später »reflektierende Urteilskraft« bei der Bestimmung eines Begri=s im Ausgang eines empirischen Falls nennt.3 So wie der Begri= des Geraden ist auch der Begri= des Wissens (an sich) und damit auch der Wahrheit (an sich) höchst ideal bestimmt. Man erläutert sie zunächst bildlich als das, was ein kontrafaktisch vorgestellter Gott wissen könnte. Die Idee des Wissens zeigt sich dagegen in Aussagen, die wir auf ausreichend gute Weise als richtig anerkennen (können oder sollen). Hegels spekulative Sätze über das Sein, über das Wesen oder über 3 Dabei verweist der Begri= der geometrischen Form an sich im generischen Sinn auf das Gesamtsystem von Formen, mit geraden Linien und rechten Winkeln als den zentralen größenunabhängigen Teilformen, wie es sie außerhalb der Euklidischen Geometrie gar nicht gibt. Für hyperbolische und andere nicht-euklidische Modelle ist die Euklidische Geometrie nach wie vor systematische Grundlage, gerade weil die Wörter »gerade« und »orthogonal« in diesen Modellen nur noch im ›Lokalen‹, genauer ›Infinitesimalen‹ der Tangentialebenen ihre volle Bedeutung erhalten. Die Idee des Geraden bzw. Orthogonalen steht jedenfalls für alle jeweils ausreichend geraden bzw. rechtwinklig zu einander stehenden Linien in der realen, empirischen Welt. Prototypen sind die Seiten von Rechtecken mit vier gleichen Winkeln an Quadern mit sechs Rechtecken.
Vorwort 15 den Begri= haben demnach wenig mit einer neuplatonischen Lehre über Welt und Gott als Eins-und-Alles zu tun. Sie skizzieren vielmehr Grundformen des Denkens und damit des Redens über Gegenstände als Einheiten in den jeweiligen Bereichen wie zum Beispiel der Zahlen, der Lebewesen oder der nichtlebenden Körperdinge. Generische Sätze kommentieren die allgemeinsten Formen eines solchen Genus, z. B. auch unseres menschlichen Daseins in der Welt. Dabei gibt es ganz besondere Bedingungen dafür, dass solche Sätze wahr oder ›richtig‹ sind. Logik ist vor dem Hintergrund dieser basalen Einsichten für Hegel zunächst Dekonstruktion aller rein wörtlichen und eben damit aller ontologischen Reden über eine unmittelbar unterstellte oder explizit geglaubte Existenz irgendwelcher Dinge, Sachen oder sogenannten Entitäten. Existenz bedeutet bei Hegel immer, dass sich eine Form als ›Ursache‹ von Erscheinungen auf die eine oder andere Weise unseren Sinnen, aber je perspektivisch, in der empirisch-realen Welt zeigt. Die Objektivität eines transsubjektiven Zugangs zu den Sachen selbst ist daher immer begri=lich geformt. Es geht in einer Logik des Denkens daher immer darum, die erstmals von Kant für den besonderen Fall der Rede über physische Dinge als nötig erkannte Konstitution des immer begrenzten Gegenstandsbereiches für alle gegenstandsförmigen Reden aufzuweisen, und zwar als Bedingung der Möglichkeit, etwas über etwas zu sagen.4 Als Kritik an allen Unmittelbarkeiten und allem bloß erst wörtlichen, also nur erst schematisch-abstrakten Verstehen von Sprache gerade auch in allem religiösen, wissenschaftlichen oder spekulativ-weltanschaulichen Glauben ist Philosophie zuerst und vor allen 4 Ein Grundproblem für heutige Leser ergibt sich, wie wir jetzt sehen, gerade daraus, dass Hegel unter dem Titel »Begri=« nicht irgendwelche Prädikate, sondern Gegenstandsbereiche anspricht. Im generischen Singular umfasst der Begri= alle möglichen Themenbereiche. Bloße formale Logik übergeht die Reflexion auf die Verfassung der Bereiche G mit den Relationen und Gleichungen in G. Jede Belegung einer sogenannten ›Objektvariablen‹ in G setzt diese Konstitution von G implizit voraus. Das gilt gerade auch für die Deutung des Quantors »es gibt«. Jede unmittelbare Rede von Existenz und Wahrheit erweist sich damit als metaphysisch naiv und als abstraktionslogisch bewusstlos.
16 Vorwort Dingen logische Sinnkritik und in diesem Sinn sozusagen Negative Philosophie. Die Kritik richtet sich gegen mangelhafte Reflexionen auf die Konstitution von Gegenstandsbereichen und Identitäten in unserem Reden und Denken. Betro=en von dieser Kritik ist also gerade jeder unmittelbare Glaube an die Existenz von wirklichen oder möglichen Dingen und Sachen. Dabei gebrauche ich hier das Wort »Sache« im Interesse einer übersichtlichen Darstellung so, dass auch alle Sachverhalte, Ereignisse, Prozesse und sogar Eigenschaften dazu zählen. Wir können diese ja rein sprachlich, durch Nominalisierung, formal zu Gegenständen machen. Daher umfasst die Rede von der Existenz von Dingen und Sachen immer auch schon die Rede über die Wahrheit von möglichen Sätzen und Aussagen, also auch über das Bestehen von Sachverhalten. Es ist nur eine Frage des Stils, ob man sagt, etwas sei eine Tatsache, der betre=ende Sachverhalt existiere oder die zugehörige Aussage sei wahr. Entsprechendes gilt für die Rede von der Existenz von Eigenschaften: Man sagt in ihr, dass es im relevanten Bereich Gegenstände gibt, welche die Eigenschaft haben. Das alles sind selbst keine ›Behauptungen‹, sondern Erläuterungen einer schon längst etablierten sprachlichen Reflexionstechnik. Es handelt sich um Kommentare zu einer Kompetenz. Das zentrale Thema der Logik des Begri=s ist also explikative Analyse der Verfassung begrenzter Gegenstands- und Themenbereiche und damit auch der unterschiedlichen Bewertungen des Richtigen oder Wahren auf den Ebenen des generisch Allgemeinen, eidetisch Besonderen und empirisch Einzelnen. Die Philosophie im neuen Sinn nach Kant und Fichte interessiert sich dabei nur für die allgemeinsten Normalfälle, die in den besonderen Fachwissenschaften implizit vorausgesetzt werden, und das zumeist so unbewusst wie die Gerichtetheit und das Maß der Zeit etwa in der Physik. Es geht ihr daher auch nicht um besondere Ausnahmen und akzidentelle Privationen, die in der konkreten Situation zu behandeln sind. Diese sind Themen der Sachwissenschaften. Allerdings gilt es zu verstehen, warum man privative Fälle, auch Ausnahmen, nie mit dem Wesen einer Sache oder eines Lebewesens verwechseln darf, egal, wie häufig sie auftreten sollten. Das betri=t insbesondere menschliche Institutionen wie Staat und Recht, Familie und Eigentum, Religion und Kirche, aber auch Wissenschaft und Kunst.
Vorwort 17 Jede Kriminalgeschichte des Christentums, der Politik oder der westlichen Zivilisation setzt in ihren Schilderungen besonderer und einzelner Mängel und Verbrechen schon die idealen ethischen Ansprüche voraus, die den Schilderungen zufolge nicht ausreichend erfüllt wurden. Sonst wären die Geschichten auch kaum interessant. Wenn wir daher auf die Entwicklung der normativen Ideen selbst achten – und nur das ist die Aufgabe der Philosophie –, dann erkennen wir allererst, wie manche Traditionen und Institutionen, etwa das Christentum und die Kirche, eine Kritik allererst ermöglichen, welche sich scheinbar gegen sie richtet. Auch Lügen kann man erst, nachdem es eine Praxis der Wahrheit gibt. Während der subjektive Empirismus oder Idealismus nur von den Einzelerfahrungen der Subjekte ausgeht und damit menschliche Erfahrung sozusagen rein solipsistisch auffasst, möchte ein materialistischer Empirismus wie schon bei Thomas Hobbes unmittelbar zwischen dem unterscheiden, was Subjekte aktual und real erfahren, und dem, was es objektiv gibt. Schon in der Antike hatten sich aber aus diesem abstrakten Unterscheidungswunsch zwei Blickweisen entwickelt, eine theologische und eine naturalistische. Beide erweisen sich auf analoge Weise als problematisch, gerade weil sie ganz unbewusst spekulative Bezugnahmen auf das Ganze dessen sind, was es gibt. Beide wissen nicht, was schon Aristoteles wusste, nämlich, dass es einen universalen Bereich von Gegenständen, des früher so genannten ›Seienden‹ als Übersetzung von »to on« und »ta onta«, aus abstraktionslogischen Gründen nicht gibt und nicht geben kann. Jeder Bezugsbereich für »etwas« ist ein begrenztes, nie ein allumfängliches universe of discourse. Der Belegungsbereich für Variablen ist gerade ein Begri= in Hegels Sinn, so wie der Begri= der Person mit dem Bereich des Wortes »jemand« zusammenfällt. Wo immer man davon spricht, dass es etwas, ein x, gebe, das eine gewisse Eigenschaft E haben soll, wird stillschweigend vorausgesetzt, dass der Bereich des x und der Eigenschaft E, also der relevante Begri=, schon bekannt ist. Philosophische Logik ist wesentlich explikative Analyse dieser Bereiche. Noch die Rede von einer Sinnfeldontologie wie bei Markus Gabriel meint, ohne das ausreichend klar machen zu können, nichts Anderes als die begri=liche Verfassung von Gegenstandsbereichen. Da ein solcher Bereich als Begri= an sich eine
18 Vorwort abstrakte Form ist, wie man das bei Arten und Typen klar sehen kann, bedarf es immer noch einer Projektion auf die reale Welt der empirischen Erscheinungen in einer zu bestimmenden Zeitepoche, zumal alles, was es in der Welt gibt, sogar ein Arttypus, endlich ist, also nur in einer begrenzten Zeit existiert. In der Theologie schreibt man einem anthropomorph vorgestellten Gott ein Allwissen über alles Einzelne sub specie aeternitatis zu. Das ist schon deswegen in sich widersprüchlich, weil von aller Zeitlichkeit abstrahiert wird. Aber auch der Ausdruck »die Welt« nennt keinen Bereich von Gegenständen. Der Ausdruck »Weltall« ist, wie Hegel selbst sagen wird, ebenso wie »Natur« leicht irreführend. Beide enthalten nicht ›alles‹, was es ›in der Welt gibt‹, z. B. keine Bedeutungen und Denkinhalte, auch keine Zahlen und Formen. Das Weltbild des Naturalismus operiert als Physikalismus schon in Platons Timaios mit der Vorstellung eines perfekten Physikers oder Weltarchitekten. Diese Vorstellung erweist sich als nicht weniger widersprüchlich als die eines Gottes, der ›alles‹ weiß. Dabei ist es schon falsch, das organische Leben bloß aus der Sicht der Physik, Chemie und Physiologie zu betrachten. Wer den Inhalt des gesamten Wissens einer möglichen Physik mit der ganzen Welt identifiziert, muss sich fragen lassen, auf welcher Grundlage er diese seine Sicht für wahr zu erklären gedenkt. Es gibt keine ausreichenden Gründe, warum wir ihm folgen sollten. Die dramatische Folge des physikalistischen Biologismus im 19. und 20. Jahrhundert ist ein Nihilismus der Sinnlosigkeit des Daseins angesichts einer vermeintlichen Kälte des Kosmos, wie er unter vielen anderen von Friedrich Nietzsche und Fjodor Dostojewski in besonderer Weise literarisch, von William James oder Martin Heidegger philosophisch thematisiert worden war. Dabei prägt ein zum Teil leicht elegischer, sich zum Teil für tapfer und redlich haltender Realismus die Philosophie nach Nietzsche. Das gilt dann auch für Max Webers Rede von einer Entzauberung der Welt. Noch dramatischer ist freilich der Aberglaube eines ewigen Kampfs ums Überleben der tüchtigsten Gene, der schon im 19. Jahrhundert zunächst in eine Apologetik des eurozentrischen Imperialismus transfigurierte, aus welchem erst damals ein tribalistischer Rassismus entstand, wie er leider immer noch nicht ausgestorben ist. Sowohl kantianische als auch utilitaristische Moral-Appelle kommen hier
Vorwort 19 zu spät, auch wenn sie sich redlich gegen die Lehre vom Kampf ums Dasein und gegen einen völkischen oder sonst wie primitiven Nationalismus richten. Der Sinnverlust durch ein nur scheinbar wissenschaftliches Weltbild und die latente Depression eines ebenfalls nur scheinbar wahren Naturalismus lässt sich so nicht aufheben. Hegel deckt in seiner komprehensiven Philosophie der Natur und des Geistes diese falsche Re-Animalisierung des Selbstbilds von Mensch und Person und die ebenfalls falsche Physikalisierung des Lebens auf. Er erkennt zunächst, dass der von Friedrich Engels und Karl Marx später so genannte mechanische Materialismus eine mathematische Metaphysik des Neuphythagoreismus ist. Das mechanische Weltbild nimmt sich die in Newtons Dynamik durch die Rolle der Massenpunkte perfektionierte Erklärungsform der Punktbewegungskinematik des Descartes zum Muster. Hegel spricht ganz passend von einer Kindheit des Philosophierens. Das Juvenile in dieser Begeisterung für mathematische Modelle ist ja gerade Ursache für den Aberglauben an einen physikalistischen Determinismus. Alle Denkfehler spekulativer Metaphysik basieren auf fundamentalen Verwirrungen in den Begri=en Natur, Leben und Geist, zuvor schon von Ding, Gegenstand und Eigenschaft. Ein besonderes Problem liegt in der generischen Logik der Sprache einerseits, in der Dialektik konkreten Sprechens und Denkens andererseits. Nicht angemessen unterschieden oder falsch verstanden werden allzu häufig empirische Konstatierungen über Sachen hier und jetzt (1), zeitallgemeine Sätze als kanonisierte Normalfallinferenzen im generischen Sachbezug (2), axiomatische Theorien als stenographisch verdichtete Artikulations- bzw. Deduktionssysteme, welche viele zeitallgemeine Sätze nur leicht lehr- und lernbar machen, aber nie begründen (3), Aussagen über die Methoden der Entwicklung und der Kontrolle dieses sachbezogenen Allgemeinwissens (4), Reflexionen über deren rechte Anwendungen (5) und schließlich spekulative Sätze über den je umfänglicheren Rahmen sachfokussierter Unterscheidungen in einer Art logischen Geographie von Begri= und Welt, also aller möglichen Gegenstandsbereiche (6). Die sowohl generisch-allgemeinen als auch prototypisch-figurativen Grundformen unserer Sprachen qua Ausdruckssystemen für di=erentiell bedingte und kanonisch gesetzte Normalfallschlüsse
20 Vorwort verlangen in allen empirischen, damit auf Einzelsachen bezogenen, Anwendungen allgemeiner Schemata eine urteilskräftige Ent-Schematisierung und Ent-Idealisierung. In der Einsicht in die Vollzugsformen einer immer notwendigen Verflüssigung unserer idealen und analogischen Schemata des bloßen Verstandes besteht Hegels bis heute kaum begri=ene freie Dialektik der Vernunft. Hegels erstes Meisterwerk, die Phänomenologie des Geistes, war dabei in einer Auseinandersetzung mit Kants Bewusstseinsphilosophie aus der Kritik an unzulänglichen Unterscheidungen zwischen Glauben und Wissen und dann auch zwischen Verstand und Vernunft hervorgegangen. Die Wissenschaft der Logik ist Explikation der vornehmlich sprachlich formierten Gegenstandsbereiche als den begri=lichen Grundformen unserer diversen Weltbezugnahmen. In der Realphilosophie der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften geht es nun um eine Explikation der Idee der Natur und der Seinsform zunächst des subjektiven Geistes – mit Kommentaren zur Phylogenese der Gattung und Ontogenese der Bildung des einzelnen Individuums zur Person. Dabei steht die Idee der Natur für die realen Seinsformen, die wir in unserem Naturwissen darstellen. Dieses Wissen wird in den Naturwissenschaften systematisch entwickelt – aber in abstrakter Form, im generischen Modus von Naturgesetzen an sich. Die Idee des subjektiven Geistes ist dagegen im Wesentlichen das je konkrete Ich-Sein-Können der individuellen Person und am Ende das gesamte Personsein des Einzelsubjekts. Die basalen logischen Stufen geistiger Fähigkeiten und personaler Bildung thematisiert Hegel zunächst in einer philosophischen Anthropologie, dann in einer Philosophie der Psychologie als den zwei ›Extremen‹, wie Hegel sagt, weil er eine ganz kurz zusammengefasste, nicht etwa sachlich neu gestaltete Phänomenologie des Geistes als logische Analyse der Begri=e des Bewusstseins und Selbstbewusstseins die vermittelnde Mitte bilden lässt.5 Der objektive Geist ist das System gemeinsamer personaler 5 Die Schwierigkeiten einer Bestimmung der »Stufen des Geistes« rühren, sagt Hegel im § 380, daraus, dass alle Unterscheidungen uns zunächst nur als Momente »an den höhern Entwicklungsstufen« bekannt sind. Von ihnen her lassen sich Mängel psychischer Leistung zeigen. Das gilt z. B. für bloße Empfindungen, Stimmungen und Gefühle. Im § 381 sagt er, dass
Vorwort 21 Praxisformen, welches unser Können allgemein trägt und jedem von uns auf besondere Weise seine personalen Fähigkeiten vermittelt. Der absolute Geist besteht in unseren Haltungen zu den Formen, die uns zu geistigen Wesen machen. Diese Haltungen werden explizit und damit bewusst gemacht in Religion, Kunst und Philosophie. In seinem Projekt einer Verweltlichung des Geistes betont Hegel insbesondere – lange vor Charles Darwin, aber in Kenntnis von dessen Großvater Erasmus – das Zeitliche und Historische der Entwicklung irdischen Lebens einerseits, das Kulturgeschichtliche und Gemeinschaftliche des Geistes andererseits. Die einzelnen Menschen bilden ihre geistigen Fähigkeiten immer schon unter Rückgri= auf die gesamte Menschheitsgeschichte aus. Alles wichtige Wissen verbreitet sich ziemlich schnell in fast globalem Maßstab. Lokale Kulturtraditionen unterscheiden sich unter einem angemessenen Blick weit weniger, als es äußerliche Di=erenzen erscheinen lassen. Dennoch ist es wichtig, an die verzahnten Entwicklungsstufen von lernbarem Wissen zu erinnern, vermittelt durch Sprache, Rede und dann auch Texte. Die Institutionenlehre des objektiven Geistes wird ausführlicher dargestellt und kommentiert in der Philosophie des Rechts. Dass sich trotz ihrer o=enbaren Widersprüche diverse Kolportagen über einen angeblichen Zusammenbruch von Hegels System haben halten können, erweist sich am Ende als kultureller Skandal. Die Probleme nämlich, die Hegel behandelt, werden bisher – wie im Grunde schon bei Johann Gottlieb Fichte – nur auf der Grundlage axiomatischer Glaubenshaltungen, also in der Form subjektiver Bekenntnisse für gelöst erklärt. Noch Vittorio Hösles Buch zu Hegels System liest dieses in diesem Sinn fichteanisch, wenn auch so, dass er mit Karl-Otto Apel an eine gewisse Möglichkeit einer transzendentalen Letztbegründung der Axiome oder Prinzipien glaubt. Dabei sind die Probleme eines solchen teils dogmatischen, teils kantianisch ›begründeten‹ Glaubens in unserer heutigen globalen Welt noch weit prekärer geworden als zu Hegels Zeiten. alle geistigen Kompetenzen für jeden von uns natürliche Fähigkeiten zur Voraussetzung haben. Andererseits sind unsere geistigen Fähigkeiten in unserer Bestimmung der natürlichen Vermögen längst vorausgesetzt.
22 Vorwort Die Gefahr des Abstiegs des modernen Menschen vom Selbstbewusstsein eines personalen Subjekts und homo politicus zurück in ein geistiges Tierreich, bewohnt von einem bloß berechnenden homo rationalis und einem gruppenbeschränkten homo nationalis, ist jedenfalls keineswegs gebannt. Sie ist und bleibt insbesondere durch ein Fehlverständnis von Wissenschaft und Aufklärung induziert. Eine Religion jedoch, die sich mit ihren fingierten Mythen und etablierten Liturgien gegen diese Tendenz stemmt, dabei aber nur ein spirituelles Gefühl anspricht, bleibt wie jeder bloße Appell zur Solidarität aller Menschen viel zu schwach. Das liegt insbesondere daran, dass die Absolutheit je meines subjektiven Daseins nicht etwa als Subjektivismus zu bekämpfen, sondern als Grundtatsache anzuerkennen ist. Max Stirner überzeichnet diese Einsichten Hegels auf grobe Weise,6 so aber, dass die polemische Replik von Karl Marx in der Deutschen Ideologie länger geraten ist als das kritisierte Buch.7 Gerade auch wegen der Lokalität aller konkret organisierten Gemeinschaften bedarf es einer selbstbewussten und aktiven Wiederanbindung (»re-ligare«) von Subjekt und Gemeinschaft: Unsere Weltbeziehungen sind alle auch Selbstbeziehungen. Unsere Selbstbeziehungen sind alle auch Weltbeziehungen. Ich bin, wie Wittgenstein diese Einsicht im Tractatus formuliert, meine Welt, der Mikrokosmos.8 Aber anders als Wittgenstein schreibt, transzendiert die Welt immer meine Welt.9 Wie aber steht eine ›objektive‹ Wahrheit dem in subjektiver Form konkretisierten Wissen, Erkennen und Glauben gegenüber? Dies geschieht, wie Hegel zeigt, so, dass wir selbst die Kriterien des Wahren erstens gesetzt haben oder setzen und zweitens ihre Bedingungen jeweils als ausreichend erfüllt kontrollieren bzw. reflektierend beurteilen. Das gilt für uns freilich nie als Einzelne oder als beschränkte Gruppe, sondern am Ende nur generisch. Die Rede vom Geist, dem 6 Vgl. dazu aber die Ehrenrettung in Nikos Psarros, Max Stirner, der Philosoph. Ein Versuch der Versöhnung seines Denkens mit der philosophischen Tradition. Würzburg: Königshausen & Neumann 2021. 7 Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum. Stuttgart: Reclam. 8 Ludwig Wittgenstein, Tractatus-logico-philosophicus = TLP, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1984, Nr. 5.63. 9 TLP 5.641 sagt, dass die »Welt meine Welt ist«.
Vorwort 23 Gott der Tradition, hatte daher mit gutem Recht versucht, ein falsches Verständnis der generischen Rede von ›uns‹ zu verhindern. Es wird dabei jede Menge von Einzelindividuen etwa bloß zu einer festen Zeit oder gar nur in einem einzigen Land transzendiert. Insgesamt zeigt uns Hegel, dass und wie sich in einem möglichst gewissenhaften Leben das freie Streben nach Perfektion der Selbstbildung als Person mit der Sorge um die Welt verbindet, im Bewusstsein unserer Endlichkeit und dem begrenzten Horizont je meiner Perspektive. Das zunächst bloß subjektive menschliche Dasein hat dementsprechend in seinem Hier-und-Jetzt-Sein die Ideale der Wahrheit, des Guten und des Perfekten der Schönheit frei aufzuheben. Diese finden sich nicht, wie es noch Kant darstellt, irgendwie in unserem Innern, aber auch nicht, wie in der Theologie, in einem vorgestellten Geist Gottes. Es gibt sie nur in der Kultur des objektiven Geistes, also vermöge der geschichtlichen Entwicklung begri=lichen Unterscheidens, der Institutionen im Rahmen von immer auch schon politischen Organisationen, schließlich in religiösen und dann auch philosophischen Reflexionen. Nur in Orientierung an diesen Traditionen können wir ein geistiges Leben führen. Andererseits ist die übliche Sicht unserer Zeit auf ihre eigene Geschichte und damit auf die Geschichte des Geistes, der ›Aufklärung‹ und der ›Moderne‹, immer schon konventionell kanonisiert. Sie ist eben damit immer auch oberflächlich. Man reproduziert z. B. das Ondit, die gesamte romantische Bewegung nach Kant sei eine Art AntiAufklärung gewesen. Dazu gehört auch eine fixe Idee vom ›deutschen‹ Idealismus in der Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Dabei lag es am Siegeszug des Historismus, wie er nach Hegels Tod (1831) die Philosophie und die so genannten ›Geisteswissenschaften‹ (›humanities‹) prägen wird, dass man das systematische Denken nicht mehr verstand. Dieser Positivismus der letzten zwei Jahrhunderte sollte langsam als überholt gelten. Um von vornherein ein anderes Bild von Hegels theoretischem Projekt in der Enzyklopädie zu entwickeln, ist an das wissenschaftspolitische Projekt zu erinnern, die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer zunächst an den (protestantischen) bayrischen Gymnasien zu fördern. Aus diesem Projekt seines lebenslangen Freundes Friedrich Immanuel Niethammer und aus der Auseinandersetzung mit der
24 Vorwort romantischen Naturphilosophie Schellings und anderer Autoren entstand bei Hegel das weitere Programm, die Wissenschaften an den Universitäten sowohl begri=lich als auch institutionell nach einem disziplinären Themen- und Methodenkanon zu gliedern. Die dazu explizierte Dreiteilung des Wissens der Wissenschaften ist höchst modern. Die erste Gruppe bilden unter dem Obertitel »Logik« die Formalwissenschaften. Zu ihnen gehören neben der Mathematik auch die Sprachwissenschaften mit ihrer Grammatikschreibung und Formalsemantik, heute sogar die theoretische Informatik als Technik der Digitalisierung von Sprachformen. Zur zweiten Gruppe gehören die Naturwissenschaften wie die klassische Mechanik und die moderne Physik, Chemie und Biologie, samt ihren Anwendungen in den Technikwissenschaften und der Medizin. Die dritte Gruppe behandelt das Wissen über den Geist. Dabei gehören zum subjektiven Geist alle personalen Vermögen, zum objektiven Geist alle institutionellen Vorbedingungen des Personseins. Der Bereich des subjektiven Geistes wird zunächst gegliedert in Anthropologie, auch Ethnologie und Pädagogik. Es folgt eine genuin philosophische, logisch-phänomenologische Reflexion auf Begri= und Form des Selbstbewusstseins. Am Ende steht die Psychologie als Wissen über das geistige Leben und seine subjektiven Gefährdungen. Der Bereich des objektiven Geistes gliedert sich in die Themen der Gesellschafts- und Staatswissenschaften, bis zu den immer politischen Geschichtswissenschaften. Der absolute Geist ist die Form, in der wir auf unser geistiges Sein praktisch reflektieren, nicht nur theoretisch. Dazu gehören die Vollzugs- und Reflexionsformen der Religionen, Theologien und der Künste – bis zur Philosophie. Diese macht Ort und Sinn der diversen Thematisierungen von Natur, Bewusstsein, Vernunft und des gemeinsamen Geistes explizit, ohne in Konkurrenz zu den anderen institutionellen Wissens- und Seinsformen zu stehen. In eben diesem, meinetwegen ›quietistisch‹ zu nennenden Sinn lässt die Philosophie in ihrer neuen Verfassung nach Ausgliederung der Sachwissenschaften diese so, wie sie sind. Sie kritisiert nur falsche Selbstbilder und überschwängliche, also transzendent-metaphysische Wissensansprüche oder Glaubenshaltungen. Ihre Methode führt uns dabei immer wieder zurück zur Logik und damit zu den Formalwissenschaften.
Vorwort 25 Hegel verbindet nicht anders als Jonathan Israel in seinem großen Werk zur Aufklärung10 die sogenannte radikale Aufklärung besonders mit Thomas Hobbes, Baruch Spinoza, den französischen Materialisten und dann auch mit John Lockes und David Humes Empirismus. Seine kritische Auseinandersetzung mit dieser Tradition übernimmt gewisse Argumentationsstränge Johann Gottlieb Fichtes und Friedrich Heinrich Jacobis, zunächst in Kooperation mit dem ihm anfangs noch freundschaftlich gesinnten Kommilitonen und Kollegen Schelling. Die beiden Philosophen erkennen dabei sowohl Probleme in der Bewegung der sogenannten wissenschaftlichen Aufklärung als auch des subjektiven Idealismus in der Tradition von René Descartes: Radikale Aufklärung kann aufgrund ihrer Unmittelbarkeit im Umgang mit Denk- und Sprachformen selbst zu dogmatischer Metaphysik werden. Wer Hegel nur erst so liest, dass er Newton und Kant nicht begri=en habe, der wird wohl Probleme haben, sich einer charitableren Lektüre anzuschließen. Mir geht es hier aber gerade darum, die Möglichkeit einer vernünftigeren Lektüre aufzuweisen. Danach liegt die Verantwortung dafür, Hegel unverzeihliche Irrtümer zuzuschreiben, bei den Lesern. Dann aber gilt, wie auch sonst ganz allgemein: Wer zu wenig nachsichtig ist mit anderen, ist zu nachsichtig mit sich selbst. Das gilt für Verstehensbemühungen von Texten und Gesagtem nicht anders als für das ethische Urteilen oder kooperative Handeln. Daher ist immer auch die Selbstsicherheit eigenen Wissens und Verstehens infrage zu stellen – und ein Perspektivenwechsel zu rekonstruieren, der das Wissen der Zeit angemessen berücksichtigt. Das gehört zur Grundform sinnkritischen Verstehens. Dazu sind Anachronismen zu vermeiden. Man sollte sich also erst ein immanent kohärentes Bild vom Gesagten und des Wissens der Zeit machen. Die Kritik am eigenen Pappkameraden ist ja selten wirklich allgemein interessant, noch weniger als die nette Feststellung, dass wir heute alles besser wissen. Noch in seinem letzten Werk Auch eine Geschichte der Philosophie, das eine integrierte Darstellung der Entwicklung von Religion und 10 Jonathan Israel, Radical Enlightenment, Oxford: Oxford University Press 2001; ders., Enlightenment Contested, Oxford: Oxford University Press 2006; ders., Democratic Enlightenment, Oxford: Oxford University Press 2012.
26 Vorwort ›Metaphysik‹ ist, schreibt Jürgen Habermas Hegel einen angeblichen Rückfall gegenüber der angeblich fortschrittlichen Aufklärung und Metaphysikkritik Humes und Kants zu. Im Gegensatz dazu entwickelt Hegel einen begri=sanalytisch weit tieferen Blick auf das Verhältnis von Philosophie und Religion und ihre Entwicklung, aber auch auf Natur und Geist und ihre Geschichte, als nur erst die Nachfolger Kants. Um das zu sehen, kann man sich die Mühe nicht ersparen, den zunächst zumeist als obskur, wenn nicht gar hanebüchen erscheinenden Texten Hegels einen kohärenten Sinn zu geben. Das kann nur durch Übersetzungen in heutige Sprechweisen und durch Kommentierungen von unserem heutigen Wissen her geschehen. Es ist daher am Schluss dieses Vorworts nun noch Marcel Simon-Gadhof, Horst Brandt und dem gesamten Verlag Felix Meiner zu danken, ohne welche das Projekt der Kommentierung der von Hegel selbst der Ö=entlichkeit übergebenen Hauptwerke weder angefangen worden wäre noch hätte beendet werden können.
Erster Teil: Einführung Versuch einer topischen Bestimmung 1. Der verrückte Blick der Naturphilosophie Zumindest prima facie wird jeder, insbesondere jeder Naturwissenschaftler, Hegels Naturphilosophie schlichtweg für verrückt erklären. Was sind das für merkwürdige Sätze wie: »die tierische Natur ist die Wahrheit der vegetabilischen«11 oder »die Erde ist die Wahrheit des Sonnensystems«?12 Warum soll der meteorologische Prozess nicht materiell, am Ende nicht sogar mechanisch erklärbar sein? Ist die Aussage Georg Christoph Lichtenbergs, es regne aus trockener Luft,13 nicht schon damals lächerlich gewesen? Warum soll es, wie Hegel sagt, »formeller Unfug« sein zu behaupten, die Tiere und das Leben überhaupt seien aus dem Wasser hervorgegangen?14 Widerspricht sich in diesem Satz Hegel nicht selbst, da er – wie schon Thales – zu meinen scheint, »die konkrete Salzigkeit« des Meeres sei »als ein Organisches« zu verstehen, »das sich überall als gebärend zeigt«?15 Manchem gilt Hegel daher schon als Anhänger eines Vitalismus. Warum soll im Tier »das Licht sich selbst gefunden« haben?16 Heißt das mehr, als dass Tiere sich wahrnehmungsgesteuert verhalten? Warum soll Afrika das Lunarische sein, »wo der Mensch sich selbst verdumpft«?17 Heißt das mehr, als dass hier wegen der zunächst guten natürlichen Bedingungen das Bedürfnis nach kooperativer Wissensentwicklung lange Zeit geringer war als im kälteren Norden? Warum vermeidet Hegel nicht die o=enkundigen Metaphern in seinen opaken Reden über den Kristall, der wohl als ein durch11 Zu den sogenannten »Zusätzen« vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Zweiter Teil. Die Naturphilosophie. Mit den mündlichen Zusätzen. Hg. E. Moldenhauer, K. M. Michel, Frankfurt/M.: Suhrkamp (im folgenden = Enz. II), hier: S. 32. 12 Enz. II, S. 32. 13 Enz. II, S. 147. 14 Enz. II, S. 32. 15 Enz. II, S. 363 f. 16 Enz. II, S. 430 =. 17 Enz. II, S. 351.
28 Einführung sichtiger, aber begrenzter Raumkörper ohne weitere Bestimmung zu denken ist, analog zur res extensa des Descartes? Was soll das, wenn Hegel sagt: »Ich sehe die Berge also nicht als Sammler von Regenwasser an, das in sie eindringt. Sondern die echten Quellen, die solche Ströme wie Ganges, Rhone, Rhein erzeugen, haben ein innerliches Leben, Streben, Treiben, wie Najaden«?18 Ist es nicht eine Schande für die Philosophie, wenn Hegel o=enbar vernünftige Erklärungen für formellen Unfug erklärt? Bevor wir diese Fragen weiterverfolgen, werden einige allgemeine methodische Bemerkungen zur Ortsbestimmung der Überlegungen Hegels selbst und zu ihrer Deutung als topische Analysen verschiedener Zugänge und Verhältnisse zur Natur und dann auch zum Geist nötig. Hegel hebt dabei die falsche Alternative zwischen ›Materialismus‹ und ›Idealismus‹ im § 388 interessanterweise so auf: Der Begri= der Natur und alles Wissen über sie setzt den Geist voraus. Der Geist selbst aber ist geschichtlich in der Welt und aus einer Natur ohne Geist entstanden. Topik ist die Bestimmung des Orts einer Rede, ihres Themas und Bereiches, ihrer Relevanz im Sinne der zugehörigen (daher von einem vernünftigen Sprechen mitbeabsichtigten) Orientierungsleistung. Eine solche ist oft nur als Umorientierung im Blick auf mögliche Fehlgänge richtig, wenn sie nämlich richtiger ist als die entsprechenden Alternativen, die gerade in der Kritik stehen. Sowohl für das unmittelbare, d. h. empraktische, Verstehen als auch für eine explizite Reflexion oder Interpretation ist eine topische Bestimmung des Relevanzrahmens von zentraler Bedeutung. Das liegt daran, dass kein Satz und kein Text in seinem Inhalt und seiner Wahrheit, also darin, was er zu verstehen gibt, absolut situationsinvariant ist. Man sollte die O=enheit des Verstehens und des Begri=s der Wahrheit, ihre Gegenwartszentriertheit und Kontextabhängigkeit anerkennen, ohne sie zu einer überschwänglichen Theorie der Abhängigkeit jedes Inhalts von einem Gesamttext hochzustilisieren. Was Sätze besagen, was wir aus ihnen folgern dürfen und wie die zugehörigen Richtigkeits- oder Geltungsbedingungen angemessen zu erfassen sind, das alles ändert sich je nach Thema und Bereich. Wegen 18 Enz. II, S. 363.
Der verrückte Blick der Naturphilosophie 29 dieses Kontextprinzips des Verstehens erweisen sich topische Sinnbestimmungen als ebenso wichtige Momente einer sinnkritischen Textanalyse oder eines gebildeten Textverstehens wie grammatische, also syntaktische und begri=liche Disambiguierungen. Der Grund, warum ich mit diesem allgemeinen Hinweis auf die Rolle der Topik und des Kontextes für ein angemessenes Verstehen eines Textes beginne, ist dieser: Möglicherweise bedeuten die Sätze und Aussagen einer erst seit Hegel modernen Naturphilosophie und in ihr z. B. die Unterscheidungen zwischen Mechanik und Physik schon etwas anderes als im alten Gebrauch des Ausdrucks »philosophia naturalis«, der noch »theoretische Naturwissenschaft« bedeutete.19 In der Tat unterscheidet Hegel nämlich zwischen den Aufgaben und Themen einer sachbezogenen empirischen und theoretischen Naturwissenschaft einerseits, der logisch-methodologischen Reflexion auf ihre Grundbegri=e und Darstellungsformen andererseits. In der Philosophie im engeren Sinne geht es daher nur um den Begri= der Natur. Sie unterscheidet den engen Begri= der Natur als Thema der Physik und Biologie von dem weiteren Begri= der gesamten natürlichen Umwelt samt aller natürlichen Vorbedingungen unseres geistigen Daseins in einem personalen Leben. Die allgemeinphilosophische Reflexion auf Natur hat seit alters die ganze Welt, in der wir leben, zum Thema. Die etymologische Verwandtschaft von »physis« zum englischsprachigen »to be«, zum deutschen »bin« und lateinischen »fui« macht dabei klar, dass das Leben metaphorisches Urbild für alles Sein ist. Hegels Reflexionssprache ist nie nur das Deutsche. Sie umfasst im Grunde alle (west-) europäischen Sprachen, besonders Griechisch, Latein, Italienisch und Französisch. Er schreibt daher 1805 in einem Brief an Johann Heinrich Voss auf für ihn typisch verquere Weise: »so will ich von meinem 19 § 246: »Was Physik genannt wird, hieß vormals Naturphilosophie«. Der Philosophie im neuen Sinn geht es um die Konstitution des Begri=s der Gegenstände qua (begrenztem) Gegenstandsbereich einer Wissenschaft. In Enz. II, S. 32 findet sich der für das Verständnis wichtige Satz: »In einem System ist das Abstrakteste das Erste, das Wahre jeder Sphäre das Letzte.« Gemeint ist, dass wir zunächst immer abstrakt, allgemein urteilen oder denken und uns erst bei Auftreten von Problemen, in oft schwierigen Reflexionen, die präsupponierten Schemata explikativ bewusst machen.
30 Einführung Bestreben sagen, daß ich die Philosophie versuchen will, deutsch sprechen zu lehren«.20 Es ist klar, dass sich dieses Unternehmen nicht unmittelbar dem Verständnis erschließt. Das gilt besonders für unsere Zeit, in der Sprache nur noch als Medium erzählförmiger Informationsübertragung und kaum mehr als zentrale Form des Denkens selbst begri=en wird. Hegel weigert sich außerdem, Metastufe und Objektstufe rein schematisch zu trennen oder auch nur auf Metaphern und ironische Distanz zu bloß erwähnten Überlegungen zu verzichten. Das ist auch wirklich nicht immer sinnvoll möglich. Manchmal gerät Hegel damit freilich in die Gefahr, dass seine Kritik an Unzulänglichkeiten vorgelegter Theorien selbst zu Fehlurteilen über zielführende Ansätze ganzer Wissenschaften führen mag. Immerhin geht es in der Naturphilosophie nicht etwa nur um kritische Reflexionen auf die Methoden und Grenzen der Naturwissenschaften, sondern auch um ästhetische und ethische, ja religiöse Natur- und Weltverhältnisse und um deren sprachliche Artikulationen bzw. ihre Beurteilung als vernünftig oder unrichtig. Wir müssen daher zunächst die Frage nach dem allgemeinen Ort der Naturphilosophie und nach den besonderen Kontexten ihrer verschiedenen Teile klären. Erst danach können wir ihre Aussagen in ihrem Inhalt erfassen und beurteilen.21 20 Briefe von und an Hegel, Bd. 1, hg. von Johannes Ho=meister, Hamburg: Felix Meiner Verlag 3 1969, S. 100. Auf Schwäbisch bedeutet »lehren« übrigens »lernen«. 21 Zur Einbettung von Hegels Naturphilosophie in die Entwicklung der Naturwissenschaft vgl. Wolfgang Neuser in Herbert Schnädelbach (Hg.), Hegels »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß (= Bd. 3 von: Hegels Philosophie. Kommentare zu den Hauptwerken), Frankfurt /M. 2000, S. 139–205. Für die Rede von einer A-priori-Deduktion von Begri=en (S. 143) besteht dabei durchaus noch Klärungsbedarf.
Geschichte des Wissens über die Natur vs. Naturgeschichte 2. 31 Geschichte des Wissens über die Natur vs. Naturgeschichte Eine der Grundeinsichten Hegels besagt, dass naturgeschichtliche Wahrheiten weder einfache Berichte post hoc noch kausaldeterministische Erklärungen sind. Sie sind Rekonstruktionen von Entstehungsgeschichten anhand von Relikten auf der Grundlage unseres begrenzten Wissens über ein typisches Geschehen gemäß den Formen einer causa e;ciens. Wir rekonstruieren so die Vergangenheit des Weltalls, der Erde und des Lebens auf der Erde unter Zuhilfenahme unseres gesamten physikalischen, chemischen und biologischen Wissens. Ähnlich verhält es sich mit den verschiedenen Varianten einer biologischen Evolutionslehre. Deren wichtigste Ideen vor Charles Darwin gehen auf seinen Großvater, den Forscherpoeten Erasmus Darwin, zurück, und dann auch auf Jean Baptiste de Lamarck und Georges Cuvier.22 So wie es ein Mythus ist, dass Newton aufgrund der Beobachtung des Fallens eines Apfels die Gravitation entdeckte, ist es ein Mythus zu meinen, die Beobachtung von Darwin-Finken auf Galapagos sei für mehr als eine bloße Variation einer längst schon existierenden Evolutionstheorie ausschlaggebend gewesen. Es ist zwar nicht falsch, zu sagen: Wenn wir dabei gewesen wären, hätten wir möglicherweise dieses und jenes unmittelbar gesehen oder erfahren. Falsch ist nur zu glauben, dass die Wahrheits- oder gar die Rechtfertigungsbedingungen irrealer Konditionalsätze dieser Form unmittelbar festlägen.23 Die Frage, wie diese Bedingungen defi22 Zur Evolution der Erde vgl. Enz. II, S. 347: »Dies dem Geschichtlichen Angehörige muss als Faktum aufgenommen werden«, und Enz. II, S. 348: »Die Geschichte der Erde ist [. . . ] ein Schließen aus empirischen Daten«. Das absolute Subjekt-Sein von Tier und Mensch drückt Hegel in Enz. II, S. 349 so aus: »[J]edes ist auf einmal ganz, was es ist«. 23 Hegel ironisiert in den Zusätzen die Meinung, dass »das geistige Auge unmittelbar im Zentrum der Natur« stehe, und spricht von »Sonntagskindern«, »denen Gott die wahrhafte Erkenntnis und Wissenschaft im Schlafe mitteile«, die »Einfälle haben«, die sie vortragen, um rein »prophetisch das Wahre auszusprechen« (Enz. II, S. 17). Die Idee der Einheit von Denken und Anschauung, versprachlichtem Wissen und in ihm dargestellter Wahrheit ist kulturelles Projekt und Ziel, keine »natürliche Einheit« (Enz. II, S. 18). Das Grundproblem ist immer die Verfassung der Gegenstandsbereiche, also des
32 Einführung niert sind, wird besonders dramatisch dadurch, dass sie in normalen Aussagen über dispositionelle Eigenschaften zumeist schon naiv als beantwortet unterstellt ist. Dabei gibt es gar keine reinen Konstatierungen, die nicht schon dispositionell dicht sind und damit mit der ›Wahrheit‹ irrealer Konditionale operieren. Wir tragen z. B. auch in einer vorgestellten Zeitreise unsere je heutigen inferentiell dichten Erfüllungsbedingungen kontrafaktisch an andere Orte und in andere Zeiten. Dabei ist die Bewertung der Wahrheit konkreter naturhistorischen oder dann auch kulturgeschichtlicher ›Behauptungen‹ keineswegs so wichtig wie die Bewertung der modalen Wahrheit von Möglichkeitsaussagen im Rahmen einer Erwägung, wie es gewesen sein könnte. Weit wichtiger als die Frage nach konstativen Wahrheiten im kontrafaktischen Modus von Zeitreisen und (am Ende sogar kosmischen) Ortswechseln ist die Frage, welche Bedingungen wir an eine Begründung einer Behauptung über eine kosmologische (oder geschichtliche) reale Möglichkeit stellen, und zwar im Blick auf die Folgerungen, die wir mit der Möglichkeitsaussage verbinden. Bliebe eine Möglichkeitserwägung rein willkürlich, bloß subjektiver Glaube, gäbe es trotz möglicher formaler Kohärenz noch lange keinen ausreichenden Grund dafür, mit ihr zu rechnen. Der Bereich des formal Möglichen ist viel zu weit – wie sich das gerade an den willkürlichen Glaubenssystemen von Verschwörungstheoretikern oder dem Gerede über Außerirdische diversester Art zeigt. Der Bereich des real Möglichen ist jedoch ganz o=enbar nicht leicht zu bestimmen. Was die Begründungsbedingungen angeht, so verhalten sich Wahrheit und Anerkennung bzw. Anerkennungswürdigkeit im Allgemeinen, irreale Konditionalsätze und geschichtliche Rekonstruktionen im Besonderen sogar umgekehrt zueinander, als man üblicherweise glaubt. Es gibt keine ontische Geltung irrealer Konditionalsätze. Ihre Wahrheit hängt vielmehr von anerkannten Setzungen eines Allgemeinwissens ab. Besonders wichtig sind kanonische Normalfolgen, da diese die Inhalte bestimmen. Der nur scheinbar verrückte Zugang zur Naturphilosophie besteht jeweiligen Begri=s. Die konstitutiven Eigenschaften der Dinge und der Relationen zwischen ihnen werden zumeist als bloße Merkmale missverstanden (vgl. Enz. II, S. 19=).
Geschichte des Wissens über die Natur vs. Naturgeschichte 33 also darin, dass sie, wie Hegel in ironischer Ambivalenz sagt, auf dem Kopf zu gehen versucht.24 Es geht um die Verrückung der Perspektive vom Glauben an eine unmittelbare Wahrheit und Objektivität zu einer realen Betrachtung der Bedingungen für sinnvolle Wissensansprüche – auch über möglichen Szenarien im Unterschied zu unmöglichen oder auch nur (extrem) unwahrscheinlichen. Im Grunde wird daher die gesamte Naturphilosophie zu einer Begri=sreflexion auf phänomenologischer Basis. Das allerdings wird in der von Hegel gewählten Sprachform keineswegs immer klar, zumal er zwischen einer Reflexion auf die Praxis des begri=lichen Redens und auf die sich in einer Praxis der Beobachtung und Handelns zeigenden Phänomene nicht immer klar genug unterscheidet. Immerhin ist die Zielsetzung klar. Sie richtet sich gegen jede Betrachtung der Welt rein von der Seite und damit gegen die naive Vorstellung eines göttlichen Wesens, das in die Vergangenheit und in die Zukunft ›sehen‹ kann. In der üblichen ›unmittelbaren‹ Auffassung der Wahrheit von Aussagen über die Welt im Allgemeinen, über die historische Entwicklung im Besonderen appelliert man nämlich an einen kontrafaktischen Blick von einem ortlosen Nirgendwo und zeitlosen Nirgendwann oder, was auf das Gleiche hinausläuft, an einen zeit- und ortsinvarianten, insofern vollständig abstrakten Blick von einem Irgendwo und Irgendwann. Ein solcher Appell, wie wir ihn bei Descartes oder Leibniz oder Berkeley teils implizit, teils explizit finden, hilft uns aber schon deswegen nicht weiter, weil von der Begri=sabhängigkeit aller Konstatierungen abgesehen wird, um von deren unaufhebbaren Zeitlichkeit gar nicht zu sprechen. Die übliche ›realistische‹ Auffassung von Naturgeschichte und Naturwissenschaft als unmittelbare, wenn auch möglicherweise fallible Darstellung dessen, was war, was ist und was erwartbar sein wird, wird angesichts dieser – unabweisbaren – Überlegung zu einer Art kryptotheologischen Metaphysik: In ihr wird die reale, je gegenwärtige Debatte um Methoden der Kontrolle sinnvoller Geltungsansprüche und konkret zu berücksichtigender Möglichkeitsurteile ersetzt durch einen unmittelbaren Glauben. Der Ruf »Herr! Herr!« des Theologen, mit dem dieser die Anmaßung seines angeblich unmittelbaren Zu24 Vgl. Enz. II, S. 30.
34 Einführung gangs zu Gott demütig verbrämt,25 wird jetzt nur ersetzt durch einen Anruf der Natur. Die Behauptung der Unabhängigkeit der Wirklichkeit von unserem Erkennen nicht nur im Allgemeinen, sondern auch in besonderen Vorstellungen einerseits, die scheinbare Bescheidenheit einer ›skeptischen‹ Haltung zu konkreten Wissensansprüchen auch bei guter Begründung andererseits können beide selbst Bestandteil einer transzendenten Unbescheidenheit sein. So ist z. B. ein Bekenntnis der Art: »Ich bin überzeugt, dass es für alles in der Natur eine zureichende kausale;ziente Erklärung gibt, so dass alles determiniert ist«, schon der Form nach eine dogmatische Haltung. Auch die Unterstellung einer unmittelbaren objektiven Wahrheit missachtet die von Hegel erkannte basale Tatsache, dass alle behauptbaren Unterschiede in tatsächlichen Unterscheidungen fundiert sein müssen. Außerdem ist die ›plurale‹ Erlaubnis, alles Mögliche zu glauben, nur tolerant im Blick auf die Freiheit der Willkür. Sie ist für die reale Praxis des vernünftigen Begründens von Urteilen unbrauchbar. Sinnvolle Möglichkeiten sind Gegenstände des Wissens, nicht des Glaubens oder Fürwahrhaltens. Das ist eine der tiefsten, schwierigsten und wichtigsten logischen Einsichten Hegels. Sie macht klar, warum ein falsch verstandener Pluralismus in Bezug auf religiöse Bekenntnisse unmittelbar zu einer Anerkennung willkürlicher Dogmatismen und damit zu einer Missachtung der Einheit des Wissens und vernünftigen Glaubens in der einen und einzigen Welt führt, in der wir leben. Der moderne Glaube an irgendeine, ob nun theologische oder naturalistische Hinterwelt ist also eine falsche Weltanschauung. Es handelt sich auch bei der Vorstellung von angeblich kausaldeterministischen Partikelbewegungen keineswegs um naturwissenschaftliches Wissen, sondern um eine Fehldeutung unserer mathematisierenden Darstellungsformen.26 Hegels Naturphilosophie arbeitet gerade an 25 Vgl. dazu Hegels Vorwort zur 3. Ausgabe zur Enzyklopädie, Phil. Bibl. Bd. 33, S. 23 f. = GW 20, S. 27 f. 26 Dauerhaft ö=entliches Interesse finden freilich weniger die technischen Erfolge der Wissenschaft, auch wenn man durch sie weitere Ansprüche für beglaubigt hält, sondern der Versuch, durch ›wissenschaftliche‹ Weltbilder die Tradition religiöser Mythen zu beerben. Die Di=erenz zwischen
Geschichte des Wissens über die Natur vs. Naturgeschichte 35 dieser Di=erenzierung. Wie weit sie ihm gelungen ist, ist erst am Ende ihrer Rekonstruktion zu beurteilen. Wenn Hegel, um ein konkretes Beispiel zu nennen, gegen die Porentheorie der Dichte und des spezifischen Gewichts argumentiert,27 so geht es ihm nicht nur um eine in der Tat unhaltbare Theorie, sondern um den mit dieser Theorie verbundenen, ebenfalls unhaltbaren Anspruch der Reduktion von allem natürlichen Geschehen auf eine Mechanik der Partikelverteilung und Partikelbewegung. Hegel sieht, dass alle derartigen Reduktionismen Ideologien sind, welche sogar noch hinter Einsichten Bacons, Humes oder Kants zurückfallen. Es gibt nämlich weder empirische noch apriorische Gründe für den Glauben an derartige Reduzierbarkeiten. Sinnvoll ist freilich der Wunsch, den Darstellungen und Erklärungen der erfahrbaren Phänomene eine möglichst einfache Form zu geben. Über diese vernünftige Zielsetzung hinaus gibt es dann aber immer auch eine kontrafaktische Selbsterfüllung eines solchen Wunsches durch Sätze der Art: »Im Prinzip lässt sich alles so oder so, also etwa im Rahmen des Bildes determinierter oder stochastischer Partikelbewegungen erklären.« Dass eine solche Selbsterfüllung eines Wunsches sinnleer ist, wird durch die Ontologisierung der Ausdrucksweise und die zugehörige Begründung der Erklärbarkeitsaussage nur vertuscht. Man sagt nämlich nur, dass unabhängig von realen Erklärbarkeiten die Welt selbst eigentlich aus den betre=enden mechanischen Partikelbewegungen bestehe, wobei die Bewegungen durch Wirkungen kausaler Ursachen bestimmt seien. Als metaphysischer Glaube an den Reduktionismus verdienen solche kontrafaktischen Reden weder in der Wissenschaft noch in der Philosophie Gehör und Berücksichtigung. In Bezug auf die konkrete Erklärung der Dichten und Massen von Körpern verlangt Hegel z. B. gegen die Porentheorie die Anerkennung der Unterschiede verschiedener Sto=e in Bezug auf ihre Masse und ihre chemischen Eigenschaften. Er kritisiert also die Unterstellung eines materiellen Basissto=es, aus dem alles zusammengesetzt sein Wissenschaft und szientistischer Weltanschauung gilt es aber allererst zu erarbeiten. 27 Vgl. Enz. II, S. 160 =.
36 Einführung soll. Ebenso wehrt er sich z. B. gegen Klangsto=theorien und betont, dass Klang entsteht, indem sich innere Schwingungen (etwa von festen Körpern) in anderen Medien (Luft, Wasser oder festen Körpern) fortsetzen.28 In ähnlicher Weise kritisiert er Wärmesto=theorien und fordert die Anerkennung der Ausbreitung von Wärme, der Existenz verschiedener Wärmeleiter usf. Hegel zeigt Verständnis für Goethes Farbenlehre und nimmt sie gegen die Newtonianer insofern in Schutz, als er deren dogmatischen Reduktionismus nicht anerkennt, nach welchem Farben nichts anderes seien als Ergebnisse der Brechung weißen Lichtes.29 Er übt außerdem Kritik an der Vorstellung, das Licht sei eine Emission von Körperteilchen, indem er ironisch ›schließt‹, dass ein mit Partikeln vollgestopfter Raum wohl eher undurchsichtig wäre. Die Metaphorik in der materialistischen bzw. mechanistischen Naturauffassung würde zumindest verlangen, dass der inferentielle Unterschied zwischen kleinen Körperchen und subatomaren Teilchen wie Elektronen geklärt wäre. Das gilt dann z. B. auch für das Bild, nach welchem sich Photonen in endlicher Geschwindigkeit (halb-)kugelförmig um die Quelle ausbreiteten.30 Man muss dann z. B. auch zwischen dem Sauersto= als chemischem Bestandteil im reinen Wasser und dem im Wasser gelösten Sauersto= unterscheiden. Kiemenatmer würden in reinem Wasser natürlich nicht überleben können. 28 § 300. Die Angabe der Paragraphen der Enzyklopädie erlaubt auch das schnelle Auffinden des Kontextes und meiner weiteren Kommentare unten. 29 § 320. Hegel überzieht seine Polemik gegen Newton, aber auch sein Lob auf Goethe. Weder das relative Recht von Newtons Optik noch der besondere Ort einer Phänomenologie und dann auch Physiologie der Farbwahrnehmung ist genau genug bestimmt. 30 § 276. Die Halbkugel erklärt sich durch die stillschweigende Unterstellung, der das Licht aussendende Körperpunkt liege auf einer ebenen Körperoberfläche. Dieter Wandschneider bemerkt mit Recht, dass die Annahme einer festen Kugel dieser Art bei bewegten Körpern im Widerspruch dazu steht, dass sich das Licht, wenn es einmal ausgesendet ist, frei (›selbstisch‹) im Raum fortpflanzt. Müsste die Lichtausbreitung dann nicht, anders als etwa der Schall, vom Bewegungszustand des Sendekörpers unabhängig sein? Wie kann ein bewegter Körper dann das Zentrum der Kugel bleiben? Das Problem ist erst von Albert Einstein wirklich durchdacht worden.
Geschichte des Wissens über die Natur vs. Naturgeschichte 37 Aber geht Hegels Kritik nicht in vielem zu weit? Denn er scheint beim ersten Lesen alle modellartigen Erklärungen abzulehnen. Wenn wir diese heute zu den wesentlichen Fortschritten der Naturwissenschaften zählen, dann dürfen wir die Einsicht nicht vergessen, dass es sich um von uns konstruierte Analogien handelt. Es gibt daher zwei Lesarten von Hegels Analyse und Kritik. Der ersten zufolge versteht er die Methoden der modernen Wissenschaften nicht. Nach der zweiten kritisiert er lange vor Heinrich Hertz und Ludwig Wittgenstein einen metaphysischen ›Realismus‹ als ontologischen Aberglauben, der die analogischen Modelle allzu unmittelbar liest. Es gibt weder Massenpunkte in der Welt noch wirklich punktartige Elektronen, Mesonen, Photonen und andere subatomare Partikel des physikalischen Teilchenzoos. Und doch sind die Modelle, in denen es diese Dinge gibt, sehr erfolgreiche Versprachlichungen erfahrbarer Phänomene. Alle bloß erst schematische Exaktheit verlangt immer noch Urteile über relevante Sinnäquivalenzen und irrelevante Ausdrucksdi=erenzen in konkreten Anwendungen. Es ist daher zu unterscheiden zwischen einer formalen Logik des Verstandes als bloßem Vermögen, schematischen Regeln zu folgen, und freier dialektischer Vernunft in einem virtuell unendlichen reflexionslogischen Hin-und-Her von bestimmender und reflektierender Urteilskraft. Bestimmende Urteilskraft ist in Kants Kritik der Urteilskraft Titel für die kompetente Anwendung eines schon bekannten Begri=s auf eine empirische Sache. Reflektierende Urteilskraft sucht dagegen unter Einsatz von Phantasie, also dem Möglichkeitssinn von Vorstellungs- oder Einbildungskraft, erst noch nach einer passenden Typisierung, Beschreibung oder Bewertung der Form einer Sache, Handlung oder Person, zumeist im Blick auf eine relevante Beurteilung. Schlechte Metaphysik in Theologie und den Wissenschaften, erst recht aber im populären common sense, beruht auf einem allzu unmittelbaren Umgang mit Prinzipien, schematischen Verfahren, idealen Modellen und Metaphern, auch mit generischen Redeformen und holistisch-spekulativen Reflexionen. Philosophie versucht dagegen, seit es sie gibt, diese Redeformen zu erläutern und in ihrem guten Sinn bzw. Gebrauch zu erhellen.
38 Einführung Dennoch scheint zunächst nichts absurder als Hegels Selbstplatzierung, wenn er von seinem eigenen, für uns heutige Leser äußerst sprunghaften Vorgehen sagt, es folge dem Begri=. Andererseits könnte es auch sein, dass Hegel sozusagen allzu erfolgreich gewesen ist. Wenn heute für selbstverständlich gehaltene Wahrheiten in altertümlichen Formulierungen artikuliert werden, werden diese generell nicht mehr in ihrer protagonistischen Rolle verstanden, sondern für eine heute überwundene Meinung oder einen primitiven Stand des (Un-) Wissens gehalten. 3. Begri=e als Gegenstandsbereiche und analogische Erklärungen Zu den heute selbstverständlichen Wahrheiten gehört, dass wir in der Naturwissenschaft ideale analogische Modelle entwerfen, die als solche die Welt nicht einfach beschreiben, sondern nur im Prinzip darstellen. Die Natur an sich und ihre allgemeinen Gegenstände, die als solche immer nur Formen und Arten qua Typen sind, stehen uns damit ganz anders gegenüber als die realen, empirischen, endlichen Sachen der Natur für sich. Erklärende Theorien lassen die Dinge, von denen sie handeln, nie einfach das sein, was sie als Phänomene sind. Sie machen sie bzw. ihre wahre Natur, ihr Wesen, zu Instanzen abstrakter Formen. In Theorien kann man aus Sätzen andere Sätze ableiten oder berechnen. Damit lassen sich Voraussagen artikulieren. Diese sind als solche aber auch immer nur allgemein gefasst. Einzelnes lässt sich selten ›absolut sicher‹ vorhersagen. Es kann immer etwas dazwischenkommen. Das war ja schon ein Punkt Humes gewesen. Theorien sind sprachliche Techniken der Artikulation. Sie sind damit wesentliche Momente der Konstitution gemeinsamer Erfahrungen und gemeinsamer Orientierungen in einem gemeinsamen Möglichkeitsraum. Dazu muss man die Sätze auf angemessene Weise auf die erfahrbare Welt projizieren. Allerlei Formen des Unterscheidens und Handelns, auch des Messens und der Kontrolle von Messung und Messgeräten spielen dabei eine Rolle, insbesondere aber eine Zuordnung verschiedener sprachlicher, perzeptivischer und praktischer ›Zugänge‹ zu den gleichen Dingen und Sachen aus den verschiedenen
Begri=e als Gegenstandsbereiche und analogische Erklärungen 39 subjektiven Perspektiven als Sprecher, Beobachter oder Akteure, wie wir im Nachhinein sagen, nachdem wir die richtigen Zuordnungen in Gleichheitsaussagen verwandelt haben, womit allererst gewisse Erscheinungen zu Präsentationen und Repräsentationen objektiver Sachen und Dinge, also zu besonderen Gegenständen, werden. Formale Logik ist nur erst Lehre von den schematischen Definitionen logisch komplexer Klassifikationen in schon als bestimmt unterstellten ›sortalen‹ Gegenstandsbereichen.31 Die Prädikatenlogik Gottlob Freges ist dabei so ideal, dass ihre Schemata nur für reine Quantitäten, also nur für mathematische Gegenstände ohne Einschränkung, gelten.32 Dabei ist zwischen metastufigen ›Relationen‹ der Kategorie des Fürsichseins und ›objektstufigen‹ Relationen der Kategorie des FürAnderes-Seins zu unterscheiden. Die Beziehung »<« in den Zahlen ist z. B. von dieser Kategorie des Für-Anderes-Seins, da aus x < y folgt, dass x , y gilt. Für jede Selbstbeziehung R aber folgt x = y aus x R y . Jedes Selbstwissen und jede Selbstbestimmung ist logisch 31 Schon Platon weiß im Prinzip, wie aus der zweistelligen Relation ›größer als‹ die einstellige Eigenschaft wird, größer als Sokrates zu sein. Heute notiert man die logische Form, nach welcher eine Beziehung R zwischen einem variablen x und einer Sache b zu einer Eigenschaft wird, als parametrisiertes einstelliges Prädikat B = λx .x R b. Zu sagen, dass eine solche Eigenschaft B einem a zukommt, bedeutet gerade, dass a R b gilt. In der Logik sagt man dazu schon seit Platon und Aristoteles metaphorisch auch, dass der ›Begri=‹ B ›in a‹ liege. In diesem Sinn liegen auch alle Eigenschaften, die mir zukommen, ›in mir‹, z. B. auch die, Sohn meines Vaters zu sein. Dieses logische »in« darf klarerweise nicht räumlich gelesen werden. Das wird besonders für das Verständnis der Rede von Fähigkeiten und anderen dispositionellen Eigenschaften höchst relevant. 32 Es gibt eine Vielfalt des Etwas-über-etwas-Sagens. Klassisch steht ›N ist P ‹ abstrakt für diese Form, modern: »N ∈ λx .φ(x ).« bzw. φ(N ) mit N und x in einen Gegenstandsbereich G , dem relevanten Begri= an sich. Hegel interessiert sich nicht für den junktoren- und quantorenlogischen (ggf. auch modalen) Aufbau von λx .φ(x ). – mit »nicht-φ«, »für alle x : φ(x )« und »wenn φ, dann γ« als basalen logischen Ausdrucksformen wie in der Begri=sschrift Freges. Frege interessiert sich sozusagen komplementär zu Hegel praktisch ausschließlich für den komplexen Aufbau von Prädikaten und die sich ergebenden definitorischen Inferenzen.
40 Einführung von der Kategorie des Fürsichseins. Ihre Inhalte gehören daher auf die Ebene metastufiger Reflexionsaussagen. Diese logische Einsicht Hegels zum Begri= des Gegenstandes33 und zu jeder Rede, in der Wörter wie »selbst« »gleich«, »identisch« oder das Präfix »auto« vorkommen, ist von höchster Bedeutung.34 Es hängt nämlich vom 33 Ausgangspunkt für Hegels Analyse des allgemeinen Gegenstandsbegri=s ist natürlich Kants Analyse der Konstitution des Bereichs oder Begri=s physischer Dinge. Diese sind Objekte des bewussten Erkennens nur in einer Apperzeption, und das heißt, in einer begri=lich bestimmten Perzeption. Zur bloßen Anschauung muss mindestens noch ein mehr oder weniger bewusstes Urteil über die Gattung G der perzipierten Dinge und die durch sie bestimmte Dinggleichheit hinzukommen, damit wir von einer Wahrnehmung eines bestimmten Dings g der Gattung G sprechen können. 34 Jeder Gegenstand im Reden oder Denken ist zunächst als Element in einem Bereich G bestimmter Präsentationen und Repräsentationen aufzufassen, für welche Gleichungen und Ungleichungen bestimmt sind. Relationen des Fürsichseins definieren die Gegenstandsgleichheit. Sie stehen damit den Relationen des Für-Anderes-Sein gegenüber. Von zentraler Bedeutung ist das Leibnizprinzip. Bei Frege definiert es als Funktionalprinzip die ›normale‹ Kopula des ›Etwas-über-etwas-Sagens‹. Dieses wird als Funktionalapplikation gelesen. Das Leibniz- oder Funktionalprinzip verlangt im generischen Normalfall die formale Substituierbarkeit gegenstandsgleicher Präsentationen und Repräsentationen in den zulässigen Relationen unter Erhalt des Wahrheitswertes (also salva veritate). Um lästige Fallunterscheidungen zwischen Relation und Funktion zu vermeiden, hat Frege das Prinzip in den Grundgesetzen der Arithmetik allgemein so gefasst: Man darf gegenstandsgleiche Präsentationen und Repräsentationen in später »extensional« genannten ›geraden‹ Kontexten φ(x ) unter Erhalt der extensionalen Gleichheit der Werte bzw. Gegenstandsgleichheit substituieren. Wenn t = t ∗ gilt, so gilt also auch φ(t ) = φ(t ∗ ). Mathematische Sätze werden so zu Nennungen eines von zwei Wahrheitswerten. Frege unterscheidet trotzdem weiterhin syntaktisch zwischen Name und Satz: Für Sätze wird die Gleichheit »=« zur Bisubjunktion »↔«. Hegel geht interessanterweise analog vor, indem er dem (platonischen) Normalsatz ›N ist P ‹ des (aristotelischen) Ti kata tinos die Form einer Gleichung gibt: Das Prädikat P vom Gegenstand N auszusagen, wird als gleichbedeutend aufgefasst zu »N ist dasjenige x , das mit N identisch ist und die Eigenschaft P hat«. Dennoch unterscheidet Hegel (wie auch Frege) zwischen Kopula und Gleichheit. Das zeigt seine Kritik an seinem Tübinger Logiklehrer Ploucquet in der Begri=slogik auf klare Weise.
Begri=e als Gegenstandsbereiche und analogische Erklärungen 41 Kontext ab, ob ein formales Verhältnis inhaltlich als ein Fürsichsein oder als ein Für-Anderes-Sein aufzufassen ist.35 Da ich zu diesen Dingen schon eine Kommentierung der sogenannten Kleinen Logik 35 Eine ›reflexive‹ mathematische Relation ist nicht einfach für Gegenstände g , g ∗ , sondern für Gegenstandsbenennungen definiert. Es handelt sich um eine kategorial gemischte, halb objekt-, halb metastufige Alternative: Es ist ja N ≤ N ∗ wahr genau dann, wenn für die zwei durch N und N ∗ benannten Gegenstände g < g ∗ gilt oder wenn N und N ∗ Benennungen eines und desselben Gegenstandes g in G sind. Der arithmetisch als ›wahr‹ gesetzte Satz » 2 ≤ 4 − 2« sagt daher etwas über verschiedene Ausdrücke »2« und »4 − 2«, nämlich, dass sie als zahlgleich gesetzt sind. Das Beispiel macht auch schon klar, warum wir in der Rede über Formen und Begri=e immer zugleich über die Sachen und ihre Ausdrucksformen, also über ihre Repräsentationen und Präsentationen (beide qua Formen) reden (müssen). Die moderne Logik unterschätzt die Folgen dieser Tatsache. Hegel hat ihre Bedeutung weit besser als die Analytische Philosophie des 20. Jahrhunderts erkannt. Diese wirft Hegel umgekehrt vor, nicht deutlich genug zwischen Zeichen und Bezeichnetem, Wort, Begri= und Gegenstand zu unterscheiden. Zwar hat W. V. O. Quine besonders konsequent den Wunsch verfolgt, durch einen extensiven Gebrauch von Anführungszeichen scharf zwischen Ausdruck und Sache, Repräsentation und Repräsentiertem zu unterscheiden. Aber schon die ›reflexive‹ Relation x ≤ y sprengt, wie gezeigt, die Trennung der ›metastufigen‹ Relationen des Fürsichseins und der ›objektstufigen‹ Relationen des Für-Anderes-Seins. Quine übersieht daher immer noch, wie schon Frege, Russell und der frühe Wittgenstein, die nachgerade unaufhebbare logische Abhängigkeit jeder Identität vom ganzen Gegenstandsbereich G , also von Hegels Begri=. Zu dessen definitorischen Konstitutionsbedingungen gehört eine Bestimmung dessen, was alles als G -Benennungen N , M zugelassen ist, und dann auch der Wahrheitsbedingungen der Gleichungen N = M . Diese wiederum müssen zu einem festen System von G -Prädikaten λx .φ(x ). passen. Die Geltung des Leibnizprinzips für die G -Benennungen und G -Prädikate ist dabei eine zu erfüllende Bedingung, keine ›ontische‹ Voraussetzung, wie alle (dogmatische) Metaphysik bis heute meint. Die Erfüllung dieser Bedingung sorgt erst dafür, was sogar noch Frege unmittelbar voraussetzt, nämlich, dass die Relationen und Prädikate als Funktionen in G aufgefasst werden können. Deren Werteverläufe sind im einstelligen Fall Extensionen, also Teilklassen in G .
42 Einführung in den §§ 1 – 244 der Enzyklopädie36 und der Großen Logik37 vorgelegt habe, belasse ich es hier bei Skizzen in den Fußnoten. Die Natur an sich ist sozusagen das Korrelat naturwissenschaftlicher Theorien und Modelle, mit denen wir unsere Erfahrungen darstellen. Sie ist von dem zu unterscheiden, was wir als Natur realiter erfahren. Die Natur rein für sich wäre nur ihr Vollzugssein, während die Natur an und für sich die begri=lich dargestellte Natur ist, gerade auch in Wesenserklärungen eines empirisch-phänomenalen Einzelgeschehens. Wir verstehen also den Begri= der Natur an und für sich erst dann, wenn wir das Feld der Praxis der Rede über die Natur und unser Naturverhältnis topisch überblicken. Dazu gehört insbesondere das Verhältnis von theoretischer Darstellung und Erklärung zu der Erfahrung selbst – unter Einschluss der Erfahrung im Umgang mit Theorien. In der materialistischen Weltanschauung meint man, die Modelle der Naturwissenschaft stellten die Natur unmittelbar so dar, wie sie ist. Damit übersieht man das Konstruktive, Ideale, Generische, Analogische der begri=lichen Darstellungen. Der sogenannte objektive Idealismus Hegels ist daher zunächst nichts anderes als die Einsicht in die Idealitäten und analogischen Modellkonstruktionen der Naturwissenschaft. Hegels Einsichten könnten auch noch in den folgenden Punkten allzu erfolgreich gewesen sein: Zwar stehen seine Überlegungen durchaus in der Nachfolge Humes und Kants. Gegen deren Fixierung auf das individuelle Subjekt (wenn auch im Allgemeinen) betont Hegel aber, dass alle allgemeinen Formen getragen sind von einer gemeinsamen Kultur der Vernunft, die bei ihm und auch sonst »Geist« heißt. Realphilosophie wird nun zur Explikation impliziter Formen der Praxis des Wissens über die Natur und der Reflexionen auf unser geistiges Sein. Fundamentale Entwicklungen in den Wissenschaften 36 Vgl. dazu P. Stekeler-Weithofer, Hegels Analytische Philosophie. Die Wissenschaft der Logik als kritische Theorie der Bedeutung. Paderborn: Schöningh 1992. 37 P. Stekeler, Hegels Wissenschaft der Logik. Ein dialogischer Kommentar, 3 Bde., Hamburg: Felix Meiner Verlag 2020 und 2022.
Begri=e als Gegenstandsbereiche und analogische Erklärungen 43 bestehen nach Hegel darin, dass grundlegende Darstellungsformen und Begri=snetze expliziert, geändert oder neu begri=en werden.38 Naturphilosophie wird zu einer denkenden Betrachtung der Natur und der Naturwissenschaft.39 Es geht um die Unterschiede der methodischen Zugänge zur Natur und um die unterschiedlich begri=lich verfassten Gegenstandsbereiche. Die Explikation des begri=lichen Rahmens der Mechanik zeigt z. B., dass und wie ihr Anwendungsbereich begrenzt ist. Eine Wiederaufnahme des Programms der Aristotelischen Physik als Naturphilosophie führt Hegel dann noch zu einer Analyse grundlegender Unterscheidungen, zunächst der Vieldeutigkeit der Rede von Elementen und Sto=en (stoicheia), dann aber auch der durch die Sinnesqualitäten wie Geruch, Seh- und Farbempfindungen, Klang, Geschmack, Wärme und Tastgestalt bestimmten Phänomenen. Deren ›Ursachen‹ dürfen nicht bloß in Beziehungen zu uns gestellt werden, sondern sind reale physikalische Phänomene mit realen Wirkungen – nicht nur auf (manche) lebende Wesen, sondern auch auf ›tote‹ Dinge und Sachen. Sie müssen auch unbedingt so begri=en werden. Daher erweist sich eine Einschätzung wie die von Friedrich Kaulbach als falsch, der behauptet, Hegel habe die »an der Unterscheidung der Sinnesgebiete des Sehens, Hörens, des Tastens usw. orientierte empirisch-physikalische Einteilung« in Optik, Akustik, Mechanik und Thermodynamik seinsphilosophisch zu deuten versucht.40 Er deute 38 Vgl. Enz. II, S. 20: »Alle Revolutionen [. . . ] kommen nur daher, dass der Geist [. . . ] seine Kategorien geändert hat.« Unendliche Urteile sind solche, die Kategorienfehler negieren, wie »der Geist ist nicht gelb«, »Cäsar ist keine Primzahl« oder auch »die Seele ist kein Ding«. Dennoch ist das Sein der Seele gerade das Leben des Leibes. Das Urteil, dass ich als mein Leib eine Art Ding bin, wäre daher, wörtlich genommen »geistlos oder vielmehr das Geistlose selbst. Seinem Begri=e nach«, also recht begri=en, »aber ist es in der Tat das geistreichste«, sagt Hegel auf höchst interessante Weise in der Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 518. 39 Vgl. Enz. II, S. 11, wo Hegel ironisch erklärt: »Wenn etwa gar das Denken in der Physik für etwas Schlimmes gelten sollte«, so ist sie selbst in ihren Theorien (als »rationelle Physik«) »schlimmer ist, als sie meint«. 40 Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe, Stichwort »Naturphilosophie«, Bd. 6, S. 553.
44 Einführung das, was in der Naturwissenschaft bloß empirisch gemeint sei, als absolutes Wissen. Dabei ist erstens ganz unklar, was eine Seinsphilosophie sein soll. Zweitens geht es Hegel darum, dass in der Konstitution der Bereiche von Dingen und Sachen der Natur der sinnliche Zugang wie die Haptik für Körper, der Geruch für Gase und das Sehvermögen für die Phänomene des Lichts und damit auch für die begri=liche Fassung ihrer Ursachen als qualitative Unterscheidungen ebenso wichtig sind wie quantitative Messergebnisse. Drittens argumentiert Hegel zunächst gegen die Übermacht des mechanischen Paradigmas mit mathematischen Punktfunktionen als Darstellungsform. Er verteidigt die Eigenständigkeit der physikalischen Disziplinen der Optik und Akustik, der Wärmelehre, auch der Meteorologie, im Blick auf den je begrenzten empirischen Phänomenbereich und den Zweck in ihren unterschiedlichen Begri=lichkeiten. Wenn später z. B. ›Schüler‹ von Johannes Müller, unter ihnen der geniale von Helmholtz, die Physiologie als seriöse Wissenschaft begründen, erfüllen sie nur eine Forderung Hegels. Denn die Physiologie emanzipiert sich nur erst langsam von den zu engen Erklärungsformen der klassischen Mechanik. Sie greift damit, freilich ohne es zu wissen, auf methodische Überlegungen u. a. Schellings in Jena zurück. Bis heute wird das allerdings zumeist weder erkannt noch anerkannt. Das liegt auch an einer zu einfachen Form üblicher Wissenschaftsgeschichtsschreibung. Hegel erkennt insbesondere, dass die von ihm in der Wesenslogik analysierten Erklärungen der Wirkungen von Dingen über deren Kräfte und Dispositionen nicht anders als im Einsatz von sogenannten theoretischen Entitäten wie der subatomaren Teilchen ganz o=ensichtlich keine Kausalerklärungen in einem der üblichen Sinne sind, etwa von der Form einer Abfolge der folgenden Art: »Nach dem Ereignis des Typs E geschieht immer oder häufig ein Ereignis des Typs E ∗ « wie bei Hume.
Was ist die Natur? 4. 45 Was ist die Natur? Als Grundfrage der Naturphilosophie nennt Hegel die Frage »Was ist die Natur?«.41 Sie ist keineswegs Grundfrage der Naturwissenschaften. Die Naturwissenschaften wollen wissen, wie sich Natur verhält. Wie bedeutsam Hegels Frage dennoch ist, wird klar, wenn man die logische Spannung bemerkt zwischen dem Satz, dass wir die Natur dem Geist, also unserem Wissen, gegenüberstellen, und dem Satz, dass sich andererseits der Geist in diesem von ihm selbst Abgestoßenen ahnt.42 Wir ahnen ja, dass die formale Entgegensetzung von Geist und Natur, von Naturerkenntnis und objektiver Wirklichkeit nur die halbe Wahrheit ist. Die erste und allzu unmittelbare Folge dieser Ahnung ist der Versuch, den Geist, das Erkennen, die Vernunft selbst naturwissenschaftlich erklären zu wollen. Es ist das Projekt der Naturalisierung des Geistes, etwa im Rahmen einer evolutionären Theorie der Lebensstufen und der Erkenntnis. Dabei können wir gleich auch die Gefahr erahnen, dass ein derartiger Versuch sich auf geahnte Halbwahrheiten stützt. Die Verfolgung der Grundfrage der Naturphilosophie, »Was ist die Natur?«, wird im Rahmen der Frage nach dem Verhältnis von Natur und Geist bzw. erklärender Naturwissenschaft und reflektierender Geisteswissenschaft zentral für jede kritische Philosophie des Geistes. Neuzeitliche und zeitgenössische Theorien menschlicher Kognition, die sich, wie bei Locke schon zu sehen ist, auf eine Physiologie des Perzipierens und auf die Vorstellung schematischer Verarbeitungen eines sinnlichen Inputs durch einen logischen Apparat stützen, der als irgendwie im Gehirn verdrahtet angenommen wird, bemerken nicht, dass sie selbst Folge eines Mangels an Naturphilosophie sind. Sie sind Folge eines Verzichts auf begri=liche Analyse des beschränkten Gegenstandes und der beschränkten kategorialen Darstellungsund Erklärungsformen der Naturwissenschaften. Als Folge dieses Verzichts sind sie provinziell. Hegel spricht in diesem Sinn von einem endlichen Standpunkt. Das Provinzielle besteht in der Nichtanerkennung der topischen Begrenzungen naturwissenschaftlicher Methoden 41 42 Enz. II, Einleitung, Zusatz, S. 11 f. Vgl. Enz. II, S. 12.
46 Einführung der Forschung und theoretischen Erklärung im Allgemeinen, der Physiologie im Besonderen. Provinziell ist dabei nicht, wer bewusst in seiner Provinz lebt, sondern der, welcher seinen Ort, und wäre er eine Metropole, für das Zentrum der ganzen Welt hält. Hegel ist sich der Verständnisschwierigkeiten seiner Unternehmung voll bewusst, wo er erklärt, dass die Frage zu klären, was die Natur ist, sein Hauptthema sei: »Es handelt sich hier, wie überall in der Naturphilosophie, nur darum, an die Stelle der Verstandes-Kategorien die Gedankenverhältnisse des spekulativen Begri=es zu setzen und nach diesem die Erscheinung zu fassen und zu bestimmen.«43 Denn Verstandeskategorien sind implizite Schemata und bloß erst angelernte Formen des Handelns. Der spekulative Begri= ist dagegen Artikulation einer topischen Übersicht. Jede kritische, bewusste und selbstbewusste Analyse scheinbarer Selbstverständlichkeiten objektstufigen Redens und konventionellen Handelns verlangt topische Ortsbestimmungen der jeweiligen Rede- und Untersuchungsformen. Das gilt insbesondere auch für die Naturwissenschaften und ihren je besonderen Zugang zur Natur. Für eine Analyse des Begri=s (oder besser: der Idee) der Natur ergibt sich aus dem bisher Gesagten, dass uns in der ersten Stufe Natur als Gegensatz, als das von uns als Natur Dargestellte und Behandelte erscheint. Diese Natur ist das Andere, d. h. der Bereich der widerständigen Gegen-Stände und der gebrauchbaren Mittel. Im praktischen Verhalten zur Natur, und wenn die Theorie einer technischen Praxis dient, tritt uns Natur als sperriges Objekt oder als Mittel zum Zweck gegenüber.44 Die Bestimmungen des Dings als Zuhandenes, das wir uns zu eigen gemacht haben und das unserer Sorge und Begierde45 dienlich ist oder mit List in diesen Dienst gezwungen wird, liegen dann an uns, nicht in den Dingen selbst. Gegen das Bild von der Natur als bloßem Bereich von Elementen, die sich nach ewigen (mechanischen) Gesetzen bewegen, hatte schon die aristotelische Physik eine adäquatere Behandlung des Lebendigen gefordert und eben dafür eine Reflexion auf die Konstitution der Be§ 305. § 245. 45 § 246. 43 44
Die (All-)Einheit der Natur 47 gri=lichkeiten entworfen, in denen wir Natur als Phänomenbereich gliedern. Dies ist dann auch für Hegel der erste, wichtigste Schritt auf dem Weg dazu, Natur als frei in ihrer Lebendigkeit zu betrachten, als physis, in der es sich selbst bildende Formen gibt. Es geht dabei darum, die Natur als natura naturans, als Welt des Seins und des Lebensvollzugs zu begreifen, aber deutlicher als schon bei Spinoza von der natura naturata zu unterscheiden. Diese ist der Themenbereich der Naturwissenschaften. In dieser Einleitung können allerdings nur einige der Aspekte von Hegels Analyse der unserem Sein entgegengesetzten Natur beispielhaft genannt werden. 5. Die (All-)Einheit der Natur Hegels Reflexion auf die Kategorien unserer Naturdarstellungen zielt nicht etwa nur auf einen Beweis der bloßen Idealität des Gegenstandes theoretischen Naturwissens ab. Dieser ist insgesamt die von uns selbst als Gegenmodell gegen unser unmittelbares Auffassen und Leben entworfene objektive Natur. Hegel verteidigt auch keinen subjektiven Idealismus, dem nur seine eigenen Erfahrungen und Modelle gewiss sind. Zwar stützt sich Hegel mit Fichte auf Grundeinsichten der immer schon zugleich rationalistischen, empiristischen und transzendentalphilosophischen Revolution der Erkenntnistheorie bei Descartes, Hume und Kant. Aber gerade die ›romantischen‹ Philosophen und Dichter wie Herder, Novalis oder die Gebrüder Schlegel hatten den präsentistischen Anthropozentrismus dieser Denktradition mit durchaus bedenkenswerten Gründen als einseitig kritisiert. Schellings Naturphilosophie sollte den Menschen als Naturwesen begreifbar machen. In Hegels Überlegungen bleibt diese Naturgebundenheit der condition humaine zwar erhalten, wird aber ergänzt durch die Kulturverbundenheit unseres Verstehens und Wissens. Die Natur als ganze Welt bleibt freilich Rahmen auch des geistigen, personalen Lebens. Sie steht uns dann aber nicht einfach als Gegenstand theoretischer Vor- oder Darstellung möglicher Erfahrung und als Mittel möglichen Handelns gegenüber, sondern ist Gesamt-Sein und bildet den Gesamt-Ort unseres Lebens.
48 Einführung Das Problem ist jetzt, wie schon Heraklit sieht und Fichte wieder zu ahnen scheint, Welt als zeitlichen Vollzug von allem, was es in ihr ›gibt‹, sprachlich begreifbar zu machen, ohne dabei die nötigen reflexionslogischen Vergegenständlichungen nominaler Rede metaphysisch zu ›verdinglichen‹. Fürsprecher der Idee der Natur als Welt war u. a. auch Hölderlin. Hegel anerkennt explizit die im romantischen Gefühl implizierten kritischen Urteile gegenüber einer verdinglichenden Auffassung der Natur als Bereich ›mechanischer‹ bzw. kinematischer Relativbewegungen dinglicher Atome. Sein Projekt der Versöhnung von Geist und Natur ist aber erstens ambitionierter und stützt sich zweitens auf ein nachgerade basales logisches Wissen über die Form abstraktiver Vergegenständlichungen in reflexionslogischen und spekulativen Reden. Nur weil diese bis heute noch lange nicht Gemeingut des Wissens geworden sind, sind Hegels Texte und sogar noch diese Erläuterungen so schwer zu lesen. Am Ende entsteht dennoch eine Versöhnung der Einsichten des Empirismus und der Transzendentalphilosophie mit dem romantischen Gefühlsnaturalismus, eine Versöhnung insbesondere zwischen dem cartesischen und kantischen Dualismus und Spinozas Monismus. Dazu gilt es zu begreifen, in welcher Perspektive Natur als eine bloße Provinz besonderer Gegenstände unseres Wissens (1), in welcher Perspektive Natur als Welt und damit als das Ganze des Seins (2) aufzufassen ist, in dem wir selbst situiert sind. Natur als Gesamt der nicht handelnden Dinge und Lebewesen steht dem Geist gegenüber. Der Geist ist Teil der natürlichen Welt nur dann, wenn man diese mit allem Sein und damit mit der ganzen Welt identifiziert. Die Einheit von Gefühl und Intellekt, in gewissem Sinn auch von Natur und Geist, ist für Hegel nicht etwa Ausgangs-, sondern Endpunkt der Analyse in einer Geschichte der Welt, in der wir uns selbst situieren. Es handelt sich um die Einsicht, dass wir Menschen nicht nur als Naturwesen das sind, was wir sind, sondern dass wir als Personen teilhaben an einem allgemeinen Geist. Dieser aber ist das Gesamt der Beziehungen zu anderen Personen im gemeinsamen Leben der Menschen, in dem sich die Vollzugsformen des Person-Seins und damit ›der Geist‹ sozusagen selbst entwickeln. Der Glaube an eine Reduzierbarkeit der besonderen geistigen oder eben personalen Verhältnisse auf einen bloß instrumentellen, verständig-rationalen oder
Die (All-)Einheit der Natur 49 mechanisch-technischen Bezug zu Natur und Umwelt ist durchaus unvernünftig. Nicht einmal die besonderen Bedingungen der Möglichkeit instrumentellen Handelns lassen sich so begreifbar machen. Technik und Wissenschaft setzen ganz o=ensichtlich eine gemeinsame Kultur des Wissens und Könnens, der Sprache und des Lernens voraus, samt der gemeinsamen Kontrolle des richtigen Urteilens und vernünftigen Handelns. Vernunft ist daher nie nur auf technische bzw. schematische Rationalität zu reduzieren. Es ist nicht (nur) das Rechnen der ratio, durch die sich der Mensch als animal rationale oder zōon logon echōn vom Tier unterscheidet. Im Vergleich zur instrumentellen Handlungskompetenz der Menschen sind die Verhaltungen eines Tieres zwar relativ unfrei, nämlich soweit sie nur von unmittelbarer Begierde, Trieb und Sorge geleitet sind. Rationalität als Erweiterungen der Techniken der Tiere und ihrer Instinkte ist aber nur die eine Sache, Vernunft als Mitbestimmung und freie Selbstbestimmung in einem gemeinsamen Kulturprojekt die andere, weit wichtigere. Das Ende der Naturphilosophie ist daher der Übergang in eine kritische philosophische Anthropologie, in die Philosophie des Geistes. Im Blick auf diesen Kontext wird vielleicht grob verständlich, was es heißt, wenn Hegel etwas mystisch sagt, von der Idee entfremdet sei die Natur nur der Leichnam des Verstandes.46 Hegels logische Analyse enthält damit auch eine radikale Kritik an jeder Überschätzung kausaler Naturgesetze und damit am Aberglauben des Determinismus. Als Erstes nimmt er sich dazu die überschwänglich-metaphysische Deutung unserer analogisch-idealisierenden Modellierungen von Typen sich reproduzierender Erscheinungen vor. So wie Euler oder Le Sage versucht hatten, »die Bestimmungen der gemeinen Mechanik und der unselbständigen Körper«, also der Billardballstöße, »auf die absolute Mechanik und die freien Zentralkörper« der Planetenbewegung anzuwenden, so versucht man später, die mehr oder weniger ›ewigen‹, weil zeitallgemeinen und ›universal‹ für alle Massen gültigen generischen Gesetze der Gravitationsdynamik unmittelbar auf die »endliche Physik der vereinzelten individuellen 46 Enz. II, S. 25.
50 Einführung Körper«47, also auch auf die Chemie, anzuwenden. Das bleibt trotz einiger brauchbaren Analogien insgesamt problematisch. Es ist also nur so lange legitim, als man darauf verzichtet, sich eine ›vollständige‹ mechanische Erklärung aller irdischen Prozesse zu erträumen. Außerdem muss man zwischen einzelnen Instanzen, generischen Formen und historischen Erklärungen post hoc unterscheiden. Im Nachhinein findet man immer eine kontingente Teilvorgeschichte, aus der sich die Nachfolgegeschichte irgendwie ergibt. Das Allerweltswort »kausal« ist dabei zumeist allzu schnell bei der Hand. Man übersieht daher leicht Kontingenzen – und dass es reine Trivialität ist zu sagen, dass sich die Gegenwart aus dem Gesamt ihrer Vorgeschichte ergibt. Natürlich wird man je heute auf die je damals nicht abzusehenden Fortschritte der Physik hinweisen und z. B. die schon damals überzeugenden Leistungen irdisch-technischer und planetarisch-freier Ballistik als Prototypen für exakte Berechenbarkeiten von Bewegungen hervorheben wollen. Hegel betont aber den himmelweiten Unterschied zu dem, was eine freie selbständige Physik aller Prozesse auf der Erde und der Entstehung von Weltall und Erde zu leisten hätte, wenn sie z. B. das Zusammenspiel von Klima, Biologie und menschlichen Interventionen im Einzelnen e;zienzkausal vollständig erklären sollte. Insgesamt kritisiert Hegel den Glauben an ›zureichende‹ Ursachen auf der Ebene der Einzelereignisse als spekulativen Aberglauben. Stattdessen gilt es zu begreifen, was es überhaupt heißt, sich vernünftig an von uns selbst gesetzten Erklärungen möglichen Geschehens zu orientieren. Dass die Entwicklung des Geistes, des Wissens, der humanen Kultur und unserer kognitiven Kompetenzen selbst in der Natur und im Leben stattfindet, dass wir also keinen cartesischen und kantischen Dualismus brauchen, diesen vielmehr überwinden müssen, das übernimmt Hegel schon von Spinoza. Er übernimmt aber nicht dessen Überzeugung, die Natur sei das, was die Naturwissenschaft im Prinzip erklären kann. Die Natur für sich ist vielmehr frei insofern, als sie o=en ist nicht nur für manche konkrete Kausalerklärung, sondern auch für Einsichten in die Grenzen solcher Erklärungen und behaupteten Erklärbarkeiten. 47 § 286.
Die (All-)Einheit der Natur 51 Das Wort »Gott« steht dann zwar häufig für die ganze Welt, dabei aber keineswegs (immer) nur für die Natur, so dass wir Spinozas Formel deus sive natura entsprechend durch Hegels Satz, dass Gott wesentlich Geist ist, modifizieren müssen. Es lohnt sich, ein Beispiel für schon inhaltliche und für bloß erst formale Verständnisse unserer Reden von Gott zu betrachten. Die Inhalte haben dabei mit Gefühlen kaum etwas zu tun. Mancher wird freilich das Wort »Gott« vermeiden und vielleicht sogar die Floskel »so wahr mir Gott helfe« ablehnen, weil er nicht ›an Gott glaubt‹. Viele werden auch das »a dieu« nicht als Urform von »Ciao« und »Tschüss« kennen und schon gar nicht mehr wissen, dass dieses »Gott befohlen« bedeutet. Damit wünscht der Grüßende nicht nur einen guten Tag. Er wünscht sozusagen, dass die ganze Welt dem Verabschiedeten wohlgesinnt sein möge. Entsprechend ist auch »Grüß Gott« nicht als Aufforderung zu verstehen, einen Gott zu grüßen, sondern hat den Sinn: »Es grüße dich durch mich die ganze Welt.« Wer beim Übergang zu dieser Art von ausdrucksinvarianter Sinnbestimmung nicht mittun will, den werden wir in seiner subjektiven Beschränktheit und seinem Oberflächenverstehen einfach stehen lassen müssen, egal, ob er sich als gläubig oder ungläubig deklariert. Die These, dass es in Reden über Gott oder die ganze Welt keine allgemeine Wahrheit gäbe, ist dann auch entweder nur Verwechslung zwischen äußeren Formen und allgemeinen Inhalten; oder sie ist implizite Selbsterlaubnis, zu glauben, was man will. In einem solchen ›Fideismus‹, den man als reinen Willen zum Glauben aufzufassen hat, hat man wegen der Willkür der Entscheidung schon jeden gemeinsam anerkennbaren Inhalt zerstört. Dabei hat schon Kant klar gesehen, dass jeder, der etwas für wahr hält, damit ipso facto urteilt, dass ›alle‹ es für wahr halten können und sollten, so dass sich jede willkürliche Meinung selbst widerspricht.48 Sich zu weigern, über Inhalte und Geltungen weiter nachzudenken, ist daher nicht nur kein gutes Argument, sondern ist nur Ausstieg aus dem Inhaltsverstehen und Urteilen. Das gilt nicht nur für Geltungsansprüche über Besonderes und Einzelnes in der gemeinsam erfahrbaren Welt, sondern auch für 48 Ein solcher Voluntarismus des Glaubens macht die Menschen sozusagen zu Solipsisten.
52 Einführung spekulative Sätze über das wahre Ganze und damit für Religion, Kunst und Philosophie. Wie »Menschheit« ist Gott als Geist generisches Kollektivsubjekt, jetzt aber für das allgemeine Verstehen, Begreifen und Entwickeln des Begri=s als Gesamt denkbarer Möglichkeiten. Zugang zu Möglichkeiten gibt es ja nur im Rahmen einer humanen Kulturtradition, ihrer symbolischen Formen und dem im Begri=lichen schon enthaltenen Wissen und Können. Wissenschaft ist sogar am besten als institutionell verfasste Form der Entwicklung von Sprache zu begreifen, genauer der Begri=e und Semantik in je begrenzten Themenbereichen. Sie ist eingebettet in eine politische Ordnung aller Institutionen. Religion und Kunst sind empraktische Reflexionsformen auf diese Rahmenbedingungen. Das Wissen, dass das so ist, also das Selbstbewusstsein dieser Praxisformen, wird in philosophischen Reflexionen entwickelt. Die humane Kultur und ihre Tradition im Lebensvollzug ist damit, um auf Spinozas Formel zurückzukommen, keine sich rein von selbst entfaltende Natur. Sie ist nicht zuletzt auf Grund der freien Gestaltung der Kooperation selbst gemeinschaftliche Entwicklung von Autonomie, zugleich Bedingung der Möglichkeit von Freiheit im Handeln und damit von Personalität. Auch wenn die merkwürdigen Beispielsätze des Anfangs zunächst als Unfug erschienen, lässt sich im Folgenden mehr über sie sagen. Dass der meteorologische Prozess nicht rein mechanisch erklärbar sei, meint möglicherweise nur, dass Hegel und Lichtenberg mit den damals vorgelegten Theorien noch unzufrieden waren, da sie das Phänomen eines Gewitters aus heiterem Himmel, ohne vom Meer zugeführte Wolken, noch nicht erklärt hatten. Es mag auch sein, dass sie an die Möglichkeit einer ›chemischen‹ Erklärung des Regens geglaubt haben – was ich freilich bezweifle. Systematisch wichtiger ist, dass Hegel das antike Verfahren der Rettung der Phänomene verteidigt: Eine Theorie kann nie reale Phänomene wie z. B. die Erscheinungen einer Fata Morgana für irreal erklären. Sie kann bestenfalls einen neuen Umgang mit ihren ›Erklärungen‹ empfehlen. Diese Einsicht der Antike, nach welcher jede Wissenschaft nur so weit einen Wahrheitsanspruch verteidigen kann, wie sie den Phänomenen treu bleibt, ist im modernen Glauben an die universale Erklärungskraft des mechanischen Paradigmas tatsächlich nicht immer gut aufgehoben worden.
Die (All-)Einheit der Natur 53 Die These, dass das Leben überhaupt aus dem Wasser hervorgegangen sei, wird von Hegel wohl nur in ihrem Erklärungsanspruch als problematisch dargestellt. Als naturgeschichtliche Erzählung des Verlaufs einer Genese, des Ganges der Dinge, bleibt sie richtig. Dass die Kriterien dieser Richtigkeit oberflächlich seien, bedeutet dann nur, dass wir uns mit der Erzählung nicht schon dann zufriedengeben sollten, wenn sie sich konsistent vorstellen lässt.49 Dass die tierische Natur die Wahrheit der vegetabilischen sei, verweist möglicherweise darauf, dass der Begri= des pflanzlichen Organismus nur unter der Voraussetzung, dass wir schon wissen, dass es Tiere gibt, in Di=erenz zu ihnen und keineswegs nur zu den unbelebten Dingen bestimmt ist. In der begri=lichen Ordnung geht die Gliederung dessen, was wir heute erfahren können, jeder Erzählung einer natürlichen Entwicklung voran. Sie wird als gegenwärtiges Leben und Wissen schon voraussetzt. Die begri=liche Ordnung bleibt auch dann eine ganz andere als die historische Ordnung einer Entwicklungsgeschichte, wenn die Parallelen o=enkundig sind. So sind Tiere weiter als die Pflanzen entwickelt, weil sie sich von Ort zu Ort bewegen können und sich die Vegetation oder andere Tiere zum Objekt ihrer Begierde und deren Erfüllung machen: ohne Flora keine Fauna. Aber ohne Wissen um die Fauna lässt sich die Flora nicht ausgrenzend bestimmen. Schließlich ist die Erde die Wahrheit des Sonnensystems. Trotz aller Zentrierung der dynamischen oder ballistischen Erklärung der Planetenbewegungen um die Sonne, trotz der Dezentrierung der Erde durch die kopernikanische Revolution und trotz des ontischen Vorrangs von Materie steht das Leben auf der Erde am Anfang von allem Wissen. Der Kernsatz rückt den Kopernikanismus zurecht, und zwar durchaus im Sinne von Kants zweiter kopernikanischer Revolution, die das Erkennen in den Subjekten re-zentriert. Das war schon die relative Wahrheit des cartesischen Rationalismus gewesen, der ja auch Hintergrund von allem Empirismus bleibt. Hegels Einsicht in die Formen des Gemeinschaftsprojekts der Wissenschaft im Besonderen, eines humanen Lebens im Allgemeinen geht dann aber über Descartes, Hume und Kant weit hinaus. Begri=e, 49 § 249.
54 Einführung expliziert durch Sprache, sind als allgemeines Wissen gemeinsam kanonisierte di=erentiell bedingte Normalfallinferenzen. Nur in dieser Praxis der begri=lichen Fassung von nicht bloß individueller Erfahrung werden wir zu denkenden Personen. Und nur in der Praxis der Beurteilung der Einzelakte im Blick auf allgemeine Normen des Richtigen gibt es Vernunft. Mit der Einsicht in die Abhängigkeit unserer personalen Kompetenzen von einer allgemeinen Praxis und eben damit von unserer Kulturtradition lässt sich der Ort des Geistes oder der Vernunft in der Welt bestimmen. Er ist Ergebnis einer Kultur- bzw. Ideengeschichte nicht im Sinn von bloßen Vorstellungen oder ideas wie im Englischen, sondern wie bei Hegel von realen Praxisformen und Institutionen. Nur bei Anerkennung dieser Einsicht in die Abhängigkeit der je besonderen Möglichkeiten, Mensch und Person zu sein, gibt es Selbstbewusstsein, nicht etwa durch den rein verbalen Widerspruch gegen das angeblich bloß Traditionale. Aber nur von hier und heute aus können wir unseren Standort erkennen. Das geschieht wie in der Geographie dadurch, dass wir den eigenen Ort in der Welt topisch, nicht etwa u-topisch, also nicht sub specie aeternitatis, von hier und jetzt her situieren und betrachten. 6. Sinnkritische Philosophie des Geistes Wenn es in der Gegenwart um eine Philosophie des Geistes bzw. eine philosophische Psychologie oder Seelenlehre zu tun ist, halten viele Philosophen den Hinweis auf Hegel für ein rhetorisch notwendiges Lippenbekenntnis. Man weiß also vom Titel Phänomenologie des Geistes und den Überschriften im dritten Teil von Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, hält es aber ohne weitere Diskussion für ausgemacht, dass eine gegenwärtige philosophy of mind von den dunklen Überlegungen Hegels nicht weiter profitieren könne. Doch ohne Hegels Aufdeckung der gegenständlichen Reflexionsform und ohne seine Kritik an ihrer Hypostasierung ist eine wirkliche Säkularisierung der aus der Antike stammenden Metaphysik der Seele schlicht nicht möglich. Ironischerweise bleibt sogar noch jede Sprachphilosophie unaufgeklärt, wenn sie die generischen For-
Sinnkritische Philosophie des Geistes 55 men der Rede über den Geist oder die Seele, auch das Begri=liche oder die Idee als Gesamt aller Realformen unmittelbar als Hypostasierungen missversteht.50 Besonders wenig hilfreich ist es, Wörter wie »Geist«, »Bewusstsein« oder »Seele« durch »Funktionen des Gehirns« oder »neuronales System« zu ersetzen. Diese Aufklärungsrhetorik lässt die o=enbare Tatsache übersehen, dass Gehirn und Nervensystem beim Denken zwar etwas tun, aber bestenfalls in einem metaphorischen Sinn Akteure des Denkens sind. Besonders bemerkenswert ist, dass man an den Sätzen der Art, dass die Natur und die Gene, das Gehirn und seine Neuronen ›von selbst‹ etwas tun, die generisch-figurative Redeform gar nicht als solche erkennt, sondern treuherzig meint, wörtlich zu sprechen. Dass eine bloß verbale Naturalisierung des Geistes nicht weiterhilft, sollte daher jeder einsehen können – und wäre schon damit über die Positionen von Hobbes, Locke, Hume und sogar Spinoza hinausgelangt. Die Frage nach dem konkreten Sinn unserer Reden über einen Geist von X oder eine Seele von Y führt uns zunächst zur Frage nach dem sinnvollen Gebrauch entsprechender Sätze. Es gibt daher einen engen Zusammenhang von Ontologie, logischer Formanalyse, Philosophie des Geistes, philosophischer Anthropologie und Philosophie der Psychologie. Die Seele ist nämlich nicht etwa bloß Thema der Theologie und Religionsphilosophie, sondern der Psychologie und der Philosophie der Person. Das Personsein im Ganzen und die personale Kompetenz im Besonderen sind das, was schon Platon und Aristoteles unter dem Titel der psychē bedenken. Dabei geht es dem platonischen Sokrates etwa im Dialog Phaidon um seinen Gesamt50 Mit Bertrand Russell tendiert praktisch die gesamte Analytische Philosophie wie jede rurale Sprache bloßen Erzählens im Unterschied zu urbaner Rede über Formen dazu, den definiten Artikel als Markierung einer Kennzeichnung eines als existent unterstellten Gegenstandes zu lesen. Damit übersieht man seine abstraktive Funktion in der Scha=ung von generischen Gegenständen besonders auch für holistische Reflexionen. Dabei waren es gerade Platon und Aristoteles für das Griechische, Hegel für das Deutsche gewesen, welche diesen für alle Wissenschaft und Philosophie zentralen Gebrauch des definiten Artikels sowohl deutlich gemacht als auch sinnkritisch kommentiert haben.
56 Einführung charakter an und für sich, also darum, welche Person er gewesen sein wird. Insofern kümmert sich der sterbende Sokrates nicht nur, wie Simmias und Kebes, um seine leibseelischen und geistigen Fähigkeiten zum späteren Gebrauch. Die Seele, um die sich der nur noch ein paar Stunden lebende Sokrates sorgt, ist nicht bloß Trägerin von Kompetenz. Sie ist formaler Wahrmacher für alle zukünftigen Urteile über die Gesamtperson. Dazu ist die ebenso schwierige wie wichtige Unterscheidung zu begreifen zwischen geschichtlicher Wahrheit an und für sich und unseren faktischen Urteilen über die historische Person. Es ist diese Di=erenz zwischen unserem je endlichen historischen Wissen über Personen in unseren Narrationen, die als solche immer nur historische Möglichkeiten in Bezug auf das Denken und Tun dieser Person darstellen, und einer Wahrheit an und für sich, deren Status so schwer zu artikulieren ist. Sogar Aristoteles scheint hier Probleme zu haben, was sich darin zeigt, dass er den Glauben Platons an ein vom Leib getrenntes Sein der Seele ablehnen zu müssen meint. Die Wahrheit über die Gesamtperson ist tatsächlich zu trennen von unserem Meinen über sie. Die Frage nach der wirklichen aretē etwa des Sokrates oder nach der wirklichen Bedeutung des Lebens des Jesus ist zu unterscheiden von den vielen Erzählungen oder Mythen über sie. Ihr Sein in der Zeit ihres Lebens ist unabhängig von unserem Glauben, nicht anders als das der Sterne z. B. auch vor der Entstehung der Erde. In eben diesem schwierigen Sinn, der schon weit mehr ist als nur eine von uns konstruierte regulative Idee für eine ethische Erbauung in pragmatischer Absicht, wie Kant zu meinen scheint, gibt es auch die Seele oder die Person z. B. des Sokrates über dessen Tod hinaus. Die Gesamtperson des Sokrates existiert damit als objektiver Gegenstand für geschichtliche Urteile und Wertungen, losgelöst von bloß faktischen Urteilen, auch von seinen eigenen Selbstbeurteilungen. In eben diesem Sinn sind die ›Idealisten‹ Platon und Hegel die wahren ›Realisten‹ im Blick auf die Unterscheidung zwischen unserem je aktualen Meinen über die Welt auf der einen Seite, dem objektiven Sein der Welt auf der anderen, so aber, dass dazu auch die Objektivität all dessen gehört, wer wir als Person in Wahrheit gewesen sein werden. Wir haben also erstens zwischen einem eher noch zufälligen, auch stereotypen ›Glauben‹ und einem vielleicht schon partiell als sehr wahrscheinlich ausweisbaren, dennoch immer
Die Idee der Seele als Seinsform des personalen Subjekts 57 noch endlich-falliblen ›Wissen‹ über den Charakter oder die Seele einer Person wie der des Sokrates zu unterscheiden, damit aber auch zwischen diversen faktischen Erinnerungen an Sokrates. Der Schlussmythos im Phaidon lässt übrigens die Frage nach einer realen subjektiven Weiterexistenz der Seele über den Tod des Leibes hinaus durchaus o=en. Platons Sokrates setzt nicht auf eine reale individuelle Unsterblichkeit im Sinn der Wette Pascals. Sokrates ›wagt‹ seinen Entschluss, nicht zu fliehen, einfach im Vertrauen darauf, dass sich am Ende die Einsicht in die Bedeutsamkeit seiner Überlegungen und Haltungen durchsetzt. Für ihn ist es fast schon eine Frage des persönlichen Gewissens, nicht des Nachruhms, dass er sich dem formal legalen Urteil des Athener Gerichts unterwirft, obwohl er es inhaltlich vehement als falsch angreift. Die sokratischen Reflexionen auf den subjektiven Geist und das Selbstbewusstsein führen in die ethischen Popularphilosophien des Kynismus, Epikureismus, Skeptizismus und Stoizismus. Die hellenistischen Religionen, darunter das pharisäische Judentum, beantworten die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele emphatisch positiv. Ihr Glaube an den Mythos eines Fortlebens nach dem Tod steht sozusagen in einer neuplatonischen Tradition. Platons Analogien und Metaphern werden dabei wenigstens partiell allzu wörtlich gelesen und begründen eben dadurch die Metaphysik des Geistes und der Seele des Christentums und des Islam – was immerhin die Folge hat, dass man an Platons Werken Interesse nimmt und sie in ausreichend vielen Kopien tradiert. 7. Die Idee der Seele als Seinsform des personalen Subjekts Hegels gesamte Philosophie steht in engem Dialog mit Kant, aber auch mit Platon und Aristoteles, insbesondere im Blick auf das, was diese Autoren zu Seele, Geist und Gott zu sagen hatten. In zweiter Linie kommen prominent Leibniz und Spinoza hinzu, in dritter Linie, meist ohne Nennung, Descartes und Hobbes und ihre Nachfolger. Die Erste Philosophie (»metaphysica«) des Aristoteles und sein Buch über die Seele liegen sozusagen die ganze Zeit aufgeschlagen auf Hegels Schreibpult, wie das Schlusszitat der Enzyklopädie zeigt.
58 Einführung In gewissem Sinn stellt sich Aristoteles auf die Seite von Simmias und Kebes im Phaidon. Diese haben Probleme mit der sokratischen Lehre von einer ›unsterblichen‹ Seele, ›abgetrennt‹ vom leiblichen Leben in dessen raumzeitlicher Endlichkeit. Aristoteles unterscheidet dementsprechend an der Seele drei ›Teile‹, die bei Hegel als drei Momente angesprochen sind. Die Seele als Gegenstand der Rede und Reflexion ist formale Trägerin von Kapazitäten erstens des vegetativ-organischen Lebens (1), zweitens der Selbstbewegung animalischer Lebewesen (2) und drittens der vernünftigen Handlungen beim Menschen (3). Aristoteles lehnt mit Recht jede ›performativ‹ gedachte Fortexistenz der Seele über den Tod hinaus ab. Das, worauf wir uns in unseren generischen Reden über die Seele beziehen, ist in seinen drei Grundformen nicht abgetrennt vom Leben und Sein des jeweils endlichen einzelnen Lebewesens. Das Anliegen des platonischen Sokrates, die Sorge für die psychē nicht nur als Sorge für eine im weiteren Leben anwendbare mentale und geistige Fähigkeit zu begreifen, sondern als Sorge für das Leben im Ganzen unter Einschluss einer guten ethischen Haltung zum Sterben, wird von Aristoteles damit praktisch ausgeklammert.51 Die Seele ist bei Aristoteles zunächst aber wie bei Platon die ousia als reale Instanziierung des eidos, also der Idealform, bei Hegel: des Begri=s, des lebenden Organismus seiner Art. Die Art als generisches Gesamt der Instanzen ist schon angesichts der Zeitlichkeit keine Menge vorhandener Dinge. Hegel spricht von »Idee« im Sinne eines realisierten Begri=s – natürlich unter Rückgri= auf Platons Unterscheidung zwischen eidos und idea: Der abstrakte Begri= des Kreises an sich ist als ideale Form in der Geometrie das Eidos des Kreises. Jeweils hinreichend gute Kreisgestalten repräsentieren den Begri= exemplarisch. Hegels Idee ist also Form der Repräsentation 51 Schon für Sokrates und Platon ist eine philosophische Ethik wie später auch für das Christentum immer auch ein Sterbenlernen im Sinn einer Haltung zum Leben im Ganzen, nicht nur zu konkreten Zielen im Leben. Die Arete des Aristoteles verbleibt dagegen weitgehend den Idealen des Kleinadels einer griechischen Stadt verhaftet und zweitens auf Erfüllungen im Einzelleben beschränkt.
Die Idee der Seele als Seinsform des personalen Subjekts 59 des jeweiligen Begri=s. Ein Staat wie Großbritannien oder Preußen repräsentiert damit sowohl den Begri= als auch die Idee des Staates. Dass jeder Staat wie jede endliche Sache dem Begri= nicht gemäß ist, ist reine Tautologie: Begri=e an sich sind immer ideal, kontrafaktische Idealtypen. Keine ihrer Realisierungen ist perfekt, bestenfalls gut genug. Ideen sind exemplarische Instanziierungen von Begri=en. Im Blick auf den Rechtsstaat und die staatlichen Institutionen der Bildung erfüllten z. B. Frankreich und Preußen in und nach der napoleonischen Zeit den Begri= einer res publica besser als das scheinbar fortschrittlichere, in Wahrheit noch lange sozialpolitisch plutokratisch und bildungspolitisch kirchlich verwaltete Vereinigte Königreich. Aus dem Code Napoléon und aus dem Preußischen Landrecht entsteht z. B. das Projekt eines Bürgerlichen Gesetzbuches. Ebenso wichtig waren die kontinentalen Schul- und Universitätsreformen. Als Exporte nach Großbritannien greifen diese dort erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine instanziierte Lebensform kann man als sogenannte erste Ousia mit der Manifestation der Artform im Einzelwesen identifizieren. Die Artform als solche ist die zweite Ousia. Begri=liche Aussagen sagen etwas generisch über das betre=ende Lebewesen an sich, etwa den Berglöwen an sich oder den Menschen an sich,52 also über die Idealform des Eidos oder dann auch die je relevante Normalform der Idea. Die Einzelwesen und ihr Einzelleben für sich manifestieren die Form an sich empirisch-real, also an-und-für-sich. Hegels An-undfür-sich-Sein ist daher das zeitlich und räumlich endliche Sein von Instanzen einer Form. Die zweite Ousia des Menschen ist demgemäß der generische Mensch, dem wiederum der allgemeine Begri= des guten menschlichen Lebens im Sinn einer Vielfalt guter Realisierungen entspricht. Ausgeschlossen sind akzidentelle Privationen, die aber in 52 Michael Thompson, Life and Action, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 2008.
60 Einführung konkreten Fällen immer auftreten können.53 So und nur so sollte man auch das kath’hauto bei Platon und das an sich bei Hegel lesen. Glieder des Leibes eines Lebewesens sind immer schon im Hinblick auf ihre Funktion für das gute Leben des Lebewesens zu bestimmen. Sie entwickeln sich im guten Fall gemäß der Lebensform beim Einzelwesen in je konkreter Ausprägung. Schon Aristoteles bemerkt, dass wir in generischer bzw. eidetischer Rede über den Kreis oder über die Seele eigentlich über den Begri= des Kreises oder der Seele sprechen. Der Begri= als das Eidos oder auch Genos – je nachdem, ob über eine Unterart oder eine ganze Gattung gesprochen wird – ist die Erfüllungsbedingung für Instanzen. Auch wenn der Begri= nur durch einen Ausdruck qua Titel artikuliert ist, ist dessen Bedeutung gerade die allgemeine Bestimmung (›Norm‹) der ausreichend guten Erfüllung dieser Wahrheits- oder Geltungsbedingungen. Im Fall, dass ein Wesen in seiner Entwicklung danach strebt, ein Eidos zu erfüllen, ist zwischen der Wirksamkeit (energeia) seiner Art-Form und einer teleologischen Verwirklichung von Normalfallbedingungen (entelecheia) zu unterscheiden: Die Erfüllung der Form ist das Ziel, telos. Die Entelechie ist also bei Aristoteles normale Verwirklichung, in der eine Vollzugsform bei Erreichen des Ziels normalerweise bzw. im guten Fall endet.54 Im Fall von Pflanzen zeigt sich die Entelechie in der Form der natürlichen Entwicklung des Wachsens. Bei Tieren zeigt sie sich in den 53 In ihrem logischen Status konkret analysiert werden die entsprechenden generischen Redeweisen und die logische Form der Steresis, der Privation (nach Met. V, 1022b =. und VII, 1032b) in den Arbeiten von Michael Thompson und Sebastian Rödl. Vgl. dazu insbesondere Sebastian Rödl, Kategorien des Zeitlichen. Eine Untersuchung der Formen des endlichen Verstandes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. 54 Die Übersetzung von »ousia« durch »substantia« war für das Verständnis generischer Gegenstände logischer Reflexion nicht gerade förderlich. Die sich als ›erste‹ ousia manifestierende Wesensform ist zwar das zeitallgemein Bleibende der Art-Form oder ›zweiten ousia‹, aber damit gerade keine sto=liche, materielle, ›Substanz‹. Eine generische Zielorientierung ist auch nicht einfach momentane Realität, so dass man »entelecheia« besser nicht durch »actualitas« hätte übersetzen sollen.
Die Idee der Seele als Seinsform des personalen Subjekts 61 Formen tätiger Selbstbewegungen, wie sie ihrerseits auf das Ziel des guten Weiterlebens ausgerichtet sind. Die besondere Entelechie des Menschen zeigt sich im vorbedachten Handeln. Hier ist das Ziel oder Telos zum Teil schon als subjektiv erfasster Zweck vorab symbolisch, vorzugsweise sprachlich, repräsentiert. Aristoteles glaubt keineswegs, es gäbe eine mystische causa finalis, einen Zweck im Weltlauf oder im Sein der Dinge. Wohl aber weiß er, dass wir die lebende Natur nicht ohne Bezugnahmen auf einen generisch-zeitlichen Verlauf mit intrinsischen Endzuständen begreifen können.55 Man denke an die Unterschiede der Prozessformen im Wachstum vegetativen Lebens, im zielorientierten Verhalten von Tieren und dann auch im zweckgerichteten Handeln der Menschen. Dabei sind die subjektiven, selbstgesetzten, expliziten, endlichen Zwecke in einem einzelnen menschlichen Leben von dem Ziel, ein gutes Leben insgesamt zu führen, zu unterscheiden. Hier wird die sokratische psychē relevant, nämlich als Sein zum Tod, wie sich Heidegger ausdrückt. Aber Aristoteles geht so wenig wie die Aufklärung und Moderne darauf ein, wohl in der Meinung, es gäbe nur einen subjektiven Sinn im Leben. Die Fähigkeit, eine Form zu verwirklichen, heißt bei Aristoteles dynamis. Sie ist Vermögen, Macht, und unterscheidet sich von der Energeia insofern, als diese nur erst Disposition, latente Kraft, ist, die sich in der Aktualisierung der Form unter entsprechenden Normalfallbedingungen zeigt. Das instrumentelle Beispiel eines guten Schuhs wird schon von Platon exemplarisch diskutiert. Das Telos des Lebens liegt dagegen rein in diesem selbst, also in der möglichst guten Instanziierung des Begri=s bzw. der Artform. Ein gutes Leben ist Endzweck und wird von Aristoteles als eudaimonia besprochen. 55 Die verbreitete Ansicht, es gäbe ›eigentlich‹ keine Teleologie in der Natur, hat schon ein Problem mit dem Wort »eigentlich«. Sie widerspricht z. B. im Fall der Tiere den o=enbaren Phänomenen ihrer umsichtigen Sorge für den Nachwuchs. Aristoteles und Hegel erkennen daher, dass die Teleologie der Entelecheia als generische Seinsform der Gattung zu begreifen ist, die sich im Einzelleben manifestiert. Würde der Darwinismus nur diese Einsicht vertiefen und verbreitern, wäre nichts an ihm auszusetzen.
62 Einführung Des Weiteren ist dann noch eine bloß abstrakte Möglichkeit zu unterscheiden, das endechomenon, das bloß als möglich Geglaubte; endechomai heißt ja: als wahr annehmen, glauben, für möglich halten. Jetzt haben wir die begri=lichen Bestandteile beisammen, um die aristotelische Begri=sanalyse der psychē oder Seele rekonstruieren zu können. Im Grunde ist die Seele die beständige Form von ēthos und prāxis, der Lebensform des Tieres oder der Gesamtheit der Praxisformen der Menschen. Diese Formen geben als solche einen Maßstab des Guten für das einzelne Leben und die einzelnen Verwirklichungsversuche ab. Eine Vollzugsform ist zugleich Dynamis und Energeia, nämlich im prozessinternen ›Streben‹ nach Verwirklichung der normativen Form des ›normalen‹ oder ›guten‹ Lebens. Dabei unterscheiden wir die Prozessformen des vegetativen Lebens überhaupt, des animalischen Lebens und eines personalen oder geistigen Lebens. Damit verstehen wir auch die berühmte Definition der Seele bzw. der Verbindung von Seele und Körper bei Aristoteles: Die Seele sei entelecheia hē protē somatos physikou organikou, wörtlich: »erste Vollendung eines natürlichen, organischen Körpers«.56 Inhaltlich besagt das: Die Seele ist die basale Tätigkeit der Verwirklichung des Ziels, ein gutes Leben zu führen, instanziiert jeweils in einem natürlichen, mit Organen versehenen Körper. Tierkörper und Tierseele bzw. der Leib des Menschen und seine Seele stehen demnach im Verhältnis von Möglichkeit zu Wirklichkeit: Der bloße Körper lebt bloß dynamei, der Möglichkeit oder dem Vermögen nach. Die relative Unversehrtheit seiner lebenswichtigen Teile ist notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Fortführung eines laufenden Lebensprozesses. Als Leichnam ist der Körper (fast) noch die gleiche materiell geformte Figur; aber der autopoietische Prozess des Lebens ist zu Ende; er kann, nach allem, was wir wissen, 56 Aristoteles, Über die Seele, in: Philosophische Schriften 6, Hamburg: Meiner 1995, S. 29 (übers. W. Theiler / H. Seidl) = De anima 412b 5–6. Nach Met. VII, 1055b ist die Seele das »begri=liche Wesen und die ArtForm und das Sosein für den so und so bescha=enen Leib«: Aristoteles, Metaphysik: Philosophische Schriften 5, Hamburg: Meiner 1995, S. 152 (übers. H. Bonitz / H. Seidl).
Die Idee der Seele als Seinsform des personalen Subjekts 63 nicht wieder gestartet werden. In gewissem Sinn verhält sich daher der lebendige Leib zum Leichnam begri=lich wie eine Statue zu ihren sto=lichen Bestandteilen, also zu Stein oder Gips. Dabei ist schon für die Entwicklung einer Pflanze aus einem Samen klar, dass nur dann, wenn genügend Wasser und Sonne hinzukommen und sonst alles gut geht, die Pflanze gut wächst. Leben ist Verwirklichung oder Instanziierung einer Lebensform im Gesamtkontext von allem Leben auf der Erde. Es ist nur ein Bild, wenn man dabei von der Verbindung des Leibes mit der Seele spricht. Die Seele wird in diesem Bild formal zum Subjekt des Lebens. Genauer, in ihr als Reflexionsgegenstand verdichten wir alles holistische Streben nach ›guter‹ Verwirklichung einer Lebensform. Die Grammatik als Form unseres Redens legt es nahe, der Seele ganz allgemein Begehrungen und Spürungen von Befriedigungen zuzuschreiben. Dabei berufen wir uns auf Selbsterfahrungen. Die Seele wird so von einem allgemeinen Bewegungs- und Lebensprinzip bzw. einer ganzheitlichen Redeform zu einem punktförmig vorgestellten Träger von mentalen und geistigen Fähigkeiten des Fühlens und des Denkens – so ähnlich, wie man sich Massepunkte in einem mechanischen Modell vorstellt. In der Rede von der Vegetativseele geht es aber bloß erst um das Gesamtsystem des Sto=wechsels, das Wachsen und die Ernährung eines organischen Wesens. Die animalische Sinnenseele ist im Wesentlichen das System der sensitivity, der enaktiven Perzeptionen (wie u. a. Alva Noë sagt)57 im Gesamtprozess der Selbstbewegungen eines Tieres. Die enaktiv perzipierende animalische Seele ist mit der Möglichkeit verbunden, Schmerzen zu erleiden oder einfach etwas zu empfinden. Die Geistseele, der nous, besteht – wie Hegel genauer sehen wird – erstens aus dem Verstand als der Fähigkeit des Erkennens und der Reproduktion von Schemata des (sprachlichen) Verhaltens und Handelns und zweitens freier Vernunft. Diese ist potentiell unendliche Reflexion auf das, was allgemein als ›richtig gesetzt‹ ist, also gelehrt und gelernt wird, und auf die besonderen Anwendungen aller bloß erst idealen Formen auf empirische Einzelfälle. Wie beim Begreifen des Inhalts von Metaphern braucht es dazu erfahrener Urteilskraft. Denn 57 Vgl. Alva Noë, Action in Perception, Cambridge/Mass: MIT Press 2004.
64 Einführung es müssen Unwesentliches und nicht intendierte Inferenzen ausgeschlossen werden, bevor man eine relative Wahrheit oder Falschheit beurteilen kann. Die Unendlichkeit der Reflexion ergibt sich insbesondere aus der Unendlichkeit anderer Perspektiven als der je meinen hier und jetzt. Trotz der punktförmigen Art, über die Seele als Gegenstand zu sprechen, ist diese bei Aristoteles wie bei Hegel das ganze Lebewesen ›als beseeltes‹, d. h. als lebend. Die folgende Überlegung lässt sich so als Auseinandersetzung mit Platons Dialog Phaidon bzw. dem Alkibiades lesen: Nach Platon bestehe, meint Aristoteles, jeder Mensch aus einer abtrennbaren Seele und einem von dieser Seele getrennten Leib. Es handele sich dabei aber nur um eine formale Trennung nach Art des Unterschieds von Leben und Lebendigkeit, geistigen Handlungen und Geist bzw. Stumpf- oder Stülpnase und Stumpf- oder Stülpnasigkeit (Met. 1025b und 1030b). Immer gelte: Nimmt man (hier und überall) das konkret Existierende (die erste ousia und die dingliche Materie, den Sto=) weg, so gibt es auch die eidetischen Eigenschaften, Relationen und Prozesse nicht mehr (Met 1026a). Das gelte auch für das Verhältnis von Leib und Seele als allgemeiner Form des Lebens, aber auch von denkendem und begehrendem Nous und dem Leib. Daher seien die Seele und der Begri= der Seele ganz dasselbe; der Mensch und der Begri= des Menschen seien dagegen nicht dasselbe, es sei denn, man spricht vom Menschen qua abstrakter Person oder Seele. Spinoza wird die holistische radikale Innerweltlichkeit des Aristoteles neu entdecken, wie sie für Hegel zentral wird. Wir müssen diese unbedingt von einem so genannten Naturalismus unterscheiden, da die nicht durch Denken und Handeln geformte Natur nur ein Teil der ganzen Welt ist. Auch das Leibliche ist nur ein Teilmoment des ganzen personalen Individuums. Wenn Aristoteles daher sagt, dass nur die physis als ein Ganzes die in den vergänglichen Dingen wirksame ousia oder Substanz sei, wird für uns entscheidend, ob man diese physis allgemein genug als wesensbestimmende Seinsform liest. Das phyein steht ja wie das lateinische fui, das englische to be und das deutsche bin zunächst für ein allgemeines Sein und erst sekundär für ein besonderes Leben. Erst an dritter Stelle steht die Verengung der physis auf eine Natur, in der alles von selbst entsteht und für sich selbst Bestand hat – zunächst im Gegensatz zu menschlichen Inter-
Die Idee der Seele als Seinsform des personalen Subjekts 65 ventionen, zum Denken, Handeln und damit zum Geist. An vierter Stelle entsteht die Inkohärenz des Naturalismus, dem zufolge auch das menschliche Denken und Handeln ›natürlich‹ sei, also wie eine Pflanze von selbst wachse – so dass man z. B. nicht mehr zwischen Handeln und Verhalten unterscheiden kann. Man teile die Güter, sagt Aristoteles daher, in drei Klassen ein: in die äußeren Güter, die Güter der Seele und die des lebenden Leibes. Und man nenne diejenigen Güter (Fähigkeiten oder ›Kapazitäten‹), welche die Seele hat, Güter im eigentlichsten und höchsten Sinne. Die Betätigungsweisen und Wirksamkeiten der seelischen Vermögen rechne man der Seele als Besitz zu. Diese seit alters überlieferte und von den Denkern einmütig geteilte Auffassung sei zutre=end. Man dürfe auch ganz bestimmte Betätigungsweisen und Wirksamkeiten als Endzwecke auffassen. So sei die Ausübung geistiger Kapazitäten selbst immer auch eine Art Endzweck, besonders im Bereich der Kunst, Religion, Wissenschaft und Philosophie. Dazu passt auch die Auffassung des Aristoteles, dass, wer Eudämonie besitzt, ein schönes und gutes Leben führt.58 Der Gedanke folgt der orakelartigen Formel des Heraklit »ēthos anthrōpō daimōn«, auf Deutsch: »das ethische Leben ist dem Menschen sein Geist«: Man hat Eudaimonia in dem Maß, in dem das menschliche Ethos erfüllt ist. Die gute Gesamtform personalen Lebens ist beim Menschen also der Daimon oder die Seele. Auf diese hin sind alle Mängel seelischer oder geistiger Krankheiten und andere Formen der Privationen eines nicht bloß akzidentellen Unglücklichseins definiert. Aristoteles unterscheidet dann noch das Erkenntnisvermögen vom Reflexionsvermögen und spricht, o=enbar metaphorisch, von Seelenteilen.59 Außerdem betrachtet er, wie sich die Zeit zu der Seele verhält und dass sich die Zeit in allem Realen findet. Alles Reale bewegt sich ja immer relativ zu anderem Realen.60 58 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1098b = : Philosophische Schriften 3, Hamburg: Meiner 1995, S. 14 =. (übers. E. Rolfes / G. Bien). 59 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1102a–1103a, etwa auch 1119b: Philosophische Schriften 3, Hamburg: Meiner 1995, S. 11 und S. 72 (übers. E. Rolfes / G. Bien). 60 In De Anima (430b) erwägt Aristoteles, ob es die Zeit überhaupt gäbe, wenn die (menschliche) Seele mit ihren ›Zeitsinn‹ (433b) nicht existierte.
66 Einführung Unmittelbar existiert die Seele als Instanziierung einer Art-Form. Der Geist des Menschen existiert daher immer nur im menschlichen Leben. Das zeigt sich in der Form eines Habitus. Im § 389 der Enzyklopädie sagt Hegel daher: Die Seele ist als Form des Lebens kein materielles Ding. Eher meinen wir mit dem Wort die allgemeine Immaterialität der Wesensform des (geistigen) Lebens. Für Hegel sind damit wie für Aristoteles die Seele und der Begri= des Lebens, das Eidos und die Lebensform bei allen Lebewesen mehr oder weniger dasselbe: Der Unterschied ist immer bloß der, dass der Begri= die Form und Elemente oder Teilmomente artikuliert. Die Rede davon, dass die Seele den Leib verlässt, so dass ein toter Leichnam übrigbleibt, beutet also nur, dass das Leben endet. Hegel sagt im § 390, die Seele sei als natürliche Seele das Leben, als fühlende Seele Empfindung und Erfahrung, als wirkliche Seele geistig geformte Leiblichkeit, und ergänzt im § 396: Die Seele als Individuum ist die lebende Person. Ihr sind im Lauf des Lebens unterschiedliche Eigenschaften zuzusprechen. So gibt es z. B. einen natürlichen Verlauf der Lebensalter. Das Fürsichsein der Geistseele als aktualisierte Selbstbeziehung besteht zunächst konkret in Instanziierungen des Bewusstseins: Wenn etwas erinnert wird, dann stammt das nie nur aus bloßer Empfindung oder einem bloßen Gewahrsein wie bei Tieren, sondern setzt schon Teilnahme am geistigen Leben, kurz: am Geist voraus. Verstand und Vernunft aber sind selbst schon verleiblichte Formen des Urteilens und Handelns. Das passt zur Einsicht des Aristoteles, dass sich die Organe gemäß ihren funktionalen Formen in der Entwicklung des einzelnen Lebewesens ausprägen müssen. Analoges gilt für alle seelischen und geistigen ›Empfindungen‹ bzw. ›Gefühle‹: Die »Organe werden in der Physiologie als Momente nur des animalischen Organismus betrachtet, aber sie bilden zugleich ein System der (C f. Über die Seele, in: Philosophische Schriften 6, Hamburg: Meiner 1995, S. 77 und S. 85.) Das Problem entsteht auch aus einer Ambiguität der Rede von der Zeit als Zahl der Bewegung. Denn Zahlen gibt es tatsächlich nur in einer Praxis des Zählens. Vgl. dazu Aristoteles, Physik. Vorlesung über die Natur, Buch IV, Kap. 10–12 (217b- 222a), in: Philosophische Schriften 6, Hamburg: Meiner 1995, S. 101–113.
Die Idee der Seele als Seinsform des personalen Subjekts 67 Verleiblichung des Geistigen und erhalten hiedurch noch eine ganz andere Deutung.«61 Hegel erwähnt dann noch: »Für Empfindung und Fühlen gibt der Sprachgebrauch eben nicht einen durchdringenden Unterschied an die Hand«62 und sagt im § 403, das fühlende Subjekt (Hegel spricht hier leider vom Individuum) sei einfache Idealität, also Subjektivität, des momentanen Empfindens. Das fühlende Subjekt habe eine andere ›Substantialität‹ als der Körper. Diese sei nämlich in die Befriedigung oder Erfüllung von Bedingungen an sich als Subjektivität gesetzt. Im Fühlen nehme sich das seelische Wesen allererst in Besitz und werde zur Macht seiner selbst. Zentral für das Verständnis der Rede über Idealität ist dann noch der folgende Satz: »Nirgends so sehr als bei der Seele [der Tiere, PS] und noch mehr beim Geiste [des Menschen, PS] ist es die Bestimmung der Idealität, die für das Verständnis am wesentlichsten festzuhalten ist«.63 Denn diese Idealität ist Negation des bloß Reellen – in der Abstraktion des reflektierenden Urteils, das im guten Fall zur Form einer Sache bzw. ihrem Wesen und Begri= führt. In unserer Rede über die Seele ist auch die Form der Einheit der Person ausgedrückt, besonders auch als Subjekt meiner Erinnerungen. Dabei haben Locke und Hume (und mit ihnen etwa auch Derek Parfit) bekanntlich die Einheit des Gedächtnisses überbetont, wenn auch aus verständlichen Gründen. Denn wenn wir uns nicht an unser angebliches früheres Leben erinnern, wird die Rede von einer innerweltlichen Seelenwanderung sinnleer. Dasselbe gilt aber auch für andere Vorstellungen von einer unsterblichen Seele. Hegel anerkennt einerseits die formal beliebige gedankliche Teilbarkeit von Individuum und Person etwa auch in zeitliche Phasen, argumentiert anderseits gegen die Auflösung der Person in eine willkürliche Vielzahl von ›Teilen‹, und zwar gerade aufgrund der einfachen Einheit des leiblichen Lebens des Individuums: »[A]ber Ich bin da- 61 § 401; vgl. dazu auch die weiteren Ausführungen im Textkommentar unten. 62 § 402. 63 § 403.
68 Einführung rum doch ein ganz Einfaches, – ein bestimmungsloser Schacht, in welchem alles dieses aufbewahrt ist«.64 Hegel fährt im § 409 fort: Die Seele sei der existierende Begri=. D. h., sie ist als die sprachlich zum Zweck der Reflexion konstituierte Trägerin meiner real verleiblichten, aber begri=lich (und pädagogisch) vermittelten geistigen Fähigkeiten zu begreifen. Die Seele sei als individuelle die gesetzte Totalität ihrer besonderen Welt, gegen die sie sich nur zu sich selbst verhält. Ich bin also meine Welt und verhalte mich zu mir, indem ich mich zur Welt verhalte. Das sieht, wie schon gesagt, auch Wittgenstein im Tractatus (TLP 5.63) so. Die Seele als Selbstgefühl ist damit nichts Anderes als das Gesamt meiner Gefühle. Mit dem Ausdruck »das Selbst« drücken wir aber immer auch das Gesamt aller formalen Beziehungen auf uns selbst aus. Hegel spricht von ›Idealität‹ und ›formeller Allgemeinheit‹. Damit zeigt sich, so der § 409 weiter, wie die Verbindung von allgemeinem Geist und individueller Verleiblichung konkret zu begreifen ist. Allgemeine Begri=e werden in einzelnen Anschauungen exemplarisch präsentiert und durch spontan herstellbare symbolische Vertreter wie z. B. in Sprechhandlungen repräsentiert. Ich bin für mich »seiende Allgemeinheit« qua Instanziierung der generischen Art- oder Seinsform einer Person. Dieses besondere Sein der Seele ist Moment ihrer Leiblichkeit. Das ist eine Aussage zu einem gesamten System von Identitäten im Blick auf Leib bzw. Individuum, Seele bzw. Subjekt und Person bzw. Persönlichkeit. Alle diese Identitäten sind zwar durch die Leibidentität des lebenden Individuums von der Geburt bis zum Tod vermittelt. Aber die aktualen Erinnerungszusammenhänge bestimmen dabei z. B. nur ein Moment. Die Seele ist für sich sogar nur die »subjektive Substantialität dieser Leiblichkeit« im Selbstgefühl. »Dieses abstrakte Fürsichsein der Seele in ihrer Leiblichkeit ist noch nicht Ich, nicht die Existenz des für das Allgemeine seienden Allgemeinen.«65 Das heißt nach meinem Lesevorschlag, dass zwischen der Rede über die Seele qua präsentischem Subjekt-Sein und der Rede über mich als Gesamtperson, die ich gewesen sein werde, zu unterscheiden ist. Als Subjekt 64 65 § 403. § 409.
Die Idee der Seele als Seinsform des personalen Subjekts 69 bin ich jeweils der, welcher performativ Handlungen, darunter auch Sprechhandlungen, gerade vollzieht.66 An anderer Stelle schreibt Hegel: »Die Sensibilität kann somit als das Daseyn der in sich seyenden Seele betrachtet werden, da sie alle Aeusserlichkeit in sich aufnimmt, dieselbe aber in die vollkommene Einfachheit der sich gleichen Allgemeinheit zurückführt.«67 Und im § 410 sagt er, die Gewohnheit sei mit Recht eine zweite Natur genannt worden. Sie sei Natur, denn sie sei unmittelbares Sein. Sie sei zweite Natur, denn sie sei eine im Selbstgefühl und damit von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit. Hegel spricht explizit von einer Durchbildung der Leiblichkeit. Die Gefühle sind sozusagen verleiblichte Signale für die Erfüllung oder Nichterfüllung von Formen – und so die Verleiblichungen von Vorstellungs- und Willensbestimmtheiten. Wir dürfen uns nun aber insbesondere das Wollen nicht zu lokal vorstellen, sondern müssen es holistisch im Blick auf die Gesamtperson begreifen. In diesem Punkt beginnt Hegel, sich von Aristoteles abzustoßen. Denn das Wahre ist immer das Ganze. Das heißt für den Willen im Unterschied zum Begehren und Wünschen dieses: Im Wollen sorgen wir selbstbewusst nicht nur dafür, wer wir sein werden, sondern auch, wer wir gewesen sein werden. Ich will daher, so sollten wir das Wollen verstehen, immer das, wofür ich bewusst handelnd sorge, nicht schon das, was ich momentan wünsche. So sorgt z. B. der Schüler zusammen mit dem Lehrer bewusst dafür, dass er später 66 Im § 409 bemüht Hegel folgende Analogie: Wie »Raum und Zeit als das abstrakte Außereinander, also als leerer Raum und leere Zeit nur subjektive Formen, reines Anschauen sind, so ist jenes reine Sein [. . . ] das ganz reine bewußtlose Anschauen, aber die Grundlage des Bewußtseins, zu welchem es in sich geht, indem es die Leiblichkeit, deren subjektive Substanz es [ist] und welche noch für dasselbe und als Schranke ist, in sich aufgehoben hat und so als Subjekt für sich gesetzt ist.« Das heißt erstens: Nur in idealer Abstraktion von allen Relativbewegungen sind der leere mathematische Raum und die leere mathematische Zeit als subjektive Formen oder reines Anschauen zu fassen. Analog dazu ist zweitens das reine Subjektsein nur als formale Abstraktion von allen leiblich vermittelten Besonderheiten zu begreifen. Das gilt auch für das punktförmig vorgestellte Ich, das alle realen Relationen des leiblichen Fürsichseins des individuellen Subjekts sozusagen verschluckt. 67 Wissenschaft der Logik, GW 12, S. 185.
70 Einführung etwas kann. Der Drogenabhängige aber sieht sozusagen partiell bewusst zu, dass er etwas nicht mehr kann. Man sollte daher die eigene Verantwortung für das ganze eigene Leben der Person schon rein logisch nie unterschätzen. Ich bleibe immer wesentlich verantwortlich für die Person, die ich als Wahrmacherin der möglichen zeitallgemeinen Aussagen über mich im Ganzen gewesen sein werde, so dass am Ende ›Entschuldigungen‹, welche die Umstände verantwortlich machen sollen, die Person schon zu einem bloßen Subjekt machen und damit degradieren. Im Wollen habe ich daher sozusagen immer auf mich als ganze Person zu blicken, nicht nur als Subjekt im Tun und Wünschen hier und jetzt. Wollend gebe ich mir den Inhalt p, für den ich tätig sorge. Mein Wille im Handeln sorgt dafür, dass p – da er nichts ist als das vorsätzlich-absichtlich Tun selbst, das etwas, also non-p, mehr oder weniger sicher ausschließt. Wenn ich darangehe, den Begri= des freien Wollens in seiner »äußerlich objektiven Seite zu realisieren«, also durch mein Tun dafür sorge, dass die Welt einen von mir bestimmten Zustand Z 3 annehmen soll, habe ich ganz o=enbar eine dreigliedrige »Form von Notwendigkeit« zu berücksichtigen:68 Meinen eigenen Zustand Z 0 samt den subjektiven Empfindungen und Antrieben (auch ›Bedürfnissen‹), die natürliche, handlungsfreie Umwelt Z 1 und das freie Wollen anderer Personen Z 2 . Aus diesen drei Momenten setzt sich die Ausführbarkeit der zweckbestimmten Handlung zusammen. Vor diesem Hintergrund ist bestimmt, inwiefern ich tätig dafür sorgen kann, dass Z 3 (= p) der Fall sein wird (oder wenigstens kann) – oder eben nicht. Die bei Hegel zunächst obskure, weil superdichte Rede, dass der Wille im Ergebnis Z 3 der tätig veränderten Welt »bei sich selbst, mit sich selbst zusammengeschlossen«69 sei, steht wohl für die eigene Anerkennung des von mir frei wollend hergestellten Zustandes Z 3 . Dabei sind logisch komplexe Bedingungen oder generische Zustandsbeschreibungen deswegen interessant, weil ich durch mein Tun zumeist nur dafür sorge, dass ›p oder q ‹ bzw. ›wenn nicht-p, dann q ‹ der Fall sein wird. So weiß ich z. B. im Fall eines Verbrechens, 68 69 § 484. § 484.
Die Idee der Seele als Seinsform des personalen Subjekts 71 dass ich, wenn ich erwischt werde, die angedrohte Strafe zu gewärtigen habe. In Hegels Analyse ist es daher ebenso klar wie in Nuel Belnaps, Michael Perlo=s und Ming Xus Analyse der Logik des ›Seeto-it-that-p‹ (kurz: STIT p),70 dass ich als Verbrecher die Strafe zwar nicht wünsche, aber in meinem vorsätzlich ausgeführten und damit für die Folgen verantwortlichen Handeln im vollen Sinn des Wortes für sie frei gesorgt habe und sie in diesem Sinne will. Im Selbstgefühl setzt sich die Einheit von Leib und Geist gegen die Zersplitterung in verschiedene, gegeneinander selbständig vorgestellte Vermögen, Kräfte oder, was auf dasselbe hinauskommt, mögliche Tätigkeiten durch.71 Aber auch mit den Wörtern »Geist« und »Körper«, »Seele« und »Leib«, »Verstand«, »Vernunft«, »Sinnlichkeit« und »Intelligenz« (usw.) heben wir nur Momente im einheitlichen personalen Lebensvollzug hervor.72 Kein Vollzug ist ein Gegenstand – so wenig wie der Regen. Das weiß schon Fichte: Sein und ›Seiendes‹ sind verschieden. Martin Heidegger hat daher ganz recht zu betonen, dass diese Unterscheidung von enormer Bedeutung ist, auch wenn man formal ›gegenständlich‹ über das Sein und seine Formen sprechen kann. Aber diese reflexionslogischen Reden sind wie eine Katachrese ›in sich widersprüchlich‹. Indem man dem Leib die Seele als bloßes Momentansubjekt einer ›verschwindenden Wirklichkeit‹ entgegengesetzt, scheint es so, als sei nur der Körper das Beständige. Andererseits meinte die Rede von der Seele gerade den substantiellen Selbsterhalt des Lebens eines lebenden Körpers, der als bloß physikalischer Körper, als Leichnam, sozusagen sofort verwest. 70 Nuel Belnap, Michael Perlo=, Ming Xu, Facing the Future. Agents and Choices in Our Indeterminist World. Oxford: Oxford University Press 2001. 71 § 379. 72 Vgl. dazu schon G. W. F. Hegel, Di=erenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, etwa in GW 4, S. 13 f.
72 Einführung 8. Die Metapher von der Herrschaft der Seele Was die Leute »Seele« nennen, sagt Hegel im § 411 ganz im Sinn des Aristoteles, ist die durchgebildete und sich zu eigen gemachte Leiblichkeit des einzelnen Subjekts für sich. In einem ganz o=enbar übertragenen Sinn nennt Hegel aber auch die Regierung die ›Seele des Gemeinwesens‹, nämlich als Instanz der Einheit des Volkes. Dabei liefert ein analogisches Hin und Her zwischen Staatsverfassung und Verfassung der Person eine Art Vexierspiel schon für alle Leser Platons, wie dessen Umkehrung des Bildes von der Seele als Beherrscherin des menschlichen Leibes zeigt: Der Leib ist dann der Seele untertan, ihr Werkzeug. Sokrates fragt entsprechend im möglicherweise pseudoplatonischen Dialog Alkibiades I (129c–131a): ›Nicht wahr, seinen Leib gebraucht der Mensch? Und verschieden ist der Gebrauchende und was er gebraucht? Verschieden ist also der Mensch von seinem Leibe. Was also ist der Mensch? Doch wohl das seinen Leib Gebrauchende. Gebraucht den Leib nun etwas anders als die Seele? Die Seele als Selbstbewusstsein also hält uns an, dasjenige kennenzulernen, was uns dazu anhält, sich selbst zu erkennen. Wer daher nur etwas von seinem Leibe kennt, der kennt bloß etwas, das ihm zugehört, aber nicht sich selbst.‹ Zum Verhältnis zwischen Regierung und Bürger antwortet Aristoteles in der Nikomachischen Ethik, indem er das Bild vom Untertanen wie in der Tyrannis angreift: »[W]o Herrscher und Beherrschte nichts gemein haben, da gibt es auch kein Gefühl persönlicher Zusammengehörigkeit, und auch kein Rechtsverhältnis, sondern nur ein Verhältnis wie das zwischen dem Arbeiter und seinem Werkzeug, zwischen der Seele und ihrem Leibe, zwischen dem Herrn und seinem Sklaven.«73Aristoteles fährt fort: »[Z]u dem Unbeseelten gibt es so wenig ein Verhältnis der Zuneigung wie ein Verhältnis des Rechtes, und so auch nicht zu einem Pferde oder einem Rinde, und ebenso wenig zu einem Sklaven, sofern er ein Sklave ist; denn auch da gibt es keine Gemeinschaft. Der Sklave ist ein beseeltes Werkzeug, wie das Werkzeug ein unbeseelter Sklave ist. Zum Sklaven als Sklaven gibt es 73 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1161a (übers.: Lasson). Vgl. auch Philosophische Schriften 3, Hamburg: Meiner 1995, S. 200 f.
Die Metapher von der Herrschaft der Seele 73 also kein Band der Zuneigung, aber wohl zu ihm als Menschen. Denn jeder Mensch, darf man sagen, steht im Rechtsverhältnis zu jedem, der in einer Gemeinschaft des Gesetzes und des Vertrages zu stehen die Fähigkeit hat; somit ist auch die Möglichkeit eines Bandes persönlicher Zuneigung gegeben, sofern der Sklave ein Mensch ist. Auch in der Tyrannis also ist das Band der Personen und das Rechtsverhältnis beider nur in geringer Stärke vorhanden. Am meisten noch ist es in der demokratischen Verfassung der Fall.«74 Uns sollte hier irritieren, dass nach Aristoteles Herr und Sklave in keinem persönlichen Verhältnis freier gegenseitiger Bindung (›Zuneigung‹) stehen sollen, sondern bestenfalls in einem Rechtsverhältnis (›als Menschen‹). Hier ist das Rechtsverhältnis nicht symmetrisch. Daher ist Hegels Formulierung der Bürgerrechte als allgemeine Menschenrechte so bedeutsam: Als Menschen sind alle im Gemeinwesen rechtlich gleichzustellen. Es kann und darf weder Sklaverei noch andere Ausschlüsse aus der Bürgergemeinschaft geben. Hegel lehnt daher auch jeden Ausschluss jüdischer Mitbürger aus studentischen Verbindungen radikal ab – obwohl freie Assoziationen (›Korporationen‹) prima facie ihre Zugangsbeschränkungen frei setzen dürfen. Diskriminierungen, welche eine Gruppe von Menschen etwa aus ethnischen Gründen aus Kooperationen ausschließt, widersprechen dem – christlichen – Gedanken der Würde des Menschen als Grundlage für die Prinzipien und Normen der Menschenrechte. Aristoteles verteidigt dagegen noch die Sklaverei als politisch-rechtliche Institution. Hegels Überlegung zu Herrschaft und Knechtschaft, Leib und Seele, Staat und Geist lassen sich m. E. nur voll begreifen, wenn man sie als kritische Reaktion auf die Texte Platons und Aristoteles’ liest. Hegel sagt zwar partiell durchaus noch im Geiste von Platon und Aristoteles, dass eben das, was wir im Hinblick auf die Entwicklung der einzelnen Person als deren Bildung ansprechen, das wesentliche Moment der Substanz der Person selbst ist. In der Bildung geht die gedachte Allgemeinheit der humanen Lebensform in die Wirklichkeit über. Diese Form ist die einfache Seele derselben, also der Wirklichkeit des personalen Lebens. Wie das Leben als Person an sich sein soll, wird durch das personale Subjekt anerkannt. Die entsprechende Idee 74 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1161b (übers.: Lasson).
74 Einführung einer menschlichen Kultur wird nur über eine konkrete (Selbst-)Bildung real. Dabei bedarf es einer gegenseitigen Anerkennung von Seele und Leib, Herr und Knecht, Regierung und Bürgerschaft. Die Bürger sind gerade vermöge der Anerkennung der politischen Institutionen und ihren Repräsentanten keine Untertanen (›subjects‹) – lange vor einer direkten Mitbestimmung oder indirekten Mitentscheidung. In der rationellen Psychologie, die abstrakte Metaphysik war, werde die Seele nicht als Geist, sondern als ein nur unmittelbar Seiendes, als Seelending betrachtet. Was es heißt, dass wir die Seele formal als das Innere betrachten, erläutert Hegel am Beispiel von Fällen, in denen wir sagen, dass die Seele oder der Geist aus etwas entwichen ist. Das besagt, dass sich ein Ganzes wie der Staat oder die Kirche auflöst. Das wiederum geschieht dadurch, dass »die Einheit ihres Begri=s und ihrer Realität aufgelöst ist«. Sie »hören auf zu existiren«.75 Entsprechend ist der Mensch, das Lebendige, tot, »wenn Seele und Leibe sich in ihm trennen«.76 Oft wird dann auch das Tote mit der unorganischen Welt identifiziert. Wir sehen damit, dass gerade auch »der Geist, der nicht Idee, Einheit des Begri=s selbst mit sich, – der Begri= [wäre], der den Begri= selbst zu seiner Realität hätte«, »der todte, geistlose Geist, ein materielles Object« wäre: »Wenn aber ein Gegenstand z. B. der Staat seiner Idee gar nicht angemessen [. . . ] wäre«, »so hätten seine Seele und sein Leib sich getrennt«; die Seele »entflöhe in die abgeschiedenen Regionen des Gedankens«.77 Hegels Kritik an der üblichen Metaphysik des Geistes oder der Seele ist heute so aktuell, wie sie immer war. Sie richtet sich insbesondere gegen ein formales Rechnen mit spekulativen Reflexionsbestimmungen oder Titeln wie »Substanz«, »Einheit«, »Immaterialität«, »Form«, auch »Begri=«, aber eben auch »Subjekt«, »Seele«, »Geist«, »Gemüt« oder »Mind«. Wenn man solchen Titeln einfach empirisches Material zuordnet, kommt Unsinn heraus. Man fragt dann etwa, welche Prädikate diesen ›Entitäten‹ so zukommen, dass sie irgendwie mit unseren Wahrnehmungen übereinstimmen. Ein solches Verfahren kommt nicht weiter. Um auf die Formen im eigenen Lebensvollzug Wissenschaft der Logik, GW 12, S. 175. Wissenschaft der Logik, GW 12, S. 175. 77 Wissenschaft der Logik, GW 12, S. 175. 75 76
Die Metapher von der Herrschaft der Seele 75 und damit auf die konkrete Seinsweise des Geistes in leiblich instanziierten Fähigkeiten und ihren Ausübungen zu reflektieren, brauchen wir aber nicht nur die Ausdrucksformen, sondern auch ein angemessenes Verständnis der Logik dieses Gebrauchs. Kants kritische Untersuchungen der metaphysischen Reflexionen der rationalen Psychologie hätten, meint Hegel, noch viel mehr darauf aufmerksam machen müssen, dass die Rede von einem reinen Ich eine bloß formale Abstraktion ist.78 Bei Kant und Fichte tritt das Problem auf, dass das Vollzugssubjekt, das je ich je jetzt und hier bin, hypostasiert wird. Richtig ist nur, dass das Ich als reflexionslogisches Abstraktum ebenso wenig wahrnehmbar ist und ebenso wenig performativ ›ist‹ oder ›lebt‹ wie die Person, die ich gewesen sein werde. Der Ausdruck »das Ich« steht sogar für ganz verschiedene Gebräuche des Wortes »ich« mit ganz verschiedenen Bedingungen des Fürsichseins und des Für-Anderes-Seins, also der Ich-Identität im Unterschied zu einem Nicht-Ich. Je nach Kontext bin ich mein Leib hier und jetzt (1), ein lebendes Individuum von meiner Geburt bis zu meinem Tod (2), ich als Agens oder Subjekt, das gerade etwas schreibt (3), ich als personales Individuum mit gewissen geistigen Fähigkeiten und sozialem Status (4) oder ich als Gesamtperson, die ich nach dem Tod gewesen sein werde (5). Individuum, Subjekt und Person sind damit sozusagen drei verschiedene Dimensionen des Sinns von »ich« und »du«, »mich« und »dir« etc. In Verweisen auf mich als Subjekt im Seinsvollzug ist die relevante ›Identität‹ von mir durch das Prädikat bestimmt, so dass ich mich in der Äußerung »Ich tanze gerade« nur auf mich als gerade Tanzenden beziehe, nicht etwa auf mich, der ich vorher nicht getanzt hatte. Zu den Dimensionen des personalen Individuums gehören Aussagen wie »Ich war Klassensprecher« und »Ich bin Deutscher«, die beide keine Aussagen über meinen Leib sind. Kant unterscheidet dagegen nur das empirische Ich als momentanes Subjekt und das reine Ich, das er als nichtempirisches Ding an sich auffasst und eben damit mystifiziert. Hegels Kritik an der rationellen Psychologie oder Pneumatologie geht weit über Kant hinaus. Dieser wollte das metaphysische Wesen 78 Wissenschaft der Logik, GW 12, S. 192 f.
76 Einführung der Seele betrachten, verkannte dabei aber die logische bzw. grammatische Form der Vergegenständlichungen in unseren Reflexionsurteilen. Ganz analog ist das Missverständnis aller psychologischen und dann auch religiösen Reden, wenn sie als Aussagen über ›Entitäten‹ missverstanden werden, etwa indem man die Unsterblichkeit der Seele »in der Sphäre« aufsucht, »wo Zusammensetzung, Zeit, qualitative Veränderung, quantitatives Zu- oder Abnehmen ihre Stelle haben«.79 Daraus entstehen metaphysische Sätze wie die folgenden: »α) die Seele ist Substanz, β) sie ist einfache Substanz, γ) sie ist den verschiedenen Zeiten ihres Daseyns nach numerisch-identisch; δ) sie steht im Verhältnisse zum Räumlichen.«80 Dabei verwirrt schon der ambige Substanzbegri=. Kant hat zwar einige Dilemmata bzw. Paralogismen als solche aufgedeckt, aber zu ihrer Auflösung sagt er kaum mehr, als dass hier empirische und nichtempirische Bestimmungen vermengt worden seien und »daß es etwas Unberechtigtes sey aus jenen auf diese zu schließen«.81 Hegels Geist ist dann am Ende einfach das generische Subjekt-Objekt der Seinsform eines personalen Wir. Dieses Wir als Gesamt der Humanitas, wie ich vorsichtshalber sage, da das Wort »Menschheit« zumeist nur erst als Menge von Individuen (miss-)verstanden wird, transzendiert nicht nur mich und dich und jede begrenzte Wir-Gruppe. Es ist zugleich der wahre Gegenstand in unseren religiösen Feiern. Die sakralen Liturgien der Religionen feiern also sozusagen an Sonn- und Feiertagen immer unser eigenes gemeinsames personales Leben auf der Erde. Das gilt auch für alle Expressionen der Kunst und dann auch für die Explikationsversuche des Göttlichen und Heiligen in Theologie und Philosophie. Das so genannte Profane gehört zum Werktag. Der absolute Geist ist also die gemeinsame selbstreflexive Gesamthaltung zur Welt und zu uns selbst: »Die wahrhafte Religion, die Religion des Geistes, muß ein solches [sc. Credo], einen Inhalt, 79 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, § 34, GW 20, S.73. 80 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, § 47, GW 20, S. 83. 81 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, § 47, GW 20, S. 83.
Die Metapher von der Herrschaft der Seele 77 haben; der Geist ist wesentlich Bewußtseyn, somit von dem gegenständlich gemachten Inhalt; als Gefühl ist er der ungegenständliche Inhalt selbst [. . . ] und nur die niedrigste Stufe des Bewußtseyns, ja in der mit dem Thiere gemeinschaftlichen Form der Seele. Das Denken macht die Seele, womit auch das Thier begabt ist, erst zum Geiste, und die Philosophie ist nur ein Bewußtseyn über jenen Inhalt, den Geist und seine Wahrheit, auch in der Gestalt und Weise jener seiner, ihn vom Thier unterscheidenden und der Religion fähig machenden Wesenheit.«82 Am Ende der Enzyklopädie erklärt Hegel dann aber eine bloße Religion der Erhabenheit Gottes mit ihrer bloß abstrakten Einheit von Geist und Welt, wie wir sie aus Persien, Indien, Israel und dem Islam her kennen, für unzureichend. Gott wird in ihr einerseits zu einem zeitallgemeinen und doch ortstranszendenten Gegenstand, andererseits zum All und Allwissen. Das Hauptproblem besteht darin, dass das göttliche Perfektionsideal nicht als Form unseres Wissens und seiner unendlichen Erweiterbarkeit und Vertiefbarkeit verstanden wird, sondern ihm so entgegengesetzt wird wie noch bei Kant das Ding an sich der Erscheinung. Wir selbst sind in unserer realen Teilnahme am Wissen und an der Reflexion auf das Wissen göttlich. Das heißt nicht, dass damit jeder Unterschied zwischen unendlicher Wahrheit und real ausreichendem Wissen, also auch zwischen Gott und Person, verschwände. So wie meine Welt nicht schon die Welt ist, so bin weder ich noch sind wir als beliebig umfängliche Menge von Menschen Gott. Hegel will nach dieser Analyse den religiösen Ritus und das Kulturleben keinesfalls durch Philosophie ersetzen. Diese soll nur ihren Sinn im topischen Kontext und holistischen Rahmen reflexionslogisch kommentieren. Philosophie steht damit so wenig in Konkurrenz zu Religion und Kunst wie zu irgendwelchen Sachwissenschaften. Es ist sogar umgekehrt. Die Wissenschaften und dann auch die Theologie bzw. die Religionen halten sich allzu häufig nicht immer streng genug an die sachbestimmten Grenzen ihrer Bereiche. Freilich spricht man häufig auch in der akademischen Philosophie, aber noch weit häu82 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Vorrede zur Zweiten Ausgabe, GW 20, S. 14.
78 Einführung figer im Bereich der Laienreflexionen philosophischer Schriftsteller undiszipliniert über Dinge, die außerhalb des Horizonts der eigenen Expertise liegen. Man beansprucht z. B. eine Richtlinienkompetenz in ethischen und politischen Fragen, die den vernünftigen Rahmen guter Kooperation sprengen. 9. Zur Gliederung der Themen des subjektiven Geistes in Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie Um Hegels Philosophie des Geistes im Allgemeinen, des subjektiven Geistes im Besonderen nachzuvollziehen, ist im Blick zu behalten, dass dabei nur der implizit vorausgesetzte Rahmen geistigen Lebens interessiert. Es handelt sich also um eine Konkretisierung einer Transzendentalphilosophie, der es um die präsupponierten Bedingungen der Möglichkeit eines geistigen, personalen Lebens geht. Die philosophische Anthropologie und Psychologie richtet sich dabei vornehmlich gegen eine Mystifizierung des Geistes im Mentalismus religiöser Mythen und Theologien einerseits, gegen die angebliche Nichtexistenz von Freiheit im physikalistischen Determinismus andererseits. Hegel überlässt dabei alles besondere Wissen den Sachwissenschaften. Die Philosophie des subjektiven Geistes als Reflexion auf die allgemeinen Grundformen der geistigen Fähigkeiten der Einzelsubjekte beginnt mit einer philosophischen Anthropologie kognitiver Grundvermögen. Die grundbegri=liche Reflexion betri=t die Themen einer pädagogischen Lernpsychologie. Besondere Privationen z. B. des Lernens und Empfindens sind aber schon Themen medizinischtherapeutischer Psychologie als Sachwissenschaft, nicht mehr der Philosophie. Es folgt eine Reflexion auf Sache und Begri= des (Selbst-) Bewusstseins. Auch die Kurzversion einer Phänomenologie des Geistes steht in impliziter Auseinandersetzung mit Kants und Fichtes Bewusstseinsphilosophie. Was Hegel unter dem Titel »Psychologie« behandelt, sind Themen geistiger Selbstkontrolle. In der einfachen Reproduktion von sicher lernbaren Schemata und in der leiblich fundierten Kontrolle des jeweils Richtigen durch das Subjekt – auf der Basis von Befriedigungen bzw. Gefühlen des Unbefriedigtseins – liegen die Grundlagen von allem Seelischem und
Zur Gliederung 79 Geistigem. Empraktisch erlernte Schemata der Reproduktion symbolischer Formen des Verhaltens und Handelns liefern allererst die Möglichkeit gemeinsamer Weltbezüge. Denn schon im Zeigen werden Artbestimmungen vorausgesetzt. Die basalsten Ausdrücke sind dabei Nennungen von Arten. Hegel beginnt dementsprechend seine logische Analyse mit einem unterscheidenden Nennen. Wollte man mit einem Benennen von Dingen und einem Prädizieren bzw. behauptenden Aussagen anfangen, zäumte man sozusagen das Pferd von hinten auf. Sowohl präsuppositionslogisch als auch entwicklungspsychologisch kann eine Benennung von Einzeldingen in einer ›Anschauung‹ nicht den Anfang darstellen. Hegel fundiert seine Begri=sanalyse auch konsequent auf basalen Unterscheidungen und ihre spontan reproduzierbaren Artikulationen. Statt wie Herders ›Sprachphilosophie‹ die Eigenheiten regionaler Sprachen hervorzuheben,83 ist Hegels Begri=sund Sprechakttypenanalyse strukturell und translingual, wobei Übersetzungen die relevanten Sinnäquivalenzen vermitteln.84 In der Anthropologie geht es um die ›leibseelischen‹ Voraussetzungen geistiger Fähigkeiten, also um Entwicklungspsychologie, wobei alle geistigen Vermögen a) auf Neigungen, b) Befriedigungsgefühlen c) enaktiven Perzeptionen und dann besonders d) auf Reproduktionen 83 Vgl. Heraklit, Frgm. B 113, B 114 und B 116 (DK). 84 Hegel fokussiert dabei auf die implizit vorausgesetzte ›innere‹ Fähigkeit zur selbständigen Produktion von symbolischen Bildern als prototypischen Modellvorstellungen. Zu diesen gehören dann auch bewusste Explikationen und Vergegenständlichungen durch äußere Zeichen, besonders durch Wörter und Wortkomplexe, darunter auch ›Sätze‹ in einer potentiell gemeinsamen Gesamt-Sprache (langage). Ihr gegenüber fallen die Di=erenzen der vielen Welt-Dialekte, die man als verschiedene »Sprachen« (langues) ansieht, kaum wirklich ins Gewicht. Spätestens seit es immer besser werdende Übersetzungsautomaten gibt, ist diese Einsicht in das allgemeine Wesen der Sprache als System übersetzbarer Begri=e oder als der generische Begri= insgesamt nicht mehr abzuweisen. Philosophie der Sprache ist daher spekulative Logik des Begri=s. Eine Philosophie der Sprache (langue) oder Sprachen (langues) gibt es nicht, pace Herder, es sei denn, man meint nur allgemeine methodische Reflexionen zu den theoretischen und historischen Sprachwissenschaften, welche sich besondere Sprachformen und diverse linguistische Techniken, auch die ›Formalsprachen‹ der Mathematik und Informatik, zum Thema machen.
80 Einführung von allerlei Schemata aufruhen. Zu den Themen einer di=erentiellen Anthropologie gehören dann aber auch die Unterschiede der Begehrungen, individuellen und gemeinsamen Aufmerksamkeiten und Befriedigungen, wie sie für das begri=liche Lernen gemeinsamen Unterscheidens, Verhaltens und Sprechens notwendig sind. Dabei interessiert sich Hegel nicht für Details, sondern für eine das Allgemeine möglichst genau tre=enden Explikation. Der Begri= des Bewusstseins ist dann Thema der Phänomenologie. In der Psychologie geht es um das schon begri=lich informierte Wahrnehmen und Urteilen bzw. um das richtige, vernünftige oder gesunde (sound) Denken. Phänomenologie des Geistes ist bei Hegel die Unternehmung, alle traditionellen (religiösen, theologischen, auch metaphysischen) Mythisierungen des Bewusstseins und Selbstbewusstseins hinter sich zu lassen und die äußeren Erscheinungsformen bewussten bzw. selbstbewussten Verhaltens und Handelns explizit zu machen. Ein Teil dieser Unternehmung betri=t die Unterscheidung zwischen Wachheit (Vigilanz), subjektivem Gewahrsein (Awareness) und schließlich individueller und gemeinsamer Aufmerksamkeit (Attention, ObjektFokussierung, samt der nötigen ›Perspektivenwechsel‹).85 85 Im »Verlauf der Lebensalter« – das ist eine erste ganz allgemeine Unterscheidung der Stufen des Geistes im § 396 – gibt es verschiedene Phasen und Epochen der natürlichen Entwicklung und geistigen Selbstbildung. Das Kind muss sich Formen des Wissens und Könnens aneignen. – Im § 398 unterscheidet Hegel die Vigilanz des Wachseins vom (sozusagen komatösen) Schlaf – als ein Moment des Proto-Bewusstseins. Empfindung (sensation) ist für ihn in den §§ 399 und 400 das, was sich inhaltlich bestimmen lässt, sich aber schon sozusagen unbewusst oder unterbewusst ›in meiner Leibseele befindet‹, wie wir uns seit alters in unserer Reflexion auf dieses Phänomen metaphorisch ausdrücken: »Alles ist in der Empfindung, und wenn man will, alles, was im geistigen Bewußtsein und in der Vernunft hervortritt, hat seine Quelle und Ursprung in derselben; denn Quelle und Ursprung heißt nichts anderes als die erste unmittelbarste Weise, in der etwas erscheint.« Das ist eine Anspielung auf Aristoteles, aber auch auf Leibniz, Hume und Kant, genauer auf die Formel »Nichts ist im Geist, das nicht in der Empfindung gewesen ist«: »N(ih)il est in intellectu, quod non fuerit in sensu.« Hegel dementiert den Satz keineswegs, weist aber implizit
Zur Gliederung 81 Das unmittelbare Selbstbewusstsein des Einzelsubjekts besteht in Befriedigungen bzw. Frustrationen eines Begehrens (§ 426). Es folgen Urteile der Einzelsubjekte über die Erfüllung von allgemeinen Bedingungen – die sich subjektiv ebenfalls in Befriedigungsgefühlen zeigen. Das Teleologische insgesamt ist dabei in der Begri=slogik als besondere Eigenschaft des animalischen Lebens erkannt worden. In der Gegenüberstellung von mir als Subjekt im Vollzug und dem Objekt als Gegenstand meiner praktisch tätigen oder theoretisch etwas aussagenden Bezugnahme steht meine Selbstgewissheit dem bloß äußeren Objekt ebenso gegenüber wie dieses meinem Selbstgefühl. Das allgemeine Selbstbewusstsein ist das der Gemeinschaft. Das reelle Allgemeine der gegenseitigen Anerkennung bedeutet, dass man nicht nur objektive Erfüllungen, sondern auch subjektive Befriedigungen ernst nehmen muss. (§ 436) Alles Bewusstsein ruht damit auf einem Proto-Bewusstsein der Wachheit und des Gewahrseins, der Gefühle und Selbstgefühle, Begehrungen und Befriedigungen, samt unmittelbarer Versprachlichungen im schon unmittelbar reflektierenden Bewusstseinsstrom.86 ›Der Geist‹ als Vollzugsform (des Gebrauchs sprachlich verfassten begri=lichen Wissens) erlaubt durch formale Vergegenständlichung Reflexionen auf praktisch alle Formen des empraktischen Bewusstseins. Niemand kann aber aus seiner Haut heraus. So viel bleibt an auf das Opake des »etwas« und »nicht etwas« bzw. »alles« hin und auf das Vage der Rede von Quelle und Ursprung, die nur auf die »unmittelbarste Weise« verweist, in der uns »etwas erscheint«. Im § 401 findet sich dann explizit das zukunftsweisende Konzept einer damals noch gar nicht existenten Sinnesphysiologie: »Das System des innern Empfindens in seiner sich verleiblichenden Besonderung wäre würdig, in einer eigentümlichen Wissenschaft, – einer psychischen Physiologie, ausgeführt und abgehandelt zu werden.« Erst die Schüler von Helmholtz wie z. B. Wilhelm Wundt und dessen Schüler wie z. B. Oswald Külpe haben dieses Monitum wie auch schon William James aufgegri=en. 86 Der Ausdruck »Bewusstsein« ist seit Christian Wol= Titel für den Bereich mitwissender Reflexion und mitdenkender Kontrolle gefühlsförmiger Intuitionen im Erkennen und enaktiver Begehrungen im Wollen. Das ›animalische‹ oder natürliche (Selbst-)Gewahrsein und die (Selbst-)Aufmerksamkeit bilden die Basis.
82 Einführung Leibniz’ Monadologie und damit an allem methodologischen Individualismus wahr: Es gibt keine unmittelbaren Perspektivenwechsel, auch kein wörtlich zu verstehendes Mitempfinden. Mitfühlen ist immer auch ein Anders-Fühlen; Mitwissen ist ein Anders-Wissen – es sei denn, wir fassen die Inhalte bzw. Begri=e schon allgemein genug, so also, dass nicht zwischen meinem und deinem, unserem und eurem Zugang zu ihnen unterscheiden wäre. Wir müssen daher die Vermittlungen – durch gemeinsame Verhaltensformen in der Joint Attention und ein gemeinsames Sprechen – genauer betrachten. Wie die Wörter »Inneres« und »Inhalt« ist auch die Rede von einem Perspektivenwechsel außer im Fall des eigenen Ortswechsels und der Erinnerung an das Aussehen der Sache von anderen Orten her eine Metapher. Unter dem Titel einer Psychologie behandelt Hegel das, was partiell bewusst durch einen Stream of Thoughts kontrolliert ist, z. B. Wünsche im Unterschied zu Begierden, Handlungen im Unterschied zu unbewusstem Verhalten oder auf begri=lich bestimmte Sachen und Möglichkeiten gerichtete Gefühle im Unterschied zu unmittelbaren Empfindungen und reaktiven Perzeptionen.87 Ein solcher Bewusstseinsstrom spielt schon eine zentrale Rolle für Kants transzendentale Apperzeption; er begleitet das Wahrnehmen durch begri=sbestimmende Urteile. Fällt er aus, sprechen wir von Amnesie. Psychologie als Wissenschaft thematisiert gerade das, was früher »Geistseele« hieß. Sie betrachtet die Vermögen der bewusst anschauenden Bezugnahme auf präsentische Objekte, des repräsentativen, besonders auch sprachlich vermittelten Vorstellens, Erinnerns und dann besonders auch des Übergangs vom Wünschen zum Wollen. Hegels Philosophie des Psychologischen macht sich dabei nur die grundbegri=lichen Unterscheidungen zum Thema (§ 439). Als philosophische, dabei immer logisch-phänomenologische Reflexion sieht 87 In je meinem (Selbst-)Gefühl geht es mir (nach § 403 und § 404) immer darum, meine sinnlich vermittelten Empfindungen und Reaktionen intentional zu steuern und dadurch in Besitz zu nehmen. Dabei müssen wir auf das Metaphorische in allem Reden von einer Innerlichkeit und einer Seele achten. So ist die empfindende Seele explizit »unmittelbar bestimmt, also natürlich und leiblich« (§ 403). »Eine wesentliche Bestimmung in diesem Gefühlsleben, dem die Persönlichkeit des Verstandes und Willens mangelt, ist diese, daß es ein Zustand der Passivität ist« (§ 406).
Zur Gliederung 83 sie zwar von konkreten Inhalten ab, kann sich aber nicht aller »Verwicklung mit einem äußerlichen Gegenstande« entziehen. Es geht ja darum, auf allgemeine Formen zu fokussieren – sagt Hegel im § 440. Dabei thematisiert er unter dem Titel »Geist« (§ 441) das Personsein des personalen Subjekts, vermittelt durch Begri=e, und damit das allgemeine Wissen der Menschheit. Dass je mein Geist endlich ist, liegt natürlich erstens an dem sehr begrenzten Horizont je meiner Perspektive und zweitens an den Grenzen des Gelernten, was meine Teilnahme am Ganzen des Wissens und damit des Verstehens einschränkt. Dass niemand die ganze Wahrheit erfasst, ist kein ›Mangel‹, wie das Kant suggeriert, indem er das kontrafaktische Ideal des Allwissens eines Gottes auf falsche Weise zum Maßstab nimmt, sondern eine absolute Selbstverständlichkeit, ein Truismus. Die Person soll dennoch immer die allzu regionale Perspektive unmittelbarer Kognition, so gut es geht, transzendieren. In der Praktischen Vernunft geht es um die Teilnahme an gemeinsam als gut bewerteten Handlungsformen. Dabei ist Hegel weit davon entfernt, die Bedeutung enaktiver, empraktischer und eben damit gefühlsmäßiger Kontrollen zu unterschätzen. Das Gefühl ist eben daher die »gleichsam präsenteste Form, in der sich das Subjekt zu einem gegebenen Inhalte verhält« (§ 447). Man kann es nicht besser sagen. Im Gefühl des Befriedigtseins oder Unbefriedigtseins auch mit unseren eigenen Urteilen reagieren wir also auf Perzeptionen und Einfälle. Da dieses alles holistische Prozesse sind, kann das Gefühl sogar, wie Hegel betont, »gediegener und umfassender sein« als »ein einseitiger Verstandesgesichtspunkt« (§ 447). So viel Rationalismuskritik muss sein. Dabei hatte er allerdings an jeder bloß erst intuitiven Unmittelbarkeit den Mangel an Reflektiertheit kritisiert: Bloßes Gefühl ist immer auch allzu konventionell und damit das Gegenteil von selbstbewusst. Daher ist auch alle Romantik rein subjektiven Sinnverstehens am Ende die Haltung allzu schlichter Gemüter. Substantielle bzw. nachhaltige Inhalte sind durch Denken bestimmt. Anschauung ist gemäß dem § 449 per definitionem eine geistig und nicht nur sensitiv vermittelte Weltbezugnahme in intelligenter, d. h. kompetenter und an einer gemeinsamen Normativität des (ideal) Richtigen ausgerichteten Verbindung zwischen einer Artbestimmung und einer raumzeitlichen Platzierung eines Bezugsgegenstandes. Die
84 Einführung beiden Momente, die dabei zu einer Einheit verbunden werden, sind (gemeinsame) Attention und eine komplexe Praxis des Perspektivenwechsels. Dabei meint Attention eine intentionale Aufmerksamkeit, die auf lokalisierte Gegenstände gerichtet ist, welche in ihrer Art und damit begri<ich schon als bestimmt unterstellt sind. Was hier Perspektivenwechsel heißt, definiert das raumzeitliche Außen des Objekts durch äquivalente Zugänge zum gleichen Gegenstand, wobei die Gegenstandsart und damit der Begri= im (glückenden) Normalfall immer, wenn auch zumeist implizit, vorausgesetzt ist. Zeit und Raum sind zwar unter anderem Formen des Zugangs zu äußeren Dingen und Sachen, aber auch der objektiven Dinge und Sachen selbst, die ja ebenfalls zueinander in raumzeitlichen Beziehungen stehen. Das ist klar gegen Kants irreführende Rede von Formen der Sinnlichkeit gerichtet. Das eigene Außersichsein im § 450 ist die gesamte Körperlichkeit. Das Wort »Intelligenz« meint je mich in denkender Aufmerksamkeit sowohl auf mich als auch auf anderes Äußeres. Erst als anschauende Intelligenz ›erwachen‹ wir zur Geistseele und haben es sozusagen nicht mehr nötig, wie Kleinkinder oder Gemütskranke alle Bestimmungen ›nur in uns selbst‹ zu finden.88 Während ein subjektives 88 Nach Hegel verdient Philippe Pinel, der Begründer der wissenschaftlichen Psychiatrie, »höchste Anerkennung für die Verdienste«, die er sich bei der Entwicklung sowohl der Therapie als auch der Suche nach Ursachen psychischer Krankheiten als Privationen eines guten Lebens erworben hat (§ 408). Diese werden insbesondere nicht mehr als Besessenheit durch einen Dämon oder bösen Geist gedeutet. Das Krankhafte kann a) in seiner Leiblichkeit als Mangel an Fähigkeiten, b) in seiner Gefühlsbestimmtheit etwa als Gemütskrankheit, c) als Mangel geistiger Selbstkontrolle zu erfassen sein. (§ 408) Der § 410 betont dann noch die Rolle der Aneignung von Gewohnheit in Erziehung und Selbstbildung zur Person. Durch sie sorgen wir selbst für die Verleiblichung bestimmter Empfindungsreaktionen. Das heißt, dass wir uns di=erentiell bedingte Normalreaktionen aneignen. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass die so eingeübte »unmittelbare Leiblichkeit« in der weiteren Entwicklung »nur eine besondere Möglichkeit« ist. Erwachsene lernen, auf die durch die Situation nahegelegte unmittelbare Reaktion zu verzichten und nur das laut zu sagen, was sie als sagenswert geprüft haben. Bias von Priene zählt zu den sieben Weisen des antiken
Zur Gliederung 85 Vorstellungsbild für sich vorübergehend ist, sagt der § 453, bestimmt gemeinsame Aufmerksamkeit die Zeit und auch den Raum, das Wann und Wo einer Sache. Im Normalfall passen unsere Normalfallvorstellungen zu dem realen Geschehen, auch wenn Zauberkünstler uns gerade wegen unserer Interpolationen nicht perzipierter Bewegungsstücke unsere vermeintlich unmittelbare Anschauung ›austricksen‹ können (vgl. dazu § 456). Auch das, was man üblicherweise höchst vage als »Assoziation der Vorstellungen« anspricht, ist keineswegs eine beliebige Verknüpfung von perzipierten Sachen und Abfolgen, sondern längst schon durch Erziehung, Bildung, gemeinsames Wissen und Sprache kanonisch geformt. Dabei gehören ›bewusste‹ Wiederholungen zu den zentralen Methoden jedes Lernens. Kants Aussage, es handele sich beim Wiedererkennen von Hunden angesichts der verschiedenartigen Gestalten der Hunderassen um eine unerklärlich tiefe subjektive Fähigkeit der Seele, zeigt, dass Kant diese Fähigkeit nicht als gemeinsam stabilisierte holistische Abstraktion versteht, in welcher das normale bzw. erwartete Tun der Hunde und Katzen übrigens weit wichtiger ist als ihr di=erentielles Aussehen. Die in unserer Phantasie durch Einbildungskraft produzierten Bilder sind (im guten Fall) subjektiv anschaulich. Manche von ihnen sind leicht reproduzierbar und können zu nichtnatürlichen Zeichen werden. Wir verbinden diese kanonisch mit dem, was durch sie dargestellt wird. Das mechanische Gedächtnis erweitert die Formen der aktiven Repräsentation von Welt. (§ 458) Man denke dabei gerade auch an die gebundene Sprache von Kinderliedern, Gedichten und Merksprüchen bis zu Volks-Epen. Sie liefern den Gebildeten eine eiserne Ration von ›Wissen‹ gerade in der Form ›auswendig gelernter‹ Merktexte. In der Schriftkultur vollendet sich allererst das sich selbst objektivierende Selbstbewusstsein höherer Intelligenz. Hellas, weil er seinen Landsleuten, denen sozusagen der Gedanke allzu unmittelbar auf der Zunge lag, den Rat gab, vor dem Sprechen erst noch einmal nachzudenken. Analoges gilt für alle unmittelbaren Triebe oder Verhaltenstendenzen. Manche von ihnen kann eine gebildete Person daraufhin prüfen, ob sie dem von ihr wirklich anerkannten Zweck wirklich dient: Das doppelte »wirklich« verlangt eine doppelte Reflexion und Kontrolle.
86 Einführung Der Unterschied zwischen Zeichen und Symbol ergibt sich dadurch, dass man von einem Zeichen sprechen kann, ohne schon zu wissen, was es symbolisiert. In der Beschreibung des Zeichens sehen wir von seinem Gebrauch ab – obwohl etwas nur dann ein nichtnatürliches Zeichen im Unterschied zu einem bloßen Anzeichen ist, wenn es einen symbolischen Zeichengebrauch hat. Manche Symbole liegen schon von der Sache her nahe, während bei rein konventionellen Symbolen eine freiere Willkür der Zeichen herrscht, wie Hegel sagt. Symbole, Zeichen und Sprache drücken aber keineswegs schon fertige Inhalte oder Gedanken aus, die als im Subjekt unmittelbar vorhanden angenommen werden könnten. Repräsentationen von möglichen Anschauungen sind z. B. selbst hergestellte Bilder, besonders aber auch sprachliche Vergegenwärtigungen von Gegenständen und Formen. Dabei werden die Formen des »sinnlichen Inhalt[s]« (§ 458) aufgenommen und mit anderen in eine analogische Beziehung gebrachten Vorstellungen ›kanonisch‹ verbunden. Der Gebrauch konventioneller Zeichen, Zeichenfolgen, di=erentieller, relationaler, auch substitutioneller und inferentieller Strukturen erlaubt es erst, sich im Raum Vorhandenes über das in präsentischer Anschauung Zuhandene hinaus vorzustellen. (Heideggers Wortprägungen werden hier für die Analyse hilfreich.) Erst so können wir uns ›ein Bild‹ von einem durch Dinge und Sachen, auch Bewegungen und Prozesse »erfüllten Raum und Zeit« (§ 458) machen. In den Dimensionen von lautlich-akustischen, visuell-optischen oder dann auch taktil-haptischen Zeichen als Gebilden gebrauchen wir vermöge unserer Intelligenz der Formenerkennung, Formen(re)produktion und Formenzuordnung Zeichenfolgen in realer oder innerlich bloß vorgestellter Anschauung. Wir begreifen diesen Gebrauch als unser Denken. In einer Äquivalentsetzung von Inhalten sprechen wir von Gedanken.89 Dabei werden wie im Fall von Metaphern die »unmit89 Fast alle Unvernunft dieser Welt ergibt sich aus der Unfähigkeit, verschiedenste Ausdrucksformen mit gleichem Thema als im Wesentlichen sinnäquivalent zu erkennen. Eine der Ursachen besteht in einer gewissen unflexiblen, ›undialektischen‹ Humorlosigkeit im Umgang mit figurativen Reden (von der Metapher und Analogie, Metonymie und Parabel über die Katachrese bis zur Ironie). Vernunft muss also immer von nicht so wichtigen
Zur Gliederung 87 telbaren und eigentümlichen« (§ 458) Inhalte getilgt. Es zählen nur noch die durch die kanonisch erlaubten ›Projektionen‹ bestimmten Analogien oder Formgleichheiten als relevant. Dadurch gibt ihnen ein personales Subjekt, das ausreichend gebildet und intelligent ist, »einen andern Inhalt zur Bedeutung und Seele« (§ 458), als er sich im Urbild der Metapher oder in einer bloß gehörten oder wörtlich gelesenen Ausdrucksfolge zeigt. Hegel sagt, dass wir Symbole erscha=en und durch sie unser Gedächtnis entwickeln, das weit über eine bloß enaktive »Erinnerung, auch Vorstellung und Einbildungskraft« (§ 458) hinausgeht. Die Formel, dass Intelligenz »diese ihre Negativität« ist (§ 459), bedeutet gerade, dass wir bei hinreichender Intelligenz den Unterschied einer Fokussierung auf die Zeichen und auf das Bezeichnete, dann aber auch die Mischformen im Fall von Gleichungen beherrschen. Bloße Gefühlsausdrücke durch Töne wären bloß erst Teil einer Signalsprache. Bestimmte Vorstellungen lassen sich nur in gegliederter Rede artikulieren. Das allgemeine System dieser Gliederungen ist die Sprache. Mit ihren Formen ändern sich die ausgedrückten Empfindungen, Anschauungen und Vorstellungen: Sie werden reflektiert und vergegenständlicht und rücken eben damit in den Bereich der Repräsentationen. Unter dem Titel des subjektiven Geistes ist die Sprache aber nur insoweit Thema, als sie Produkt der Entwicklung und Anwendung von Techniken des Vorstellens bzw. Repräsentierens ist. Was es heißt, etwas über etwas zu sagen, war dagegen schon in der Begri=slogik behandelt worden. Di=erenzen, durchaus auch ›Mängeln‹, des ›wörtlichen‹ Ausdrucks aktiv abstrahieren. Viele Unterschiede zwischen Sprachen, Sprechweisen und Dialekten sind ebenso wie das Aussehen von Menschen rein oberflächlich. Es sollte uns immer um ein relevantes und doch immer auch freies gemeinsames Unterscheiden, Schließen, Werten, Handeln und Leben gehen.

Zweiter Teil: Naturphilosophie Enz. §§ 245–376
Hegels Einleitung in die Philosophie der Natur Betrachtungsweisen der Natur 199 199 § 245 Praktisch verhält sich der Mensch zu der Natur als zu einem Unmittelbaren und Äußerlichen selbst als ein unmittelbar äußerliches und damit sinnliches Individuum, das sich aber auch so mit Recht als Zweck gegen die Naturgegenstände benimmt. (235)1 Die Natur ist für uns zunächst Umwelt unseres Lebens. Wir verhalten uns zu dieser natürlichen Umwelt unmittelbar im Tun und unterscheiden dabei, was leiblich innerlich und was äußerlich ist, dann aber auch, was am leiblichen Innerlichen als Äußerliches behandelbar ist, etwa durch Zuführung von Nahrung und Flüssigkeit oder Ausscheidung bzw. chirurgische Intervention. Dabei bin je ich selbst als leibliches Individuum für alle anderen und für mich selbst unmittelbar ein äußerer Körper, aber mit enaktiver Perzeption und Sinnesempfindungen. Zunächst haben wir dabei ein absolutes ›Daseinsrecht‹. Wir sind uns selbst, anders als Naturgegenstände, Selbstzweck. Es wäre z. B. widersinnig, im Normalfall zu fordern, dass sich Menschen etwa zum Erhalt nichtmenschlicher Natur aufopfern sollten. Die Betrachtung derselben nach diesem Verhältnisse gibt den endlich-teleologischen Standpunkt (§ 205). In diesem findet sich die richtige Voraussetzung (§ 207–211), daß die Natur den absoluten Endzweck nicht in ihr selbst enthält; wenn aber diese Betrachtung von besonderen, endlichen Zwecken ausgeht, macht sie diese teils zu Voraussetzungen, deren zufälliger Inhalt für sich sogar unbedeutend und schal sein kann, teils fordert das Zweckverhältnis für sich eine 1 Die Zitate und die Seitenangaben an ihrem Anfang beziehen sich auf die Ausgabe von G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hgg. von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler in der Philosophischen Bibliothek, Bd. 33, Hamburg: Meiner 1991, die Seitenangaben am Ende auf die Parallelstellen der Gesammelten Werke, Bd. 20, hgg. v. W. Bonsiepen und H.-C. Lucas, Hamburg: Meiner 1992. Das k markiert Textstücke, die Hegel selbst als Kommentar verstanden wissen will.
235 Betrachtungsweisen der Natur 91 tiefere Auffassungsweise als nach äußerlichen und endlichen Verhältnissen, – die Betrachtungsweise des Begri=s, der seiner Natur nach überhaupt und damit der Natur als solcher immanent ist. (235) Unsere Betrachtung der Natur ist sowohl im technisch-pragmatischen Zugang der experimentellen Naturwissenschaften als auch in den kosmologischen Rekonstruktionen der Genealogie oder Entstehungsgeschichte der gegenwärtigen Welt implizit längst schon teleologisch verfasst. Im ersten Fall zeigt sich Natur im Können, der Herstellung von Prozessverläufen, den Grenzen der Machbarkeiten und den bedingten Prognosen. Im zweiten Fall wird die Naturgeschichte notwendigerweise so erzählt, dass sie auf unsere heutige Welt als das Ende (also das Telos) und damit als Ergebnis zuläuft. Daraus folgern manche unmittelbar, das Ende oder Ergebnis sei von einem Gott oder der Natur selbst beabsichtigt gewesen. Eine solche Rede über eine Naturabsicht ist unbedingt zu vermeiden. Es gibt keinen Zweck in der nichtmenschlichen Natur. Andererseits stellen wir die Geschichte immer, mit begri=licher Notwendigkeit, von ihrem je gegenwärtigen Ende her und damit auf dieses hin dar. Die Folge ist, dass sie als evolutionäre Höherentwicklung und damit als Fortschrittsgeschichte erscheint. Denn alles, was wir wissen und können, ist ihr Ergebnis. Das birgt Gefahren der Trivialisierung, wenn man die Themen falsch variiert, wie im folgenden Beispiel: Gott hat das Schaf erscha=en, damit der Mensch seine Blöße bedecken und an Ostern Lamm essen kann. Der wahre Fortschritt besteht zunächst nur in den Stufen der Natur vom Einzeller über die Pflanzen zu den Tieren und von den Tieren zu uns Menschen, dann weiter darin, dass unsere Kriterien des verständigen Unterscheidens und die Formen des vernünftigen Schließens und Handelns als Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung zu begreifen sind. Die Bilder von einer ›Emanation‹ des Schlechteren aus dem Besseren, des Abfalls von Gott im Paradies oder des Niedergangs nach einem goldenen Zeitalter sind jedenfalls begri=lich verwirrt. Der Versuch, der Vergangenheit bessere Formen des Lebens oder des Urteilens und Schließens zuzuschreiben, scheitert schon daran, dass wir, wenn wir die Formen kennen, diese Kenntnis der Vergangenheit zu verdanken haben. Wenn wir sie aber nicht kennen, wird die Aussage inhaltsleer. Die Form dieser Überlegung ist von ungeheurer
92 Hegels Einleitung in die Philosophie der Natur 236 Bedeutung für jedes sinnkritische Nachdenken über transzendentale Präsuppositionen. Was ein Zweck eines Handelns ist und wie er sich von einem bloßen Telos eines Verhaltens von Lebewesen unterscheidet, das im Ganzen des Lebensprozesses als zielgerichtet verstanden werden kann, erfordert außerdem in der Tat eine logisch viel tiefere Auffassungsweise, als sie bisher (also bis zu Hegel) vorliegt. 199 f . § 246 Was Physik genannt wird, hieß vormals Naturphilosophie und ist gleichfalls theoretische, und zwar denkende Betrachtung der Natur, welche einerseits nicht von Bestimmungen, die der Natur äußerlich sind, wie die jener Zwecke, ausgeht, andererseits auf die Erkenntnis des Allgemeinen derselben, so daß es zugleich in sich bestimmt sei, gerichtet ist – der Kräfte, Gesetze, Gattungen, welcher Inhalt ferner auch nicht bloßes Aggregat sein, sondern, in Ordnungen, Klassen gestellt, sich als eine Organisation ausnehmen muß. Indem die Naturphilosophie begreifende Betrachtung ist, hat sie dasselbe Allgemeine, aber für sich zum Gegenstand und betrachtet es in seiner eigenen, immanenten Notwendigkeit nach der Selbstbestimmung des Begri=s. (236) Das Wort »Physik« steht ab dem 19. Jahrhundert wie schon bei Aristoteles »ta physika« im Wesentlichen für das, was früher als »philosophia naturalis« angesprochen wurde – was wiederum »theoretische Naturwissenschaft« bedeutet. So gelesen, gehören neben der klassischen Mechanik auch der damals erst relativ neu entdeckte Elektromagnetismus und dann natürlich auch die spätere Atomphysik zur Physik. Eher aus forschungstechnischen und lehrpraktischen, weniger aus sachlichen Gründen wird die Chemie aus der Physik im engeren Sinn ausgegliedert. Anders steht es mit der Biologie und der Physiologie des Lebendigen. Naturphilosophie als besonderer Teil der Philosophie erhält mit der Etablierung der genannten Sachwissenschaften den einen Teil ihres Themas, mit der Phänomenologie natürlichen Geschehens den anderen. Beide Teile stehen im Interesse selbstbewussten Begreifens des Gewussten. Das verlangt eine topographische Logik der Gegenstandsund Themenbereiche.
236 Betrachtungsweisen der Natur 93 In Physik, Chemie und Biologie geht es um »Kräfte, Gesetze, Gattungen«, aber nicht als »bloßes Aggregat« im Sinne eines aufgezählten Einzelwissens, sondern in der Form systematischer »Ordnungen, Klassen«. Das Wissen von der Natur soll organisiert dargestellt werden. Die dargestellte Natur selbst erscheint dann wie eine große Organisation – am schönsten exemplifiziert in Newtons Gravitationsmechanik. Als spekulative Reflexion auf die Natur im Ganzen und dabei zugleich auf die Naturwissenschaften teilt Naturphilosophie mit diesen den Gesamtgegenstand, betrachtet diesen aber aus der Perspektive der Möglichkeiten und Notwendigkeiten selbstbestimmter begri=licher Zugänge. Von dem Verhältnis der Philosophie zum Empirischen ist in der allgemeinen Einleitung die Rede gewesen. Nicht nur muß die Philosophie mit der Natur-Erfahrung übereinstimmend sein, sondern die Entstehung und Bildung der philosophischen Wissenschaft hat die empirische Physik zur Voraussetzung und Bedingung. (236) Die Themen der Philosophie und ihrer Methode, die Reflexion auf Formen des Denkens und Handelns und auf globale Haltungen zu sich selbst und zur Welt, dann vielleicht auch zu Gott, sind andere als die der empirischen Erzählungen über einzelne Tatsachen und Geschehnisse und die des allgemeinen Wissens der Naturerfahrung und Naturwissenschaften. Dabei anerkennt Hegel als notwendige Bedingung, dass auch alle philosophischen Sätze mit der Naturerfahrung übereinstimmen müssen, aber nicht notwendigerweise mit allen traditionell gelehrten Sätzen der Naturtheorie. Hegels Rückverweis auf die allgemeine Einleitung der Enzyklopädie, die hier nicht besprochen wird, kommentiere ich nicht weiter. Ein anderes aber ist der Gang des Entstehens und die Vorarbeiten einer Wissenschaft, ein anderes die Wissenschaft selbst; in dieser können jene nicht mehr als Grundlage erscheinen, welche hier vielmehr die Notwendigkeit des Begri=s sein soll. – (236) Als Thema und Gegenstand hat die Naturphilosophie die physikalischen Sachwissenschaften und diese die empirische Naturkunde zur Voraussetzung und Bedingung. Andererseits waren für die Entwicklungen der Sachwissenschaften die Entwicklungen von logischmethodologischen Einsichten notwendig. 200 k 200 k
94 200 k Hegels Einleitung in die Philosophie der Natur 236 Es ist schon erinnert worden, daß außerdem, daß der Gegenstand nach seiner Begri=sbestimmung in dem philosophischen Gange anzugeben ist, noch weiter die empirische Erscheinung, welche derselben entspricht, namhaft zu machen und von ihr aufzuzeigen ist, daß sie jener in der Tat entspricht. (236) Ein Thema oder einen Gegenstand an und für sich anzugeben, heißt, den allgemeinen Bereich zu nennen, seine besondere Typik zu bestimmen und dann ggf. auch manche realen Instanziierungen in Raum und Zeit aufzuzeigen. Letztere stehen dann nicht etwa nur in Relationen zu uns hier und jetzt, sondern auch, was Kant wohl übersehen hat, zu allen anderen Dingen und Sachen. Eben darin besteht ihre Objektivität. Es ist noch nicht einmal möglich, nur die Beziehungen von Dingen und Sachen bloß auf mich oder uns zu betrachten. Es ist daher logisch verfehlt, die Eigenschaften der Gegenstände nur aus ihren ›empirischen‹ Beziehungen zu uns erhalten zu wollen, wie das Hume und Kant tun – und wie es bis in den Logischen Empirismus der Analytischen Philosophie führt. Vermeintlich unmittelbare Sinnesdaten lassen sich noch nicht einmal zu einer Menge, geschweige denn zu einem dinglichen Gegenstand ›bündeln‹. Auch sogenannte Qualia sind keine Gegenstände. Sie sind daher weder Elemente von Mengen noch Momente von Gegenständen. Zu den Bestimmungen der raumzeitlichen Relationen zwischen den Dingen und Sachen gehört zwar immer auch unsere eigene Platzierung im Raum und in der Zeit. Das macht den haltbaren Teil in Kants Auffassung von Raum und Zeit als Formen der Anschauung aus. Er besteht darin, dass jede konkrete Bestimmung eines Ortes oder einer Zeit im Hier und Jetzt eines aktualen oder vorgestellten Sprechers fundiert sein muss. Kants Rede von Formen der Sinnlichkeit ist dennoch irreführend. Sie führt nämlich direkt in einen subjektiven Idealismus. Man fasst dabei die Konstitution der Dinge in der Welt bloßer Erscheinungen mit Hume sozusagen als Konstruktion eines Bündels von Qualitäten durch das wahrnehmende Subjekt auf. Man bedenkt nicht, dass Qualitäten oder Prädikate die Gegenstände g schon voraussetzen und die meisten Prädikate P (g ) von Relationen R (g , g ∗ ) her stammen, in denen der Gegenstand g zu beliebigen anderen Gegenständen g ∗ eines gesamten Bereichs G steht. Dieser Bereich ist, wie Hegel erst sieht, bestimmt durch den zugehörigen Begri=. Ein
Betrachtungsweisen der Natur 95 solcher G -Begri= ist z. B. der der natürlichen Zahl(en) in der Arithmetik oder der chemischen Sto=e in der Chemie. Auch Lebewesen, besser: Pflanzen, Tiere und Menschen, bilden solche G -Begri=e. Für jede Wahrnehmung von etwas Bestimmtem ist immer schon eine begri=liche Bestimmung und symbolische Repräsentation der Arten von Dingen und Sachen in ihrer qualitativen Konstitution als Typen oder Formen und in ihrer quantitativen Verfassung als Klassen oder Mengen von Einzelinstanzen in einem G -Bereich vorausgesetzt. Der Buchstabe G verweist auf die Wörter »Genus« oder »Gattung«. Das Argument, dass angeblich auch Tiere etwas Bestimmtes wahrnehmen, zählt deswegen nicht, weil deren Bestimmungen rein enaktiv im Verhalten eingelassen sind. Ihre Perzeptionen sind keine vollen Wahrnehmungen, auch wenn wir die anthropomorphen Übertragungen auf die Empfindungen, perzeptiv bedingten Reaktionen, Triebe und ›Instinkte‹ der Tiere (und Pflanzen) selten genau genug bedenken. Hegels Kritik am Empirismus ersetzt das falsche Bild des subjektiven Idealismus durch die Einsicht in die Verfassung unserer gemeinsamen Gegenstandsbezugnahmen auf der Grundlage von begri=lichen Bestimmungen von Genus und eidetischer Art. Die Gegenstände selbst an und für sich sind dann in der Welt realer Sachen als empirische Instanziierungen begri=licher Allgemeinheiten zu verstehen und stehen daher schon im Rahmen einer gemeinsam verfassten Ordnung von Raum und Zeit. Hegel begreift diese Ordnung ganz mit Recht als Gesamtform sowohl möglicher Bezugnahmen als auch des Vorhandenen selbst. Damit hebt er die im Idealismus Berkeleys, Humes und auch Kants allzu enge Verbindung des Vorhandenen mit einer unmittelbaren Anschauung des Zuhandenen auf, um Heideggers durchaus brauchbare Unterscheidung hier auf eigene Weise anzuwenden. Hegels Bestimmungen von Dasein und Dortsein, der Zeit damals, der Gegenwart jetzt und der teils erwartbaren, teils akzidentellen, in jedem Fall nur modalen und partiell kontingenten Zukunft setzen schon ein begri=liches Denken als einzigen Zugang zu nicht zuhandenen Möglichkeiten voraus. Heideggers Rede vom Dasein verweist dagegen bloß erst auf je meinen Seinsvollzug hier und jetzt. Sie verbleibt daher nicht anders als Kants Anschauung im subjektiven Bereich des eigenen Seins, in der nahen Umgebung des je mir Zuhandenen und einem je bloß aktualen Mitsein mit anderen – nicht anders als im
96 200 k Hegels Einleitung in die Philosophie der Natur 236 methodologischen Individualismus in der Soziologie, auf den wir noch eingehen werden. Dies ist jedoch in Beziehung auf die Notwendigkeit des Inhalts kein Berufen auf die Erfahrung. Noch weniger ist eine Berufung zulässig auf das, was Anschauung genannt worden und was nichts anderes zu sein pflegte als ein Verfahren der Vorstellung und Phantasie (auch der Phantasterei) nach Analogien, die zufälliger oder bedeutender sein können und den Gegenständen Bestimmungen und Schemata nur äußerlich aufdrücken (§ 231 Anm.). (236) Man beachte Hegels Polemik gegen die übliche Rede von Anschauung. Sie führt über vage Intuitionen zu Phantasien und Phantastereien. Aber auch für die Bestimmung eines Gegenstandes reicht ein bloßes Zeigen ohne Artikulation der Art oder des Begri=s dessen, was gezeigt werden soll, im Allgemeinen nicht (sogar nie) aus. Diesen absolut wichtigen Punkt übernimmt sogar Quine (in Word and Object) von Hegel, auch wenn er es nicht explizit so sagt. Daher ist die übliche Berufung »auf die Erfahrung« so verblasen, obwohl sie in dieser Verblasenheit immerhin noch holistisch ist, also auf vertiefte Weise klarmacht, dass Gegenstände nie bloß von mir her zugänglich sein können. Rein subjektive Anschauungen sind als Intuitionen von bloßen Vorstellungen, Phantasien, damit sogar von reinen Denkgegenständen oder gar Phantastereien, nicht unterscheidbar. Begri= der Natur 200 f . § 247 Die Natur hat sich als die Idee in der Form des Andersseins ergeben. Da die Idee so als das Negative ihrer selbst oder sich äußerlich ist, so ist die Natur nicht äußerlich nur relativ gegen diese Idee (und gegen die subjektive Existenz derselben, den Geist), sondern die Äußerlichkeit macht die Bestimmung aus, in welcher sie als Natur ist.
237 Begri= der Natur 97 § 248 In dieser Äußerlichkeit haben die Begri=sbestimmungen den Schein eines gleichgültigen Bestehens und der Vereinzelung gegeneinander; der Begri= ist deswegen als Innerliches. Die Natur zeigt daher in ihrem Dasein keine Freiheit, sondern Notwendigkeit und Zufälligkeit. (237) Welt als Umwelt und als Natur ist zunächst das Andere von mir und uns. Natur ist alles, was nicht in unserer Macht steht. Sie ist zugleich Objekt unseres Erkennens im Sinn des ganzen Bereichs von allem nicht durch unser Handeln beeinflussten Geschehen. Idee ist Natur als Instanziierung ihres Begri=s. D. h., sie ist das Gesamt aller realen Manifestationen von Gegenständen eines ›natürlichen‹ G Bereiches, z. B. der Körperdinge. Sie ist als solche das Andere des Handelns und der Freiheit und unterscheidet sich auch klar von allem bloß erst abstrakt Allgemeinen wie z. B. den Zahlen. Konkret allgemein aber sind ihre Gattungen und Formen, also alle Begri=e, die ›rein‹ auf die Natur Bezug nehmen. Wäre wirklich ›alles‹ Natur, gäbe es schon aus formalen, rein begri=lichen, Gründen keine Freiheit.2 Die Natur ist darum nach ihrer bestimmten Existenz, wodurch sie eben Natur ist, nicht zu vergöttern, noch sind Sonne, Mond, Tiere, Pflanzen usf. vorzugsweise vor menschlichen Taten und Begebenheiten als Werke Gottes zu betrachten und anzuführen. – (237) Die Natur zu vergöttern, ist der in der Einleitung schon angesprochene und ganz am Ende der Enzyklopädie noch einmal aufgegri=ene Fehler des Pantheismus. Er erklärt alles Einzelne für göttlich. Dennoch ist die Natur als Formmoment des Gesamtvollzugs geistigen Lebens ›an sich göttlich‹. Die Natur ist an sich, in der Idee göttlich, aber wie sie ist, entspricht ihr Sein ihrem Begri=e nicht; sie ist vielmehr der unaufgelöste Widerspruch. Ihre Eigentümlichkeit ist das Gesetztsein, das Negative, wie die Alten die Materie überhaupt als das non-ens gefaßt haben. 2 Im Gegensatz zum Reich der Freiheit des Denkens und Handelns steht nicht einfach das Reich der Naturgesetze, sondern das Reich von Notwendigkeit und Zufall. Keineswegs alles, was a posteriori als bestimmt gelten kann, ist kausale;zient determiniert. Ein solcher Kausalismus wäre zeitlogischer Aberglaube. 201 k 201 k
98 Hegels Einleitung in die Philosophie der Natur 237 So ist die Natur auch als der Abfall der Idee von sich selbst ausgesprochen worden, indem die Idee als diese Gestalt der Äußerlichkeit in der Unangemessenheit ihrer selbst mit sich ist. – Nur dem Bewußtsein, das selbst zuerst äußerlich und damit unmittelbar ist, d. i. dem sinnlichen Bewußtsein, erscheint die Natur als das Erste, Unmittelbare, Seiende. – Weil sie jedoch, obzwar in solchem Elemente der Äußerlichkeit, Darstellung der Idee ist, so mag und soll man in ihr wohl die Weisheit Gottes bewundern. (237) Zunächst scheint die dichte Formulierung extrem dunkel. Warum sollte die Natur, wie sie (für sich) ist, ihrem Begri=e nicht entsprechen? Von welcher Art ist der unaufgelöste Widerspruch? – Zunächst gilt trivialerweise, wie oben schon erläutert wurde, dass nichts in der realen, empirischen Welt den Idealbegri= seiner Artform voll und perfekt erfüllt. Alles in der Natur ist endlich. Unendlich oder zeitallgemein existieren nur Formen und andere generisch-abstrakte bzw. begri=liche Gegenstände des reflektierenden Denkens. Einem Begri= voll gemäß sind daher nur ideale, geistige Gegenstände. Wenn man den Gegenstand des Denkens Gottes vor der Schöpfung als Gesamt aller Begri=e an sich begreift, wird Gott sozusagen zum Supermathematiker und Weltarchitekten. Und es erscheint die reale Schöpfung in ihren Mängeln als ›Emanation‹ aus dem vollkommenen Geist Gottes. Die Idee der Natur als ihre Realisierung erscheint dann als göttlich nur so weit, wie sie dem (freilich immer nur von uns vorgestellten) Idealbegri= entspricht. Sie erscheint als mangelhaft, insofern sie das nicht tut. Der Geist (Gottes) wird so zur Instanz einer unendlichen, ewigen, Wahrheit. Die materielle Natur und insbesondere jede endliche Erscheinung scheinen in diesem Blick ›unwesentlich‹, sogar in ihrer Zeitlichkeit ephemer zu sein, nicht eigentlich nachhaltig wirklich und wahr. Die Natur erscheint damit, leicht übertrieben gesagt, als nicht seiend, als non-ens. In der Natur reproduzieren sich die Artformen in der Tat keineswegs sauber, rein, schon gar nie ›ewig‹. Es gibt z. B. privative Mängel wie Krankheiten oder ›Naturkatastrophen‹ wie die einer Kollision mit einem Himmelskörper. Unsere begri=lichen Darstellungen und theoretischen Kausalerklärungen natürlichen Geschehens liefern auch keineswegs eine unmittelbare Abbildung der Natur, sondern sind modellhaft, analogisch zu verstehen. Es bedarf einer eigenen Tech-
238 Begri= der Natur 99 nik guter Projektion auf die erfahrene Natur, wie das auch bei jeder Metapher so ist. Schon von Parmenides wurde die Doxa empirischer Einzelaussagen (also nicht etwa bloß subjektiver Meinungen) gegen die Episteme zeitallgemein lehrbaren Wissens (bei Platon auch als Mathesis der Formen) gestellt. Alle einzelnen empirischen Dinge und Sachen der Natur sind damit als endlich erkannt. Sie entstehen und vergehen, wie schon Heraklit lehrt; und es gibt viele Zufälle und Privationen als Abweichungen von ihrem idealen Begri= an sich oder einer Normalform als Standard. Stehendes Wissen wiederum hat nur Normalformen zum Thema, die als solche zeitallgemein, eben damit aber auch abstrakt sind. Wenn aber Vanini sagte, daß ein Strohhalm hinreiche, um das Sein Gottes zu erkennen, so ist jede Vorstellung des Geistes, die schlechteste seiner Einbildungen, das Spiel seiner zufälligsten Launen, jedes Wort ein vortre=licherer Erkenntnisgrund für Gottes Sein als irgendein einzelner Naturgegenstand. (237 f.) Hegels Kritik an Vanini betri=t das bloß Subjektive und Erbauliche im Pantheismus, dem zufolge jedes einzelne Ding und jede beliebige Sache göttlich sein oder als göttlich betrachtet werden soll. Man geht so am Sinn religiöser Rede und Theologie vorbei. Mancher mag die einzelnen natürlichen Gegebenheiten bewundern. Andere werden dennoch einfach zur technisch-wissenschaftlichen oder praktischen Tagesordnung übergehen. In der Natur hat das Spiel der Formen nicht nur seine ungebundene, zügellose Zufälligkeit, sondern jede Gestalt für sich entbehrt des Begri=s ihrer selbst. (238) Die Rede von einem »Spiel der Formen« der Natur ist durchaus schön und passend, steht dann aber gegen die »ungebundene, zügellose Zufälligkeit« in den einzelnen empirischen Erscheinungen. Man beachte den impliziten Hinweis auf den Unterschied zwischen einer realen Gestalt für sich und dem idealen Begri= als der sich in ihr zeigenden begri=lichen Form an sich. Das Höchste, zu dem es die Natur in ihrem Dasein treibt, ist das Leben, aber als nur natürliche Idee ist dieses der Unvernunft der Äußerlichkeit hingegeben, und die individuelle Lebendigkeit ist in jedem Momente ihrer Existenz mit einer ihr andern Einzelnheit 201 k 201 k 201 k
100 201 k 201 f . k Hegels Einleitung in die Philosophie der Natur 238 befangen; da hingegen in jeder geistigen Äußerung das Moment freier allgemeiner Beziehung auf sich selbst enthalten ist. – (238) Hegels Satz, dass das Leben das Höchste ist, was die »Natur in ihrem Dasein« zu bieten hat, zielt am Ende darauf ab, dass das geistige Leben noch höher steht und als Möglichkeit des Personseins im Bereich aller Personen am Ende die Würde des Menschen ausmacht. Ein gleicher Mißverstand ist es, wenn Geistiges überhaupt geringer geachtet wird als Naturdinge, wenn menschliche Kunstwerke natürlichen Dingen deswegen nachgesetzt werden, weil zu jenen das Material von außen genommen werden müsse und weil sie nicht lebendig seien. Als ob die geistige Form nicht eine höhere Lebendigkeit enthielte und des Geistes würdiger wäre als die natürliche Form, die Form überhaupt nicht höher als die Materie, und in allem Sittlichen nicht auch das, was man Materie nennen kann, ganz allein dem Geiste angehörte, als ob in der Natur das Höhere, das Lebendige, nicht auch seine Materie von außen nähme. – (238) Unter anderem gegen Kants Naturästhetik richtet sich die Kritik daran, menschliche Kunstwerke wie etwa die von Hegel so geliebte Oper oder Gemäldesammlungen (von Dresden bis Wien, von Paris bis Brüssel) natürlichen Dingen (wie Wasserfällen im Berner Oberland) nachzuordnen. Letztere sind, wie sie sind, meint Hegel nüchtern. Nur in Kunstwerken zeigt sich Geist. Dabei ist schon der besondere Blick des Malers oder dann auch Photographen auf die Welt längst Kunst. Das gilt auch für die Betrachtung der Natur als göttlich, von Vanini bis zu heutigen Naturliebhabern. Das ist nicht etwa abwertend zu lesen. Es geht nur darum, das Subjektive, Religiöse und Künstlerische in diesem Blick explizit zu machen. Die Natur bleibe, gibt man ferner als ihren Vorzug an, bei aller Zufälligkeit ihrer Existenzen ewigen Gesetzen getreu; aber doch wohl auch das Reich des Selbstbewußtseins! was schon in dem Glauben anerkannt wird, daß eine Vorsehung die menschlichen Begebenheiten leite; – oder sollten die Bestimmungen dieser Vorsehung im Felde der menschlichen Begebenheiten nur zufällig und unvernünftig sein? – (238) Dass die Natur ewigen Gesetzen gehorche, ist nie wörtlich zu lesen. Es ist in jedem Fall partiell überschwängliche Metapher. In Wahrheit erlaubt sie uns sozusagen nur, Normalverläufe über von uns gesetzte
238 f. Begri= der Natur 101 begri=liche Inferenzregeln auf der Basis passend gewählter Artdifferenzierungen relativ gut situationsübergreifend und damit auch zeitallgemein darzustellen und so Einzelereignisse zu ›erklären‹. Hegel ›verteidigt‹ nicht zuletzt vor diesem Hintergrund die normativen Bedingungen personalen Selbstbewusstseins als höherwertig. Wenn aber die geistige Zufälligkeit, die Willkür, bis zum Bösen fortgeht, so ist dies selbst noch ein unendlich Höheres als das gesetzmäßige Wandeln der Gestirne oder als die Unschuld der Pflanze; denn was sich so verirrt, ist noch Geist. (238) Naive Naturliebhaber freut es nicht, wenn Hegel sogar böse Menschen höher bewertet als jedes schöne Tier. Die Unschuld der Pflanze oder auch noch des Tieres kann sich jedoch gar nicht, wie der Geist, irren oder verirren – so dass auch das Wort »Unschuld« gar nicht passt. Das heißt keineswegs, dass im Umgang mit der Natur alles erlaubt wäre. Es heißt nur, dass die nichtmenschliche Natur aus begri=lichen Gründen keinen Eigenwert hat und haben kann. Ihr Wert ist immer ›von uns‹ gesetzt und muss dann ›von mir und uns‹ anerkannt werden. Dass hier ein generisches Wir von einer bloß begrenzten WirGruppe zu unterscheiden ist, wird uns noch weiter beschäftigen. Man entgeht dem Problem nur scheinbar, wenn man von einer göttlichen Schöpfung spricht, die zu schützen sei, oder, nicht weniger naiv, von einem Eigenwert der Natur. § 249 Die Natur ist als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der andern notwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultiert, aber nicht so, daß die eine aus der andern natürlich erzeugt würde, sondern in der innern, den Grund der Natur ausmachenden Idee. (238 f.) Die uralte Idee der scala naturae, der Ordnung von Stufen in der Natur, ist auf ganz selbstverständliche Weise vernünftig, wenn nur klar bleibt, dass jede unmittelbare, bloß intuitive, nicht spekulationslogisch und damit sinnkritisch reflektierte Sicht von der Seite (eines Gottes) auf Welt, Natur, Geschichte und uns selbst immer ganz und gar irreführend ist. Alle sinnvolle Ordnung läuft auf uns hier und heute zu, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht. So viel ist an Kants antikopernikanischer Re-Zentrierung der Welt in unserem irdischen 202 k 202
102 Hegels Einleitung in die Philosophie der Natur Leben und Wissen richtig. Der Zeitgeist deutet aber die genialen Perspektivenwechsel bei Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton bis heute falsch. Man meint, damit die Welt schon ›rein objektiv‹ zu betrachten. Dabei bemerkt man noch nicht einmal die theoretischen Konstruktionen in diesem ›Blick‹ auf die Welt. Alle Objektivität ist nämlich Ergebnis transsubjektiver Abstraktionen auf der Basis von Perspektivenwechseln, die keineswegs alle die Form der Reise an einen anderen Ort haben. Zwar beginnen Perspektivenwechsel mit dem Ortswechsel, also der Bewegung des eigenen Leibes an einen anderen Ort, wie schon bei Tieren. Aber es kommen gleich auch symbolische Repräsentationen von Möglichkeiten hinzu. Man denke dabei zuerst an ein Sprechen, dann aber auch an ein Malen von Bildern. Zentral wird die Bewertung von Äquivalenzen zwischen Erscheinungen, Bildern und Vorstellungen derselben objektiven Sachen. Objektivität ist gerade dadurch definiert, das gleich gültige oder äquivalente Präsentationen und Repräsentationen einander richtig zugeordnet werden. Die Logik der Gleichheit der Gegenstände lernen wir praktisch und sprachtechnisch als Kinder. Es wäre naiv zu glauben, dass es schon in der Tierwelt entsprechende transsubjektive Perspektivenwechsel gibt. Zu den Stufen der Natur gehört dann z. B. auch die Ordnung der Himmelskörper danach, wie relevant sie für die irdischen Bedingungen sind, die für Leben notwendig sind. Nach allem, was wir wissen, gibt es nur auf der Erde Leben. Fiktiv vorstellen können wir vieles. Hegels implizite Leitfrage aber muss zentral bleiben: An welchen Möglichkeiten müssen oder dürfen wir uns im vernünftigen Urteilen und Handeln orientieren? Wann ›rechnen‹ wir ohne Vernunft nur noch formal mit unserem Verstand – wie gerade auch Kant, der noch überzeugt ist, dass es unendlich viele Gestirne gebe, auf denen sich Leben und sogar geistiges Leben entwickelt habe. Die Unterscheidung zwischen einer rein formalistischen und einer sinnvoll zu beachtenden Möglichkeit betri=t Götter und Geister nicht anders als andere Außerirdische. Wir wissen: Aus der Erde geht Leben, aus dem Leben animalisches Leben und aus dem animalischen Leben menschlich-personales Leben hervor. Das heißt, dass die physischen Bedingungen der Erde ihrer Art nach notwendig für pflanzliches Leben sind und das pflanzliche Leben notwendige Voraussetzung des tierischen Lebens ist. Geist
Begri= der Natur 103 aber gibt es nach allem, was wir wissen, nur aufgrund der besonderen kooperativen Form menschlichen Lebens, also der Entwicklung von Sprache, Wissen und der Sittlichkeit eines humanen Ethos. Es ist sinnlos, diese Grundtatsachen zu bezweifeln. Die Fiktion, es könne auch anderswo so etwas Ähnliches wie irdisches oder gar personales Leben geben, braucht uns schon deswegen nicht weiter zu interessieren, weil der dabei gebrauchte Begri= des Ähnlichen noch ganz und gar unbestimmt ist. In Hegels eigenwilliger Ausdrucksweise meint die Rede von der je nächsten Wahrheit den nächsthöheren bzw. -niederen Seinsbereich in der absteigenden Ordnung Menschenwelt-Fauna-Flora-tellurische Welt (Erde)-Sonnensystem-Kosmos bzw. homo-animal-organum-tellus-cosmos. Warum aber soll dabei die Menschwerdung des Menschen nicht einfach natürlich, also rein physikalisch und biologisch zu erklären sein? Ist das nicht eben der Aberglaube, von dem man meint, dass Charles Darwin ihn widerlegt habe? Doch Hegel hat ganz recht: Es wäre schon verfehlt zu meinen, man könne Leben aus chemischen Sto=mischungen herstellen. Man kann meinen, es könne verschiedene Weisen und Orte einer Urzeugung oder verschiedene Welten mit verschiedenen Urexplosionen usf. geben. Aber das sind bestenfalls romanhafte Phantasien.3 Erst recht bloße Phantasie ist die Vorstellung, es hänge an der relativen Größe des Gehirns, dass Menschen etwas besser als andere Tiere rechnen und damit ›denken‹ können. Man übersieht damit die Besonderheiten der kooperationslogischen und geschichtlichen Entwicklung von Begri=, Wissen und Sprache als Bedingung von Verstand und Vernunft, also Geist. Die Grundtatsache, dass es aus rein logischen Gründen nur eine alles umfassende Welt gibt und geben kann, freilich weder bloß als Erde noch als das gegenwärtige Weltall von bewegten Körpern, muss sich auch in unserem vernünftigen Glauben als Unterscheidung wiederfin3 Zur Frage, ob es ›vielleicht doch‹ mehrere Urzeugungen gegeben haben mag, kann man sich m. E. am Ende auch ganz leidenschaftslos verhalten. Erasmus Darwin, Hegel und Charles Darwin behalten zunächst jedoch erst einmal recht, dass wir nur von einem Stamm des Lebens wissen.
104 202 202 Hegels Einleitung in die Philosophie der Natur 239 den zwischen fiktiv-romanhaften und damit bloß verbalen, fiktionalen oder formalen Möglichkeiten und einem gemeinsam auf der Basis von Wissen als real möglich oder ›wahrscheinlich‹ bewerteten Szenario in der Welt. Diese Welt ist die eine und einzige Realform oder Idee als Einheit von Natur im Sinn eines nichthandelnden Geschehens und Geist als Gesamtheit aller Folgen unseres Handelns. Willkürliche Meinungen dazu sind ebenso wie im Fall der bloß erst formalen Reden über Seelen und Götter rein subjektive Vorstellungen, in denen man sich vom Gemeinschaftsprojekt des Wissens über Möglichkeiten und dem Denken logischer Reflexion absentiert. Ein solcher Rückzug in das rein subjektive Meinen ist Rückzug in reine Privatheit, die Hegel in der Phänomenologie des Geistes als das geistige Tierreich eines bloß solipsistischen, ja autistischen Subjektivismus skizziert.4 Das ist selbst dann so, wenn es in großen Gruppen einen zufälligen oder durch Erziehung erzeugten Konsens gibt, der sich weiterer Kontrolle und Reflexion verweigert. Die Metamorphose kommt nur dem Begri= als solchem zu, da dessen Veränderung allein Entwicklung ist. (239) Natürlich gibt es in der Welt, nicht im Begri=, Metamorphosen der Raupe in eine Puppe und dann einen Schmetterling. Aber die evolutionäre Entwicklung der Arten, wie sie schon Erasmus Darwin vorausahnt, setzt eine begri=liche Bestimmung von Arten aus der heutigen Perspektive unseres Weltwissens voraus. Arten sind dabei immer nur für Epochen definiert, also für eingeklammerte Zeiten. Wie die Einzeldinge entstehen sie und vergehen sie. Dennoch sind Aussagen über Artformen der Form nach zeitallgemein und werden in empirischen Aussagen über sie manifestierende Instanzen (im Prinzip) als bekannt vorausgesetzt. Der Begri= aber ist in der Natur teils nur Inneres, teils existierend nur als lebendiges Individuum; auf dieses allein ist daher existierende Metamorphose beschränkt. (239) Ein Begri= ist ein Eidos, eine Artform, als Klassifikation und Klasse 4 Zum geistigen Tierreich vgl. Pirmin Stekeler, Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar, 2 Bde. Hamburg: Meiner 2014, Bd. 1, S. 1132–1179, besonders S. 1162, 1173 und 1178.
Begri= der Natur 105 mit titelförmiger Nennung (1) zusammen mit einem System von di=erentiell bedingten Normalverhaltungen auf der Sachebene (2), und Normalerwartungen auf der Verstehensebene (3). Der Begri= in der Natur ist das Gesamt natürlicher Artformen. Wir fassen die Formen in der Natur als ihr inneres Wesen auf, das äußere Erscheinungen verursacht. Schon der ganz normale Begri= des körperlichen Dings ist von dieser Art. Systematisch von diesen ›natürlichen‹ Dingen unbedingt zu unterscheiden sind die diversen logischen, abstrakten wie konkreten, Gegenstände, über die wir im Modus des etwas-über-etwas-Sagens sprechen können, nachdem die entsprechenden (sortalen) Gegenstandsbereiche (also Begri=e) mit ihren Gegenstandsgleichheiten (also ihrem Fürsichsein) und prädikativen Relationen (der Kategorie des Für-Anderes-Seins) in ihrer Verfassung (leider zumeist nur unbewusst) vorausgesetzt werden. Den natürlichen Arten von Dingen (auch Lebewesen) und Sachen (die auch materielle Sto=en, Ereignisse oder Prozesse sein können) sind immer schon dispositionelle Normalentwicklungen zugeordnet. Die Elemente von Mengen sind nie basal.5 Es gibt auch keine leeren Begri=e, Gattungen oder Arten von Dingen, Sachen und Gegenständen, sondern nur leere komplexe Prädikat- und Mengenbildungen in solchen Bereichen. Aus eben diesem Grund sind in entsprechender Lesart Aussagen der Form »es gibt Tiere«, »es gibt Zahlen« etc. schlicht a priori, genauer, logisch-begri=lich wahr. Sie besagen grob dasselbe wie »es gibt ein x in dem Bereich der Tiere/Zahlen mit x = x «. So genannte leere Begri=e lassen sich gar nicht definieren, wohl aber leere Prädikate wie z. B. »größer 2, gerade und Primzahl zu sein«. Aussagen wie »es gibt Hexen« und »es gibt Einhörner« 5 Der Unterschied und der Zusammenhang der Auffassung des Begri=s als Genos oder Eidos, als Artform und als strukturiertem Gegenstandsbereich, wird klar, wenn wir den Unterschied beachten zwischen rein relationalen Bereichen, wie z. B. den natürlichen Zahlen, und den Bereichen, in denen die Relationen schon als prozessuale oder dispositionelle Normalentwicklungen zu lesen sind. Im Fall des Lebens etwa der Berglöwen gehören alle Normalfallprozesse von der Geburt bis zum Tod, zum Beispiel die Form der Paarung, zur generischen Struktur der Art, also zur Artform. Der Begri= des Pumas an sich ist dieser strukturierte Bereich im Allgemeinen. Einzelne Berglöwen instanziieren ihn auf je besondere Weise.
106 202 k Hegels Einleitung in die Philosophie der Natur 239 werden nicht einfach falsch, sondern zweideutig, insofern es sie in unseren Mythen (also ›im Himmel unserer Vorstellungen‹) gibt, nicht aber in der realen Welt (›auf der Erde‹). Eine nicht bloß metaphorische Metamorphose gibt es nur in der Entwicklung entweder von Individuen, also etwa im Lernen und den Lebensaltern von Lebewesen, oder von Begri=en resp. Arten als Anpassung ihrer Lebensform. Das bestätigt meine obige Interpretation. Die Ausdi=erenzierung der Arten in der so genannten Evolution ist von anderem Typ, wie wir seit Lamarck und Darwin wissen. Es ist eine ungeschickte Vorstellung älterer, auch neuerer Naturphilosophie gewesen, die Fortbildung und den Übergang einer Naturform und Sphäre in eine höhere für eine äußerlich-wirkliche Produktion anzusehen, die man jedoch, um sie deutlicher zu machen, in das Dunkel der Vergangenheit zurückgelegt hat. (239) Das Ungeschickte der Erzählungen über die »Fortbildung und den Übergang einer Naturform und Sphäre in eine höhere« liegt an der unpassenden Metapher von einer metamorphosenförmigen Entwicklung nach Art eines festen Programms wie bei der Entwicklung von Raupen zu Schmetterlingen. Gerade auch die Form einer genetischen Erzählung post hoc suggeriert einen Blick von der Seite und transportiert damit die falsche Vorstellung, im Aufstieg der scala naturae werde ein Plan oder Zweck verfolgt, der irgendwie von Anfang an in der Natur liege oder ihr von einem Gott vorgegeben sei. Das aber ist reine Träumerei. Nicht rein fiktional ist nur die Rekonstruktion einer Evolution der Arten und einer nicht programmförmigen ›Entwicklung‹ der Lebensformen von Individuen und Gattungen im Blick je von heute her. Einen äußerlichen, ›wirklichen‹, Aufstieg oder Fortschritt in der Natur gibt es also gar nicht. Wer das Hegel zuschreibt, tut das aus eigener Willkür. Hegels eigene Ironie dazu ist kaum überbietbar: Um den Ungedanken eines planförmigen Fortschritts »deutlicher zu machen«, wird die Entstehung des ›Programms‹ »in das Dunkel der Vergangenheit zurückgelegt«. Heute meint man, erst Charles Darwin habe eine derartige Einsicht gehabt. Immerhin erkennt der spätere Nietzsche den Evolutionsgedanken schon bei Hegel. Dabei ist aber zu betonen, dass Hegel den damals im Wort »Evolution« enthaltenen Gedanken eines natürlichen Fortschritts in formalem Gegensatz
239 Begri= der Natur 107 zur »Emanation« nicht etwa verteidigt, sondern beide Bilder, das emanative und das evolutive, als literarische Mythen ablehnt. Der Natur ist gerade die Äußerlichkeit eigentümlich, die Unterschiede auseinanderfallen und sie als gleichgültige Existenzen auftreten zu lassen; der dialektische Begri=, der die Stufen fortleitet, ist das Innere derselben. Solcher nebuloser, im Grunde sinnlicher Vorstellungen, wie insbesondere das sogenannte Hervorgehen z. B. der Pflanzen und Tiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen der entwickeltern Tierorganisationen aus den niedrigern usw. ist, muß sich die denkende Betrachtung entschlagen. (239) Der Natur selbst ist jeder ›Fortschritt‹ absolut gleichgültig. Der schwierige Satz vom dialektischen Begri=, »der die Stufen fortleitet« und »das Innere derselben« sein soll, erinnert nur daran, dass wir eigentlich längst schon wissen, dass und wie die Rede von einem Fortschritt von unserer heutigen Situation und Bewertung her zu verstehen ist. Hegel will also nicht etwa leugnen, dass Pflanzen und Tiere zunächst im Wasser gelebt hätten. Er weist nur die Vorstellung zurück, es hätten sich aus wässrigen chemischen Lösungen vor langer Zeit nach irgendwelchen Gesetzen Organismen entwickelt. Sie ist nebulöse Phantasie, wie schon die Rede des Aristoteles von einer vielfältigen Urzeugung von Leben im Schlamm. Wir wissen zwar, dass es einmal zur Entwicklung irdischen Lebens kam. Denn es gibt heute ja Leben. Mehr wissen wir zunächst aber nicht. Auch das ›Hervorgehen‹ der entwickelteren Tierorganisationen aus den einfacheren und niedrigeren ist zunächst nur eine tautologische Grundtatsache. Keine Erzählung, wie das angeblich konkret geschehen ist, ist eine ›kausale Erklärung‹, sondern bestenfalls eine kohärent rekonstruierte Geschichte post hoc. Wohl aber dürfen wir in diese Geschichte die Zufälle von Variationen der Formen, auch das Wissen über Gene und die Statistiken bzw. Wahrscheinlichkeiten des Überlebens in einer entsprechenden Umwelt eintragen. 202 k
108 202 f . 203 203 Hegels Einleitung in die Philosophie der Natur 239 § 250 Der Widerspruch der Idee, indem sie als Natur sich selbst äußerlich ist, ist näher der Widerspruch der einerseits durch den Begri= gezeugten Notwendigkeit ihrer Gebilde und deren in der organischen Totalität vernünftigen Bestimmung, – andererseits deren gleichgültigen Zufälligkeit und unbestimmbaren Regellosigkeit. (239) Man muss es leider immer wieder wiederholen: Die Idee ist die Form der Realisierung des Begri=s in empirischen Manifestationen oder Instanziierungen. Im Fall von Arten von Lebewesen geht es um die Realisierung der Artform im individuellen Leben. Der Begri= bloß an sich ist, je nachdem, als Normal- oder gar Idealform, auch als Stereotyp zu verstehen. Er findet sich daher nie ganz in seinen Instanziierungen. Er zeigt sich nur im begri=lichen Verstehen und dialektischen Begreifen. Daher und nur daher gibt es immer einen Widerspruch der Idee. Das gilt nicht etwa nur für menschliche Institutionen und Praxisformen, holistisch zusammengefasst in der Idee des Staates (so jedenfalls bei Hegel), sondern auch für alle Arten von Dingen und Sachen auch der nicht handelnden Welt, also der Natur. Die Natur ist, wie Hegel idiosynkratisch sagt, »sich selbst äußerlich«, insofern jedes Artwesen sich in einzelnen Variationen in lokalen Einzelsachen zeigt. Die Lokalität ist durch die Ordnung von Raum und Zeit bestimmt. Die Rede von ihrer ›vernünftigen Bestimmung‹ bezieht sich dann aber schon auf unsere kanonisch gesetzten begri=lichen Bestimmungen. Anzuerkennen ist im Einzelnen immer eine gewisse ›Zufälligkeit und unbestimmbare Regellosigkeit‹: Die Zufälligkeit und Bestimmbarkeit von außen hat in der Sphäre der Natur ihr Recht. (239) Hegel leugnet den Zufall keineswegs, wie das der spekulative Aberglauben eines metaphysischen Kausaldeterminismus tut, nach welchem Zufall nur ein Schein sei, der dadurch entstehe, dass wir zu wenig über das Gesetzesförmige der natürlichen Welt wissen. Der Zufall hat vielmehr »in der Sphäre der Natur«, besonders im Leben, selbst seinen festen Platz. Am größten ist diese Zufälligkeit im Reiche der konkreten Gebilde, die aber als Naturdinge zugleich nur unmittelbar konkret sind. Das unmittelbar Konkrete nämlich ist eine Menge von Eigenschaften, die außereinander und mehr oder weniger gleichgültig
239 f. Begri= der Natur 109 gegeneinander sind, gegen die eben darum die einfache für sich seiende Subjektivität ebenfalls gleichgültig ist und sie äußerlicher, somit zufälliger Bestimmung überläßt. Es ist die Ohnmacht der Natur, die Begri=sbestimmungen nur abstrakt zu erhalten und die Ausführung des Besondern äußerer Bestimmbarkeit auszusetzen. (239 f.) Auch auf der Typen-Ebene gibt es ›Zufall‹, so dass z. B. eine Schreibfeder durch äußere Feuchtigkeit auf zunächst vielleicht ›unerwartete‹ Weise nicht mehr schreibt – weil sie verrostet ist. Natürlich wird mancher sagen, dass ein solcher ›Zufall‹ nicht akzidentell sei, sondern notwendige Folge einer allgemeinen, gesetzesförmigen Kausalität. Doch auch dabei gibt es Ausnahmen. Obwohl Hegel Humes Bündeltheorie der Dinge als Menge von Eigenschaften nicht zustimmt, und zwar wesentlich auch deswegen, weil Hume die Eigenschaften bloß als Sinnesqualitäten und damit nur in Relation zu uns, nicht holistisch in Relation sozusagen zu allen anderen Dingen versteht, kann man Dinge auch schon mal als Ansammlungen ihrer Wirkeigenschaften auffassen. Das unmittelbar konkrete Ding hier hat dann aber trivialerweise viele dispositionelle und relationale Eigenschaften. Wir erkennen jeweils nur arttypische Artdi=erenzen und überlassen daher vieles einem Zufall, den man keineswegs bloß als ›epistemisch‹ aufzufassen hat, da es vorderhand sehr häufig kein Wissen gibt, das den Zufall durch eine gesetzesförmige Erklärung ersetzen könnte. Objektiver Zufall und ontische Gesetzförmigkeit sind nämlich beide nur relativ dazu definiert, was man je jetzt wissen kann. Das überträgt sich dann auch auf das utopisch-ideale Wissen eines Gottes, sofern man begreift, wie diese Redeform zu verstehen ist, und das heißt, wie man ein als möglich vorstellbares Allwissen von einem unmöglichen (wie z. B. in der Prädestinationslehre) zu unterscheiden hätte. Die – am Ende höchst ironische – Rede von der Ohnmacht der Natur, welche »die Begri=sbestimmungen nur abstrakt zu erhalten« in der Lage ist, ist zwar mnemotechnisch gri;g, muss aber nach dem Gesagten so gelesen werden: Unsere begri=liche Erschließung der Natur ist gerade deswegen begrenzt, weil die Natur selbst in ihren empirischen Einzelheiten keineswegs so ist, dass sie den von uns gesetzten Naturgesetzen immer ohne Ausnahme in ihrem Geschehen Folge leistete. Wir sagen dazu auch, dass alle Gesetze Idealisierungen
110 203 f . k Hegels Einleitung in die Philosophie der Natur 240 f. seien. Das sind sie gerade deswegen, weil sie formale Schematisierungen sind. Man hat den unendlichen Reichtum und die Mannigfaltigkeit der Formen und vollends ganz unvernünftigerweise die Zufälligkeit, die in die äußerliche Anordnung der Naturgebilde sich einmischt, als die hohe Freiheit der Natur, auch als die Göttlichkeit derselben oder wenigstens die Göttlichkeit in derselben gerühmt. Es ist der sinnlichen Vorstellungsweise zuzurechnen, Zufälligkeit, Willkür, Ordnungslosigkeit für Freiheit und Vernünftigkeit zu halten. – Jene Ohnmacht der Natur setzt der Philosophie Grenzen, und das Ungehörigste ist, von dem Begri=e zu verlangen, er solle dergleichen Zufälligkeiten begreifen, – und wie es genannt worden, konstruieren, deduzieren; sogar scheint man die Aufgabe um so leichter zu machen, je geringfügiger und vereinzelter das Gebilde sei.6 Spuren der Begri=sbestimmung werden sich allerdings bis in das Partikulärste hinein verfolgen, aber dieses sich nicht durch sie erschöpfen lassen. Die Spuren dieser Fortleitung und innern Zusammenhangs werden den Betrachter oft überraschen, aber demjenigen insbesondere überraschend oder vielmehr unglaublich scheinen, der in der Natur- wie in der Menschen-Geschichte nur Zufälliges zu sehen gewohnt ist. Aber man hat darüber mißtrauisch zu sein, daß solche Spur nicht für Totalität der Bestimmung der Gebilde genommen werde, was den Übergang zu den erwähnten Analogien macht. In der Ohnmacht der Natur, den Begri= in seiner Ausführung festzuhalten, liegt die Schwierigkeit und in vielen Kreisen die Unmöglichkeit, aus der empirischen Betrachtung feste Unterschiede für Klassen und Ordnungen zu finden. (240 f.) Die Gegenpolemik gegen den Leipziger Professor Krug in der Fußnote könnten wir übergehen, wenn es nicht wesentlich um eine 6 Fußnote Hegels: Herr Krug hat in diesem und zugleich nach anderer Seite hin ganz naiven Sinne einst die Naturphilosophie aufgefordert, das Kunststück zu machen, nur seine Schreibfeder zu deduzieren. – Man hätte ihm etwa zu dieser Leistung und respektiven Verherrlichung seiner Schreibfeder Ho=nung machen können, wenn dereinst die Wissenschaft soweit vorgeschritten und mit allem Wichtigeren im Himmel und auf Erden in der Gegenwart und Vergangenheit im Reinen sei, daß es nichts Wichtigeres mehr zu begreifen gebe.
Begri= der Natur 111 Fehldeutung eines besonderen Gebrauchs der damals noch ganz und gar ambigen Wörter »deduzieren« und »Begri=« ginge, außerdem von »Philosophie« und »Wissenschaft«. Krug versteht »deduzieren« im Sinn von »eine Existenz oder Wahrheit beweisen«. Kant, Hegel und andere Autoren verwenden das Wort aber – wie in der damaligen Sprache des Rechts – im Kontext einer Rechtfertigung der Anwendbarkeit eines Begri=s auf einen besonderen empirischen Fall. Wenn sich Krug also eine ›Deduktion‹ einer einzelnen Schreibfeder aus einem bloßen Wort als Beispiel wünscht, zeigt er nur, dass er auch das Wort »Begri=« nicht so versteht, wie Hegel es erläutert: als begri=lich strukturierten nichtleeren Themenbereich G wie im Begri= der Zahl(en), der Person(en), der mechanischen Bewegungen oder der chemischen Prozesse. Hunde oder Primzahlen sind nur erst Arten oder Teilklassen. Hegel spricht von begri=lichen Bestimmungen, die z. B. einem Prädikat P zuzuordnen sind. Man erhält den relevanten Begri=, das Genus G , aus einem Prädikat P , indem man die Vereinigung mit der (je relevanten!) bestimmten Negation P C bildet. Denn es ist P C = G − P . So gelangt man z. B. von den geraden Zahlen oder Primzahlen zu den natürlichen Zahlen als Bereich, nicht etwa zu den rationalen oder reellen Zahlen. Von den Hunden gelangt man so zu den Säugetieren, von diesen zu den Wirbeltieren. Es gibt auch keine Bestimmung eines Einzeldings, die nicht durch seine Art, seinen Begri= und damit auch durch Worte vermittelt wäre. Insofern hätte man Professor Krug in Leipzig sagen können, dass seine Schreibfeder nicht einfach als dieses Ding da auf dem Schreibtisch bestimmt ist, sondern dadurch, dass man es »Schreibfeder« nennt, weil man mit dem Ding schreiben kann – und vielleicht auch, woraus es gemacht ist. Hegel hebt ja schon in der Phänomenologie hervor, dass kein ›Dies da‹ ohne Artbestimmung referiert. Hier ergänzt er, dass es andererseits auch nicht bis ins »Partikulärste hinein« beschreibbar ist. Individuum est ine=abile, sagt dazu schon Goethe. Aufgabe der Wissenschaften ist, Allgemeinwissen kanonisch zu artikulieren. Aufgabe der Philosophie im neuen Sinn von Kants transzendentalen Analysen in sinnkritischer Absicht und Fichtes Wissenschaftslehre aber ist es, wie Hegel noch deutlicher als diese seine Vorläufer sieht, das Allgemeine im Unterschied zu den vielen em-
112 Hegels Einleitung in die Philosophie der Natur pirischen Einzelheiten in seinem Status, also in Konstitution und Anwendung, zu begreifen. Hegel entwickelt dazu seine Einsichten in die generische Logik von Sprache und Wissen, Begri= und Artform. Das geschieht in einer Ausdrucksweise, die ganz o=ensichtlich bei Lesern, die nicht schon selbst über diese Dinge nachgedacht haben, geradezu zu Fehldeutungen einlädt. Manche meinen z. B., Hegel spreche hier über eine Schwäche oder Unfähigkeit der Natur, die etwas tun soll, nämlich einen Begri= realisieren, als wäre sie ein handelndes Wesen. Andere meinen sogar, die Natur solle Hegel zufolge unsere Sprache verstehen, da es ja Begri=e nur vermöge der Sprache gebe. Dass diese Lesarten falsch sind, hätte man eigentlich immer schon merken müssen. Man hat es nicht bemerkt, weil die übliche Methode des Schreibens von Essays, nämlich als Kommentare zu ausgewählten Zitaten mit dem Ziel der Formulierung und ›Begründung‹ eigener ›Thesen‹, also Merksätze, Hegels systematischen Überlegungen auch nicht im Ansatz beikommen kann. Es liegen daher ganze Bibliotheken von Meinungen dazu vor, was Hegel angeblich gesagt und gemeint hat, in denen sich nur das Nachdenken über eine sporadische Lektüre der Autoren äußert. Hegel geht es insbesondere um die extrem wichtige Einsicht, dass es in der Natur keine scharfen Grenzen ohne Grenzfälle gibt und dass alle Normalfallformen immer auch privative Ausnahmen und Mängel zeigen. Wenn man daher z. B. sagt, dass eine Katze ihrer Art oder ihrem Begri= nach vier Beine und Menschen fünf Finger haben, so schlägt, wie wir wissen und sagen, manche Katze und mancher Mensch aus der Art. Es gibt Menschen, die von Geburt sechs Finger haben. – Daraus ergibt sich, umgekehrt, eine Schwierigkeit für unser Wissen. Wir können häufig nicht unmittelbar von einer empirischen Betrachtung mancher oder vieler Fälle rein aufgrund von Statistik vernünftige Artaussagen setzen und begründen. Reine Statistik führt z. B. weder zur Geometrie noch zu Keplers Planetenmodell oder Newtons Gravitationstheorie. Hegels Kritik am Staunen über »den unendlichen Reichtum und die Mannigfaltigkeit der Formen« der Natur sollte jetzt auch nicht falsch verstanden werden. Sie richtet sich nur gegen das Konventionelle in diesem Gerede. Denn weit erstaunlicher ist die Formenkonstanz, besonders der Selbsterhalt von Lebensformen. Wer in der Natur Er-
241 Begri= der Natur 113 habenes sehen will, kann und sollte es hier tun. Die Unvernunft im Lob des Zufalls liegt also nur im Lob, nicht in der Anerkennung des Zufalls als Tatsache. Man sollte insbesondere Zufall und Willkür nicht mit Freiheit verwechseln. Das Problem damit, in der Macht der Natur und im Zufall deren Göttlichkeit sehen zu wollen, liegt also am Ende darin, dass der Blick abschweift vom Allgemeinen der Formen und des Erkennens von Formen auf einen bloßen Teilbereich des Gewussten, am Ende sogar nur der sinnlichen Vorstellungen. Die von Hegel so genannte ›Ohnmacht der Natur‹, setzt der (Natur-)Wissenschaft ganz o=enbar Grenzen, da alles situationsallgemeine Wissen (der Wissenschaften) ein Wissen über Formen ist. Historische Kenntnis und Bekanntheit von Einzelnem ist bloß erst Proto-Wissen oder Einzelkognition, also nur erst Doxa, noch keine Episteme.7 Die Natur vermischt allenthalben die wesentlichen Grenzen durch mittlere und schlechte Gebilde, welche immer Instanzen gegen jede feste Unterscheidung abgeben, selbst innerhalb bestimmter Gattungen (z. B. des Menschen) durch Mißgeburten, die man einerseits dieser Gattung zuzählen muß, denen andererseits aber Bestimmungen fehlen, welche als wesentliche Eigentümlichkeit der Gattung anzusehen wären. – Um dergleichen Gebilde als mangelhaft, schlecht, mißförmig betrachten zu können, dafür wird ein fester Typus vorausgesetzt, der aber nicht aus der Erfahrung geschöpft werden könnte, denn diese eben gibt auch jene sogenannten Mißgeburten, Mißförmigkeiten, Mitteldinge usf. an die Hand: er setzte vielmehr die Selbständigkeit und Würde der Begri=sbestimmung voraus. (241) Um Krankheiten und andere ›Ausnahmen‹ erkennen zu können, bedarf es einer Norm des Normalen oder, was am Ende dasselbe ist, eines Wissens um jeweils ausreichende oder nicht ausreichende Erfüllungen normaler bzw. idealer begri=licher Bedingungen. Hegel 7 Hegel spricht hier in leicht irreführender Weise in alter Diktion von der Philosophie als Gesamt unseres theoretischen Wissens, also aller akademischer Wissenschaft. Hier meint philosophia also noch nicht die Philosophie als begreifende logische Reflexion auf die Wissenschaften und ihre Gegenstände. 204 k
114 Hegels Einleitung in die Philosophie der Natur 241 spricht klar von einem festen Typus, der vorausgesetzt wird. Er wird jedenfalls nicht nur und nie unmittelbar der bloß lokalen ›Erfahrung‹, dem Kennen einzelner Erscheinungen entnommen. Die »Selbständigkeit und Würde der Begri=sbestimmung« liegt nicht in meiner oder deiner Hand, sondern ergibt sich aus der Geistes- und Vernunftgeschichte der Menschheit insgesamt. 204 § 251 Die Natur ist an sich ein lebendiges Ganzes; die Bewegung durch ihren Stufengang ist näher dies, daß die Idee sich als das setze, was sie an sich ist; oder, was dasselbe ist, daß sie aus ihrer Unmittelbarkeit und Äußerlichkeit, welche der Tod ist, in sich gehe, um zunächst als Lebendiges zu sein, aber ferner auch diese Bestimmtheit, in welcher sie nur Leben ist, aufhebe und sich zur Existenz des Geistes hervorbringe, der die Wahrheit und der Endzweck der Natur und die wahre Wirklichkeit der Idee ist. (241) Naturphilosophie ist Rekonstruktion unseres Platzes in der natürlichen Umwelt, damit Topographie des Weltwissens, das als solches reflexiv und damit Selbstwissen ist. Denn wenn ich bewusst weiß oder wirklich mit Grund überzeugt bin, dass p, weiß ich auch, dass ich weiß, dass p, oder besser: welchen Grund ich für die Überzeugung habe, dass p. Daher macht das begreifende Wissen der Naturphilosophie nur explizit, was an logischen Formen und Allgemeinwissen im besonderen Naturwissen und in der Naturwissenschaft schon implizit vorausgesetzt, empraktisch präsupponiert ist. Das schlägt auch auf den Gegenstandsbereich durch, also auf die dargestellte Natur und die durch sie erklärten Erscheinungen und Erfahrungen. In der spekulativen Handbewegung des Gesamttitels »Natur an sich« bezieht sich dieser Titel auf das Ganze des Seins der Natur im Allgemeinen, im Prinzip, ceteris paribus, im Normalfall. Das Wort »lebendig« ist hier nur anschaulicher Ausdruck für das »Sein im Vollzugsprozess«, also eine Metonymie. Die lebendige Natur des Lebens ist nur prototypisches Moment. Unser Gang durch die Stufen der Natur, also vom gesamten Kosmos über die Entstehung des Sonnensystems und damit der Erde zu ihrer Flora und Fauna, endet zunächst beim sensitiven Leben der Tiere. Dieser Gang ist zugleich Durchgang durch das Naturwissen
Begri= der Natur 115 der (Himmels-)Mechanik, Physik und Chemie, bis zur Biologie des Organismus und der Tiere. Dass die Idee ›selbst‹ etwas tut, ist nun leider eine schwierige logisch-metaphorische Ausdrucksform dafür, wie sich für uns die Idee bestimmt. Wenn Hegel also sagt, dass die Idee sich »als das setze, was sie an sich ist«, spricht er von der realen Erfüllung ihrer Artformen im Sein oder Prozess der Natur. Das Wort »Natur« steht dabei wiederum generisch für alle natürlichen Prozesse. Hegels Gri= zu Metaphern ist immer auch verursacht dadurch, dass es noch keinen Kanon der Darstellung der darzustellenden Formen gab. Hier geht es um die Darstellung der Stufen, die von der toten Natur zum animalischen Leben führen, so aber, dass wir von oben blicken, also von heute her, womit die Existenz und Bekanntheit unseres eigenen menschlichen Lebens schon vorausgesetzt ist. Die bloße »Unmittelbarkeit und Äußerlichkeit« von Objekten ist nur insofern »der Tod«, als reine Körperdinge und chemische Sto=e tote Naturdinge sind. Diese gehen natürlich auch nicht wörtlich in sich, um im Innern wie im Vitalismus eine Seele oder potentielles Leben zu finden, sondern das Lebendigsein eines Lebewesens ist nur insofern etwas Inneres, als es Instanziierung eines artimmanenten Lebensprozesses, Aktualisierung einer Artform oder meinetwegen auch Lebensform oder Lebensart ist. Am Ende geht es um die Stufe, die das bloß sensitive animalische Leben vom geistigen Leben des Personseins unterscheidet. Dieses ist die Wahrheit der Natur. Denn wir können Natur nur als Teil des Ganzen der Welt begreifen. Zur Welt im Ganzen aber gehört wesentlich auch die geistige Welt, so wie zum Wissen im Ganzen auch die Wissenschaften von den geistigen Dingen, den Themen des Personseins, gehört. Dass das geistige Leben der Menschen Endzweck der Natur ist, ist also, ich muss es noch einmal sagen, kein Urteil von der Seite. Kritiker Hegels unterstellen und gebrauchen selbst eine Betrachtung der ganzen Welt sub specie aeternitatis. Sie gehen eben damit an der Gedankenführung vorbei. Denn »die wahre Wirklichkeit der Idee« ist das Gesamt aller sich in der Welt zeigenden ›Gegenstände‹ unseres Wissens, zu denen auch wir selbst, unser Geist oder Personsein und unsere Unterscheidungen ausreichenden Wissens von bloßen
116 Hegels Einleitung in die Philosophie der Natur 241 f. Meinungen in realen Kontexten mit realen Bewertungen von Relevanz, Gewissheit und einem vernünftigen Ausschluss von bloß noch formalen Möglichkeiten des Irrtums gehören. Der im Prinzip lobenswerte Fokus auf die Sache schattet systematisch ab, dass Wissen immer durch Formen und Institutionen vermittelt ist. Damit entsteht die Tendenz, das eigene Wissen und Tun zu unterschätzen und die Gegenstände und Formen nur noch partiell, nicht mehr in ganzer Konstitution und Wahrheit zu begreifen. Einteilung 204 f . § 252 Die Idee als Natur ist: I. in der Bestimmung des Außereinander, der unendlichen Vereinzelung, außerhalb welcher die Einheit der Form, diese daher als eine ideelle, nur an sich seiende und daher nur gesuchte ist, die Materie und deren ideelles System, – Mechanik. II. in der Bestimmung der Besonderheit, so daß die Realität mit immanenter Formbestimmtheit und an ihr existierender Di=erenz gesetzt ist, ein Reflexionsverhältnis, dessen Insichsein die natürliche Individualität ist, – Physik. III. in der Bestimmung der Subjektivität, in welcher die realen Unterschiede der Form ebenso zur ideellen Einheit, die sich selbst gefunden und für sich ist, zurückgebracht sind, – Organik. (241 f.) Hegels Manierismus, erst am Ende das erläuterte Wort zu nennen, ist weder zu kopieren noch auch nur zu verteidigen, sondern umzuformen. Hier wird die Mechanik definitorisch kommentiert. Es geht in ihr qua Kinematik nur erst um die Form von Bewegungskurven der Dinge relativ zueinander. Qua Dynamik geht es schon um (Richtungs-) Beschleunigungen, daher auch um Kräfte, zunächst aber nur in proportionaler Abhängigkeit von den beteiligten Massen. Das räumliche Auseinander der Dinge und ein gewisser Erhalt der einzelnen Körper werden dabei schon unterstellt. Das Wort »unendlich« signalisiert hier wohl nur die indefinite Teilbarkeit der Dinge. Zu beachten ist der explizite Hinweis auf die
Einteilung 117 »Einheit der Form«, wobei die mathematischen Punkte und Extensionen natürlich alle nur erst ideell sind. Das reine Modell der Massenpunktbewegungen ist daher in seiner formalen Idealität zu betrachten. Das konkrete Sein der Dinge ist noch ausgeblendet, sogar noch die geometrische Form der Körper, wie sie schon in der Stoß- und Reibungsmechanik relevant ist. Die Physik bestimmt dann über die Stoß- und Gravitationsmechanik hinaus das besondere Verhalten arttypischer unbelebter Körper auf der Basis von noch ganz anderen dispositionellen ›äußeren‹ und ›inneren‹ Eigenschaften. Sie soll so zu einer Theorie ›aller‹ natürlichen Kräfte unter Ausklammerung aller lebendigen Kräfte werden. Sie enthält, wie schon gesagt, in gewissem Sinn sogar schon die ganze Chemie, aber nicht die (ganze) Biologie. Zur Physik gehören daher Phänomene und Prozesse wie die Kristallisation, die Elektrolyse, der Magnetismus und alle chemischen Reaktionen. Die abstrakte Rede von einem »Reflexionsverhältnis, dessen Insichsein die natürliche Individualität ist«, meint nur, dass die Dingarten und ihre Instanzen im Rahmen eines holistischen prozessualen Reaktionssystems definiert sind. Was Hegel Organik nennt, ist einfach dasselbe wie Biologie. Das Leben von Organismen und am Ende die Teleologie in der animalischen Autopoiesis bilden sozusagen den Gipfel der bloßen Natur. Denn im animalischen Leben erst beginnt die Subjektivität empfindungsvermittelter Perzeption und Selbstkontrolle.

Erste Abteilung der Naturphilosophie. Die Mechanik § 253 Die Mechanik betrachtet: A. Das ganz abstrakte Außereinander, – Raum und Zeit. B. Das vereinzelte Außereinander und dessen Beziehung in jener Abstraktion, – Materie und Bewegung, – endliche Mechanik. C. Die Materie in der Freiheit ihres an sich seienden Begri=s, in der freien Bewegung, – absolute Mechanik. (243) In der ersten Auflage der Enzyklopädie beginnt Hegel mit der »Mathematik« der reinen Kinematik als Einheit der Geometrie des reinen Raumes und einer als Linie geometrisch vorgestellten reinen Zeit.8 Für das Wissen der Mechanik modellieren wir in der Tat seit Descartes zunächst eine mathematische Kinematik der möglichen Punktfunktionen. Im Raum stehen die Dinge außer- oder nebeneinander. Über die Vertretung ganzer Dinge durch ausgewählte Stellen, z. B. Schwer- oder Masse-Punkte, wird der Raum in symbolischer Darstellung zu einem dreidimensionalen Punkt- oder dann auch Vektorraum, der sich seinerseits als ein Zahlenraum darstellen lässt. Die Zeit wird durch eine gerichtete Gerade und damit durch das Kontinuum der reellen Zahlen vertreten. Es werden so alle möglichen Teilbarkeiten und proportionalen Verhältnisse in den Punktraum eines zunächst euklidischen vierdimensionalen Raum-Zeit-Modells aufgenommen. Die Dimension der Zeit ist hier eine gerichtete Gerade, als wären die Zeitzahlen ortsunabhängig. Die einzelnen Punkte vertreten relativ zu einem Koordinaten-Nullpunkt eine mögliche Stelle in der Raumzeit, die ein sich bewegender Massepunkt in einem Moment einnehmen könnte. Den Massepunkten entsprechen in der Realität freilich immer ganze Körperdinge. Diese können notfalls so flüchtig sein wie manche subatomare Teilchen. Aber auch sonst haben sie nur ein endliches Sein. 8 Vgl. dazu GW 13, S. 116–124. 206
120 Erste Abteilung: Die Mechanik 243 Die zentralen Stichworte sind natürlich »Materie« und »Bewegung«. Die endliche Mechanik ist am Anfang vom Typ einer Druckund Stoßmechanik, die man plastisch als »Billardballmechanik« bezeichnen kann. Am Ende steht die ›absolute Mechanik‹ als verallgemeinerte Ballistik, die auch als ›freie‹ Mechanik angesprochen wird. Sie wird exemplifiziert durch das heliozentrische Planetensystem. Der Ausdruck »Materie in der Freiheit ihres an sich seienden Begri=s, in der freien Bewegung« meint nur, dass wir auf diese Prozesse keinen handelnden Einfluss nehmen können. A. Raum und Zeit a. Der Raum 206 § 254 Die erste oder unmittelbare Bestimmung der Natur ist die abstrakte Allgemeinheit ihres Außersichseins, – dessen vermittlungslose Gleichgültigkeit, der Raum. Er ist das ganz ideelle Nebeneinander, weil er das Außersichsein ist, und schlechthin kontinuierlich, weil dies Außereinander noch ganz abstrakt ist und keinen bestimmten Unterschied in sich hat. (243) Wir selbst sind, wie alle körperlichen Dinge, raumzeitliche Wesen. Diese allgemeine Form dinglichen Seins in seiner raumzeitlichen Ausdehnung und Begrenzung als res extensa führt relativ unmittelbar zu einer Betrachtung von Raum und Zeit als den äußerlichen Formen der Natur bzw. der Welt. Ein endlicher Raum ist dabei zunächst dadurch definiert, dass raumgleiche Körper in ihn als Hohlraum genau passen. Zeiten sind durch die Äquivalenz zeitgleicher präsentischer Prozesse definiert. Kinder lernen die basalen Techniken dieser Äquivalenzbewertungen sehr früh. Das ›ewige Rätsel‹, was die Zeit und dann auch der Raum wirklich seien, entsteht nur aus dem Problem der angemessenen Kommentierung derartiger Techniken einer transsubjektiven Raum- und Zeitbestimmung erstens durch die räumliche Ausdehnung des Inneren der Körper, zweites durch Bewegungen ›im Raum‹ und drittens durch die zeitliche Dauer von endlichen Bewegungen und Prozessen.
Raum und Zeit 121 Die Reduktion eines Dings oder dann auch von mir selbst auf einen Punkt im Raum ist eine formalmathematische Technik vereinfachender Darstellung. Gegenstände g werden logisch schon dadurch punktförmig, dass wir alle ihre verschiedenen Repräsentationen r , r ∗ und Präsentationen p, p ∗ formal als gleichwertig ›in‹ ihr Inneres legen, wie wir metaphorisch sagen, und nur äußere Eigenschaften P über sie als Ganze in Prädikaten P (g ) zulassen. D. h., Gleichungen der Formen r = r ∗ , r = p und p = p ∗ zählen nicht als Aussagen über g . Wir identifizieren die Dinge dann sogar häufig noch mit einer zunächst beliebig gewählten Stelle auf oder in ihnen.9 Als abstrakte Titel für das Räumliche gebraucht Hegel die extrem dichten Ausdrücke »vermittlungslose Gleichgültigkeit«, »das ganz ideelle Nebeneinander« und »Außersichsein«. Je von mir her gesehen ist alles Räumliche in der Tat ein Außermirsein. Dabei ist der Raum aufgrund der Teilbarkeit der Körper formal, ideal oder »schlechthin« kontinuierlich.10 Es ist vielerlei über die Natur des Raums von je vorgebracht worden. Ich erwähne nur der Kantischen Bestimmung, daß er wie die Zeit eine Form der sinnlichen Anschauung sei. Auch sonst ist es gewöhnlich geworden, zugrunde zu legen, daß der Raum nur als etwas Subjektives in der Vorstellung betrachtet werden müsse. Wenn von dem abgesehen wird, was in dem Kantischen Begri=e dem subjektiven Idealismus und dessen Bestimmungen angehört, so bleibt 9 Dass alle Gegenstände der Rede formal punktförmig sind, liegt am Leibnizprinzip der Gleichheit. Das Prinzip besagt, dass aus N = N ∗ und ›N ist P ‹ immer auch ›N ∗ ist P ‹ folgt. Die Verschiedenheiten von N und N ∗ gehören damit zum ›inneren‹ Fürsichsein des Gegenstandes g in G . Das ist völlig äquivalent zu Freges Funktionalprinzip der Prädikation. Freges Begri=eF sind wie die Kants nur Prädikate, welche auf G Funktionen mit genau zwei Werten und damit Teilklassen in G definieren, idealerweise mit jeweils einem Komplementärprädikat P C . Ein Begri= an sich bei Hegel ist dagegen ein Gegenstandsbereich G als Vereinigung P ∪ P C der Prädikate P in G mit jeweils ihrer ›bestimmten Negation‹ P C . 10 Bei Hegel ist das Kontinuum nicht etwa seine mathematische Repräsentation, sondern nur erst das Indefinite beliebiger Teilbarkeiten und Vergrößerbarkeiten. Das ist zu unterscheiden von einem stetigen Zusammenhang (griechisch: »synēches«). 206 f . k
122 Erste Abteilung: Die Mechanik 243 f. die richtige Bestimmung übrig, daß der Raum eine bloße Form, d. h. eine Abstraktion ist, und zwar die der unmittelbaren Äußerlichkeit. – (243 f.) Zur Frage »Was ist der Raum?« gibt es ganze Bibliotheken an Literatur, die aber zumeist sehr schnell in die Betrachtung mathematischer Räume überleitet. Das gilt sogar für Kant, obwohl gerade Kant den Raum als Form der sinnlichen Anschauung zu bestimmen sucht. Hegel wehrt sich mit vollem Recht gegen alle Versuche, den »Raum nur als etwas Subjektives in der Vorstellung« zu betrachten und in entsprechender Weise über das Räumliche und den Raum und dann auch das Zeitliche und die Zeit zu reden. Kant spricht im Fall des Raumes von einer äußeren, im Fall der Zeit von einer inneren (Form der) Anschauung. Es gibt viele Leute, die zu verstehen glauben, was Kant hier sagt. Leider bleibt der Inhalt di=erentiell und inferentiell ganz unklar. Die Erläuterungsversuche, die Kant selbst liefert, reichen jedenfalls nicht aus, ja, sie erweisen sich sogar als irreführend und falsch. Denn Kant übersieht, dass unsere räumlichen Platzierungen ganz robust von relativ zu uns und zu einander bewegten Dinge ausgehen. Das ist keine ›empirische‹ Annahme, wie Kant suggeriert. Die Bestimmungen von Dingen, räumlichen Orten und zeitlichen Daten sind damit begri=lich gleichursprünglich. Hegel sagt dementsprechend, dass alles, was Kant über Raum und Zeit auf der Grundlage seines subjektiven Idealismus sagt, mit gnädigem Schweigen zu übergehen ist. Richtig ist nur, dass der Raum »eine bloße Form«, d. h. Ergebnis einer Abstraktion ist, wobei Hegel aber hier auch noch nicht genauer sagt, dass die Raumgleichheit eines ausgedehnten äußeren Körpers (etwa des Stuhls dort) zunächst als dessen Inneres definiert ist. Im Falle der Platzierung eines Körpers im Raum gehen wir zunächst immer von einem Innenraum aus, etwa einem Zimmer im Haus, einem Haus auf der Erde, der Erde im Sonnensystem, oder dem Sonnensystem in der Milchstraße usf.11 11 Der Raum der Stellen an sich relativ zueinander bewegenden Körpern im Weltenraum setzt Koordinatentransformationen voraus, welche eine Stellengleichheit definieren – was zu den heute bekannten Problemen der Gleichzeitigkeit von Ereignissen an verschiedenen Orten und damit auch momentaner Längenmessungen führt. Die »unmittelbare Äußerlichkeit« ist
244 Raum und Zeit 123 Von Raumpunkten zu sprechen, als ob sie das positive Element des Raums ausmachten, ist unstatthaft, da er um seiner Unterschiedslosigkeit willen nur die Möglichkeit, nicht das Gesetztsein des Außereinanderseins und Negativen, daher schlechthin kontinuierlich ist; der Punkt, das Fürsichsein, ist deswegen vielmehr die und zwar in ihm gesetzte Negation des Raums. – (244) Während man noch in der Analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts umstandslos und damit gedankenfrei, also ohne jedes Gespür für das Metaphorische und Analogische in der Rede über mathematische ›Räume‹, von Raumpunkten spricht, gibt es Punkte wirklich bloß in der Mathematik. Im realen Raum der Körperdinge und ihrer Bewegungen gibt es nur ausgedehnte Stellen. Hegels Formulierung und Begründung dieser lakonischen Feststellung ist zwar noch nicht perfekt, weist aber sachlich ganz in die richtige Richtung: Punkte gibt es nur als Geraden- oder Linienschnittpunkte, Geraden nur als Ebenen-Schnitte. Ebenen in ihrer unendlichen Ausdehnung gibt es im realen Raum gar nicht, sondern nur als Idealisierung von Quaderoberflächen auf der Basis eines rein formalen »Und-so-weiter« beim Zusammenlegen von Quadern wie beim Hausbau mit Ziegeln. Hegels Bedenken sind daher absolut berechtigt: Im indefiniten, bei Hegel: ›kontinuierlichen‹ Realraum der physischen Körper und elektrodynamischen Prozesse gibt es bestenfalls die Möglichkeit, manche Orte, etwa Stellen an oder in Körpern, durch Bezugnahme auf verschiedene andere Körper im Raum in ihrer Verschiedenheit bzw. Identität zu bestimmen. Das meint die Rede vom »Gesetztsein des Negativen und des Außereinanderseins«. Punkte im vollen Sinn gibt es nur in der reinen Geometrie, also gar nicht in der Welt – worauf Hegel weiter unten noch einmal zurückkommt. Die Formulierung, dass ein Punkt in seiner Identität, also seinem Fürsichsein, die »in ihm gesetzte Negation des Raums« sei, reicht daher zunächst am besten als das Ausmessen von Längen mit bewegten, aber relativ zueinander starren Quadern und, für die Winkel, von Keilen als diagonal halbierten Quadern zu begreifen. Das aber geht nur in mittelgroßen Raumbereichen. Die Frage nach dem rechten Maß der Zeit ist ein besonderes Problem, das Hegel nur für das Sonnensystem beantwortet, indem er sich auf Keplers Gleichungen stützt, wie wir weiter unten sehen werden. 207 k
124 Erste Abteilung: Die Mechanik zwar nicht aus, besagt aber, dass es unmöglich ist, einen exakten Punkt im Raum zeigend oder beschreibend dingfest zu machen. Dieses Unschärfeprinzip Hegels für Stellen im Raum ist völlig allgemein.12 Hegel wendet sich weder gegen das Strahlenmodell des Lichts an sich noch gegen die Theorie der Lichtbrechung an sich, wenn er mit Goethe Newtons Optik als unzureichend für eine volle Physik des Lichtes und der Farben kritisiert. Falsch ist nur die Meinung, das Modell einer geradlinigen Bewegung von Lichtteilchen mit je besonderen Brechungswinkeln reiche aus, um alle Phänomene des Lichts und der Farben zu erklären. Es geht damit auch um die Ambiguität in unseren Reden davon, dass etwas aus etwas ›bestehe‹ oder etwas als Teil ›enthalte‹. So sollte z. B. jedem klar sein, dass ›Wasser‹ auf ganz verschiedene Arten Sauersto= ›enthält‹. Fische würden in reinem H2 O ersticken, sie brauchen im Wasser gelöstes Oxygen. Goethe und Hegel interessieren sich unter anderem für den Unterschied 12 Bei Werner Heisenberg geht es um die Grenzen der Anwendung mathematischer Punkte, Kurven und ›Steigungen‹ auf die reale Welt. In Wahrheit lassen sich Impuls (also die Tangentensteigungen der Kurve in einem Zeitpunkt) und Ort eines sogenannten Teilchens (relativ zu anderen Orten oder Körpern) gleichzeitig nie genauer als die von der Planck-Konstante abhängige Unschärfegröße Heisenbergs bestimmen. Damit lässt sich eine unvermeidliche Marge des ›Fehlers‹ numerisch abschätzen! Das steht in direkter Parallele zum Wissen, dass die Lichtgeschwindigkeit zwar endlich ist, aber für die realen Bewegungen in dem Sinn als ›unendlich‹ aufzufassen ist, als schon jede Annäherung der Bewegung von Festkörpern an diese Größenordnung diese als Körper sozusagen aufhebt bzw. zerstört. Zusammen mit der Frage nach den realen Maßbestimmungen der Zeit über (vorgestellte) inertiale (unbeschleunigte) Bewegungen und von Gleichzeitigem an verschiedenen Orten führt eine solche Überlegung zu Einsteins Deutung der Lorentz-Transformationen in seinem bewunderungswürdigen Aufsatz von 1905, »Die Elektrodynamik bewegter Körper«: Alles Gerede von einer ›möglichen Reise‹ in Lichtgeschwindigkeit (oder gar schneller) ist reine Metapher. Hegels Diagnose wird damit bestätigt. In Darstellungsform und Weltbezug unterscheidet sich die Elektrodynamik und dann auch die ›Quantenmechanik‹ ganz wesentlich von der Mechanik bewegter Körper. Alle Angleichungen sind nur verbal. Es ist daher antiquierte Metaphysik, wenn man sich die wirkliche Welt als aus kleinsten subatomaren Teilchen ›aufgebaut‹ vorstellt.
244 Raum und Zeit 125 zwischen ›Mischungen‹ etwa von Öl- oder Aquarellfarben und der ›Teilbarkeit‹ des weißen Lichts und dann auch für die Physiologie der Farbwahrnehmung. Die Frage wegen der Unendlichkeit des Raums entscheidet sich gleichfalls hiedurch (§ 100 Anm.). Er ist überhaupt reine Quantität, nicht mehr nur dieselbe als logische Bestimmung, sondern als unmittelbar und äußerlich seiend. – (244) Im Blick auf die – unter vielen anderen auch von Kant gestellte und für nicht beantwortbar erklärte – Frage, ob der Weltenraum im Großen endlich oder unendlich bzw. im Kleinen unendlich teilbar sei, behält Hegel einen klaren Kopf für das Allgemeine. Er bleibt konsequenter als Aristoteles und Kant bei der Einsicht, dass alle Unendlichkeiten nur die mathematischen Räume als reine Quantitäten betre=en. Der reale Raum ist nur kontinuierlich im Sinne eines nicht fest begrenzbaren Apeiron, wobei dieses Wort zunächst alles Indefinite der Teilung und Vergrößerung meint, nicht nur einen indefiniten Ursto=, den Anaximander an die Stelle des Wassers seines älteren Freundes Thales setzte. Die Natur fängt darum nicht mit dem Qualitativen, sondern mit dem Quantitativen an, weil ihre Bestimmung nicht wie das logische Sein das Abstrakt-Erste und Unmittelbare, sondern wesentlich schon das in sich Vermittelte, Äußerlich- und Anders-sein ist. (244) Jetzt geht Hegel über zur Begründung, warum die Naturwissenschaften ›quantitativ‹ anfangen: Unser Weltzugang beginnt zwar mit sinnlich vermittelten Unterscheidungen. Daher müssen in der Logik des Seins die qualitativen Di=erenzierungen vor den abstrakteren quantitativen Bestimmungen gerade auch in den Ergebnissen von Messungen behandelt werden. Aber der Aufbau objektiver physikalischer Erklärungen von Erscheinungen durch wesenslogische Ursachen beginnt mit der quantitativen Kinematik und Mechanik bewegter Festkörper. Die zunächst qualitative Physik des Elektromagnetismus und der Chemie der Sto=e kommt später.13 13 Zu den reinen Zahlen und Mengen der (höheren) Arithmetik und den Formen der Geometrie gelangen wir, wie Hegels Seinslogik schon gezeigt hat, nur über den Weg ideativer Abstraktionen. Dabei sind die zeitallgemeinen und in unserer Symbolpraxis konstituierten Elemente der Mathematik 207 k 207 k
126 Erste Abteilung: Die Mechanik Gerade auch bei geometrischen Formen und Proportionen müssen wir das Endliche oder Empirische einer konkreten Formgestalt (bei Platon: »idea«, bei Hegel: »Idee«), also einer die Form repräsentierenden Figur (bei Platon: »schēma«, »schēsis«, im symbolischen Fall auch »noēma«, bei Hegel daher auch »Vorstellung«) bzw. eines diagrammatischen Bildes (bei Platon: »eidolon«), vom Unendlichen und Idealen der reinen Form (bei Platon: »eidos«, bei Hegel »Begri=«) z. B. eines Kreises oder einer Geraden unterscheiden. Die Idee der Natur ist die Vollzugsform, empirische Realisierung, Instanziierung oder Manifestation des Begri=s der Natur, wie ihn die Naturwissenschaften als ideale Modellstruktur entwickeln. Wir beginnen dabei mit der Darstellung der Bewegungen von Körpern. Diese werden in der Mathematik eigentlich schon seit den Pythagoreern bzw. Platon und Eudoxos besonders zur Darstellung der Planetenbewegungen als Schachtelungen von Kreisbewegungen, seit Kepler, Galilei und besonders Descartes als linear approximierbare Kurven dargestellt. Wie auch in der Monadologie von Leibniz denkt man sich einen Körper durch eine markierte Stelle auf ihm vertreten, gerade so, wie wir uns selbst als Ich-Punkt denken, für den alles Leibliche äußerlich ist. Hegel sieht, dass man diese Sicht der Dinge bei Descartes und Leibniz nicht als willkürliche metaphysische Theorie, sondern als Explikation einer tief in unsere Sprache und unser Denken eingelassenen logischen Form begreifen kann. Das gilt, wie gesehen, für jede unbedingt von den empirischen Gegenständen, Mengen und Anzahlen zu unterscheiden. Diese sind zwar auch schon abstrakt, nämlich vermöge der Gleichgültigkeit oder Äquivalenz, welche zur Gegenstands- und Mengengleichheit bzw. zum Begri= der Anzahl einer empirischen Menge führt. Aber empirische Mengen und Anzahlen bleiben hochgradig situationsabhängig. So ist z. B. für die Menge der Planeten ebenso wie für die Anzahl der Äpfel in einem Korb ihre empirische Anordnung ganz gleichgültig. Klar ist, dass sich die Menge und Anzahl der Äpfel mit der Zeit ändert. Aber auch für den einzelnen Apfel ist es ganz gleichgültig, ob ihr ihn von eurer Seite als roten Apfel seht, er uns aber als gelber Apfel erscheint. D. h., wir müssen verschiedene Erscheinungen ›desselben‹ so einander zuordnen, dass sie sich als Präsentationen des gleichen körperlichen Wesens verstehen lassen. Nur so sind die Reden von einem numerisch einzelnen Gegenstand voll zu begreifen.
244 Raum und Zeit 127 punktförmige Vergegenständlichung. Alle Eigenschaften eines Gegenstandes erscheinen uns zunächst so, als seien sie dem Gegenstand rein äußerlich, als wäre er selbst also eine Art substanzieller Punkt. Der erste Schritt der Aufhebung dieses Bildes besteht in der Unterscheidung zwischen ›inneren‹, wesensbestimmenden, und äußeren, relationalen und auch akzidentellen Eigenschaften – bzw. zwischen den Relationen R (x, y ) des Fürsichseins (mit x = y ) und den Relationen R (x, y ) des Für-Anderes-Seins (mit x , y ). Falsch bei Descartes ist sozusagen in erster Linie die Identifizierung eines leiblichen Zentralpunktes in der Hypophyse, dann aber auch die Annahme einer rein geistigen Steuerung der Impulse dieser ›Zirbeldrüse‹ durch eine res cogitans.14 § 255 Der Raum hat als an sich Begri= überhaupt dessen Unterschiede an ihm, [und zwar] α) unmittelbar in seiner Gleichgültigkeit als die bloß verschiedenen, ganz bestimmungslosen drei Dimensionen. (244) Hegels Analyse ist nicht so genau, wie wir es uns wünschen. Immerhin erläutert er, dass der Raum hier als Begri= an sich aufgefasst wird, und das heißt, als reine Form, genauer: als Gesamt-Eidos des Räumlichen, vorzugsweise dargestellt in mathematischen Räumen. Die Unterschiede, die der Raum ›an ihm‹ hat, sind damit gerade die der euklidischen Geometrie des dreidimensionalen Raumes. Die Gleichgültigkeit, von der Hegel hier spricht, betri=t die beliebige Wahl eines Ursprungsquaders, genauer: eines Würfels samt Längeneinheit hier oder dort. Hinzu kommt die Auszeichnung einer Ecke als Nullpunkt und die Benennung der x -, y - und z -Achse. Nur so entsteht eine Instanziierung eines Koordinatensystems zum Eintrag empirischer Messungen, wobei wir die erst von Einstein ernsthaft genug aufgeworfene Frage übergehen, wie die Längenzahlen und Winkel im Bewegungsraum zu verstehen sind. Anders als im Fall von Festkörpern gibt es im leeren Bewegungsraum des Kosmos keine geraden Linien der Art, wie wir sie als Kanten von Quadern zueinander pas14 Es stellte sich daher für Hegel schon in der Logik die Aufgabe, die ideale Metapher des Punktes als in sich widersprüchliche Darstellung oder Vorstellung der Einheit von Gegenständen explizit zu machen. 207
128 207 k Erste Abteilung: Die Mechanik 244 send machen (können) und wie sie die protogeometrischen Formen der euklidischen Geometrie zusammen mit den Winkeln definieren. Die Maßzahlen zunächst großer Längen werden im Kosmos über die Zeiten der Lichtausbreitung definiert, was zusammen mit den bloß relativen, sozusagen lokalen und kontextbedingten Definitionen von Gleichzeitigkeiten und Zeitdauern die Folge hat, dass man hier Raum und Zeit nicht mehr säuberlich trennen kann. Die drei Raumdimensionen sind in Hegels Sinn bestimmungslos, wenn wir nur vom abstrakten Raum an sich sprechen und uns damit noch nicht auf einen Ursprungsquader und eine konkrete Längeneinheit beziehen, die allererst das Koordinatensystem konkretisieren. Die Notwendigkeit, daß der Raum gerade drei Dimensionen hat, zu deduzieren, ist an die Geometrie nicht zu fordern, insofern sie nicht eine philosophische Wissenschaft ist und ihren Gegenstand, den Raum mit seinen allgemeinen Bestimmungen, voraussetzen darf. (244) Hegel weist interessanterweise die Forderung ab, die Geometrie solle ›beweisen‹ oder auch nur ›rechtfertigen‹ (im alten Sinn von »deduzieren«), dass der Raum dreidimensional ist. Die drei Dimensionen ergeben sich einfach materialbegri=lich aus den sechs ebenen Flächen eines Würfels oder Quaders, wobei je zwei paarweise zueinander parallel oder orthogonal stehen. Die drei Dimensionen des Raumes sind in der Geometrie und Kinematik als theoretischen Modellierungen schon vorausgesetzt, zählen daher gerade nicht zu den unmittelbaren Ergebnissen rein empirischer Messungen und Beobachtungen. Ihre ›Deduktion‹ oder Rechtfertigung ist eine Sache logisch-philosophischer Protogeometrie und Protophysik. Sie sind ersichtlich so einfach wie die Körperform des Quaders.15 15 Nur in den rein arithmetischen Zahlen- oder Vektorräumen kann man beliebige Dimensionen hinzufügen. Allerdings lassen sich dann die Basiskoordinaten nicht mehr so wie die der drei Raumdimensionen durch einen konkreten Würfel instanziieren. Die Folge ist, dass schon die Rede davon, dass die Dimensionen zueinander orthogonal stehen, im Fall der Hinzunahme der Zeit zu einer Metapher wird. Wenn man das nicht streng beachtet, wird aus der mathematischen Physik metaphysischer Aberglaube. Linke und rechte Hände lassen sich nicht durch Bewegung, sondern nur durch Spiegelung (wie etwa auch beim ›Umstülpen‹ eines Handschuhs) kongru-
245 Raum und Zeit 129 Aber auch sonst wird an das Aufzeigen dieser Notwendigkeit nicht gedacht. Sie beruht auf der Natur des Begri=s, dessen Bestimmungen aber in dieser ersten Form des Außereinander, in der abstrakten Quantität, ganz nur oberflächlich und ein völlig leerer Unterschied sind. (244 f.) Hegel selbst nennt leider die Herkunft der Geometrie aus dem Umgang mit Quaderformen bzw. Rechtecken und ihren diagonalen Hälften, den Keilen und rechtwinkligen Dreiecken, nicht explizit. Das erschwert das Verständnis seiner Rede über die Natur des Begri=s des Raumes, also aller Formen des Räumlichen. Die abstrakte Rede von dem Nebeneinander der Körper ist noch ganz unspezifisch, macht aber schon klar, dass es sich um bewegliche Körper handelt und dass der Raum über Bewegbarkeiten konkretisiert ist wie von Quadern in Hohlformen oder von Händen in Handschuhen. Man kann daher nicht sagen, wie sich Höhe, Länge und Breite voneinander unterscheiden, weil sie nur unterschieden sein sollen, aber noch keine Unterschiede sind; es ist völlig unbestimmt, ob man eine Richtung Höhe, Länge oder Breite nennt. – (245) Zur Konventionalität von Höhe, Länge und Breite in der Bestimmung der Koordinaten habe ich das Nötige schon gesagt. Die Höhe hat ihre nähere Bestimmung an der Richtung nach dem Mittelpunkte der Erde; aber diese konkretere Bestimmung geht die Natur des Raums für sich nichts an. Jene vorausgesetzt, ist es auch noch gleichgültig, dieselbe Richtung Höhe oder Tiefe zu nennen, so wie für Länge und für Breite, die man oft auch Tiefe heißt, nichts dadurch bestimmt ist. (245) Von uns her gesehen, die wir auf der Erde stehen, ist die Höhe über die Linie zum Erdmittelpunkt sozusagen natürlich gegeben. Man kann ent machen. Kant hat das ganz zurecht als synthetisch-apriorische, besser: materialbegri=liche, Wahrheit angesehen: Mit jedem Ursprungsquader ist die ›Händigkeit‹ einer ›Perspektive‹ des Linken und Rechten, Vorne und Hinten, Oben und Unten mitgegeben. Das ist gerade so, wie wenn ich mich mit meinem Leib zum Zentrum mache. Es ist daher zumindest irreführend, wenn Wittgenstein in TLP 6.36111 den Begri= der Kongruenz unabhängig von der dimensionsabhängigen Bewegbarkeit in die gleiche Hohlform definiert und rein kontrafaktisch-metaphorisch davon spricht, dass man Hände bzw. Handschuhe »im vierdimensionalen Raum umdrehen könnte«. 207 k 207 k 207 k
130 Erste Abteilung: Die Mechanik 245 bei kanonischer Blickrichtung nach Norden auch zwischen rechts und links, vorne und hinten unterscheiden. Der Raum selbst wird durch Transformationen der Koordinaten sozusagen zur Methode des Perspektivenwechsels. Diese sind reine Bewegungen. Spiegelungen, Vergrößerungen und Verkleinerungen sind (zumindest zunächst) ›unzulässig‹. Interessant ist, dass wir nur das Aussehen von etwas spiegeln können, nicht die Sachen selbst und schon gar nicht uns selbst. Eine total gespiegelte Welt wäre nicht mehr dieselbe Welt, sondern schon eine reine Märchenwelt. Das ist gerade angesichts der Bedeutung des Spins in Physik keineswegs trivial. Der Unterschied zwischen Bewegung und Spiegelung ist daher so objektiv, wie nur irgendetwas objektiv sein kann. Damit erweist sich aber auch Kants Aussage als falsch, gerade dieser Unterschied zeige die Idealität des Raumes im Sinne seiner Bezogenheit auf uns als endliche Subjekte. Alle Objektivität ist, wie Hegel in der Begri=slogik klarmacht, durch die Zuordnung der verschiedenen Perspektiven im Zugang zum Gleichen definiert, also als das Invariante der einander entsprechend zugeordneten Erscheinungen oder Präsentationen der Welt. Ernst Cassirer wird später Analoges sagen. 207 f . 208 § 256 β) Aber der Unterschied ist wesentlich bestimmter, qualitativer Unterschied. Als solcher ist er 1) zunächst die Negation des Raums selbst, weil dieser das unmittelbare unterschiedslose Außersichsein ist; der Punkt. (245) Hegel entwickelt erst jetzt die realen Unterscheidungen in der räumlichen Orientierung. Ich lese den Kommentar zur Negation des Raumes als überdichte, also orakelförmige Formel dafür, dass es reine Punkte nur in der reinen Mathematik als Linienschnittpunkte in geometrischen Formen gibt. 2) Die Negation ist aber Negation des Raums, d. i. sie ist selbst räumlich; der Punkt als wesentlich diese Beziehung, d. i. als sich aufhebend, ist die Linie, das erste Anders-, d. i. Räumlichsein des Punktes; 3) die Wahrheit des Andersseins ist aber die Negation der Negation. (245) Euklids Definition des Punktes als das, was keine Teile hat, ist
245 f. Raum und Zeit 131 durchaus unglücklich. Immerhin wird Hegel die Vorstellung ablehnen, Linien ergäben sich durch Bewegungen von Punkten. Es gibt keine Bewegung in der rein statischen Geometrie der Formen. Hegels Orakel von der »Wahrheit des Andersseins« als »Negation der Negation« lässt sich systematisch so verstehen, dass zwei Punkte, Winkel oder gerade Linien in zwei geometrischen Formen zu identifizieren sind, wenn sie formentheoretisch nicht unterschieden werden dürfen. Das gilt z. B. für den vierten Winkel im Quadrat. Die Linie geht daher in Fläche über, welche einerseits eine Bestimmtheit gegen Linie und Punkt, und so Fläche überhaupt, andererseits aber die aufgehobene Negation des Raums ist, somit Wiederherstellung der räumlichen Totalität, welche nunmehr das negative Moment an ihr hat; – umschließende Oberfläche, die einen einzelnen ganzen Raum absondert. (245) Zu sagen, Linien gingen in Flächen über, ist unglücklich, zumal nicht gemeint ist, dass (ebene) Flächen aus einer Bewegung von geraden Linien entstehen. Gemeint ist eher, dass es Punkte nur als Linienschnittpunkte, Linien nur als Flächenschnitte gibt. Man denke konkret an Quaderkanten. In den diagrammatischen Aufrissen der planimetrischen Formen (zunächst ohne den Kreis) skizzieren wir Ebenen-Schnitte ja in der Tat durch gerade Linien. Daß die Linie nicht aus Punkten, die Fläche nicht aus Linien besteht, geht aus ihrem Begri=e hervor, da die Linie vielmehr der Punkt als außer sich seiend, nämlich sich auf den Raum beziehend und sich aufhebend, die Fläche ebenso die aufgehobene, außer sich seiende Linie ist. – (245 f.) Hegel behält auch darin recht, dass in der mathematischen Geometrie zumindest zunächst die Linie nicht als Menge von Punkten, die Fläche nicht als Menge von Linien aufzufassen ist. Eine derartige Auffassung wird erst in der höheren Arithmetik der reinen Mengenlehre Georg Cantors möglich und dort sogar künstlich, ja spekulativ, erzwungen.16 Hegels ›Begründung‹ bleibt hier dennoch obskur. Ebenen sind zunächst nur über Quaderoberflächen konkret definiert. Eine unendliche ebene Fläche gibt es nur im idealen Begri= des 16 Vgl. dazu P. Stekeler-Weithofer, Formen der Anschauung. Eine Philosophie der Mathematik. Berlin: de Gruyter 2008. 208 208 k
132 208 k 208 k 208 k 208 k Erste Abteilung: Die Mechanik 246 euklidischen Raumes an sich. Der Begri=, auf den Hegel die Linien, Punkte und Flächen hier bezieht, ist das Gesamtsystem der reinen geometrischen Formen. Punkte sind dabei immer nur Paare sich schneidender Linien in Formen. Der Punkt ist hier als das Erste und Positive vorgestellt und von ihm aus gegangen worden. (246) Punkte können in der Tat nicht »als das Erste und Positive vorgestellt« werden. Man kann weder in der Geometrie noch in der Kinematik oder Mechanik von ›gegebenen Punkten‹ ausgehen. Allein ebenso ist umgekehrt, insofern der Raum in der Tat dagegen das Positive ist, die Fläche die erste Negation und die Linie die zweite, die aber, als die zweite, ihrer Wahrheit nach sich auf sich beziehende Negation der Punkt ist; die Notwendigkeit des Übergangs ist dieselbe. (246) Die ebene Fläche ist »erste Negation« des Quaders als Gesamtkörper – nämlich als ebener Schnitt durch den Körper. Eben ist, was kongruent zu den Quaderflächen ist. Das ebene Dreieck als diagonal halbierte Quaderoberfläche wird zum Ausgangspunkt der Planimetrie und dann auch der gesamten Geometrie. Die gerade Linie als QuaderKante oder Schnitt zweier Ebenen kann man in diesem Kontext als zweite ›Negation‹ bezeichnen, Eckpunkte oder Linienschnitte als die dritte – wenn man denn so reden will. An die Notwendigkeit dieses Übergangs wird nicht gedacht in dem äußerlichen Auffassen und Definieren des Punkts, der Linie usf.; doch vorgestellt, aber als etwas Zufälliges, wird jene erste Art des Übergehens in der Definitionsweise, daß, wenn der Punkt sich bewege, die Linie entstehe, usf. – (246) Wie sich Hegel selbst die Notwendigkeit des Übergangs von Fläche zu Linie und Punkt denkt, bleibt dennoch auch etwas unklar. Hier lehnt er immerhin explizit die Vorstellung ab, man könne durch akzidentelle oder empirische Bewegungen von Punkten Linien entstehen lassen. In der reinen Geometrie der räumlichen Formen haben Bewegungen und damit Geschehnisse in der Zeit absolut nichts zu suchen, noch nicht einmal als sich ergebende Bahnkurven. Bewegungen spielen nur eine Rolle bei der vorgeometrischen Prüfung von Passungen bzw. Kongruenzen von ebenen Flächen, geraden Linien, Winkeln und Stellen. Die weitern Figurationen des Raumes, welche die Geometrie
246 Raum und Zeit 133 betrachtet, sind fernere qualitative Begrenzungen einer Raumabstraktion, der Fläche, oder eines begrenzten ganzen Raums. (246) Die Figuren (schēmata oder eidola) der Geometrie als (ebene) Diagramme sind symbolische und zugleich anschauliche Repräsentationen idealgeometrischer Formen. Eine Konstruktionsanweisung ist ihr logos, also ihr sprachlich-symbolischer Ausdruck, der zugleich zur Formbenennung wird. Räumliche Figuren wie Kugeln oder Kegel etc. werden von der Planimetrie her beschrieben. Es kommen darin auch Momente der Notwendigkeit vor, daß z. B. das Dreieck die erste geradlinige Figur ist, daß alle andern Figuren auf sie oder auf das Quadrat zurückgeführt werden müssen, wenn sie bestimmt werden sollen, und dergl. – (246) Die rechtwinkligen Dreiecke sind in der Tat die basalen Figuren der Planimetrie. Alle anderen Figuren werden auf sie und damit auf diagonal halbierte Rechtecke (bzw. Quader) zurückgeführt (bzw. durch sie definiert). Das Prinzip dieser Zeichnungen ist die Verstandesidentität, welche die Figurationen zur Regelmäßigkeit bestimmt und damit die Verhältnisse begründet, welche dadurch zu erkennen möglich wird. (246) Die Grundlagen der Elementargeometrie sind praktisch reproduzierbare Schemata. Wie in Tangram-Spielen kann man Dreiecke auf vielfältige Weise zu komplexeren Figuren zusammenlegen. Die Zusammenlegungen werden in Diagrammen skizziert. Wir kommentieren diese Skizzen durch Beschreibungen entstehender Kongruenzen und dann auch der gleichen Formen verschiedener Größen (vermittelt durch eine Zentralprojektion). Hegels Rede von der Verstandesidentität meint gerade den Umgang mit diesen Schemata, wie wir sie als Schulkinder gelernt haben (sollten). Im Vorbeigehen kann bemerkt werden, daß es ein sonderbarer Einfall Kants war, zu behaupten, die Definition der geraden Linie, daß sie der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten sei, sei ein synthetischer Satz; denn mein Begri= vom Geraden enthalte nichts von Größe, sondern nur eine Qualität. In diesem Sinne ist jede Definition ein synthetischer Satz; das Definitum, die gerade Linie, ist nur erst die Anschauung oder Vorstellung, und die Bestimmung, daß sie der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten sei, macht erst den Begri= 208 k 208 k 208 f . k
134 Erste Abteilung: Die Mechanik 246 f. aus (wie er nämlich in solchen Definitionen erscheint, s. § 229). Daß der Begri= nicht schon in der Anschauung vorhanden ist, ist der Unterschied von beiden, der die Forderung einer Definition herbeiführt. Daß aber jene Definition analytisch ist, erhellt leicht, indem die gerade Linie sich auf die Einfachheit der Richtung reduziert; die Einfachheit aber, in Beziehung auf Menge genommen, die Bestimmung der geringsten Menge, hier des kürzesten Weges, gibt. (246 f.) Hegels Nebenbemerkung zur Frage, ob es ein synthetischer Satz ist, dass die gerade Linie die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist, wie Kant sagt, oder ob der Satz rein begri=lich und damit ›analytisch‹ wahr ist, ist wahr und falsch zugleich, obwohl es zunächst so scheint, als wäre das nur eine Frage der Terminologie. Kant argumentiert in meiner sehr nachsichtigen Rekonstruktion grob so: Der Begri= des Geraden ist (wie der ebenen Flächen) nur durch die qualitative Bedingung der kongruenten Passung aller (guten Kopien von) geraden Linien oder Kanten zueinander definiert. D. h., es entstehen keine Löcher oder Hohlräume. Von der Länge der Linie ist dabei nicht die Rede. Woher also wissen wir, dass die gerade Verbindung zweier Punkte die kürzeste ist? Empirische Messung taugt nicht, die ›Notwendigkeit‹ dieser Aussage einzusehen. Sie gilt nach Kant zwar a priori und ist doch synthetisch. Denn sie sagt uns durchaus etwas Neues über die Geradheit. Diese Wahrheit können wir Kant zufolge nur durch ›reine Anschauung‹ einsehen. Grundlage dafür ist der Satz, dass die Summe zweier Seiten eines Dreiecks immer länger ist als die dritte Seite. Wenn zwei Punkte durch eine nicht gerade Linie verbunden sind, lassen sich Dreiecke zwischen die Linie und die gerade Verbindung legen. Diese Demonstration ist aufgrund ihrer klar reproduzierbaren Form nicht einfach eine empirische Beobachtung bloß einiger einzelner Sachen. Hegels Rede davon, dass die Einfachheit der geraden Linie »in Beziehung auf Menge genommen« zum kürzesten Weg führe, klingt demgegenüber zunächst wie reiner Unfug. Hegel meint zwar, dass gerade Linien nur im Kontext der Anschauung konkreter Realisierungen definiert seien. Aber eben das sagt auch Kant. Kant hebt nur hervor, dass rein formallogisch, ohne Anschauung von Diagrammen, aus der Definitionsformel der geradlinigen Verbindung zweier Punkt nichts über ihre Länge folgt. Hegel betont dagegen, dass der materiale Begri= der geraden Linie als Eidos oder Form und damit ihre Definition
Raum und Zeit 135 gerade so ist, dass sich die zu zeigende Eigenschaft ›analytisch‹, wie er sagt, ergibt. Ich nenne das, was Hegel hier »analytisch« nennt, »materialbegri<ich«. Richtig an seiner Überlegung ist, dass der Begri= als Formbestimmung »nicht schon in der Anschauung vorhanden ist«. Wir wissen, heißt das, erst dann, um welche Form es sich handelt, wenn die Form explizit gemacht ist. Und das verlangt in der Protogeometrie ein Wissen über Passungen, sogar über die Längen der Seiten von Dreiecken. Dennoch kann man reine Formen nicht eigentlich unmittelbar wahrnehmen. Aus der holistischen Form des Geraden im Kontext von Quadern, Rechtecken und Dreiecken ergibt sich also in der Tat materialbegri=lich, bei Hegel ›analytisch‹, bei Kant ›synthetisch a priori‹, dass gerade Linien die kürzesten Verbindungen zwischen zwei Punkten sind. Das gilt in der euklidischen Geometrie der reinen Formen, gerade weil es auch im Umgang mit Quadern, Rechtecken und Dreiecken klarerweise allgemein gilt. Dem widerspricht nicht, dass man im realen Raum der Bewegungen von Körpern und Licht die ›kürzesten‹ bzw. ›schnellsten‹ Verbindungen zwischen zwei Stellen in einem neuen Sinn »gerade« nennt. Diese neuen ›geraden‹ Linien haben aber keineswegs mehr alle Passungseigenschaften der geraden Kanten und Winkel von Quadern und Keilen, schon gar nicht in beliebiger Genauigkeit. Hegel versteht eine Definition als Formbestimmung des relevanten Begri=s, also des Gegenstandsbereichs eines Bezugsgegenstands. Eine solche Definition ist nicht über eine prädikative Aussonderung zu erhalten, da eine solche das relevante Genus schon als gegeben voraussetzt.17 Es gehört daher zunächst zur Definition der geraden Linie, dass sie ein Gegenstand der euklidischen Formengeometrie ist. Wenn also von euklidischer Geradheit in idealen geometrischen Formen 17 Freges Versuch, den ›Begri=‹ der Zahl über eine prädikative Aussonderung zu definieren, scheitert schon daran, dass es gar keinen Bereich gibt, aus dem man die reinen Zahlen aussondern könnte, es sei denn, man beginnt schon mit den reinen Mengen der Naiven Mengenlehre Georg Cantors. Das aber will Frege unbedingt vermeiden. Wie gezeigt, sind empirische Dingmengen oder Anzahlen schon abstrakt, aber nie rein.
136 Erste Abteilung: Die Mechanik 247 die Rede ist, nicht von ›schnellsten‹ Verbindungen im kosmischen Raum, gilt in der Tat begri=lich, also formentheoretisch, bei Hegel: analytisch, dass gerade Verbindungen erstens die Passungspostulate des Geraden erfüllen und zweitens die kürzesten sind. Die Unklarheit in Kants Rede von einer ›reinen‹ Anschauung betri=t insbesondere die sprachlogische Ideation als Übergang der Rede über konkrete Diagramme (eidola) zur Rede über die durch sie nur repräsentierten idealgenerischen Formen (eidē). b. Die Zeit 209 § 257 Die Negativität, die sich als Punkt auf den Raum bezieht und in ihm ihre Bestimmungen als Linie und Fläche entwickelt, ist aber in der Sphäre des Außersichseins ebensowohl für sich und ihre Bestimmungen darin, aber zugleich als in der Sphäre des Außersichseins setzend, dabei als gleichgültig gegen das ruhige Nebeneinander erscheinend. So für sich gesetzt, ist sie die Zeit. (247) Hegels Privatsprache sollte nicht in allen Dingen kopiert werden. Sie taugt nicht im Ganzen als kanonisches Ausdruckssystem, obwohl Hegel sie als ein solches, nicht etwa als gedankenfreien Jargon, entwickelt und vorschlägt. Dabei hat er darin immer recht, dass Begri=e nicht allein über Sprache, also Wörter, zu erhalten sind, sondern gemeinsame Kenntnis und rechte Beurteilung von Formgleichheiten in Weltbezugnahmen voraussetzen. Außerdem ist es kein schlechter terminologischer Vorschlag, den Verstand auf die Reproduktion angelernter Schemata im formalen Regelfolgen zu reduzieren. Menschen, die einen scharfen Verstand haben, verstehen zwar schematisierte Unterscheidungen schnell, was aber oft nicht ausreicht, wo es um freie Vernunft im Blick auf Ganzheiten geht. Erst Menschen mit urteilskräftiger Vernunft begreifen in dialektischen Bestimmungen konkreter Bezugsgegenstände an und für sich die relevanten und gemeinsam zugänglichen Inhalte. Das gilt für Dinge und Sachen ebenso wie für relationale Zustände oder jedes prozessuale Geschehen. Die Zeit gehört zunächst rein zur Sphäre der Doxa und des Empirischen, also gerade nicht zu den Themen des stehenden Wissens der mathematischen Wissenschaften und einer zeitallgemeinen mathēsis
Raum und Zeit 137 des Wissens über allgemeine Formtypen. Die Zeit ist aber zugleich wesentliches Formmoment jeder Realität, also der Welt des Einzelgeschehens. Dieses Geschehen und Werden kann man nur unter Bezugnahme auf reale oder fingierte subjektive Perspektiven in seiner Aktualität begreifen.18 Vor dem Hintergrund des Wissens über das Räumliche in seiner von aller Zeit abstrahierenden Form und über das Zeitliche in seinem von mir zum leichteren Verständnis vorläufig »empirisch« genannten Status kann man jetzt auch Hegels formelhaftes Orakel besser verstehen: In der Vorstellung eines punktförmigen Hier als Stelle im Raum und dann auch eines äußeren Dort steckt schon die gesamte »Negativität« der abstraktiven Unterscheidungen momentaner Stellen ›im Raum‹ – samt der Linien und Flächen, die wir unterstellen oder brauchen, um von hier her den Ort des Dort zu bestimmen (jetzt freilich noch nach den Verfahren des einfachen euklidisch-geometrischen Modells, das implizit annimmt, dass man formstabile Quader und Keile zum Ausmessen von Längen und Winkel so benutzen kann, wie das Architekten und Bauleute tun). Das Hier als mein Ort muss gegenüber der Sphäre dessen, was außer mir da und dort ist, auch noch so betrachtet werden, dass es »ebensowohl für sich« relativ stabil bleibt, etwa als mein ganzer Körper oder eine Stelle an diesem Körper oder eine Stelle an einem anderen Körper, von dem her man die Welt zu betrachten gedenkt. Ohne Bezugnahmen auf eine relative ›Substanz‹ S dieser Art gibt es keine äußeren räumlichen Relationen. Die zeitlichen Verhältnisse wiederum sind logisch-metaphorisch als ›innere‹ Relationen von S aufzufassen. Im Fall von Körperdingen können das atomare Schwingungen und die zugehörigen Takte sein. Im Fall von Subjekten denkt Kant an Abfolgen ›innerer‹ Vorstellungen als Basis für die Bestimmung der Zeitordnung 18 Das zeigt sich an den Fiktionen, die man braucht, um den Begri= der Einsteinsynchronisation von Ereignissen e hier und e ∗ an anderen Orten zu erläutert: Man redet so, als könnte ein Subjekt an ganz entfernten Orten die lokale gleichzeitige Ankunft eines Lichtstrahls mit dem Ereignis e ∗ registrieren – und erklärt e konventionell als mit e ∗ ›gleichzeitig‹, wenn der Strahl t Stunden vor e abgeschickt worden war und t Stunden nach e wieder zurückkommt.
138 Erste Abteilung: Die Mechanik äußerer Abläufe einerseits, an eine Fundierung räumlicher Relationen im Hier, Jetzt und Ich andererseits. Es sind aber z. B. auch die Zeittakte einer Quarzuhr ›innere‹ Ereignisse, die wir als solche von einem zeitlichen Start aus zählen. In diesem Sinn ist die Zeit nicht bloß das subjektiv ›Innere‹ von Vorstellungsfolgen wie bei Kant, sondern das objektiv Innere lokaler Ereignisfolgen sozusagen ›in‹ einer Körpermonade. Der Ausdruck »die Zeit« ist also zunächst Titel erstens für das Jetzt einer beliebig ausgedehnten Gegenwart laufender Prozesse. Ein solcher Prozess kann so ausgedehnt sein wie der jetzige Weltzustand oder so kurz wie meine präsentischen Atemzüge oder Herzschläge. Zweitens steht die Zeit aber auch für alles unwiederbringlich Vergangene. Dabei können wir die sogenannte Gegenwart als Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft beliebig verkürzen. Im Extremfall schnurrt sie auf einen Augenblick, Moment oder Jetztpunkt zusammen – was schon seit der Antike diskutiert wird. Die noch ausstehende Zukunft ist von der Gegenwart her als ein Möglichkeitsraum zu bestimmen. Die präsentischen Prozesse der Gegenwart bestimmen ja häufig keineswegs schon eindeutig eine zukünftige Wirklichkeit, allem naiven Glauben an einen durchgängigen Kausalnexus zum Trotz. Unter Bezugnahme auf meine Wanderung in den Nachbarort gehört z. B. meine Ankunft im Normalfall zur Gegenwart des Heute. In Bezug auf mein präsentisches Gehen aber ist die Ankunft nur erst eine Möglichkeit. Der Fall ist analog dazu, dass schon für ein Tier das Fangen einer gesehenen Beute in einer modalen Zukunft liegt: Es kann dabei immer noch einiges schiefgehen. Logisch gesehen, steht daher die übliche Rede von einem momentanen Zeitpunkt, wie Hegel als Erster bemerkt hat, nur ideal und formal für die Gegenwart, so wie die monadischen Raumpunkte bei Leibniz nur ideale Vertreter möglicher Körper sind.19 19 So wie Punkte im Modell räumliche Stellen vertreten, vertreten sogenannte Zeitpunkte immer nur eine ausgedehnte Gegenwart bzw. ein präsentisches Geschehen, das, wie z. B. der Morgensturm heute, gerade so lange dauert wie der relevante Prozess. Nur wenn wir zu beliebigen kürzeren Teilprozessen übergehen, schnurrt die Gegenwart auf einen Moment
247 Raum und Zeit 139 Durch die Fiktion monadischer Punkte sozusagen an jedem Ort und zu jeder Zeit und durch eine Zuordnung ihrer ›lokalen Perspektiven‹ entsteht andererseits ein Strukturbild des gemeinsamen, globalen, einheitlichen Raumes und einer einheitlichen Raumzeit der ganzen Welt. Das mathematische Modell der Monadologie und der möglichen Welten liefert aber als solches immer nur ein reines, also ideales Bild für die Gesamtform unserer Zuordnungen von Bezugnahmen auf Raumstellen und auf eine temporale Gegenwart. Damit wird langsam klarer, wie das Rätsel der Zeit zu lösen ist. Dieses hatte seit Heraklit und Zenon von Elea die besten Köpfe, wie z. B. auch Augustinus, zum Nachdenken eingeladen. Das Rätsel ergibt sich aus unseren idealen, mathematikanalogen Darstellungen. Das Hauptproblem resultiert aus einer Missachtung der variablen Belegbarkeit von räumlichen und zeitlichen Pronomen wie »hier« und »jetzt«. Entsprechend ergibt sich das Hauptproblem des Gegenstandsbezugs in jeder Form des Empirismus aus der variablen Belegbarkeit des nackten Demonstrativpronomens »dies«. Trotz der schwierigen Ausdrucksformen ist unbezweifelbar, dass Hegel eben das gesehen hat. Das wurde von großen analytischen Philosophen – wie W. V. O. Quine und W. Sellars, R. B. Brandom und John McDowell – wenigstens im Prinzip erkannt und anerkannt. § 258 Die Zeit, als die negative Einheit des Außersichseins, ist gleichfalls ein schlechthin Abstraktes, Ideelles. – (247) Zunächst artikuliert das Wort »Zeit« als Titel nur erst einen abstrakten Unterschied zu äußeren, räumlichen Relationen zwischen Dingen. Der Ausdruck »negative Einheit des Außersichseins« nennt also grob das ›innere‹ Sein von Sachen (qua Dingen oder Prozessen), die einige Zeit lang in ihrer Identität bestimmt sind. Das Zeitliche ist damit als Formmoment allen Seins erkannt. Ein anderes Formmoment ist das Räumliche. Raum und Zeit sind eben daher etwas zusammen, der kürzer ist, als man »jetzt« sagen kann. Für einen solchen Moment (allein) gilt, dass er, indem er ist, schon nicht mehr ist. Für die gegenwärtige Zeit gilt dagegen (nur), dass sie solange ist, als sie noch nicht zu Ende ist, wie Hegel gleich sagen wird. 209
140 209 209 k Erste Abteilung: Die Mechanik 247 Ideelles – jetzt aber nicht, wie bei Kant, als bloße ›Formen unserer subjektiven Anschauung‹ ohne jede Objektivität. Mit der Transzendentalen Ästhetik gerät natürlich die Gesamtkonstruktion von Kants Kritik der reinen Vernunft aus den Fugen. Die Raumzeit als Einheit von allen Bewegungen und prozessualen Veränderungen kann in ihrer Verfassung nur in einer reflektierenden Formentheorie explizit werden. Das Problem ist dabei, dass die Vollzugsformen des Zeitlichen bzw. des Werdens von ihren Darstellungen zu unterscheiden sind. Sie werden ja als reflexionslogische Formen zum Thema und damit zu einem überzeitlichen Gegenstand der Rede nur über die Vermittlung figurativer, also im weiten Sinn metaphorischer symbolischer Darstellungen. Man denke als Beispiel an den Zeitstrahl (die Abszisse) und an das bloß Analogische der Darstellungen von Punktbewegungen durch eine Funktion von Zeitzahlen in Ortszahlen. Sie ist das Sein, das, indem es ist, nicht ist; und indem es nicht ist, ist, das angeschaute Werden, d. i. daß die zwar schlechthin momentanen, d. i. unmittelbar sich aufhebenden Unterschiede als äußerliche, d. i. jedoch sich selbst äußerliche, bestimmt sind. (247) Die Zeit oder das Zeitliche im Vollzug ist das Sein selbst. Dieses Sein ist der Prozess des Lebens im Fall eines Lebewesens in all seinen Relationen zur Umwelt oder zur es umgebenden Natur. Im Fall eines toten Dinges sind die Verhältnisse, wie Leibniz auch schon sieht, durchaus analog. Zu den Selbstbezugnahmen reiner Körper gehören insbesondere die für einige Zeit in ihrem Innern wirksamen Attraktionskräfte. Hegel spricht metaphorisch von einem angeschauten Werden im Sinne der ausgedehnten Prozessform präsentischen Seins, z. B. auch in meiner gegenwärtigen Umgebung und Umwelt. Schlechthin momentan ist nur die Möglichkeit einer formalen Grenzziehung zwischen ›allem‹ Vergangenen und ›allem‹ Zukünftigen. Die Zeit ist wie der Raum eine reine Form der Sinnlichkeit oder des Anschauens, das unsinnliche Sinnliche, – aber wie diesen, so geht auch die Zeit der Unterschied der Objektivität und eines gegen dieselbe subjektiven Bewußtseins nichts an. (247) Hegels gnomische Kommentare zu Raum und Zeit sind ultrakurze, stenographische Korrekturen dazu, was Kant zu dieser Thematik ge-
247 Raum und Zeit 141 sagt hat. Das zeigt sich gerade hier, wo Hegel an Kants Formeln von der Zeit und dem Raum als reine Formen der Sinnlichkeit oder des Anschauens mit bedingter bzw. modifizierter Zustimmung erinnert. Denn schon in der paradoxen Formulierung vom unsinnlichen Sinnlichen wird klar, dass diese reinen Formen als solche gar nicht die realen Vollzugsformen unseres eigenen Seins oder des Seins der Dinge im Raum und in der Zeit sind, sondern ihre zu Reflexionszwecken vergegenständlichten Formen, ideal modelliert in mathematischen Rede- und Darstellungsformen. Den Raum und die Zeit selbst als Gesamtsystem räumlicher und zeitlicher Beziehungen der Dinge zu einander gehen unsere subjektiven Meinungen dazu, was hier oder dort, zuerst und danach geschehen zu sein scheint, gar nichts an. Das Zeitliche und das Räumliche des Seins und Werdens der Dinge und Sachen sind als zwei Momente ebenso wirklich und objektiv wie die Welt, in der wir leben. Es ist daher unpassend, mit Kant zu sagen, Raum und Zeit ›gäbe‹ es nur, weil wir in unserer Lokalität die von uns perzipierten Erscheinungen bzw. deren dingliche Ursachen zeitlich und räumlich nach den mathematischen Mustern der Geometrie und Kinematik ordnen. Kants Vergleich mit einem überzeitlichen Gott, für den alle Vergangenheit und Zukunft präsentisch ist, so dass er sozusagen noch schneller als die Engel mit ihren starken Flügeln an jeden Ort der Welt in no time fliegen kann, lässt es so erscheinen, als läge es an uns, dass alle Dinge und Sachen ›als Erscheinungen für uns‹ zeitlich und räumlich endlich sind. Hegel sieht, dass Kants transzendentale Ästhetik rein subjektiver Idealismus und insofern eine Art Unfug ist. Es ist sinnlos, die Räumlichkeit und Zeitlichkeit der Dinge und Sachen der realen Welt wegzudenken. Denn damit würde alles weggeredet oder weggedacht. Wenn diese Bestimmungen auf Raum und Zeit angewendet werden, so wäre jener die abstrakte Objektivität, diese aber die abstrakte Subjektivität. (247) Es klingt nur oberflächlich so, als folge Hegel Kant. Das Gegenteil ist der Fall. Soweit man die Unterscheidung zwischen äußerer Objektivität und innerer Subjektivität auf das Räumliche und Zeitliche anwenden kann, ist der Raum der Bereich der objektiven Realität. Dabei ist aber immer an eine passende Gegenwart zu denken, die 209 k
142 209 k Erste Abteilung: Die Mechanik 247 ein ausgedehntes, nicht momentan-punktförmiges Jetzt bestimmt, z. B. das Jetzt unserer Weltzeit seit dem Urknall oder das Jetzt meines Lebens, um nur zwei Beispiele zu nennen. Alle Dinge und Sachen, die jetzt objektiv real sind, sind dann im Raum vorhanden bzw. müssen im Prinzip räumlich platzierbar sein. Die Zeit ist die abstrakte Subjektivität nur insofern, als sie, lokal gesehen, dass innere Sein im Vollzug der Wesen und Dinge ist. Bei Leibniz findet die Monade als vorgestelltes Punktwesen – in repräsentativer Vertretung eines Lebewesens oder Dings – alle ›perzipierten‹ äußeren Geschehnisse irgendwie in sich: Die abstrakte Subjektivität verwandelt die für sie relevanten äußeren Bewegungen und äußeren Prozesse sozusagen in innere Re-Aktionen. Alles, was es jenseits der Zeit (also der Gesamtgegenwart) und jenseits des Raums (also der Gesamtwelt) ›gibt‹, kann es nur in einer ganz anderen Kategorie bzw. Redeform ›geben‹ als die objektive Realität der endlichen Wesen in der innerweltlichen Raumzeit. Alle ortsund zeitallgemeinen Gegenstände haben z. B. schon eine besondere, abstrakte Seinsform. Sie teilen diese zunächst mit allen rein verbal fingierten Redegegenständen, also den fiktionalen Figuren in Romanen ebenso wie den reinen mathematischen Gegenständen. Ein Unterschied entsteht daraus, dass das Wissen über Typen und Formen der Welt im Unterschied zu einem Wissen über Figuren in Märchen eine jeweils genau angebbare transzendentale Funktion für das Verstehen und Begreifen von konkreten Sachen als Instanzen der betre=enden idealen Arten haben. Der Gedanke stammt im Prinzip von Kant. Die Zeit ist dasselbe Prinzip als das Ich = Ich des reinen Selbstbewußtseins; aber dasselbe oder der einfache Begri= noch in seiner gänzlichen Äußerlichkeit und Abstraktion, – als das angeschaute bloße Werden, das reine Insichsein als schlechthin ein Außersichkommen. (247) Bei erster Lektüre scheint der Satz mystischer Unfug zu sein. Warum in aller Welt soll die Zeit »dasselbe Prinzip« sein wie Fichtes »Ich = Ich des reinen Selbstbewußtseins«? Hegel schränkt das zwar gleich ein. Es bleibt aber unklar, wie dieser Disclaimer konkret zu verstehen ist. – Wir kommen nun jedoch über eine weitere Verbindung zur Monadologie weiter. Denn die Monade ist sozusagen das subjektive Prinzip des Vollzugs des Seins und der (perzipierenden) Reaktionsform eines
248 Raum und Zeit 143 Wesens, ob als personales Subjekt, bloßes Lebewesen oder reines Ding. Aus ihrer Sicht und Perspektive ist alles innerlich. Die Formel Ich = Ich bei Fichte, die symbolisch für das reine Selbstbewusstsein steht, meint nun gerade die Selbstvergegenständlichung dieses subjektiven Ich-Seins im Vollzug – z. B. in Aussagen über uns selbst. Bewusste Zeit ist in analogem Sinn vergegenständlichtes Gegenwärtigsein. Hegels Einschränkung besagt nach diesem Lese-Vorschlag, dass ich meine Gegenwart bin und dass die innere Zeit meines Lebens dieses Ich im Vollzug ist. Das aber ist noch ganz abstrakt gesagt. Der »einfache Begri=«, von dem Hegel hier »in seiner gänzlichen Äußerlichkeit und Abstraktion« spricht, ist wohl das Gesamt des subjektiven, im guten Fall schon personalen Ich-Seins. Bei Kant liefert der innere Sinn nur das »angeschaute bloße Werden« etwa in Veränderungen je meiner Empfindungen. Im reinen Insichsein der Zeit in der Monade des Ich spiegelt sich, wie oben gesagt, das äußere Geschehen, so dass Hegel von einem »Außersich-kommen« spricht. Interessant ist die dabei festgehaltene Lokalität aller Zeitordnung, von der her jede ›objektive‹ Zeitaussage per Abstraktion relativ zu einem System von Perspektiventransformationen allererst konstituiert werden muss. Die Zeit ist ebenso kontinuierlich wie der Raum, denn sie ist die abstrakt sich auf sich beziehende Negativität, und in dieser Abstraktion ist noch kein reeller Unterschied. (248) Dass die Zeit ebenso kontinuierlich ist wie der Raum, bedeutet zunächst nur, dass sie im Kleinen indefinit teilbar, im Großen indefinit verlängerbar ist. Zu jedem präsentischen Geschehen gibt es rein formal ein kürzeres und zu jedem Prozess einen länger dauernden. Der begründende Denn-Satz, den wir oben schon erwähnt haben, ist dennoch obskur. Hegel denkt sich das wohl so: Die Zeit ist das Moment des Werdens, bei dem wir von den äußeren, räumlichen Aspekten der Bewegungen und Veränderungen gerade so abstraktiv absehen wie beim Raum von aller Zeit. In dieser bloß erst rein formalen Abstraktion ist zunächst »noch kein reeller Unterschied« etwa von Zeitdauern und Zeitdaten definiert. Sie ist nur erst vom indefiniten Ganzen des Werdens her gesehen. In der Zeit, sagt man, entsteht und vergeht Alles; wenn von Allem, nämlich der Erfüllung der Zeit, ebenso von der Erfüllung des Raums 209 k 210 k
144 Erste Abteilung: Die Mechanik 248 abstrahiert wird, so bleibt die leere Zeit wie der leere Raum übrig, – d. i. es sind dann diese Abstraktionen der Äußerlichkeit gesetzt und vorgestellt, als ob sie für sich wären. Aber nicht in der Zeit entsteht und vergeht Alles, sondern die Zeit selbst ist dies Werden, Entstehen und Vergehen, das seiende Abstrahieren, der Alles gebärende und seine Geburten zerstörende Chronos. – (248) Hegel kommentiert hier unsere Raummetapher in dem Satz »Alles geschieht in der Zeit«. Solche Metaphern sind nicht, wie Hobbes meint, zu vermeiden oder gar zu verbieten, sondern in ihrem richtigen, analogisch-inferentiellen Gebrauch zu lernen. Die Rede davon, dass sich alle Dinge im Raum befinden, transportiert das Bild von einem mathematisch beschriebenen Behälter, in den die Materie, wie Hermann Weyl in dem wichtigen Buch Raum, Zeit und Materie so schön formuliert,20 wie in eine für sie schon erbaute Mietskaserne für einige Zeit einzieht. Eben diese bildliche Vorstellung des ›absoluten‹ Raumes kritisiert hier schon Hegel. In jedem Fall erkennt Hegel, dass man von idealisierenden Konstruktionen abstrahiert, wenn man die mathematischen Modelle mit der raumzeitlichen Welt aller Dinge, Sachen und Prozesse identifiziert oder sie auch nur naiv für isomorph erklärt. Der leere Raum ist nur der reine Raum der Mathematik. Die leere Zeit ist nur die reine Zeitlinie ohne Zeitmaß. Damit erkennt Hegel Zeit und Raum als quantitative Formen und sieht, dass die Belegung der Variablen für Daten, Dauern, Längen und Winkel bzw. Abstände und Ortsbestimmungen durch Zahlen allererst in vernünftiger Weise mit wirklichen und dann auch für im Prinzip möglich erklärten Messungen und gut gewählten Maßeinheiten in Verbindung zu bringen ist. Die Tiefe dieser Einsichten ist bis heute noch nicht einmal im akademischen Mathematik- und Physikunterricht angekommen. Die Zeit selbst ist Entstehen und Vergehen. Das alles hervorbringende und alles zerstörende Werden wurde in der griechischen Antike mit Kronos, dem Sohn des kosmischen Uranos identifiziert. Uranos ist das Weltall oder der Sternenhimmel. Kronos ist der tellurische Vater des Zeus, der schon dem Namen nach Vater des Lebens ist. Kronos aber ist auch Chronos, Zeit, freilich dem Mythos zufolge nur erst als 20 Hermann Weyl, Raum, Zeit und Materie, Berlin: Springer 1923, 6 1970.
248 Raum und Zeit 145 Erdenzeit. Zeus bezwingt den Vater Kronos/Chronos insofern, als das Leben sich gegen die rein physikalischen Kräfte der Desintegration bzw. des Zerfalls lebendiger Körper einige Zeit lang durchsetzt. Das Reelle ist wohl von der Zeit verschieden, aber ebenso wesentlich identisch mit ihr. Es ist beschränkt, und das Andre zu dieser Negation ist außer ihm; die Bestimmtheit ist also an ihm sich äußerlich und daher der Widerspruch seines Seins; die Abstraktion dieser Äußerlichkeit ihres Widerspruchs und der Unruhe desselben ist die Zeit selbst. (248) Hegel nennt das empirisch Reale konkreter Dinge und physischer Phänomene wie die Lichtausbreitung »das Reelle«. Er weigert sich mit vollem Recht, sich auf die Vorstellungswelt des subjektiven Idealismus einzulassen, wie er von Descartes oder Berkeley zunächst bis zu Kant, Fichte und Schopenhauer, dann aber weiter bis zum jungen Wittgenstein und Carnap führt. Diesem Idealismus zufolge soll alles empirisch Reelle zunächst je nur meine Vorstellung sein. Hegel vermeidet aber auch die Falle des Naturalismus oder Materialismus. Dieser betrachtet die reale Welt noch so wie die Theologen in neuplatonischen Zeiten von der Seite her. Das dabei im Hintergrund immer noch wirksame Bild eines empirisch und gesetzeslogisch allwissenden Gottes ist inkohärent. Denn es passt weder zur Modalität futurischer Zeit noch zu den Tatsachen der Kontingenz als Begrenzung von allem Gesetzlichen (der sogenannten Kausalität). Hegel erkennt außerdem, dass es sich bei der Entgegensetzung von Erscheinung und Ding nur um Momente im gemeinsamen Weltbezug handelt. Damit überwindet er das widerspruchsvolle Schwanken des Empirismus zwischen Hobbes und Hume ebenso wie die Dualismen von Descartes bis Fichte. Das Sinnverstehen und sogar schon das menschliche Wahrnehmen ist immer schon materialbegri=lich geformt. Hegels logische Analyse hebt damit robust die transzendentalen Stufen der Konstitution unserer objektiven Welt- und Gegenstandsbezugnahmen hervor, ohne auf mystische Annahmen oder dogmatische Behauptungen über unterstellte oder angeborene Formen unseres Gemüts (mind) mit seiner Sinnlichkeit und seinem rechnenden Verstand angewiesen zu sein. Das zeigt sich auch darin, dass Hegel (wie später auch Weyl, natürlich im Nachgang zu Einstein) die ›Identität‹ der realen Raumzeit (nicht 210 k
146 Erste Abteilung: Die Mechanik des mathematischen Modells) mit dem ›Vorhandensein‹ von Materie im Sinn physischer Dinge und Sachen erkennt und anerkennt. Alles Reelle, also alles, was in der einen und einzigen Welt als Einzelnes vorhanden ist, ist zeitlich auf die Epoche seines Seins als Instanziierung einer Artform beschränkt. Nicht nur Lebewesen gibt es nur während der Zeit ihres Lebens. Dasselbe gilt für das ›unruhige‹ Sein oder Werden von allem Einzelnen. Am Beispiel der Sterne und Planeten oder Tiere und Menschen kann man dann zumindest dies einsehen, dass es vor ihrer Entstehung oder nach ihrem Untergang andere Sachen gab bzw. geben wird. Dabei können wir sicher sein, dass es ein solches Vor und ein solches Nach für ›alles in der Welt‹ gibt; nur das Ganze der Welt ist kein derartiger endlicher Gegenstand. Das ist logisch formal gerade so, wie das Ganze aller reinen Mengen keine Menge ist und sein kann. Wir müssen daher – unbedingt – spekulative Sätze über Ganzheiten oder gesamte Gegenstandsbereiche von Sätzen und Aussagen über einzelne Elemente und Teilmengen oder Arten in solchen Bereichen unterscheiden. Hegels Begri=e sind dabei, wie gesagt, relational strukturierte Bereiche von Gegenständen (an sich).21 Alles Reelle ist also immer auch raumzeitlich bestimmt und damit auch ›von außen‹ beschränkt. Das gilt für alles einzelne Endliche qua Ding (wie ein Turm oder ein Tier) oder qua Prozess (wie eine Lichtausbreitung oder eine chemische Reaktion). Hegels Formel vom »Widerspruch seines Seins« können wir damit als Hinweis auf die Nichtexistenz einer unendlichen Substanz deuten, die sich ewig erhält, wie manche das von der atomaren Materie fälschlicherweise glauben. Schon Aristoteles und Spinoza hatten gesehen, dass ein solcher Glaube materialbegri=lich außer der Welt ist. Nur die ganze Welt ist substantielle Ousia, im Ganzen der Zeit bestehend. Hegels Unterscheidung zwischen begri=simmanenten Sätzen und Aussagen über Gegenstände eines wohldeterminierten Bereichs und seine indefiniten Aussagen über Totalitäten als Momente des Ganzen des Seins 21 Würde man bei den Zahlen von ihrer relationalen Struktur (und den verschiedenen Zahlrepräsentationen) absehen, kollabierten diese, wie Hegel schon in der Logik der Quantitäten gezeigt hatte, auf eine abstrakte Menge, deren Elemente mangels Ordnung gar keine Zahlen mehr wären.
248 Raum und Zeit 147 wie Raum, Zeit, Natur, Welt, das Endliche oder dann sogar Geist und Gott stehen bewusst in dieser Tradition. Darum ist das Endliche vergänglich und zeitlich, weil es nicht, wie der Begri=, an ihm selbst die totale Negativität ist, sondern diese als sein allgemeines Wesen zwar in sich hat, aber ihm nicht gemäß, einseitig ist, daher sich zu derselben als zu seiner Macht verhält. (248) Alle Dinge und Sachen sind endlich. Nur das All aller Sachen ist nicht im gleichen Sinn endlich. Nur das Ganze der Welt, bei Spinoza leider »Natur« genannt, ist Substanz. Nur sie ist bleibend, ewig – wenn wir von den zeitallgemeinen Begri=en und Formen als bloß abstrakten Gegenständen reflektierender Rede absehen. Diese sind »totale Negativität« in dem Sinn, als in den generischen Reden über einen Begri= qua Gesamtform von allen einzelnen empirischen Instanzen (und besonders von ihren privativen Mängeln) ideativ und abstraktiv abgesehen wird. Im Vollzug des Seins seiner Art enthält ein Ding, Prozess oder Lebewesen das allgemeine Wesen der Artform in sich, wie wir uns metaphorisch in unseren reflexionslogischen Kommentaren ausdrücken. Aber jede Instanziierung unterscheidet sich von ihrem Idealbegri= wie eine Gestalt von einer geometrischen Form. Im Fall von Lebensvollzugsformen verhält sich das einzelne Lebewesen zur Artform wie »zu seiner Macht« – nämlich als Gesamt gegebener Dispositionen. Diese Macht spalten wir bei rein ›physikalischen‹ Körpern und Prozessen in besondere physikalische Wirkkräfte auf. Der Begri= aber, in seiner frei für sich existierenden Identität mit sich, Ich = Ich, ist an und für sich die absolute Negativität und Freiheit, die Zeit daher nicht seine Macht, noch ist er in der Zeit und ein Zeitliches, sondern er ist vielmehr die Macht der Zeit, als welche nur diese Negativität als Äußerlichkeit ist. Nur das Natürliche ist darum der Zeit untertan, insofern es endlich ist; das Wahre dagegen, die Idee, der Geist, ist ewig. – Der Begri= der Ewigkeit muß aber nicht negativ so gefaßt werden, als die Abstraktion von der Zeit, daß sie außerhalb derselben gleichsam existiere; ohnehin nicht in dem Sinn, als ob die Ewigkeit nach der Zeit komme; so würde die Ewigkeit zur Zukunft, einem Momente der Zeit, gemacht. (248) Beim ersten Lesen scheint Hegel unvermittelt ins Theologische abzudriften. Der Anlass ist freilich die implizit schon aufgetretene Frage 210 k 210 k
148 Erste Abteilung: Die Mechanik nach dem Verhältnis von Zeit und Ewigkeit. Besonders obskur bleibt erneut die Identifizierung von Fichtes »Ich = Ich« mit dem Begri= »in seiner frei für sich existierenden Identität mit sich«. Bevor wir das weiter aufhellen können, betrachten wir den Schluss der Passage. Das damals noch gebräuchliche »muss nicht« bedeutet natürlich in heutiger Sprache »darf nicht«. Wir dürfen also die Rede von etwas Ewigem, Zeitallgemeinem, »nicht negativ« so auffassen, als werde jede Zeit verneint. Außerhalb der Zeit ›gibt‹ es ›nichts‹, es gibt kein Ding »nach der Zeit«, etwa nach dem ›Wärmetod‹ des Weltalls, so wie es mich nach meinem Tod im Sinn realen Seins nicht mehr gibt. Aber wie die Zahlen oder sogar die Tierarten als Formen zeitallgemeine und insofern ›ewige‹ Redegegenstände sind, da man für sie immer und überall beliebige Repräsentationen sprachlich oder bildlich frei produzieren kann, so ist auch jede Vergangenheit ›auf ewig‹ so vergangen, wie sie vergangen ist. Die Vergangenheit ist ja der ›ewige‹ Wahrmacher möglicher Aussagen über sie. Die Aussagen über das Vergangene sind allerdings frei von uns hergestellt und ggf. anerkannt, obwohl wir damit ihre Wahrheit keineswegs herstellen. Ob sie also das Vergangene gut und treu (genug) repräsentieren oder nur einen fiktiven Roman über eine nicht reale Vergangenheit erzählen, ist zunächst noch o=en und muss ggf. eigens beurteilt werden. Das wissen wir alle. Dass wir dabei vieles über die Vergangenheit nicht wissen, tut nichts zur Sache. Dass wir vieles (noch) nicht wissen, ist immer so, sogar in der Mathematik. Wir dürfen nur die Gesetztheit des Wahren nie mit einer Erkennbarkeit, konkreten Begründbarkeit oder gar Entscheidbarkeit verwechseln. Es gibt das Vergangene nicht etwa im Kopf eines Gottes. Man redet nur häufig so, um die logische Form der Unterscheidung des Wahren von unserem Wissen auch etwas einfacheren Gemütern deutlich zu machen. Das hat den typischen E=ekt figurativer Reden. Viele Leute bestehen dann nämlich darauf, die falschen Folgerungen zu ziehen. Das ist so klug, ich wiederhole hier eines meiner Lieblingsbeispiele, wie wenn man aus »Richard ist ein Löwe« schließen würde, dass er die Kinder seiner neuen Frau töten möchte. Dass das Wahre ewig ist, ist jetzt nicht mehr so schwer zu begreifen, auch, dass alles Natürliche und empirisch Reale »der Zeit
Raum und Zeit 149 untertan« ist, weil es ja als Einzelnes endlich ist. Das gilt natürlich auch für uns als Lebewesen. Der Begri= als formierter Gegenstandsbereich oder, generisch gelesen, als System aller (je relevanten) Themen an sich, ist im Unterschied zu empirischen Instanzen nichts Zeitliches. Auch deren symbolischen Repräsentationen zählen nur als Darstellungen von Formen. Formen unterscheiden sich wie die noch abstrakteren bzw. allgemeineren Inhalte von ihren bloß äußerlichen Benennungen und Beschreibungen so wie rationale Zahlen von Brüchen, natürliche Zahlen von Zi=ernfolgen oder Menschen als Individuen von ihren vielen Namen, Beschreibungen und Taten. Was aber ist die ewige Idee und wer ist der ewige Geist? In welchem Sinn ist der Begri= »die Macht der Zeit«? Ist die Macht oder die Zeit »diese Negativität als Äußerlichkeit«? Und was soll das bedeuten? Wir müssen bei der Erläuterung und dem Verstehen sozusagen zu Fuß vorgehen. Der Begri= als Form oder als System von Formen ist durch die Setzungen von Formunterscheidungen, relevanten Negationen, und Formgleichheiten, also Nichtunterscheidungen bestimmt. Dasselbe gilt für Begri=e als Bedeutungen von Worten. Auch hier ruht alles auf unserem freien, aber ho=entlich möglichst gemeinsamen Unterscheiden und auf der Negativität aller Identitäten, die sich immer nur daraus ergeben, was wir nicht unterscheiden sollten oder dürfen, wenn wir uns auf das Wesentliche, Gemeinsame oder Objektive konzentrieren wollen. In dieser Fokussierung sind wir durchaus häufig erfolgreich. Damit kommen wir schon dem Verständnis der »frei für sich existierenden Identität mit sich« im begri=lichen Denken über sich näher, bei Fichte ausgedrückt durch die Formel »Ich = Ich«. Jede meiner Aussagen über Dinge in der Welt, etwa den Falken, der vor meinem Fenster im Altbau Wohnung bezogen hat, ist ja insofern schon eine Aussage über mich, als sie erstens eine Aussage über meine Welt ist – und ich und meine Welt auch noch nach Wittgensteins Tractatus identisch sind. Zweitens enthält meine Aussage über den Falken eine Aussage über mich, da ich sie ja deklarativ als wahre Aussage über die Welt behaupte. Die Formel »Ich = Ich« Fichtes wird damit zum Titel für alle meine (zunächst empirisch-realen, also konstativen, ›erzählenden‹) Aussagen über mich, dann aber sofort auch über alle meine
150 Erste Abteilung: Die Mechanik Aussagen über die Welt. Da das ›transzendentale Ich‹ Kants und Fichtes im Unterschied zu einem Einzelfall meines »ich«-Sagens gestern oder heute generisch gemeint ist und damit für ein Wir steht, steht die Formel für alle unseren Aussagen über uns und die Welt, unter Einschluss ihrer dann schon zeitallgemein zu betrachtenden Inhalte und im Fall von Feststellungen über Vergangenes oder Gegenwärtiges schon ›ewigen‹ Wahrheiten. Die ominöse absolute Negativität ist also das normative System des im Prinzip gemeinsamen begri=lichen Unterscheidens und Nichtunterscheidens, dessen Aktualisierungen (etwa im Gebrauch von Sprache) wir als gut bzw. richtig oder schlecht bzw. irreführend beurteilen (können). Dabei sind sowohl die Setzungen bzw. Kriterien dessen frei, was jeweils im Kontext wie zu unterscheiden und was nicht zu unterscheiden ist, als auch unsere reflektierenden Urteile, die wieder zu beurteilen sind, usf. Dass die Zeit nicht Macht über den Begri= (an sich) hat, wird jetzt klar: Begri=e sind als Formen und Inhalte bzw. als ganze Systeme oder Bereiche von Formen gerade so wie die Zahlen und formalen Relationen der Mathematik zeitallgemein, situationsinvariant. Das Wissen über Formen und Begri=e liefert uns sogar eine gewisse Macht über die Zeit, nämlich über eine von hier und jetzt her noch nicht perzipierbare, sondern nur auf der Basis von Allgemeinwissen im metaphorischen Sinn partiell absehbare, weil begri=lich vorwegnehmbare bzw. repräsentierbare, mögliche Zukunft. Die ewige Idee ist daher die allgemeine Form der realen Entwicklung materialbegri=lichen Allgemeinwissens. Der ewige Geist ist die institutionelle Form des generischen Wir, das diese Entwicklung trägt. Die Wissenschaft ist eine ihre Teilformen, das allgemeine Wissen eine andere. Wissen entwickelt sich nämlich auch in den Medien, in Kunst und Literatur und in allen besonderen Institutionen wie z. B. der Rechtspflege oder der Schule, der Technik oder der Ökonomie. In diesem Sinn ist der objektive Geist das allgemeine System aller Praxisformen und Institutionen. Der subjektive Geist besteht in je meinen und dabei je besonderen Vermögen der Teilhabe am Wissen. Es hat allerlei physiologischlernpsychologische Voraussetzungen. In der damals üblichen Rede
249 Raum und Zeit 151 vom Gemüt im Sinn von mind ging es um diese leiblich fundierten Voraussetzungen. Der absolute Geist aber ist unsere Gesamthaltung als möglichst vollen Personen zum objektiven Geist und zeigt sich in der Liturgie seiner Feier in Religion und Kunst, deren wahren Sinn erst die Philosophie gegen allen Aberglauben und alle Tendenzen der Selbstüberschätzung von Protagonisten der Religion und Kunst, auch der Theologie und Wissenschaft und aller anderen Institutionen explizit macht und kommentiert. In der Zeit zeigt sich nun je nur das empirisch Einzelne als Exemplar des Allgemeinen seiner Art oder Form. Sie ist in diesem Sinn die Negativität der substantiell bleibenden Formen, Begri=e und Ideen. Das Empirische ist so ›bloß‹ deren Äußerlichkeit, gerade so, wie Worte das Äußere ihrer Bedeutungen sind. Dabei gibt es die Formen und Inhalte nur über die äußeren Instanziierungen und ihre Bewertung als form- oder inhaltgleich. § 259 Die Dimensionen der Zeit, die Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit, sind das Werden der Äußerlichkeit als solches und dessen Auflösung in die Unterschiede des Seins als des Übergehens in Nichts und des Nichts als des Übergehens in Sein. (249) Zu den Zeitdimensionen der Gegenwart und Vergangenheit ist das Wesentliche schon gesagt worden. Die Zukunft aber ist das auf uns zu kommende Mögliche, das als solches nicht schon so wirklich ist, wie ein konkretes Ding sich auf uns zubewegt. Die Zukunft ist damit in vielerlei Hinsicht o=en, nicht schon voll determiniert, und das nicht etwa nur epistemisch, also aufgrund unseres mangelnden Wissens, sondern wirklich und objektiv. Das heißt, dass man die modale O=enheit der Zukunft anzuerkennen hat, gerade so, wie man anzuerkennen hat, dass der Ei=elturm links der Seine steht. Das ist kein Meinen oder Glauben, sondern ein Wissen. Das Vergehen und Werden als Übergehen in Nichts und des Nichts als Übergehen in Sein betri=t zunächst die Änderungen der Äußerlichkeiten der realen, empirischen Dinge in ihren Formen und Arten. Alles entsteht aus etwas Anderem und vergeht zu etwas Anderem. Wir sagen dazu auch, dass alles Sein eines Gegenstandes einer bestimmten 210
152 210 210 f . k 211 k Erste Abteilung: Die Mechanik 249 Art aus einem Nichtsein entsteht, also aus einem Gegenstand einer anderen, nicht dieser Art. Das unmittelbare Verschwinden dieser Unterschiede in die Einzelnheit ist die Gegenwart als Jetzt, welches als die Einzelnheit ausschließend und zugleich schlechthin kontinuierlich in die andern Momente, selbst nur dies Verschwinden seines Seins in Nichts und des Nichts in sein Sein ist. (249) Hegel sagt hier gerade das, was ich oben schon skizziert hatte: Alle verfeinerten Unterschiede des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen verschwinden in einem präsentischen Prozess, so wie aus dem Blick des ausgedehnten Jetzt meines Seins und Lebens die Zeit oder Welt vor meiner Geburt als Vergangenheit und die Zeit oder Welt nach meinem Tod als Zukunft zählt: Für mich als einzelnes Individuum ist diese Lebenszeit meine Gegenwart. Eine solche Gegenwart etwa des Lebens einer Gruppe von Menschen ist ein eingeklammertes Zeitintervall. Es heißt, besonders im Rückblick, daher auch »Epoche«. Die endliche Gegenwart ist das Jetzt als seiend fixiert, von dem Negativen, den abstrakten Momenten der Vergangenheit und Zukunft, als die konkrete Einheit, somit als das A;rmative unterschieden; allein jenes Sein ist selbst nur das abstrakte, in Nichts verschwindende. – (249) Jedes Ding (und jede Sache einer Art) existiert nur in seiner Epoche. Es war vorher nicht von dieser Art und ist es nachher nicht mehr. Alles, was es real gibt, also alles Einzelne, existiert daher nur in seiner Gegenwart. Gerade so ist alles in der Zeit. Diese ist insgesamt, sozusagen, die Vereinigung aller Epochen. Was als Gegenwart zu betrachten ist, ist, wie schon gesagt wurde, abhängig vom betrachteten Sein oder Prozess. Das Sein ist damit »selbst nur das abstrakte, in Nichts verschwindende« Sein: Alles empirische Sein ist zeitlich und damit ebenso endlich wie jede empirische Einzelsache und jedes Einzelding. Übrigens kommt es in der Natur, wo die Zeit Jetzt ist, nicht zum bestehenden Unterschiede von jenen Dimensionen; sie sind notwendig nur in der subjektiven Vorstellung, in der Erinnerung und in der Furcht oder Ho=nung. (249) In der nichtgeistigen Natur auch noch des Lebens der Tiere ist alle Zeit je nur das Jetzt der laufenden Prozesse. Hier gibt es nur
249 Raum und Zeit 153 Gegenwart. Tiere können z. B. aufgrund ihrer Fernsinne und einer rein subjektiven ›Erfahrung‹ eine präsentische Zukunft ›erwarten‹. Damit erö=net sich für ein Tier, das etwa eine Beute oder einen Beutegreifer an einem anderen Ort wahrnimmt, ein gewisser Horizont einer Zukunft-in-der-Gegenwart. In ungefähr diesem Sinn ist alles, was für ein nichtgeistiges Wesen zukünftig ist, nur erst räumlich entfernt. Es ist etwas, was sich auf es zubewegt. Als denkende, also sprechende und andere Symbole gebrauchende Wesen können wir dagegen in unserer subjektiven Vorstellung der Erinnerung Vergangenes vergegenwärtigen und uns in Furcht oder Ho=nung zu bestimmten zukünftigen Möglichkeiten bzw. möglichen ›Gegenständen‹ verhalten. Echte Vergangenheit und Zukunft sind zugänglich nur vermöge symbolischer Repräsentationen. Die Vergangenheit aber und Zukunft der Zeit als in der Natur seiend ist der Raum, denn er ist die negierte Zeit, so ist der aufgehobene Raum zunächst der Punkt und für sich entwickelt die Zeit. (249) Der Raum als negierte Zeit ist rein relationale Gegenwart. Den Weg vom Bewegungsraum zum perspektivischen Punkt als Ich-analoge Monade mit der Zeit als System verinnerlichter Änderungen (durch Perzeptionen vermittelt) haben wir schon kommentiert. Der Wissenschaft des Raums, der Geometrie, steht keine solche Wissenschaft der Zeit gegenüber. (249) Es gibt keine Wissenschaft von der Zeit. Dass das so ist, ist interessanterweise uraltes Wissen. Schon mit der Unterscheidung zwischen einer Episteme zeitallgemeiner Formen wie in der Geometrie und einer bloßen Doxa empirischer Erzählungen, Konstatierungen und artikulierter Erwartungen oder Befürchtungen wird dieses Wissen von Parmenides artikuliert. Sein Schüler Zenon von Elea geht von da dann schon zu dialektischen Paradoxien der Darstellungen der Zeit etwa als Linie oder zum Problem gleicher Zeitdauern zu verschiedenen Zeiten über. Die Zeit tritt im generischen Wissen nur in der Form zeitlich gegliederter Prozessformen auf, die als Formen überzeitlich sind – oder aber in geometrischer oder arithmetischer Verkleidung. Die mathematische Zeitlinie und ihre Zeitzahlen stehen ja nur metaphorisch für die Zeit und für Zeiten, also für Dauern. 211 k 211 k
154 211 k 211 k 211 k Erste Abteilung: Die Mechanik 249 Die Unterschiede der Zeit haben nicht diese Gleichgültigkeit des Außersichseins, welche die unmittelbare Bestimmtheit des Raums ausmacht; sie sind daher der Figurationen nicht, wie dieser, fähig. Diese Fähigkeit erlangt das Prinzip der Zeit erst dadurch, daß es paralysiert, ihre Negativität vom Verstande zum Eins herabgesetzt wird. – (249) Die Formulierung ist zwar dunkel, bringt inhaltlich aber nichts Neues, was nicht schon zur Konstitution der geometrischen Formen gesagt worden wäre. Sogar der Satz von der Paralysierung der Zeit, deren »Negativität vom Verstande zum Eins herabgesetzt wird«, besagt wohl nur, dass die Zeitzahlen im mathematischen Modell zunächst noch gar nicht interpretiert sind. Man denkt zwar an gezählte Uhrentakte. Damit ist aber noch o=en, was es heißen könnte zu sagen, dass diese Takte die gleiche Dauer haben. Dies tote Eins, die höchste Äußerlichkeit des Gedankens, ist der äußerlichen Kombination, und diese Kombinationen, die Figuren der Arithmetik, sind wieder der Verstandesbestimmung, nach Gleichheit und Ungleichheit, der Identifizierung und des Unterscheidens, fähig. (249) Hegel polemisiert unterschwellig gegen die Vorstellung, dass in der analytischen Raumzeitkinematik schon alles klar sei, weil man ja mit den Zahlentupeln in Vektorräumen exakt rechnen kann. Man könnte noch weiter den Gedanken einer philosophischen Mathematik fassen, welche dasjenige aus Begri=en erkännte, was die gewöhnliche mathematische Wissenschaft aus vorausgesetzten Bestimmungen nach der Methode des Verstandes ableitet. (250) Meine Deutung bestätigt sich hier. Hegel formuliert das Programm einer philosophischen Mathematik, samt Kritik an einer rein mathematischen Philosophie und Wissenschaft. Gerichtet ist diese Kritik erstens gegen Spinozas neuphythagoreische Philosophie more geometrico, zweitens gegen Leibniz und seinen Traum von einer formalen mathematischen Logik. Diesen Traum haben Philosophen, Mathematiker und Wissenschaftler bis heute nicht ausgeträumt, um von Sekundärgläubigen und Romanschreibern gar nicht zu sprechen. In die Kritik eingeschlossen ist die Abwehr der (übrigens ebenfalls bis heute geradezu maßlosen) Überschätzung mathematischer Naturwissenschaft in der Nachfolge von Newtons axiomatischen Prinzipien als
250 Raum und Zeit 155 ›den‹ mechanischen (kinematischen, dynamischen) ›Grundgesetzen‹ der Natur. Interessant für uns ist die tiefe Aussage, dass eine rein mathematische Wissenschaft – also nicht etwa Hegel – den Anspruch erhebt, ihre Formen unmittelbar als materialbegri=liche Wahrheit ausgeben zu können. Man sieht dabei nicht, dass die Axiome und Theoreme als Sätze nur erst für das schematische Rechnen mit Zahlsymbolen und für ein diagrammatisches Schließen im Umgang mit Planskizzen und Landkarten gelten. Diese Modelle oder mathematischen Bilder sind auf die reale Welt mit Vernunft, also Erfahrung und Urteilskraft, nie maßlos, sondern über Messungen und maßvolle Urteile zu projizieren. Der bloße formalmathematische Verstand, so scharfsinnig er sein mag, ist bloß erst Fähigkeit des solitären Umgangs mit Schemata. In Solitärspielen üben wir die nötige Geduld und Konzentration im Erkennen von Formen. Daher ist es auch sachlich falsch, etwa beim Zählen und Zahlenrechnen von einer »Abrichtung« zu sprechen, wie das noch Wittgenstein (auch im Blick auf das Sprachlernen überhaupt) tut. Roboter und Tiere (etwa entsprechend trainierte A=en) ›rechnen‹ sozusagen ›anders‹. So beeindruckend ihre Schnelligkeit sein mag, so beschränkt bleibt der Skopus ihrer Formenerkennung. Nur wir Menschen haben reflektierende Urteilskraft, mit der wir im Ausgang von Beispielfällen typische Formen gemeinsam entwickeln, beschreiben, benennen, über sie sprechen und im guten Fall ihre Instanziierungen wiedererkennen. Man kann, wie immer, so etwas durch Automaten simulieren, aber jedes Programm enthält dann willkürliche Setzungen, die als solche nicht an gemeinsamen Unterscheidungen ausgerichtet sind. Allein da die Mathematik einmal die Wissenschaft der endlichen Größenbestimmungen ist, welche in ihrer Endlichkeit fest bleiben und gelten, nicht übergehen sollen, so ist sie wesentlich eine Wissenschaft des Verstandes; und da sie die Fähigkeit hat, dieses auf eine vollkommene Weise zu sein, so ist ihr der Vorzug, den sie vor den andern Wissenschaften dieser Art hat, vielmehr zu erhalten und weder durch Einmischung des ihr heterogenen Begri=s noch empirischer Zwecke zu verunreinigen. (250) 211 k
156 211 k Erste Abteilung: Die Mechanik 250 Reine Mathematik ist Wissenschaft proportionslogischer Relationen. Das Statische ist dabei absolut wesentlich. Man beginnt mit dem abstraktiven Ausschluss aller stetigen Prozesse der Veränderung der Körperformen. Bewegungsformen und Gestaltveränderungen werden rein geometrisch dargestellt. Empirische Beobachtungen von Einzelnem spielen für die Mathematik als reine Wissenschaft keine Rolle, ebenso wenig für Experimente, in denen es ja um reproduzierbare technische Formen geht und nicht um zufällige Erfolge. Es bleibt dabei immer o=en, daß der Begri= ein bestimmteres Bewußtsein, sowohl über die leitenden Verstandes-Prinzipien als über die Ordnung und deren Notwendigkeit in den arithmetischen Operationen sowohl als in den Sätzen der Geometrie begründe. (250) Hegels etwas maulfauler Satz besagt, dass jede Anwendung von Verstandesprinzipien mit ihren intern gesetzten ›Notwendigkeiten‹ als gut genug oder ausreichend formentreu zu begründen ist. Es geht ja um ›Projektionen‹ von formalen (mathematischen) Strukturen als idealen ›Ordnungen‹ auf die durch sie darzustellende Welt – im Blick auf ein zugehöriges Allgemeinwissen wie z. B. über Quaderformen in der Geometrie oder über stabil zählbare Anzahlen von Dingen zu einer festen Zeit in der Arithmetik. Es wurde hier schon fast zu oft betont, dass der Begri= kein mystischer Agent ist. In Hegels stenographisch-generischer Ausdrucksform ist ein Begri= ein sprachlich erschlossener Themenbereich qua System materialbegri=licher Defaultinferenzen, bedingt durch begri=liche Unterscheidungen. Diese Unterscheidungen stützen sich wesentlich auf von uns leicht reproduzierbare und erkennbare sprachförmige Repräsentationen einerseits, leicht unterscheidbare und sich wiederholt zeigende Formen der Welt andererseits. Der Begri= im generischen Singular meint alle Begri=e (ggf. eingeschränkt auf eine Disziplin wie die Physik, Biologie oder die Geistes- und Staatswissenschaften). Insgesamt bezieht er sich also auf alles, was sich (in der Welt und an der Welt) zeigen und bereden lässt. Die entstehende Dichte der Ausdrucksform macht freilich einfachen Lesern Probleme. Andererseits gibt es ohne solche Verdichtungen keine logische Topographie, schon gar keine spekulative Reflexion
250 f. Raum und Zeit 157 über ganze Bereiche von Themen, Momenten und Gegenständen des Seins und der Welt, der Natur und dann auch des Geistes. Es würde ferner eine überflüssige und undankbare Mühe sein, für den Ausdruck der Gedanken ein solches widerspenstiges und inadäquates Medium, als Raumfiguren und Zahlen sind, gebrauchen zu wollen und dieselben gewaltsam zu diesem Behufe zu behandeln. Die einfachen ersten Figuren und Zahlen eignen sich ihrer Einfachheit wegen, ohne Mißverständnisse zu Symbolen, die jedoch immer für den Gedanken ein heterogener und kümmerlicher Ausdruck sind, angewendet zu werden. Die ersten Versuche des reinen Denkens haben zu diesem Notbehelfe gegri=en; das pythagoreische Zahlensystem ist das berühmte Beispiel davon. Aber bei reichern Begri=en werden diese Mittel völlig ungenügend, da deren äußerliche Zusammensetzung und die Zufälligkeit der Verknüpfung überhaupt der Natur des Begri=s unangemessen ist und es völlig zweideutig macht, welche der vielen Beziehungen, die an zusammengesetzteren Zahlen und Figuren möglich sind, festgehalten werden sollen. Ohnehin verfliegt das Flüssige des Begri=s in solchem äußerlichen Medium, worin jede Bestimmung in das gleichgültige Außereinander fällt. Jene Zweideutigkeit könnte allein durch die Erklärung gehoben werden. Der wesentliche Ausdruck des Gedankens ist alsdenn diese Erklärung, und jenes Symbolisieren ein gehaltloser Überfluß. (250 f.) Reine Formel- und Diagrammsprachen sind nur für begrenzte Darstellungszwecke tauglich. Der Pythagoreismus mystifiziert bis heute die Zahlenverhältnisse der Mathematik dadurch, dass er sie für ein universales Ausdrucksystem hält. Zwar kann man die gesamte Geometrie arithmetisieren. Dennoch wäre von allen, welche wie Kant und Novalis nur das für wahres Wissen halten, was, wie die Mathematik, ein schematisches Schließen gemäß einem formallogischen Kalkül erlaubt, Wilhelm Buschs Spruch dringend zu beherzigen: »Wenn einer, der mit Mühe kaum gekrochen ist auf einen Baum, schon meint, dass er ein Vogel wär’, so irrt sich der«. Vor diesem Hintergrund ist die leicht ironische Analogie in Hegels Rede von der heiligen Dreieinigkeit in Logik und Dialektik zu betrachten. Es geht darum, dass die allgemeinen Gegenstandsbereiche G als schematisierte Strukturen, also als Begri=e bloß erst an sich, immer mit vernünftiger Urteilskraft auf die einzelnen empirischen Gegen- 211 f . k
158 Erste Abteilung: Die Mechanik stände g als Instanziierungen an und für sich der Gattung G oder Art P anzuwenden sind. Man kann daher G und ihre Prädikate P nicht einfach als Mengen von empirischen Dingen begreifen. Dem Gott der Tradition ordnet Hegel, um es leicht ironisch darzustellen, das System angelernter Strukturen einer Formalsemantik samt dem implizit mit-tradierten ›Allgemeinwissen‹ zu. Der Sohn Gottes vertritt die autonom urteilende Person. Der Heilige Geist ist die dialektische Vernunft im gemeinsam als angemessen zu bewertenden konkreten Begri=sgebrauch. Eine sogenannte Begri=sschrift, die, wie bei Frege, der Arithmetik nachgebildet ist, taugt in erster Linie für die Arithmetik. Sie liefert keine Sprache des Begri=s. Alle Probleme der Projektion auf die erfahrene Welt sind schon systematisch ausgeklammert. Die Exaktheit formaler Schlussregeln einer reinen Schrift als System von Ausdrücken ohne Berücksichtigung der Kontexte der konkreten Sprechhandlungen ist sogar Ursache für ein bloß schematisches Verstehen. Verstand ist daher bei Hegel nur erst konventionelle und oberflächliche Anwendung solcher Regeln auf reale Verhältnisse, noch ohne dialektische Prüfung der Anwendbarkeit der Schemata, wie sie jede Vernunft verlangt. Die Ho=nungen, die man seit Leibniz in eine lingua characteristica und einen calculus ratiocinator setzt, sind daher auch trotz der enormen Erfolge im Bereich der automatischen Sprachverarbeitung geradezu maßlos. Sie stehen in der Gefahr einer pythagoreistischen Mystifizierung des schematischen Rechnens, also des bloßen Verstandes. Hegel sagt daher ganz richtig, dass »das Flüssige des Begri=s in solchem äußerlichen Medium« verfliegt, da, wie schon Platon sieht, das konkrete Sprechen in der Lautsprache mit allen seinen logischen Formen des Sprechhandelns den je konkreten Inhalt im kontextuell bedingten und situationell spezifizierten dialogischen Verstehen ausmacht. Die Schrift als bloße Darstellung syntaktischer Formen ist nur Trägerin von Bedeutungen an sich, nie von Ideen und Realitäten an und für sich. Die systematisch bedingten Vieldeutigkeiten aller schriftlich fixierten Texte können daher, wie ganz o=enbar schon Sokrates und Platon erkannt haben, allein durch metastufig kommentierende Erklärungen behoben werden, die als solche dialogisch sind und schon daher
251 Raum und Zeit 159 immer nur zum Teil in eine Schrift aufgenommen werden können – nämlich in schriftlichen Darstellungen bzw. narrativen Vergegenwärtigungen der Dialoge selbst. Andere mathematische Bestimmungen, wie das Unendliche, Verhältnisse desselben, das Unendlichkleine, Faktoren, Potenzen usf., haben ihre wahrhaften Begri=e in der Philosophie selbst; es ist ungeschickt, sie für diese aus der Mathematik hernehmen und entlehnen zu wollen, wo sie begri<os, ja so oft sinnlos aufgenommen werden und ihre Berechtigung und Bedeutung vielmehr von der Philosophie zu erwarten haben. Es ist nur die Trägheit, die, um sich das Denken und die Begri=sbestimmung zu ersparen, ihre Zuflucht zu Formeln, die nicht einmal ein unmittelbarer Gedankenausdruck sind, und zu deren schon fertigen Schematen nimmt. (251) Mathematik ist die Wissenschaft, in welcher nicht einfach gerechnet, sondern beweisend gezeigt wird. welche Rechen- und Beweisverfahren gewisse Zulässigkeitsbedingungen erfüllen. Dabei geht keine rein mathematische Wahrheit über den Bereich entsprechender Zulässigkeitsaussagen hinaus. So gelten z. B. arithmetische Sätze oder Regeln der Form φ → γ als zulässig (und daher formal als ›wahr‹), wenn entweder φ falsch oder γ wahr ist. Diese Konvention ist nur darin begründet, dass aus wahren Sätzen über eine Anwendung solcher Sätze nach dem Modus Ponens keine falschen Sätze zu erhalten sind. Die mathematischen Bestimmungen des Unendlichen und Infinitesimalen gehören zunächst eigentlich nur in die reflexionslogische Meta- und Kommentarsprache der Mathematik. Zwar kommen dann auch Ausdrücke wie » dx « oder »ω« oder »∞« für ›Unendliches‹ in Formeln vor, werden dort aber rein synkategorematisch im Kalkül in ihrem Sinn erläutert. Hegel hat daher ganz und gar recht, dass die »wahrhaften Begri=e« des Unendlichen Thema der Philosophie der Mathematik und nicht eigentlich der reinen Mathematik sind. Das ist auch nach Cantors Erfindung der verschiedenen unendlichen Ordinal- und Kardinalzahlen der reinen Mengenlehre so. Diese Lehre ist ›höhere‹, dabei partiell schon ›spekulative‹, also ›philosophisch überhöhte‹ Arithmetik, die sozusagen in riesigen Handbewegungen über ›alle‹ Teilmengen ›reiner‹ unendlicher Mengen spricht. Sie dient einer abschließenden Definition des Ausdrucks »alle reellen Zahlen«. In der bloß auf die 212 k
160 212 k Erste Abteilung: Die Mechanik 251 Sachen fokussierenden Mathematik werden diese ›Unendlichkeiten‹, wie damals die der ›infinitesimal kleinen Größen‹, zumeist allzu unmittelbar, also begri=s- und bewusstlos, ohne Konstitutionsanalyse, bloß »aufgenommen«. Die wahrhaft philosophische Wissenschaft der Mathematik als Größenlehre würde die Wissenschaft der Maße sein, aber diese setzt schon die reelle Besonderheit der Dinge voraus, welche erst in der konkreten Natur vorhanden ist. Sie würde aber wohl wegen der äußerlichen Natur der Größe die allerschwerste Wissenschaft sein. (251) Die Passage ist eine Wiederholung eines Kommentars zur Maßlogik, dem dritten Teil der Seinslogik, auf die ich hier insgesamt verweisen kann. Es geht dort unter anderem um die Frage nach einem guten Maß der Zeitdauer, die als solche ja zeitinvariant sein sollte, also nicht von der bloßen Gegenwart abhängen darf und auch nicht einfach vom Ort. Man denke aber auch an das Maß der Masse und des Impulses. Hier sagt Hegel nur, dass das Thema erst später behandelbar ist, da zunächst die reellen Besonderheiten der Dinge in ihren begri=lichen Bestimmungen nach Arten und Gattungen, Aspekten, Momenten und Themen bzw. Gegenstandsbereichen zu betrachten sind, samt unserer eigenen Unterscheidung zwischen diversen Zugängen zu den Sachen und ihrem transsubjektiv zu fassenden objektiven Sein. c. Der Ort und die Bewegung 212 § 260 Der Raum ist in sich selbst der Widerspruch des gleichgültigen Auseinanderseins und der unterschiedslosen Kontinuität, die reine Negativität seiner selbst und das Übergehen zunächst in die Zeit. (251) Es gibt nicht nur keine exakten Stellen im Raum, es gibt keinen rein statischen Raum. Denn es gibt auch keine Zeitpunkte. Schon daher gibt es keine feste, momentane Gleichzeitigkeit und keine rein räumlichen Beziehungen. Man kann, heißt das, nie ganz davon absehen, dass sich alle Dinge relativ zu anderen Dingen andauernd bewegen. Insofern ist die Vorstellung eines leeren Raums in sich schon widersprüchlich, es sei denn, man meint nur einen der bloß gedachten, also rein symbolisch konstituierten Räume der reinen Mathematik. In eben diesem Sinn geht jeder Realraum zunächst in die Zeit über.
251 Raum und Zeit 161 Das heißt in heutiger Sprache: Er ist längst schon eine Raumzeit relativer Bewegungen. Ebenso ist die Zeit, da deren in Eins zusammengehaltene entgegengesetzte Momente sich unmittelbar aufheben, das unmittelbare Zusammenfallen in die Indi=erenz, in das ununterschiedene Außereinander oder den Raum. (251) Die Zeit ist klarerweise nicht dasselbe wie ihre bloß metaphorische Darstellung als Linie in der mathematischen Punktbewegungskinematik. Als reale Zeit kann sie aber auch nicht nur, wie im Grunde noch bei Kant, auf die inneren Abfolgen von unterschiedlichen Geschehnissen oder gar Erlebnissen in der Selbstwahrnehmung einer Monade reduziert werden. Solche unmittelbaren inneren Zeittakte gibt es so wenig wie unmittelbare Sinnesempfindungen oder Sinnesdaten – auch wenn es interessanterweise bei allen Lebewesen so etwas wie eine innere Uhr gibt. Wir können daher Längen von Dauern häufig gut unmittelbar abschätzen. Das beginnt schon mit einem regelmäßigen Erwachen. Die Zeit muss dann aber, wie der Raum, sozusagen sofort, quasi unmittelbar erweitert werden zur Raumzeit sich relativ zueinander bewegender Dinge und Sachen. So ist an diesem die negative Bestimmung, der ausschließende Punkt, nicht mehr nur an sich dem Begri=e nach, sondern gesetzt und in sich konkret durch die totale Negativität, welche die Zeit ist; – der so konkrete Punkt ist der Ort (§ 255, 256). (251) Punkte gibt es nur in der Mathematik, konkrete Orte und Stellen aber nur in räumlicher und zeitlicher Unschärfe, so wie jedes »hier und jetzt«, aber auch jedes referentielle »ich« ungenau ist, da ich damit nie meinen Leib oder mein Gehirn von meiner Geburt bis zu meinem Tod und sogar selten nur mich als Subjekt bloß hier und jetzt meine. So wie die mathematischen Punkte durch Negation der Ungleichheit formentheoretisch definiert sind – was man z. B. an den Höhenschnittpunkten eines Dreiecks vorführen kann –, sind auch Stellen im Raum nur durch den Ausschluss anderer Stellen definiert. Ein zeitliches Jetzt ist nur bestimmt durch den Ausschluss des relevanten Vorher und Nachher. 212 212
162 213 213 213 Erste Abteilung: Die Mechanik 252 § 261 Der Ort, so die gesetzte Identität des Raumes und der Zeit, ist zunächst ebenso der gesetzte Widerspruch, welcher der Raum und die Zeit, jedes an ihm selbst, ist. (252) Der zunächst höchst dunkle Satz wird klar, wenn wir gedanklich festhalten, dass es erstens um die Di=erenz zwischen Punkten im mathematischen Raum und Stellen im realen Raum geht, zweitens um die Ambivalenz der Rede von Zeitpunkten und drittens darum, dass es keinen Bewegungsraum ohne Zeit und keine Zeit ohne Bewegungsraum, diesen aber nicht ohne sich in ihm bewegende Materie gibt. Der Widerspruch, von dem Hegel hier spricht, ist daher in der Tat durch unsere formentheoretischen Idealisierungen in den Vorstellungen eines reinen geometrischen Raums und durch die ebenfalls naive Vorstellung einer Zeitlinie als Bild für Weltzeitdaten gesetzt. Der Ort ist die räumliche, somit gleichgültige Einzelnheit, und ist dies nur als räumliches Jetzt, als Zeit, so daß der Ort unmittelbar gleichgültig gegen sich als diesen, sich äußerlich, die Negation seiner und ein anderer Ort ist. (252) Ein Ort ist durch ein räumliches Hier so bestimmt, dass es gleichgültig ist, ob hier gerade ein Hase oder ein Fuchs sitzt. Es kann der Ort z. B. auch als Ecke einer Lichtung bestimmt sein. Dabei sind Orte nicht ohne Bezugnahme auf körperliche Instanzen am Ort oder auf räumliche Relationen zu solchen Körpern identifizierbar, am Ende sogar zu Sprechern und Hörern. Der Ort, wo sich jetzt der Ei=elturm befindet, ist z. B. ortsäquivalent zu einer Stelle auf dem Pariser Marsfeld, dem Trocadéro gegenüber. Dies Vergehen und Sich-wiedererzeugen des Raums in Zeit und der Zeit in Raum, daß die Zeit sich räumlich als Ort, aber diese gleichgültige Räumlichkeit ebenso unmittelbar zeitlich gesetzt wird, ist die Bewegung. – (252) Jetzt kommt Hegel erst auf die Bewegung zu sprechen, wobei seine verschraubte Ausdrucksweise vielleicht so zu lesen ist: In der Ortsänderung eines Dinges vergeht nicht das Ding, sondern seine Anwesenheit an einer Raumstelle. Alle Dinge bewegen sich in Relation zu vielen anderen Dingen. Wir haben im Kontext immer zu bestimmen, was wir in einer ausgedehnten Gegenwart oder Zeit als relative Ruhe-Orte betrachten wollen. Man kann z. B. den Bahnwagen, in dem
253 Raum und Zeit 163 man sich gerade befindet, zu einem solchen Ruheort wählen oder den scheinbar vorbeifliegenden Baum am Bahndamm. Hegel versucht in seinem Denkweg im Ausgang von den abstrakten Vorstellungen von Raum und Zeit zu zeigen, dass man mit transzendentaler, also präsuppositionslogischer Notwendigkeit zurück auf die reale Raumzeit von Dingbewegungen geführt wird. Ich halte mich deswegen nicht an die durch diese Absicht bedingte Reihenfolge. Denn diese überfordert das Verständnis des Lesers massiv. Sie ›erlaubt‹ ja keine thematischen Vorgri=e auf die Ergebnisse, von denen her man den Gedankengang zumindest besser und leichter begreifen kann. Philologische Puristen fallen in ihren formalen Lektüren immer wieder auf Hegels Präsentationsform zurück und verweigern sich der Beurteilung inhaltsäquivalenter Darstellungen, wie sie für jedes Sinnverstehen unabdingbar ist. Dies Werden ist aber selbst ebensosehr das in sich Zusammenfallen seines Widerspruchs, die unmittelbar identische daseiende Einheit beider, die Materie. (252 f.) Die Ortsveränderungen der Bewegung setzen, wie gesagt, materielle Dinge und Sachen voraus, die einige Zeit mit sich identisch bleiben bzw. identifizierbar sind. Das Wort »Sache« deckt dabei auch Schall, Welle oder Licht ab. Diese ›Materien‹ bewegen sich relativ zu anderen Materien. Der Übergang von der Idealität zur Realität, von der Abstraktion zum konkreten Dasein, hier von Raum und Zeit zu der Realität, welche als Materie erscheint, ist für den Verstand unbegreiflich und macht sich für ihn daher immer äußerlich und als ein Gegebenes. (253) Die Passage sagt nicht, dass die Materie in imaginärer Emanation aus einer idealen Vorstellung entstehe. Der Übergang von der Idealität zur Realität ist ein Übergang von den mathematischen Modellen der cartesisch-geometrischen Punktbewegungskinematik zu realen raumzeitlichen Verhältnissen. Hegels Satz ist freilich höchst dicht und latent ironisch: Raum, Zeit und Materie sind für einen bloß schematisch rechnenden Verstand unbegreiflich. Hegel macht sich daher implizit lustig über Augustinus, der bekanntlich meint, dass man die Zeit, die wir doch empraktisch sehr gut kennen, nicht explizit erklären könne. Er zeigt dennoch auch Verständnis für das Problem. 213 213 k
164 213 k 213 k Erste Abteilung: Die Mechanik 253 Ich bezweifle aber, dass er John McTaggards Formulierungen zur Nichtexistenz der Zeit irgend zugestimmt hätte. Hegels Ironie richtet sich (in noch weit höherem Maße als gegen Augustinus) gegen den Glauben, die Welt wäre ein mathematisch beschriebener Stellenraum – wobei es erst mal ganz egal ist, ob man an einen euklidischen Raum oder an Minkowskis Modell der Raumzeit der Speziellen Relativitätstheorie denkt – in den die empirisch gegebene Materie irgendwie Einzug hält. Man blendet auch noch in der Tensoranalysis der Allgemeinen Relativitätstheorie erstens die Abstraktionen aus, die zu realen räumlichen Stellen und Zeitmomenten führen, zweitens die Ideationen, die zu den idealen mathematischen Punkträumen jeder Art von Raumzeit geführt haben. Hegel meint also keineswegs, die Materie sei nicht äußerlich gegeben, sondern nur Teil unserer inneren Vorstellungwelt, wie sich das ein subjektiver Idealist denken mag. Vielmehr wehrt er den Unfug ab, die realen räumlichen und zeitlichen Beziehungen nicht von vornherein als Relationen zwischen materiellen Dingen (besonders Festkörpern) und Sachen (wie in der Elektrodynamik des Lichts) zu begreifen – mit den Bewegungen und Veränderungen eines dauernden Werdens als materialbegri=licher Voraussetzung. Der reine mathematische Verstand denkt zu exakt, zu schematisch, zu ideal, um diese Stufen der Konstitution und Anwendung mathematischer Modelle als konstruierte Großmetaphern zu begreifen. Es fehlt sozusagen noch der Heilige Geist dialektischer Vernunft – der Projektion der von uns gescha=enen rein relationslogischen Strukturen auf Prozessformen in allgemeiner Erfahrung. Die geläufige Vorstellung ist, Raum und Zeit als leer, gleichgültig gegen ihre Erfüllung, und doch immer als voll zu betrachten, sie als leer von außen her mit der Materie erfüllen zu lassen, und einerseits auf diese Weise die materiellen Dinge als gleichgültig gegen Raum und Zeit, und andererseits zugleich als wesentlich räumlich und zeitlich anzunehmen. (253) Der vorliegende Satz bestätigt meine Lesart: Die Vorstellung eines leeren Raums ist völlig leer. Das weiß im Grunde schon Leibniz. Die Identität des Gedankens mit Einsichten bei Herrmann Weyl ist frappierend. Was von der Materie gesagt wird, ist, α) daß sie zusammengesetzt
253 Raum und Zeit 165 ist; – dies bezieht sich auf ihr abstraktes Außereinander, den Raum. – (253) Hegel wendet sich erst jetzt gegen die von mir oben schon kritisierte Kontaminierung des rein mathematischen Raums mit dem realen Raum in der Transzendentalen Ästhetik Kants. Das gilt dann auch für die Transzendentale Dialektik und ihre Überlegungen zur unendlichen Teilbarkeit eines Körpers, zur Ausdehnung des Weltenraums oder zur Zeitdauer der vergangenen oder dann auch zukünftigen Welt. Das Wort »unendlich« bedeutet in der Mathematik durchaus nicht dasselbe wie in der Welt. In der Welt ist alles sogenannte Unendliche bloß ein indefinites »Und-so-weiter«. Wir wissen nicht, wie lange das geht, ohne dass sich die Art des Gegenstandes ändert. Das ist die fast triviale Lösung praktisch aller Antinomien, Amphibolien und Paradoxien Kants. Insofern bei ihr von der Zeit und überhaupt von aller Form abstrahiert wird, ist von ihr behauptet worden, daß sie ewig und unveränderlich ist. (253) Es ist eine falsche Vorstellung, alles Materielle bestehe aus ewigen Substanzen, so dass es eine feste Anzahl von ewigen Teilchen geben soll, die sich in einem endlichen oder unendlichen Raum irgendwie dauernd herumbewegen und verteilen.22 Es gibt keine andere Substanz als das indefinite Ganze der Welt. Das wissen schon Aristoteles und Spinoza. Alles andere entsteht ›aus dem Nichts‹ (also aus ganz Anderem) und vergeht (wird also zu etwas ganz Anderem). Manche dieser Prozesse können wir beschreiben und erklären; am einfachsten sind sich wiederholende Bewegungsformen zeitlich relativ stabiler Dinge. Dies folgt in der Tat unmittelbar; aber eine solche Materie ist auch nur ein unwahres Abstraktum. (253) Im mathematischen Modell von Raum, Zeit, und Materie ist die ›Ewigkeit‹ der Materie ein abstraktes Formmoment, rein ideal von uns 22 Nietzsche schien sogar zu glauben, dass in einem endlichen Raum in unendlicher Zeit immer dieselben Konstellationen auftreten müssen. Nach dieser ›Erleuchtung‹ an dem berühmten Stein bei Sils Maria meinte er, diese ewige Wiederkehr des Gleichen als unumstößliche Gewissheit lehren zu können. 213 k 213 k
166 213 k 213 k 213 f . k Erste Abteilung: Die Mechanik 253 ›konstruiert‹, wie jede Zeitallgemeinheit in generischen Aussagen. In konkreten Projektionen auf die Welt müssen das generische Allgemeine des Genus, das Besondere der Art und das Einzelne der empirischen Bezugnahme wie in allen Anwendungen formaler Idealisierungen angemessen berücksichtigt werden. β) Die Materie ist undurchdringlich und leistet Widerstand, ist ein Fühlbares, Sichtbares usf. Diese Prädikate sind nichts anderes, als daß die Materie teils für die bestimmte Wahrnehmung, überhaupt für ein Anderes, teils aber ebensosehr für sich ist. (253) Hier steht der Ausdruck »die Materie« zunächst für einen Festkörper bzw. ein mittelgroßes trockenes Objekt. Ein solches Ding »ist undurchdringlich und leistet Widerstand, ist ein Fühlbares, Sichtbares usf.« Alle Prädikate der Dinge stammen zwar aus (prozessualen) Relationen zu anderen Dingen, aber nicht etwa nur aus Beziehungen zu uns und unseren Sinnen. Sie kommen auch den Dingen für sich zu, gerade weil sie sich in objektiven Beziehungen zu Anderem zeigen. Das ist logisch ebenso klar wie wichtig und tief. Beides sind die Bestimmungen, welche sie eben als die Identität des Raums und der Zeit, des unmittelbaren Außereinander und der Negativität oder der als für sich seienden Einzelnheit hat. (253) Die Widerständigkeit eines Körpers, also sein Zusammenhalt und seine relative Härte, definiert seine relative Identität in Raum und Zeit. Luft und Wasser sind nicht in diesem Sinn sortal vereinzelte Körperdinge: Wie »Licht«, »Feuer« und »Erde« sind »Luft« und »Wasser« Massenterme, mass terms. Der Übergang der Idealität in die Realität kommt auch auf ausdrückliche Weise in den bekannten mechanischen Erscheinungen vor, daß nämlich die Idealität die Stelle der Realität, und umgekehrt, vertreten kann; und es ist nur die Gedankenlosigkeit der Vorstellung und des Verstandes daran schuld, wenn für sie aus dieser Vertauschbarkeit beider ihre Identität nicht hervorgeht. Beim Hebel z. B. kann Entfernung an die Stelle der Masse, und umgekehrt, gesetzt werden, und ein Quantum vom ideellen Moment bringt dieselbe Wirkung hervor als das entsprechende Reelle. – In der Größe der Bewegung vertritt ebenso die Geschwindigkeit, welche das quantitative Verhältnis nur von Raum und Zeit ist, die Masse, und umgekehrt kommt dieselbe reelle Wirkung hervor, wenn die Masse vermehrt und jene
253 Raum und Zeit 167 verhältnismäßig vermindert wird. Ein Ziegelstein für sich erschlägt einen Menschen nicht, sondern bringt diese Wirkung nur durch die erlangte Geschwindigkeit hervor, d. i. der Mensch wird durch Raum und Zeit totgeschlagen. – (253) Hegels Ironie wird am Schluss der Passage klar. Denn natürlich können Raum und Zeit niemanden totschlagen. Aber nicht nur die Masse eines Ziegelsteins, sondern auch seine Geschwindigkeit ist wesentlich für die Wirkung. Das Argument steht m. E. immer noch im Rahmen einer Radikalkritik an Kants gesamter Transzendentaler Ästhetik. Sie ist einfach eine falsche subjektiv-idealistische ›Theorie‹ von Raum und Zeit. »Idealität« steht bei Hegel aber dennoch als Titel für subjektive Formen des Zugangs zur Welt in Anschauung und Gedanken. Hegel macht aber auf fast sarkastische Weise klar, dass Raum und Zeit keine rein subjektiven Ordnungen je meiner Sinnesdaten sind. Alle Bestimmungen von Raum und Zeit sind objektiv wirklich, sogar mit drastischen Wirkungen. In unseren Idealisierungen der mathematischen Explikation der Formen zunächst des Raumes stecken außerdem längst schon generisch-allgemeine Grundtatsachen. Daher wäre es ganz falsch, das abstrakte Ideale vom empirischen Realen so zu trennen, wie das gerade auch Leute tun, die meinen, dass von den idealen Formen des Wissens, des Ethos, der Moral, des Rechts und einer guten Verfassung und Verwaltung des Staates praktisch noch gar nichts verwirklicht ist. Diese juvenile Art von Kritik achtet nur auf das, was nicht schon ideal genug verwirklicht ist. Wenn man die Entwicklung der Ideale durch Ideen, also durch Paradigmen oder Prototypen, vergisst, verweist man bloß erst auf rein subjektive Utopien, auf fiktive Vorstellungen paradiesischer Zustände. Dass an unseren Vollzugsformen individuellen und gemeinsamen Lebens immer und ewig genug zu verbessern sein wird und dass die von uns verbal konstruierten Ideale dazu eine gewisse explizit gemachte Orientierung geben sollen und bei angemessenem Gebrauch häufig auch können, ist nachgerade trivial – und zeigt sich, wie schon Platon gesehen hat, nirgends so klar wie in der Geometrie. Für den Übergang von der Idealität etwa einer mathematisierten Mechanik in die Realität brauchen wir zwar, wie betont, eine ent-idea-
168 214 k Erste Abteilung: Die Mechanik 253 lisierende Projektion. Dabei geht aber keineswegs das ideal kodierte generische Allgemeinwissen verloren. Hegel nennt hier als Beispiel die Hebelgesetze. Zwar gehört die Länge eines Hebels ›bloß zum Raum‹ und scheint damit ›rein ideell‹ und daher bei Kant irgendwie ›bloß subjektiv‹ zu sein. Dabei werden aber die räumlichen Verhältnisse und Formen nur auf uns als betrachtende Subjekte bezogen. Es wird übersehen, dass alle Dinge sich auch zueinander in raumzeitlichen Relationen befinden. Die Hebelwirkung ist jedenfalls real, objektiv. Nur für einen bloß zusehenden Verstand mag das ganz erstaunlich sein. Dasselbe gilt für die implizit schon angesprochene Höhe des Falls eines Ziegelsteins. Die Reflexionsbestimmung von Kraft ist es hier, was, einmal für den Verstand fixiert, als ein Letztes dasteht und ihn hindert, weiter nach dem Verhältnisse ihrer Bestimmungen zu fragen. (253) Hegel geht es in seiner Überlegung jetzt weiter um die Aufhebung der naiven Vorstellung, eine wirkende Kraft hänge nur am Ding, nicht an ihm im Zusammenhang seiner Bewegung und Bewegbarkeit relativ zu anderen Dingen und damit in raumzeitlichen Beziehungen zu ihnen. Der mathematische Verstand, der, wie bei Descartes und Kant, zunächst eine abstrakte Kinematik der Darstellung von raumzeitlichen Bewegungsbahnen für die res extensa entwirft und die Dynamik der Kräfte erst später hinzufügen möchte, indem er mit Newton die Rolle der Massen für die Bewegungsformen sozusagen hinzufügt, wird sich entsprechend wundern, dass schmale Personen mit ostasiatischen Körpertechniken schwere Muskelmänner als Angreifer auf die Matte legen – obwohl gerade die schon angesprochenen Hebelwirkungen und eine Umlenkung von Impulsen des Angreifers zeigen, wie das geschieht. Es ist, wie das Beispiel demonstrieren soll, die naive Rede über Kraft als einer mit den bloßen Dingen und nicht dem holistischen Prozess der Relativbewegungen verbundenen Sache, welche den bloß deskriptiven mathematischen Verstand verwirrt. Man mag Hegels verdeckt gehaltene Kritik an Kants Kinematik oder Phoronomie für ungerecht und maßlos übertrieben halten. Kants Kommentare zu den Formen der Anschauung und damit seine bloß subjektiven Vorstellungen von Raum und Zeit tri=t er allemal, sogar sozusagen mitten ins Herz. Demgegenüber tri=t Bertrand Russells
253 Raum und Zeit 169 bekannte Kritik an Hegels Holismus dessen Analysen ganz o=ensichtlich nicht, sondern ganz und gar an ihnen vorbei. Aber dies wenigstens schwebt vor, daß die Wirkung der Kraft etwas Reelles, Sinnfälliges ist und daß in der Kraft dasselbe ist, was in ihrer Äußerung, und daß eben diese Kraft ihrer reellen Äußerung nach durch das Verhältnis der ideellen Momente, des Raums und der Zeit, erlangt wird. (253) Auch wenn jemand Probleme mit der holistischen Seite des Begri=s der Kraft hat, wird er am Ende die Rede von Wirkungen von Kräften anerkennen und dabei auch eine gewisse Äquivalenz von Kraft und ihrer wirkenden Äußerung. Er wird außerdem zugeben müssen, dass raumzeitliche und damit scheinbar nur auf ideale und relationale Formen bezogene Momente für Kraft und Wirkung relevant werden. Es gehört ferner zu dieser begri<osen Reflexion, die sogenannten Kräfte als der Materie eingepflanzt, das ist, als ihr ursprünglich äußerlich anzusehen, so daß eben diese Identität der Zeit und des Raums, welche bei der Reflexionsbestimmung von Kraft vorschwebt und welche in Wahrheit das Wesen der Materie ausmacht, als etwas ihr Fremdes und Zufälliges, von außen in sie Gebrachtes, gesetzt ist. (253) Hegel besteht darauf, dass die Verteilung der dynamischen Beiträge der einzelnen Körper und Sachen (Bewegungen, Prozesse) in einem größeren Gesamtbereich (des Werdens) holistisch zu rekonstruieren ist. Dabei verteilen wir die Kräfte auf die Dinge in der Form bedingter Dispositionen. Diese werden explizit artikuliert durch di=erentiell bedingte Inferenzen auf der Darstellungsebene. Kräfte und Ursachen erweisen sich damit als Inhalte von allgemein als ausreichend wahr oder gut bewerteten Erklärungen. Sie sind objektiv im Sinne der invarianten Äquivalenz gleich guter Erklärungen. Es ›gibt‹ sie daher so wenig rein für sich, also ohne Vermittlung durch unsere Rede oder unser Nachdenken über sie, wie z. B. auch die Seele und ihre Kräfte. Auch diese sind in ihren Charakteristiken als Instanziierungen (an und für sich) von generischen Erklärungen an sich zu begreifen. Für den Begri= mechanischer Erklärungen und damit für den Themen- und Gegenstandsbereich der Kräfte und Ursachen in Newtons Dynamik spielt die Masse von festen Körpern die zentrale differentielle Rolle. Das gilt schon für Billardbälle und Kanonenkugeln, 214 k 214 k
170 Erste Abteilung: Die Mechanik also auch für Satelliten, Monde und Planeten. Dabei lassen sich irdische Massenverhältnisse schon recht gut als Gewichte bestimmen, welche die theoretisch gefassten, also mathematisch modellierten, mechanischen Erklärungen in Beiträge zum Gesamtgeschehen umformen. In gewissem Sinn ist es dabei falsch, den Dingen Kräfte so zuzusprechen, wie sie mein Armmuskel hat. Die Kräfte sind eher bedingte Regeln, mit deren Hilfe wir im guten Fall beim Bestehen gewisser Umgebungsbedingungen generische Gesamtwirkungen oder Folgen als notwendig oder auch nur als möglich artikulieren können. Wir sagen daher, ein Ding oder eine Sache habe die Disposition, unter dieser oder jener Bedingung sich so und so zu verhalten oder so und so auf andere Dinge zu wirken, wenn wir unserer eigenen reflexionslogischen Beurteilung zufolge mit den von uns generisch auf die Dinge und Sachen nach ihren Arttypen verteilten Wirkbeiträgen rechnen sollten, z. B. weil sich das bewährt hat. Alle Wirklichkeit und Objektivität steckt am Ende in dieser Art allgemeiner Bewährung, wie das dann auch der amerikanische Pragmatismus, besonders aber William James, wiedererkennen wird. Hegel hatte aber schon genauer auf die reflexionslogische Form der Rede über das Haben dispositioneller Eigenschaften reflektiert. Er erkennt, dass jedes ›Haben‹ von Kräften oder Vermögen, bei Personen auch von Gründen, Vorsätzen und Absichten, als Inhalt einer von uns allgemein und damit im guten Fall auch gemeinsam als wahr bewerteten Zuschreibung zu begreifen ist. Dabei weiß schon Platon, dass einstellige Eigenschaften (wie z. B. größer als Sokrates oder eine Primzahl zu sein) aus Relationen stammen. Dabei werden die Parameter als Vergleichsgegenstände (wie in unserem Beispiel Sokrates) oder die Quantoren (wie im Fall »nicht durch eine kleinere Zahl größer als 1 teilbar zu sein«) oft einfach implizit als bekannt unterstellt. Im Fall von Dispositionen (wie z. B. auf gemahlenen Pfe=er mit einem Niesreiz zu reagieren) sind die relevanten Relationen o=enbar schon bedingte Inferenzen, die ganze Prozessformen als Folgen haben können.23 23 Man könnte auf formal stilisierte Weise φ(a, b) ⇒ γ(b) als Ausdruck für die inferentielle Regel notieren, nach welcher im Normalfall die Erfüllung der Relation R (x, y ) = λ x,y .φ(x, y ). durch a und b ggf. nach einiger Zeit die Erfüllung des Prädikats λ x γ(x ) durch b zur Folge hat. Dann stünde
Raum und Zeit 171 Kräfte sind den Körpern daher äußerlich – und sie sind es nicht. Zu sagen, dass sie ›in‹ den Dingen stecken, ist Metapher für eine bewertete Setzung durch uns. Descartes und Kant fassen einen Körper zunächst nur als eine res extensa auf. Die Folge ist, dass zwar der Satz »Körper sind ausgedehnt« rein analytisch wahr wird. Aber der Satz »alle Körper sind schwer«, also »Körper haben schwere und zugleich träge Masse«, soll nach Kant ›nur‹ als synthetisch a priori wahr gelten. Hegel erkennt das Irreführende dieses Unterscheidungsversuchs. Der Begri= mechanischer Ursachen für die Bewegungen von Körpern ist als materialbegri=liche Kanonisierung von generisch-ideal dargestelltem Allgemeinwissen zu begreifen. Er ist Ergebnis unserer gemeinsamen, übrigens weltumspannenden, geschichtlichen Arbeit am Begri= und damit an der Sprache. Dabei ist der Geist am Ende insgesamt nichts anderes als die Arbeit des Begri=s, also unsere begri=liche Arbeit. Ihre Ergebnisse zeigen sich in unserer begri=lich geformten und den Begri= mitformenden Teilnahme an einer personalen Lebensform. Daher ist nicht nur die Teleologie des Lebens, sondern das zweckdienliche Denken in unseren Entwürfen kausaler Erklärungen, damit der Geist, die Wahrheit des Mechanismus, also aller mechanischen Erklärungen, Kräfte und Ursachen. Körper haben aus begri=lichen Gründen Masse, erstens, weil sich alle Körper relativ zu anderen Körpern bewegen, und zweitens, weil in allen generischen Erklärungen mechanischer Bewegungen nur die Massen der Punktkörper und die Anfangsgeschwindigkeiten als relevant zählen. Es wird den Körpern also nicht, wie Hegels absichtlich unfreundliche Interpretation von Kants Ausdruck »synthetisch« nahelegt, die Masse als etwas »Fremdes und Zufälliges, von außen in sie Gebrachtes« in sie gesetzt, nur um unsere eigenen subjektiven Erscheinungen schön zu ordnen. Richtig ist aber, dass alle bestimmten Dispositionen von uns aufgrund einer komplexen holistischen Erfahrung auf möglichst gute und damit gerade nicht akzidentelle Weise generisch in sie gesetzt sind. λ x (φ(x, y ) ⇒ γ(y )) (grob, weil z. B. ohne Zeitangabe) für die Disposition von a, auf Gegenstände y (wie z. B. b) entsprechend der Regel zu wirken.
172 Erste Abteilung: Die Mechanik B. 254 Die Materie und Bewegung a. Endliche Mechanik 214 214 f . § 262 Die Materie hält sich gegen ihre Identität mit sich, durch das Moment ihrer Negativität, ihrer abstrakten Vereinzelung, auseinander; die Repulsion der Materie. Ebenso wesentlich ist, weil diese Verschiedenen ein und dasselbe sind, die negative Einheit dieses außereinander-seienden Fürsichseins; die Materie ist somit kontinuierlich, – ihre Attraktion. (254) Das Wort »Materie« steht hier für Körperdinge zunächst mittlerer Größe. Diese sind über einige Zeit als wiedererkennbar bestimmt – vermöge dessen, dass sie voneinander räumlich unterschieden sind. Diese Repulsion ist basale Voraussetzung für ihre Identität. Ein Ding ist mit sich identisch insoweit, als es von anderen verschieden ist. Es enthält aber ›in sich‹ Teile. Dabei ist wesentlich, dass diese Teile eine Weile lang nicht auseinanderfliegen. Die zugehörigen ›Kräfte‹ der Attraktion sind nicht einfach auf die Gravitation zu reduzieren, auch wenn diese das Planetensystem zusammenhält und verhindert, dass irdische Steine und Lebewesen in der Luft herumfliegen. Im Innern der Körperdinge wirken aber noch ganz andere, lokal weit stärkere, ›atomare‹ Bindungskräfte. Das wusste schon Hegel. Die Materie ist untrennbar beides und negative Einheit dieser Momente, Einzelnheit, aber als gegen das unmittelbare Außereinander der Materie noch unterschieden und darum selbst noch nicht als materiell gesetzt, ideelle Einzelnheit, Mittelpunkt, – die Schwere. (254) Die Momente der äußeren Repulsion und der inneren Attraktion der Körper sind im Begri= des räumlich und zeitlich relativ zu anderen Sachen lokalisierbaren Einzeldings vorausgesetzt, und zwar logisch vor jeder spezielleren Analyse der zugehörigen Kräfte. Im cartesischen Punktbewegungsmodell der Kinematik, bei Kant noch: Phoronomie, ersetzen wir den Körper durch einen Punkt, z. B. seinen Schwerpunkt, dem man die Masse des Körpers (zunächst ermittelt über sein Gewicht, also relativ zur Erdgravitation) formal zuordnet. Damit abstrahieren wir von allem, was im Körper geschieht. Dass
254 Die Materie und Bewegung 173 solche Massenpunkte ideell sind, also formale Entitäten des Darstellungsmodells, sollte klar sein. Kant hat unter anderem auch das Verdienst, durch seinen Versuch einer sogenannten Konstruktion der Materie, in seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, den Anfang zu einem Begri= der Materie gemacht und mit diesem Versuche den Begri= einer Naturphilosophie wieder erweckt zu haben. Er hat aber dabei die Reflexionsbestimmungen von Attraktivkraft und Repulsivkraft als gegeneinander feste angenommen und wieder, indem aus ihnen die Materie hervorgehen sollte, diese als ein Fertiges vorausgesetzt, so daß es schon Materie ist, was attrahiert und repelliert werden soll. Ausführlicher habe ich die in dieser Kantischen Exposition herrschende Verwirrung in meinem System der Logik 1r Bd. 1r [sic!, gemeint ist jeweils II, PS] Tl. S. 119 =., dargestellt. – (254) Hegel verweist jetzt explizit auf Kants Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften. Mit diesem Buch beginnt die moderne Naturphilosophie. Das beweist, dass diese immer auch schon als Methodologie der Naturwissenschaften begri=en ist. Im Rahmen einer sogenannten »Konstruktion der Materie« erläutert Kant das Modell der Punktkörperkinematik und Gravitationsdynamik. Allerdings war es ein basaler Fehler Kants, von den rein logischen Reflexionsbestimmungen der Attraktion als bloßer Gleichheit der Körper und der Repulsion als relativ stabiler Verschiedenheit der Körper unmittelbar zu einer festen Attraktivkraft und Repulsivkraft überzugehen. Außerdem verwirrt man die Ebene, wenn man die Materie aus punktförmigen Kraftzentren ›hervorgehen‹ lassen will. In Wahrheit werden die Körper in ihrer Attraktion und Repulsion und damit in ihrem Zusammenhalt und ihrem Abstoßen bzw. den sie ergebenden Relativbewegungen vorausgesetzt, nicht ›konstruiert‹. Konstruiert werden ihre Vertreter, die sich relativ zu einem Vergleichsnullpunkt bewegenden Massenpunkte bzw. ihre Funktionskurven – mit der Zeit als Argument (der Abszisse) und den Orten als Werten (eindimensional verkürzt auf der Ordinate).24 24 Vgl. dazu P. Stekeler, Hegels Wissenschaft der Logik. Ein dialogischer Kommentar. Bd. 1, Hamburg: Meiner 2020, S. 664–679. 215 k
174 215 k 215 k 215 k Erste Abteilung: Die Mechanik 254 f. Übrigens ist erst die schwere Materie die Totalität und das Reelle, an dem Attraktion und Repulsion stattfinden kann; sie hat die ideellen Momente des Begri=s, der Einzelnheit oder Subjektivität. Deswegen sind sie nicht als selbständig oder als Kräfte für sich zu nehmen; die Materie resultiert aus ihnen nur als Begri=smomenten, aber ist das Vorausgesetzte für ihre Erscheinung. (254 f.) Jede Materie, jeder Körper hat Schwere. Das ist insofern a priori wahr, als die ›mechanischen‹ Bewegungsfunktionen multiplikativ von der Masse abhängen – so dass die Masse daher nicht Null sein kann. Die Schwere ist von der bloßen Attraktion wesentlich zu unterscheiden. Diese ist nur überhaupt das Aufheben des Außereinanderseins und gibt bloße Kontinuität. (255) Die Größe der schweren Masse allein bestimmt noch keineswegs die inneren Attraktionskräfte, was man an so einfachen Beispielen wie an einem Haufen Sand und einer gleich schweren Eisenkugel sehen kann. Hingegen die Schwere ist die Reduktion der auseinander-seienden, ebenso kontinuierlichen Besonderheit zur Einheit, als negativer Beziehung auf sich, der Einzelnheit, Einer (jedoch noch ganz abstrakten) Subjektivität. In der Sphäre der ersten Unmittelbarkeit der Natur ist aber die außersichseiende Kontinuität noch als das Bestehende gesetzt; es ist erst in der physischen, in welcher die materielle Reflexion-in-sich beginnt. Die Einzelnheit ist daher als Bestimmung der Idee zwar vorhanden, aber hier außer dem Materiellen. Die Materie ist daher erstens wesentlich selbst schwer ; es ist dies nicht eine äußerliche, von ihr auch trennbare Eigenschaft. Die Schwere macht die Substantialität der Materie aus, diese selbst ist das Streben nach dem – aber – dies ist die andere wesentliche Bestimmung – außer ihr fallenden Mittelpunkt. (255) Hegels abstrakter Kommentar zur schweren Masse ist gewöhnungsbedürftig. Das beginnt mit dem Wort »Reduktion«, das einerseits die Abstraktion der Massengleichheit (zunächst bei gleichem Gewicht) im Rücken hat, dann aber genau das benennt, was ich »Massenpunkt« genannt habe. Er ist Repräsentant des Körpers als Einheit oder Gegenstand, auf den man den Körper in einer kinematischen Betrachtung in der Tat ›reduziert‹. Man abstrahiert damit von seiner räumlichen Extension und Gestalt, bei Hegel: seiner »auseinander-
Die Materie und Bewegung 175 seienden, ebenso kontinuierlichen Besonderheit«. Diese punktförmige Einzelheit ist als ›perspektivischer‹ Null-Punkt hier und jetzt in Raum und Zeit wiederum das, was Leibniz als Monade konzipiert. Das wird sich weiter unten gleich bestätigen. Hegels Rede von einer noch ganz abstrakten Subjektivität meint gerade die Monadenlehre. Die zugehörigen Orientierungen fassen wir mathematisch als Koordinatensystem – das wir durch Bewegungen von einem Nullpunkt zu jedem anderen transportieren können. (Spiegelungen sind, wie gesagt, ausgeschlossen!) »Erste Unmittelbarkeit der Natur« ist Hegels abstrakter Titel für unsere reale Erfahrung im Umgang mit physischen Dingen, also mit den ganz zu Unrecht ironisch so genannten middle sized dry objects. Diese zeigen sich als ausgedehnt und kontinuierlich. D. h., ihr Zusammenhang oder Zusammenhalt bleibt einige Zeit lang erhalten. Im Alltag und in der Alltagssprache sind sie so zunächst (scheinbar) unmittelbar »als das Bestehende gesetzt«. Hegel unterscheidet damit zwischen der ›Sphäre‹ eines ›unmittelbaren‹ Zugangs zu den Dingen und Körpern der Natur und der ›physischen‹ Natur. Diese würden wir heute vielleicht besser als »physikalisch« bezeichnen, da wir inzwischen die ›unmittelbaren‹ Dinge »physisch« nennen. Mit dem physikalischen Begri= der sich relativ zueinander in Raum und Zeit bewegenden körperlichen Gegenstände beginnt, was Hegel »materielle Reflexion-in-sich« nennt. Schon Euklid hatte definiert, dass ein Punkt das ist, was keine (extensionalen) Teile hat. Aber auch ein dinglicher Gegenstand ist punktförmig. Ihn repräsentieren beliebige Teile in seiner ganzen Ungeteiltheit, wie wir oben schon gesehen haben. Auf diese Weise vertritt z. B. jeder meiner leiblichen Teile, nicht etwa nur mein Gehirn, wie es ein neuer Aberglauben haben möchte, mich und meinen ganzen Leib, so dass z. B. ich dich stoße, wenn meine Hand dich stößt. Auf besondere Weise aber bin ich mein Sehepunkt und du blickst sozusagen in mich, indem du in meine Augen blickst. Diese logische Form liegt der weltweit verbreiteten Vorstellung zugrunde, mein Leib und sein Inneres wären mir selbst als einer punktförmigen Seele gänzlich äußerlich. In diesem Sinn ist die »Einzelnheit als Bestimmung der Idee« des Dings, also seiner Realform, »zwar vorhanden«, »aber hier« noch
176 215 k 215 f . k 216 k Erste Abteilung: Die Mechanik 255 »außer dem Materiellen«. Die Einheit des Dings entstammt nämlich zunächst allein der Nichtunterscheidung von anderen Dingen. Die Materie als physikalischer Gegenstand ist »wesentlich selbst schwer« – weil sie sich, wie oben gesagt, immer bewegt. Die schwere Masse ist dabei keine ›äußerliche‹, vom physikalischen Gesamtgegenstand »trennbare Eigenschaft«. Im Fall der Bewegung der Planeten zeigt sich die Schwere, jetzt als quantitativ bestimmbare Gravitationskraft, im dispositionellen Streben nach dem Mittelpunkt – der Sonne. Man kann sagen, die Materie werde vom Mittelpunkte attrahiert, d. h. ihr außereinanderseiendes kontinuierliches Bestehen negiert; aber wenn der Mittelpunkt selbst materiell vorgestellt wird, so ist das Attrahieren nur gegenseitig, zugleich ein Attrahiertwerden, und der Mittelpunkt wieder ein von ihnen Verschiedenes. (255) Zur Form der Rede über Körperdinge gehört es zu sagen, dass sie, wie z. B. Satelliten, von einem Massenmittelpunkt wie z. B. des Mondes, der Erde oder Sonne angezogen werden. Im Modell wird dabei von ihrer eigenen Extension abstrahiert. Aber man kann von ihrer Masse nicht abstrahieren, auch wenn diese nur für die Größe der Fliehkräfte relevant werden sollte. Im Vergleich zur Gravitation der Sonne sind Masse und Ausdehnung der Planeten vernachlässigbar. Dasselbe gilt für Dinge auf der Erde im Vergleich zur Erde. Der Mittelpunkt ist aber nicht als materiell zu nehmen; denn das Materielle ist eben dies, seinen Mittelpunkt außer sich zu setzen. Nicht dieser, sondern dies Streben nach demselben ist der Materie immanent. (255) Der Schwerpunkt eines Körpers oder der Massenmittelpunkt eines Körpersystems kann auch außerhalb der einzelnen Körper liegen. Er ist ohnehin durch zugeschriebene und erfahrene Dispositionen des Strebens der Dinge und Körper definiert. Das zu erwähnen ist für Hegel deswegen so wichtig, weil es klarmacht, dass dispositionelle Kraftzentren im Blick auf ein holistisches Verhalten zu anderen Dingen gesetzt sind: Die Schwere ist sozusagen das Bekenntnis der Nichtigkeit des Außersichseins der Materie in ihrem Fürsichsein, ihrer Unselbständigkeit, ihres Widerspruchs. (255) Man kann an der Art der Bestimmung von Schwerkraft und Schwerpunkt sehen, dass die bloße Extension der Körper für manche ihrer
256 Die Materie und Bewegung 177 inferentiellen Wirkungen gar nicht relevant ist, so dass die cartesische Bezeichnung eines Körpers als res extensa auf eine falsche Fährte führt. – Hegels idiosynkratische Rede von Unselbständigkeit und Widerspruch sagt nur noch einmal, dass die Bewegungseigenschaften wie die Massenverteilungen nur vom Gesamtsystem der sich bewegenden Körper her zu begreifen sind. Man kann auch sagen, die Schwere ist das Insichsein der Materie, in diesem Sinne, daß, eben sofern sie noch nicht Mittelpunkt, Subjektivität an ihr selbst ist, sie noch unbestimmt, unentwickelt, unaufgeschlossen ist, die Form noch nicht materiell ist. Wo der Mittelpunkt liege, ist durch die schwere Materie, deren Mittelpunkt er ist, determiniert; insofern sie Masse ist, ist sie bestimmt, und damit ihr Streben, welches das und somit ein bestimmtes Setzen des Mittelpunktes ist. (255 f.) Der Massenmittelpunkt eines Körpers fällt nur bei Gleichverteilung der Massen mit dem geometrischen Schwerpunkt zusammen. Hegel liebt Formulierungen der Art, nach welchen die schwere Masse als ein »Insichsein der Materie« anzusprechen sei, obwohl das Massenzentrum räumlich unter Umständen gar nicht in dem Körper liegt. Ein toter Körper, dessen Bewegung nur durch das Gesamtsystem der Relativbewegungen zu allen anderen Körpern bestimmt ist, hat noch gar keine Subjektivität an ihm selbst. Der dem Körper zugeschriebene monadische Punkt (als seine ›Perspektive‹ auf seine Umwelt) ist »noch unbestimmt, unentwickelt, unaufgeschlossen«. Die Reaktionsform toter Körper auf die Umwelt ist also noch gar nicht immanent wie im Fall der ›Seele‹ der Tiere, die als Form ihrer Selbstbewegung materiell verleiblicht ist. 216 k b. Die träge Materie § 263 Die Materie hat zunächst als bloß allgemein und unmittelbar nur einen quantitativen Unterschied und ist besondert in verschiedene Quanta, – Massen, welche in der oberflächlichen Bestimmung eines Ganzen oder Eins Körper sind. (256) Hegels Unterscheidung zwischen Ding, Körper, Materie und physischem Gegenstand (für sich, also unter Abstraktion von der Bezie- 216
178 216 216 Erste Abteilung: Die Mechanik 256 hung auf uns und je mich) ist (leider) nicht kanonisch bzw. kanonisiert. Das macht die Lektüre schwer. Zunächst können wir unseren Fokus auf die räumliche Extension (a), die Masse (b) und den Ort des (Massen-)Schwerpunktes (c) legen. Durch (a), (b) oder (c) kann man den ganzen Körper in seiner Einheit vertreten, obwohl bei genauerer Betrachtung alle drei relevant sind. Gleichfalls unmittelbar ist der Körper von seiner Idealität unterschieden und ist zwar wesentlich räumlich und zeitlich, aber als im Raume und in der Zeit, und erscheint als deren gegen diese Form gleichgültiger Inhalt. (256) Mit der Idealität des Körpers ist im Wesentlichen seine geometrische Extension, die Positionierung im Raum und in der Zeit gemeint, die Kant auf seine Beziehung zu je meiner Anschauung reduziert. Der Körper selbst ist aber in seiner Objektivität mehr als bloße res extensa. § 264 Nach der Raumbestimmung, in welcher die Zeit aufgehoben ist, ist der Körper dauernd; nach der Zeitbestimmung, in der das gleichgültige räumliche Bestehen aufgehoben ist, vergänglich; überhaupt ein ganz zufälliges Eins. (256) Hegel ist sich der logischen Abstraktionen in unseren Reden über den Raum und die Zeit völlig bewusst: Raumbestimmungen der (Lage der) Körper zueinander gibt es in reiner Form nur ›momentan‹. Man setzt also voraus, dass die Zeit ›angehalten‹ ist und alle Bewegungen ›aufgehoben‹ sind. In den damals noch üblichen Raumbestimmungen abstrahierte man sozusagen davon, dass es Zeit braucht, um etwas von A nach B zu bewegen, was gerade auch für Informationen gilt, die durch Schall oder Licht übertragen werden.25 Bei Körpern nimmt man an, dass sie, obwohl vergänglich, eine Zeitdauer lang als mit sich identisch und ggf. wiedererkennbar bestimmt sind. Die Rede vom zufälligen Eins meint wohl, dass ein konkretes Körperding als Gegenstand hier und jetzt erst einmal auf kontingente Weise existiert. 25 Würden wir zum Beispiel über den letzten Durchlauf des Mars durch den Punkt seiner Bahn sprechen, welcher der Sonne am nächsten liegt, müssten wir uns auf ein ›Jetzt hier‹ eines möglichen Sprechers beziehen und dieses einem ›Jetzt hier‹ auf dem Mars zuordnen.
257 Die Materie und Bewegung 179 Er ist zwar die, beide Momente in ihrer Entgegensetzung bindende Einheit, Bewegung ; aber als gegen Raum und Zeit (vorh. §), so gegen deren Beziehung (§ 261), die Bewegung, gleichgültig, ist sie ihm äußerlich, wie seine Negation derselben, die Ruhe, – er ist träge. (256) Körper gibt es als bestimmte nur so, dass sie sich relativ zu anderen Körpern und damit in der Raumzeit bewegen. In eben diesem Sinn sind beide Momente, Raum und Zeit, sozusagen im Körper schon zusammengeschlossen: Jeder Körper definiert durch die Dauer seines einheitlichen Seins gerade so wie jedes Lebewesen durch die Dauer seines Lebens eine endliche Zeitepoche. Und er definiert durch seine Extension je zu einem Zeitmoment ein Raumstück. Hegel versucht nun, die Trägheit der Körper irgendwie mit der Grundtatsache zu verbinden, dass jeder Körper von sich her als ruhend betrachtet werden kann, so dass sich, von ihm her gesehen, jeweils nur andere Körper bewegen. Das führt natürlich noch nicht unmittelbar zur Trägheit im Sinne einer zugeschriebenen Tendenz der Körper, sich auf geraden Linien ohne Beschleunigung zu bewegen, und zwar zunächst relativ zur Sonne als Ruhezentrum. Die Endlichkeit des Körpers, seinem Begri=e nicht gemäß zu sein, besteht in dieser Sphäre darin, daß er als Materie nur die abstrakte unmittelbare Einheit der Zeit und des Raums, nicht aber in Einem deren entwickelte, unruhige Einheit, die Bewegung als immanent an ihm gesetzt ist. – (257) Es gehört zur Form der Sprache seit Urzeiten, auch ›tote‹ Körper so zu betrachten, als wären sie mangelhafte Lebewesen. Hegel macht dagegen auf moderne Weise explizit, dass alle Bewegungen und Prozesse ›toter‹ Körper nur im System äußerer mechanischer und chemischer Reaktionstypen zu verstehen und zu erklären sind. Die Metapher, dass tote Körper ihrem Begri= nicht gemäß sind, lese ich daher nur als Formulierung dafür, dass sie endliche Momente globalerer Prozesse sind, also im Grunde so ähnlich unselbständig sind wie Hitze oder Kälte oder der Spin eines Teilchens. Das meint wohl auch die Rede von der abstrakten »Einheit der Zeit und des Raums« im materiellen Körper während der Phase oder Epoche seiner Existenz. In dieser Bestimmung wird der Körper in der physikalischen Mechanik überhaupt genommen, so daß es Axiom derselben ist, daß 216 216 f . k 217 k
180 217 k 217 k Erste Abteilung: Die Mechanik 257 der Körper schlechthin nur durch eine äußerliche Ursache in Bewegung als in einen Zustand und ebenso in Ruhe versetzt werde. (257) Am Sein der Lebewesen kommen in der Physik nur diejenigen Bewegungen und Prozessteile in den Blick, die auch in der ›toten‹ Natur vorkommen. In der physikalischen Mechanik wird von vornherein von jedem Selbsterhalt einer substantiellen Form abgesehen, der über die kausal bzw. gesetzesförmig aufeinander wirkenden Teile der Dinge hinausgeht. Auch noch in der Chemie, Elektrodynamik und Atomphysik abstrahiert man von allem Leben. Man betrachtet nur ›tote‹ Dinge. Gegen die These, dass diese Sicht doch weit moderner und wissenschaftlich fortschrittlicher sei als alle ›vitalistischen‹ und anthropomorphen Metaphern, stellt Hegel kühl und ironisch fest, dass man den Abstraktionsschritt nicht vergessen sollte, der schon in der Definition einer rein mechanischen Bewegung steckt. Das Axiom, nach dem Körper »schlechthin nur durch eine äußerliche Ursache« ihren Bewegungszustand ändern können, ist zwar für eine Billardballmechanik völlig in Ordnung. Es passt für Phänomene, die sich gut stoßmechanisch darstellen lassen. Es gibt aber keinen guten Grund dafür, anzunehmen, das Prinzip gälte auch außerhalb der durch es selbst eingegrenzten Sphäre. Es schweben der Vorstellung dabei nur die selbstlosen Körper der Erde vor, von welchen jene Bestimmungen allerdings gelten. Aber dies ist nur die unmittelbare und eben damit abstrakte und endliche Körperlichkeit. Der Körper qua Körper heißt dies Abstraktum des Körpers. Aber die Unwahrheit dieser abstrakten Existenz ist im konkret existierenden Körper aufgehoben, und dies Aufheben beginnt schon am selbstlosen Körper gesetzt zu sein. (257) Die Prototypen der Druck- und Stoßmechanik stammen aus der ›unmittelbaren und eben damit abstrakten und endlichen Körperlichkeit‹. Das ›Unwahre‹ liegt hier darin, dass der Sonderfall nicht als solcher bemerkbar gemacht bleibt, man also sozusagen meint, auf die Druck- und Stoßmechanik mit ihren Parallelogrammen der Richtung und Geschwindigkeit bzw. ›Kräften‹ sei schon die ganze Mechanik oder gar die ganze Physik, sogar die Biologie, wenigstens ›im Prinzip‹ zu reduzieren: Unstatthafterweise werden die Bestimmungen der Trägheit, Stoß, Druck, Anziehen, Fall usf. aus der gemeinen Mechanik, der Sphäre
257 Die Materie und Bewegung 181 der endlichen Körperlichkeit und der damit endlichen Bewegung, in die absolute übergetragen, in welcher die Körperlichkeit und die Bewegung vielmehr in ihrem freien Begri=e existiert. (257) Die absolute Mechanik ist die Himmelsmechanik Newtons. Die unstatthafte Übertragung von Trägheit, Stoß, Druck, Fall usf. zeigt sich besonders in der – für sich gesehen genialen, aber doch unpassenden – Modellierung der Gravitationswirkungen im Modell von Le Sage (und Euler). Dieses operiert mit der Hypothese vieler fingierter Partikel im ›Äther‹, die sich der Theorie zufolge superschnell bewegen sollen. Abschattungen durch die Sonne sollen deren Anziehung durch viele kleine Stöße erklären, also durch einen entsprechenden Druck in Richtung der Sonne. Hegel kontert hier wie schon Newton so: Man sollte keine weiteren Erklärungshypothesen aufstellen, sondern die Gravitationskräfte als eine Art actio in distans ansehen und anerkennen. Die Bewegungsformen Keplers existieren also »in ihrem freien Begri=e« schlicht so, wie es das Modell darstellt. Das ist als große Grundtatsache sozusagen zu schlucken. Der Ausdruck »der Begri=« meint hier also einfach das System der zunächst durch die Theorie Keplers und dann durch die Newtons dargestellte Gesamtformation der Planeten- und Körperbewegungen. c. Der Stoß § 265 Der träge Körper äußerlich in Bewegung, die eben hiemit endlich ist, gesetzt und so auf einen andern bezogen, macht momentan mit diesem Einen Körper aus, denn sie sind Massen von nur quantitativem Unterschiede; die Bewegung ist auf diese Weise Eine beider Körper (Mitteilung der Bewegung). (257) Hegel scheint zu glauben, dass die Überschrift »der Stoß« schon ausreichend klarmacht, was der Kommentar kommentiert, nämlich konkrete Fälle der Art, in der wir eine Kugel im Billard durch eine andere Kugel anstoßen. Dabei kennt er o=enbar noch nicht die ungeschriebene Konvention, dass Überschriften und Gliederungen nicht eigentlich zum Text gehören, so dass implizite anaphorische Bezugnahmen auf sie eigentlich verboten sind. Die Titel wären also im Text 217
182 217 Erste Abteilung: Die Mechanik 257 f. explizit neu aufzugreifen, wenn sie denn erläutert werden. Außerdem stellt er grundsätzlich die paradigmatischen Beispielfälle seiner Kommentierungen nicht dar, da er eine solche Darstellung für ›exoterisch‹ hält, während er sich nur für die ›esoterischen‹ begri=lichen Beziehungen der Kommentarsprache interessiert. Beides ist extrem leserunfreundlich, muss aber berücksichtigt und sogar durch freie Ergänzungen, also Interpolationen, der wahrscheinlichen Bezugsgegenstände kompensiert werden. Außerdem macht die überdichte Formulierung zu scha=en. Denn die Rede von einem Setzen in der folgenden Ausdrucksweise: »der träge Körper [. . . ] gesetzt und so auf einen andern bezogen [. . . ]« ist auf folgende Weise zu lesen: »Wenn wir einen Körper a als ruhend setzen und so auf einen anderen b beziehen . . . «. Der einfachste Fall ist eine auf c ruhende Kugel a, die durch eine Kugel b getro=en wird. Hier liegt der besondere Fall einer scheinbar ›selbstverständlichen‹ Setzung nahe. Wenn aber z. B. zwei Körper a, b, die sich beide relativ zu c bewegen (wie z. B. ein Meteorit a und die Erde b im Verhältnis zur Sonne c) zusammenstoßen, dann kann man zunächst c oder a oder b als ruhend setzen. Hegel sagt nun, leider etwas unbeholfen, dass man a und b zu einem Körpersystem verbinden müsse, wobei nur die quantitativen Unterschiede der Massen, die Geschwindigkeit und die Form des Zusammentre=ens für die Reaktionsform eine Rolle spielen sollen, wenn man von der Reibung oder einem sonstigen Einfluss von c absehen darf. Dass Hegel zunächst tatsächlich an Billardkugeln denkt, signalisiert wohl der Ausdruck »Mitteilung der Bewegung«. Aber ebensosehr leisten sie sich Widerstand, indem jeder gleichfalls als unmittelbares Eins vorausgesetzt ist. Dies ihr Fürsichsein, das durch das Quantum der Masse weiter besondert ist, gegeneinander ist ihre relative Schwere, – Gewicht als die Schwere einer quantitativ besondern Masse (extensiv als eine Menge schwerer Teile, – intensiv als bestimmter Druck, s. § 103 Anm.); – welches als die reale Bestimmtheit mit der ideellen, der quantitativen Bestimmtheit der Bewegung, – der Geschwindigkeit, Eine Bestimmtheit (quantitas motus) ausmacht, innerhalb deren jene beiden gegenseitig die Stellen voneinander vertreten können, vgl. § 261 Anm. (257 f.) Zwei Kugeln a und b leisten sich Widerstand. Dasselbe gilt für Erde
258 Die Materie und Bewegung 183 und Meteorit (wobei die Sonne nur eine Rolle spielt, wenn wir die Bewegungen relativ zu ihr darstellen). Zum Fürsichsein der Kugeln gehört ihre Masse, wobei ich oben schon auf die irdische Gewichtsmessung und damit implizit auf den ausgeübten Druck auf eine Waage als einen ersten Zugang zu Massenmessung hingewiesen habe. Hegel trägt jetzt auch die relative momentane Aufprallgeschwindigkeit unter dem Titel »quantitas motus« nach. § 266 Dies Gewicht als intensive Größe in einen Punkt konzentriert im Körper selbst, ist sein Schwerpunkt, aber der Körper ist als schwer dies, seinen Mittelpunkt außer sich zu setzen und zu haben. (258) Wir würden in heutiger Sprache nicht sagen, das Gewicht sei der Schwerpunkt. Hegel spricht hier o=enbar verkürzt von dem, was ich Massenpunkt genannt habe, den man manchmal geometrisch im Schwerpunkt des Körpers lokalisieren kann. Dass der Körper in seiner Schwere seinen Mittelpunkt außer sich setze, bedeutet dann wieder nicht, dass der Körper selbst etwas täte. Es ist Hegels idiosynkratischer Kanonisierungsvorschlag, um kurz auszudrücken, dass wir zwischen Körper, Schwere (resp. Masse oder Gewicht) und Schwerpunkt qua Massenpunkt unterscheiden. Die Redeform verlangt von uns eine Revision ihrer üblichen Fehldeutungen. Masse, Schwere und Gewicht sind durch mögliche ›prozessuale Relationen‹ zu anderen Körpern, wie ich es nennen möchte, also dispositionell definiert. Sie werden zum ›Inneren der Körper‹ nur durch Vermittlung der allgemeinen äußeren Reaktionen. Dispositionen sind also von uns begri=lich in das ›Innere‹ eines Gegenstandes gesetzte latente Kräfte. Sie sind dasselbe wie bedingte Normalfallprozessformen. Salz ist z. B. wasserlöslich, weil es sich in Normalfällen löst, wenn es mit Wasser zusammengebracht wird. Das »wenn-dann« ist dabei kein Junktor wie im Fall »nicht p oder q «, den man als Ausdruck einer logisch komplexen Aussage liest, sondern artikuliert eine generische Erlaubnisregel der Art p ⇒ q . Diese sagt, dass man von einer Aussage der Art »Das Salz ist mit Wasser zusammengebracht worden« im Normalfall übergehen darf zu »Das Salz löst sich jetzt oder ist schon (bis zur Sättigung) gelöst«. Ersetzt man p ⇒ q durch einen quantifizierten Allsatz der Form »In allen möglichen Situationen, in 217 f .
184 218 218 218 k Erste Abteilung: Die Mechanik 258 denen p gilt, geschieht auch q «, was zunächst naheliegt, ist man schon zu weit gegangen, da man von der generischen Form der Regel abstrahiert. Die Wörter »immer« und »ewig« sind daher immer mit einer gehörigen Prise Salz zu lesen, gerade auch bei Hegel selbst, wie wir noch sehen werden. Stoß und Widerstand wie die durch sie gesetzte Bewegung hat daher eine substantielle Grundlage in einem den einzelnen Körpern gemeinschaftlichen, außer ihnen liegenden Zentrum, und jene ihre äußerlich gesetzte, akzidentelle Bewegung geht in die Ruhe, in diesem Mittelpunkt, über. (258) Stoß, Widerstand und Bewegungslinien scheinen im Billardballfall zunächst klar. Hegel erwähnt jetzt erst, dass die Relativbewegungen von a und b auf einen gemeinsamen Vergleichskörper c verweisen (können), der dann als ruhend gesetzt ist. Wir können dabei nicht eigentlich einen absoluten Ruhe-Raum voraussetzen, sondern nur ein relatives Ruhe-System, das an einen zunächst willkürlich gewählten Körper c ›angebunden‹ ist. Man denke z. B. an ein Billardspiel in einem fahrenden Zug. Was eine gute Wahl eines Zentrums ist, bestimmt sich in Fällen wie diesem oder dann auch dem Sonnensystem durch Massenverhältnisse und Bewegungszustände. Diese Ruhe ist zugleich, indem das Zentrum außer der Materie ist, nur ein Streben nach dem Zentrum, und nach dem Verhältnisse der in Körper besonderten und gemeinschaftlich dahin strebenden Materie ein Druck derselben aufeinander. Dies Streben, im Verhältnisse des Getrenntseins des Körpers durch einen relativ-leeren Raum von dem Mittelpunkt seiner Schwere, ist der Fall, die wesentliche Bewegung, in welche jene akzidentelle dem Begri=e nach übergeht, wie der Existenz nach in Ruhe. (258) Auf der Erde ist der freie Fall »die wesentliche Bewegung«, in welche z. B. eine akzidentell veranlasste ballistische Bewegung, etwa beim Werfen einer Boule-Kugel, am Ende übergeht. Das geschieht »dem Begri=e nach«. Das heißt wieder nur, es geschieht gemäß einer allgemeinen Normalform bzw. einer generischen Modellierung irdischer Bewegungen. Die Ruhe eines Körperdings auf der Erde ist dabei selbst schon »ein Streben nach dem Zentrum«, das sich auf einer Waage als Druck des Gewichts messen lässt. Für die äußerliche, die endliche Bewegung ist es der Grundsatz
258 f. Die Materie und Bewegung 185 der Mechanik, daß ein Körper, der ruht, in Ewigkeit ruhen, und der in Bewegung ist, in Ewigkeit sich fortbewegen würde, wenn er nicht durch eine äußerliche Ursache von dem einen Zustand in den andern versetzt würde. Dies heißt nichts anderes als Bewegung und Ruhe nach dem Satze der Identität (§ 115) ausgesprochen: Bewegung ist Bewegung, und Ruhe ist Ruhe; beide Bestimmungen sind gegeneinander ein Äußerliches. (258 f.) Bei »endlichen Bewegungen« in Hegels Sinn geht man von folgendem begri=lichen Prinzip aus, das einen Allgemein- oder Normalfall kanonisch setzt: Ein Körper, der ruht, kann nur »durch eine äußerliche Ursache« bewegt werden. Unter Berücksichtigung von Reibungskräften scheint das Prinzip so verallgemeinert werden zu können: Eine auf einer ebenen Bahn geführte Bewegung oder auch eine Pendelbewegung würde ewig so weitergehen, wenn sie nicht durch Reibekräfte oder andere Krafteinwirkungen verlangsamt würde. Hegel interessiert sich hier hauptsächlich für die allgemeine Logik eines solchen irrealen Konditionals im Gebrauch eines ›würde‹ und ›hätte‹ oder ›wäre‹, nicht für physikalische Details. Die Unterscheidung zwischen geradlinigen und kurvenförmigen Bewegungen kommt sozusagen später. Zunächst klingt es merkwürdig, wenn Hegel sagt, dass das ›Prinzip‹, so gefasst, nicht mehr sage als: »Bewegung ist Bewegung, und Ruhe ist Ruhe«. Und doch hat er insofern recht, als jede Bewegung, wenn man sie durch ›Kräfte‹ erklärt, schlicht als Instanziierung einer Bewegungsform zu begreifen ist. Einen metaphysisch-ontischen Begri= der Kraft werden später auch Heinrich Hertz, Bertrand Russell und Ludwig Wittgensteins ablehnen. Ich denke, dass sie dabei nicht weiter als Hegel kommen. Im Gegenteil. Auf der Erde gibt es nur Bewegungsformen, die nach endlicher Zeit in einem Ruhezustand stoppen. Es hat also zunächst gar keinen Sinn zu sagen, eine Bewegung würde nicht stoppen, wenn es keine Kräfte gäbe, die sie stoppen, zumal es bei irdischen Bewegungen nie nur an den Reibungskräften liegt, dass sie zur Ruhe kommen, wenn sie nicht ›von außen‹ in Gang gehalten werden, sei es durch eine Feder einer Uhr oder durch Sonne, Klima oder andere Arten von Energieumwandlung.
186 218 k Erste Abteilung: Die Mechanik 259 Diese Abstraktionen der Bewegung für sich und der Ruhe für sich nur sind es, welche die leere Behauptung von einer ewig sich fortsetzenden Bewegung, wenn nicht – usf., hervorbringen. Der Satz der Identität, der ihre Grundlage ist, ist für sich an seinem Orte in seiner Nichtigkeit gezeigt worden. Jene Behauptung hat keinen empirischen Grund, schon der Stoß als solcher ist durch die Schwere, d. i. die Bestimmung des Fallens bedingt. (259) O=enbar kann man von Hegels Denken nichts lernen, wenn man seine sprachlich nicht einfachen Texte nicht charitabel liest und schon alles besser zu wissen glaubt. Das gilt freilich für wirklich alle Autoren vor unserer Zeit. Man kann Hegels Gedankengang jetzt so verstehen: Methodisch wäre es verfehlt, von der bloßen Beobachtung des Verhaltens von Billardbällen durch unmittelbare Abstraktion zur kanonischen Setzung eines idealen Prinzips überzugehen, nach welchem eine geradlinige Bewegung sich ewig unbeschleunigt fortsetzen würde, »wenn nicht – usf.«. Für ein solches Prinzip wäre noch nicht einmal geklärt, auf welches Körperzentrum die gerade Linie und auf welche Zeitmessung die unbeschleunigte Bewegung zu beziehen wäre. Rein formallogisch kommt man hier erst recht nicht weiter. Das meint Hegels Verweis auf den »Satz der Identität«. Die Rede von seiner Nichtigkeit besagt nicht etwa, dass die rein formale Logik gänzlich wertlos wäre, sondern dass es eine Tendenz gibt, ihre Leistung zu überschätzen. Das ist am Ende die wichtigste Einsicht des gesamten Lebenswerks von Ludwig Wittgenstein. Interessanterweise unterläuft die Erfindung sogenannter impliziter formalaxiomatischer Definitionen bei David Hilbert und Rudolf Carnap, damit aber die gesamte formalanalytische Philosophie des 20. Jahrhunderts, diese Einsicht und übersieht ihre fundamentale Bedeutung. Zunächst hat die axiomatische Annahme von Inertialsystemen in der Tat »keinen empirischen Grund«. Schon der Stoß ist ›nur‹ durch die Schwere bedingt. Hegel besteht also wie Newton darauf, die Bewegungsformen in der allgemeinen Mechanik auf die Masse zurückzuführen. Es geht dabei nicht um die Unterschiede der Begri=e der schweren und trägen Masse bzw. dem irdisch gewogenen Gewicht, sondern um die Frage, wie die Rolle lokaler inertialer Bewegungstendenzen (also der Steigungen in einem Punkt) in der
259 Die Materie und Bewegung 187 di=erentialgeometrischen Darstellung von Bewegungsformen genau zu verstehen ist. Hegel verlangt also ein methodisch, logisch und begri=lich geordnetes Wissen. Er denkt damit strenger als diejenigen, welche sich mit den Axiomen aus Newtons Principia zufriedengeben, nachdem sie deren Axiome nur erst gelernt haben. Gegen die naive Überzeugung, dass diese Grundsätze das wahre Wesen der mechanischen Bewegungsgesetze entdeckt und vollständig erklärt hätten, sind philosophischere Geister wie Kant schon weit skeptischer, wenn sie erklären, das System Newtons sei durch seine unbezweifelbaren Leistungen der Erklärung der Phänomene als empirisch wohlbegründet wenigstens ›pragmatisch‹ anzuerkennen. Doch gerade diese spekulative, also holistisch-totale Armbewegung eines empiristischen Pragmatismus ist noch nicht gut genug, auch wenn man mit ihr immerhin alle überschwänglichen Erklärungsansprüche wenigstens verbal aufgibt. Der Wurf zeigt die akzidentelle Bewegung gegen die wesentliche des Falls; aber die Abstraktion, der Körper qua Körper, ist unzertrennlich verknüpft mit seiner Schwere, und so drängt sich bei dem Wurf diese Schwere von selbst auf, in Betracht gezogen werden zu müssen. Der Wurf als abgesondert, für sich existierend, kann nicht aufgezeigt werden. (259) In der Erdballistik eines Wurfs oder Abschusses (etwa einer Kugel oder auch einer Rakete) steht am Anfang »die akzidentelle Bewegung«, die wir aber ggf. experimentell reproduzieren können. Der wesentliche Teil ist dabei insofern der freie Fall in der Fortsetzung der ballistischen Bewegung, als sich nur in dieser Fortsetzung die Natur der Sache selbst zeigt, so wie es eben in jedem Experiment immer darauf ankommt, was nach dem Ende unserer handelnden Interventionen als dem Anfang der Bewegung oder des Prozesses ›von selbst‹ weiter geschieht. Das Beispiel für die Bewegung, die von der vis centrifuga herkommen soll, ist gewöhnlich der Stein, der in einer Schleuder, von der Hand im Kreise bewegt, immer das Streben, sich von ihr zu entfernen, zeige (Newton, Phil. nat. princ. math. Defin. Vta.). (259) Hegel selbst sagt erst jetzt explizit, dass es um die vis centrifuga geht, die tangentiale Fliehkraft in ballistischen Flugkurven. Dabei 218 k 218 k
188 218 k 218 f . k 219 k 219 k Erste Abteilung: Die Mechanik 259 spüren wir beim Steinschleudern in der Hand direkt das Streben des Steines, sich von uns zu entfernen. Aber es ist nicht darum zu tun, daß eine solche Richtung existiere, sondern daß sie getrennt von der Schwere für sich existiere, wie sie in der Kraft vollends verselbständigt vorgestellt wird. (259) Es steht nicht infrage, dass es hier eine gerichtete Kraft proportional zur Masse des Steins oder der Kugel gibt. Hegel greift nur die Vorstellung an, es gäbe in der ›unendlichen‹ Raumzeit ›wirklich‹ inertiale (also gerade) Bewegungslinien für sich, unabhängig von den Bewegungsformen konkreter Massen. Es gibt keine frei schwebenden Kräfte und Energien unabhängig von sich reproduzierenden oder reproduzierbaren Prozess- und Bewegungsformen von Materie und ihren (Partial-)Beschreibungen. Die Einsicht ist so modern, dass man sie damals noch nicht begreifen konnte. Da die Texte kaum ernsthaft genug gelesen wurden, wurde sie auch später nicht verstanden. Newton versichert ebendaselbst, daß eine bleierne Kugel in coelos abiret et motu abeundi pergeret in infinitum, wenn (freilich: wenn) man ihr nur die gehörige Geschwindigkeit erteilen könnte. (259) Es hängt sozusagen an der Betonung der Texte, ob wir Hegels Kritik an Newtons Versicherungen angemessen verstehen. Denn eine unendliche geradlinige Bewegung einer Kugel in der wirklichen Raumzeit und nicht etwa bloß in einem mathematischen Modell gibt es in der Tat nicht. Da hilft kein »wenn« und kein »aber im Prinzip«. Solche Trennung der äußerlichen und der wesentlichen Bewegung gehört weder der Erfahrung noch dem Begri=e, nur der abstrahierenden Reflexion an. (259) Hegel hat also darin Recht, dass die Rede davon, wie ein Flugkörper ›eigentlich‹ fliegen würde, wenn die Bedingungen ganz andere wären, als sie real sind, weder aus der Erfahrung stammen noch aus dem Begri= einer guten Darstellung generischer Bewegungsformen, sondern aus einer »abstrahierenden Reflexion«, die sich zunächst als Verallgemeinerung aus der Erdballistik ergibt. Im mathematischen Modell wird sie in einen bildlichen Kommentar zum tangentialen Vektor der lokalen ›Fliehkraft‹ in einem Punkt transformiert. Ein anderes ist es, sie, was notwendig ist, zu unterscheiden, sowie mathematisch sie als getrennte Linien zu verzeichnen, als getrennte
259 f. Die Materie und Bewegung 189 quantitative Faktoren zu behandeln usf., ein anderes, sie als physisch selbständige Existenzen zu betrachten.26 (259 f.) Hegel akzeptiert explizit, die Fliehkräfte als notwendige Momente der mathematischen Darstellungsform von den Attraktionskräften zu unterscheiden und in einer Kurve »als getrennte Linie zu verzeichnen«. Falsch ist nur, die sogenannten inertialen Linien physikalisch als »selbständige Existenzen zu betrachten«. Es soll aber auch bei solchem Fliegen der Bleikugel ins Unendliche von dem Widerstande der Luft, der Reibung, abstrahiert werden. Daß ein Perpetuum Mobile, nach der Theorie noch so richtig berechnet und bewiesen, [zu] seiner Zeit, die nicht ausbleibt, zur Ruhe übergeht, dabei wird von der Schwere abstrahiert und das Phänomen ganz der Reibung zugeschrieben. Eben diesem Hindernisse wird die allmähliche Abnahme der Pendelbewegung und ihr endlicher Stillstand zugeschrieben; es wird von der Pendelbewegung gleichfalls gesagt, daß sie ohne Aufhören fortdauern würde, wenn die Reibung entfernt werden könnte. Dieser Widerstand, den der Körper in seiner akzidentellen Bewegung erfährt, gehört allerdings zur notwendigen Erscheinung seiner Unselbständigkeit. Aber wie der Körper Hindernisse findet, in den Mittelpunkt seines Zentral26 Fußnote Hegels: Newton (ibid. Defin. VIII.) sagt ausdrücklich: »Voces Attractionis, Impulsus vel Propensionis cujuscunque in centrum, indifferenter et pro se mutuo promiscue usurpo, has vires non Physice sed Mathematice tantum considerando. Unde caveat lector, ne per hujusmodi voces cogitet me speciem vel modum actionis causamve aut rationem Physicam alicubi definire, vel centris (quae sunt puncta Mathematica) vires vere et Physice tribuere; si forte aut centra trahere, aut vires centrorum esse dixero.« Allein durch die Einführung der Vorstellung von Kräften hat Newton die Bestimmungen aus der physikalischen Wirklichkeit hinweggerückt und sie wesentlich verselbständigt. Zugleich hat er selbst von physikalischen Gegenständen in diesen Vorstellungen allenthalben gesprochen, und so wird denn auch in den nur physisch, nicht metaphysisch seinsollenden Darstellungen des sogenannten Weltgebäudes von solchen gegeneinander selbständigen und unabhängigen Kräften, deren Attraktionen, Stößen u. dergl. als von physischen Existenten gesprochen und sie nach der Grundlage des Satzes der Identität behandelt. [Zur Übersetzung vgl. die Anmerkungen der Herausgeber in Phil. Bibl. 33, PS]. 219 k
190 219 f . k Erste Abteilung: Die Mechanik 260 f. körpers zu gelangen, ohne daß diese Hindernisse sein Drücken, seine Schwere, aufhöben, so hemmt jener Widerstand der Reibung die Wurfbewegung des Körpers, ohne daß damit dessen Schwere weggefallen wäre oder die Reibung deren Stelle verträte. (260 f.) Zur Reibung und zu ihrer Überschätzung und zum Gewicht als Druck auf eine Waage wurde schon das Nötige gesagt. Hier bestätigt Hegel daher nur meine obige Lektüre. Die Reibung ist ein Hindernis, aber nicht die wesentliche Hemmung der äußerlichen, akzidentellen Bewegung. Es bleibt, daß die endliche Bewegung unzertrennlich mit der Schwere verbunden ist und als akzidentell für sich in die Richtung der letztern, der substantiellen Bestimmung der Materie, übergeht und ihr unterliegt. (261) Die ›substantielle Bestimmung der Materie‹, an die Hegel denkt, ist nun in der Tat die Theorie der freien Himmelsmechanik Newtons – aber in vernünftiger Interpretation und Kommentierung. d. Der Fall 220 § 267 Der Fall ist die relativ-freie Bewegung, frei, indem sie durch den Begri= des Körpers gesetzt, die Erscheinung seiner eigenen Schwere ist; sie ist ihm daher immanent. Aber sie ist zugleich als die nur erste Negation der Äußerlichkeit bedingt; die Entfernung von dem Zusammenhange mit dem Zentrum ist daher noch die äußerlich gesetzte, zufällige Bestimmung. (261) Galileis Fallgesetze ergeben sich in irdischen Experimenten aus der beobachtenden Messung einer relativ-freien Bewegung. Sie ist bedingt durch unser Arrangement der Fallrinne und der Entfernung der Kugel von der Erde (ihrem Zentrum): Hochheben und Loslassen gehören hier zu den Anfangsbedingungen, so wie in der Ballistik des Schleuderns die Drehung und das Loslassen oder beim Schießen die Ausrichtung der Kanone und die ›Größe‹ der ›Kraft‹ der Explosion (des ›Impulses‹). Zur Sache selbst gehört die Kugel in ihrer Masse und Größe. Diese wiederum sind durch »den Begri= des Körpers gesetzt«, ebenso die sich ergebenden reproduzierbaren Bewegungsformen in der Erscheinung. Auch sie müssen als dem Körper immanent aufge-
261 Die Materie und Bewegung 191 fasst werden, bleiben aber relational abhängig von der Masse der Erde, der Höhe des Falls bzw. den Anfangsgeschwindigkeiten der Kugeln. Terminologisch bestätigt sich hier meine Lesart des Wortes »Begri=« bei Hegel als Gesamttyp des Seins einer generischen Sache, kanonisch gesetzt bzw. dargestellt in einer begri=sbestimmenden Theorie eines ganzen Gegenstandsbereiches mit seinen (prozessualen) Relationen. Dabei unterscheiden wir Defaultprozesse des Begri=s oder Bereiches an sich von einem immer auch akzidentellen Einzelgeschehen für sich. Einzelne empirische Instanziierungen von Normalfallprozessen bzw. ausreichend gute Manifestationen von Formen oder (Proto-)Typen stehen bei Hegel konsequent unter dem Titel »an und für sich«. So wie es zum Pferd an sich gehört, nach seiner Artform zu leben, gehört es zum Stein an sich, nach seiner Art zu fallen. Dass die Erscheinungen des Fallens noch abhängig von akzidentellen Bestimmungen sind, betri=t z. B. die Form der Kugel und der Fallrinne als Führungslinie, die Reibung und damit den Luftwiderstand etc. Obwohl ›eigentlich‹, also wieder ›an sich‹, ›im Prinzip‹, ›ceteris paribus‹, der Fall nur von der Masse abhängt, brauchen die Federn eines Kissens länger als das Kissen und dieses länger als eine massengleiche Eisenkugel, wenn sie fallen. Die Gesetze der Bewegung betre=en die Größe, und zwar wesentlich der verflossenen Zeit und des in derselben durchlaufenen Raums; es sind unsterbliche Entdeckungen, die der Analyse des Verstandes die höchste Ehre machen. (261) Hegel anerkennt nicht anders als jeder vernünftige Mensch die ›unsterblichen Leistungen‹ Galileis bei der experimentellen Entdeckung der Fallgesetze an sich. Ein Weiteres ist der nicht empirische Beweis derselben, und auch dieser ist von der mathematischen Mechanik gegeben worden, so daß auch die auf Empirisches sich gründende Wissenschaft mit dem bloß empirischen Weisen (Monstrieren) nicht zufrieden ist. (261) Was aber soll ein nicht empirischer (apriorischer) Beweis der Fallgesetze sein, den angeblich die mathematische Mechanik gegeben habe? Zeigt Hegel mit dieser Überlegung nicht, dass er nichts von empirischer Wissenschaft versteht? Der mögliche bedingte Reflex, auf Wörter wie »a priori« oder »nichtempirisch« negativ zu reagieren, 220 k 220 k
192 220 f . k Erste Abteilung: Die Mechanik 261 f. geht allerdings auf das Konto des Lesers, zumal Hegel selbst gleich die Ambivalenz der nichtempirischen ›Beweise‹ kommentieren wird, freilich wie immer auf zu dichte Weise. Hegel spricht zunächst extrem verkürzt darüber, dass man die Fallgesetze auch aus den keplerschen Gesetzen der Planetenbewegungen erhält, wenn man diese, wie Newton, zu einer allgemeinen mathematischen Theorie mechanischer Bewegungen auf der Basis der Gravitation der Massen entwickelt. Die Voraussetzung bei diesem apriorischen Beweise ist, daß die Geschwindigkeit im Fall gleichförmig beschleunigt ist; der Beweis aber besteht in der Verwandlung der Momente der mathematischen Formel in physikalische Kräfte, in eine beschleunigende Kraft, welche in jedem Zeitmoment einen (denselben) Impuls mache,27 und in eine Kraft der Trägheit, welche die in jedem Zeitmomente erlangte (größere) Geschwindigkeit fortsetze, – Bestimmungen, die durchaus ohne empirische Beglaubigung sind, so wie der Begri= nichts mit ihnen zu tun hat. (261 f.) Von einem Beweis ist hier zunächst gar nicht die Rede. Hegel kommentiert nur Bekanntes und stellt es dabei zurecht. Hintergrund ist die erst später explizit genannte Lektüre von Lagranges Mechanik. Das zentrale Postulat für die mathematische Darstellung des freien Falls ist nun in der Tat, dass dabei die Geschwindigkeit gleichförmig beschleunigt wird. Das bedeutet, dass wir mathematisch eine Form at 2 für die entstehenden Entfernungen ab Startpunkt t = 0 ansetzen. Interessant an Hegels Beobachtung ist, dass die Setzung dieser 27 Fußnote Hegels: Es ließe sich sagen, daß diese sogenannte beschleunigende Kraft ihren Namen sehr uneigentlich führe, da die von ihr herrühren sollende Wirkung in jedem Zeitmomente gleich (konstant) ist, – der empirische Faktor in der Größe des Falls, die Einheit (die 15 Fuß an der Oberfläche der Erde). Die Beschleunigung besteht allein in dem Hinzusetzen dieser empirischen Einheit in jedem Zeitmoment. Der sogenannten Kraft der Trägheit dagegen kommt wenigstens auf dieselbe Weise die Beschleunigung zu, denn es wird ihr zugeschrieben, daß ihre Wirkung die Dauer der am Ende jedes Zeitmoments erlangten Geschwindigkeit sei, d. i. daß sie ihrerseits diese Geschwindigkeit zu jener empirischen Größe hinzufüge; und zwar sei diese Geschwindigkeit am Ende jeden Zeitmoments größer als am Ende des vorhergehenden.
Die Materie und Bewegung 193 Form erstens relativ gut zu den gemessenen Daten passt, aber keineswegs rein empirisch-induktiv begründet ist. Das glauben oberflächliche Schüler der Physik nur so lange, als sie nicht bedenken, dass alle mathematischen Modellierungen ideale Setzungen sind, die nicht nur das Empirische, sondern auch die Beschränkungen mathematischer Darstellungsformen generischer Verlaufsformen berücksichtigen müssen. Das gilt z. B. schon für den Winkelsummensatz in Dreiecken. Man setzt ihn für Dreiecke ›beliebiger Größe‹, so dass das Parallelenprinzip und damit die Euklidizität der Elementargeometrie seine Folge ist. Er passt auch ganz o=enbar zur Möglichkeit der Herstellung von Quadern mit je gleichen ebenen Flächen, gerade Kanten, rechten Winkeln und Nebenwinkeln in indefiniten Größen und Kleinheiten. Dass es keine realen Quaderformen in wirklich beliebigen Größen gibt, das kann man übrigens angesichts der Endlichkeit von manifesten Körperformen oder instanziierten rechtwinkligen Keilen etc. ebenso ›a priori‹ wissen, wie wir ›a priori‹ den Winkelsummensatz und damit das Parallelenaxiom in Tangram-Spielen mit Dreiecken demonstrieren. Es stehen sich hier daher zwei Arten apriorischen Wissens erst einmal gegenüber. Ein echtes Problem für die Messungen der Physik wird daraus erst, wenn sich später zeigen wird, dass Modellierungen des realen Bewegungsraums der Körper die Eigenschaften der Elektrodynamik des Lichts und dabei besonders die entsprechende Längenmessung über die Zeit der Lichtausbreitung zu berücksichtigen haben. Der erste ›Beweis‹ für die Form der Fallgesetze, an den Hegel nun denkt, besteht in der Aufspaltung der Faktoren in den Keplergesetzen, der zweite ›Beweis‹ in der Aufspaltung der lokalen Bewegung der Planeten in die (›infinitesimale‹) tangentiale Fliehkraft (die auf ungenaue Weise als »zentrifugal« angesprochen wird, so dass man sie leicht mit einer Repulsion nach Art gleichnamiger Magnetpole verwechseln könnte) und die Zentripetalkraft. Es ergibt sich dabei in jedem Punkt eine beschleunigende Gravitationskraft in Richtung Zentrum (der Ellipse). Leider führt uns Hegel nicht ganz sicher und deutlich durch die Gedankengänge. Hier jedenfalls wechselt er fast allzu unvermittelt in eine Art Kritik an Newtons mathematischer Herleitung der Formel des freien Falls, indem er sagt, es gäbe gar keine empirische Deutung der infinitesimalen Größen der Di=erentialgeometrie als lokale Kräfte.
194 Erste Abteilung: Die Mechanik Die scheinbar verworrene Lage klärt sich so: Hegel lehnt alle rein axiomatischen ›Beweise‹ Newtons ab. Logische Deduktionen aus Axiomen beweisen nie etwas. Die Axiome verdichten nur die aus ihnen deduktiv herleitbaren Theoreme. Hegel anerkennt aber unter Rückgri= auf Galilei, Kepler und Lagrange, dass die Fallgesetze nicht rein empirisch begründet und ›bewiesen‹ sind, sondern eine kanonische Setzung einer Form, nämlich gerade der Form at 2 , enthalten und damit einen abduktiven Schluss auf die bestmögliche allgemeine mathematische Darstellung im Rücken haben. Der Fall ist ganz analog zu dem Beispiel, dass man nach den besten Verfahren der Überprüfung der Homogenität von Würfeln als Teil eines technischen Zufallsgenerators die ›apriorische‹ Wahrscheinlichkeit 1/6 ansetzt für jeden generischen Einzelwurf einer Zahl. Wenn eine empirische Statistik zeigt, dass bei zu vielen Würfen etwa eine 6 fällt, so ist das zunächst nur Anlass zur Überprüfung der Homogenität des Würfels (oder der Würfe). Es ist noch kein zureichender Grund für eine Revision der Setzung der Apriori-Wahrscheinlichkeit. Eine unmittelbare ›empirische‹ bzw. rein ›statistische‹ Begründung der generisch für Falltypen gesetzten Wahrscheinlichkeiten gibt es aus rein logischen Gründen auf der ganzen Welt nicht. Alle generischen Setzungen enthalten also längst schon einen relativ-apriorischen Anteil eines ›abduktiven‹ Schließens auf die ›bestmögliche allgemeine Darstellung‹, wie Hegel erstmals in der Geschichte der Logik gezeigt hat. In der Begri=slogik geschieht das als Übergang von induktiv-empirischen Begründungen der Form B-E -A (»in vielen aktualen Wurfserien E fällt die 6 ähnlich oft wie die anderen Zahlen«) zu allgemeinen Begründungen der Form E -A-B (»man setzt für den Falltyp E allgemein den W -Wert 1/6«). In unserem Fall setzte schon Galilei für den freien Fall die Form at 2 – auch wenn die Messungen natürlich noch nicht ganz eindeutig waren. Dass es eine gute Wahl war und ist, bestätigt sich in Newtons komprehensiver Theorie der Gravitation als Normalfallwirkform von Massen und insofern in einer generischen Gesamttheorie des Begri=s der Materie bzw. des Körpers qua Körper, wie Hegel selbst explizit sagt. Hegel argumentiert nun aber gegen die oberflächliche und unmittelbare »Verwandlung der Momente der mathematischen Formel in physikalische Kräfte, in eine beschleunigende Kraft, welche in jedem
262 Die Materie und Bewegung 195 Zeitmoment einen (denselben) Impuls mache«. Dabei hat er ganz recht. Bis heute vernebeln entsprechende Kommentare zu den infinitesimalen Kraftimpulsen die Köpfe all derer, die an eine durchgängige causa e;ciens in der Natur glauben. Wie alle juvenil Gläubigen nach den ersten Jahren bloßer Verstandesschulung in philologischer Lektüre und durch schematisches Regelfolgen wie in der reinen Mathematik braucht man noch eine höhere Bildung sinnkritischer Aufklärung und vernünftiger Anwendung von Allgemeinwissen. Hier geht es um ein volles Begreifen der Geometrie und des Di=erentiationskalküls in Flächen- und Längenberechnungen, besonders wenn dabei die Zeit metaphorisch als Gerade aufgefasst wird. In jedem Fall ist sowohl mit der momentanen Zentripetalkraft und der sogenannten Kraft der Trägheit vorsichtig umzugehen. Denn es gibt keine absolute Raumzeit mit unendlichen Inertiallinien. Diese sind »durchaus ohne empirische Beglaubigung«. Der Begri= der Materie hat in der Tat »nichts mit ihnen zu tun«. Dabei ist auch bei Hegel die kanonische Theorie des Begri=s der Materie bzw. des Körpers qua Körper gerade die Newtons. Diese wird aber sozusagen gereinigt sowohl von allen metaphysischen Fehldeutungen und überschwänglichtranszendenten Auslegungen als auch von bloß erst pragmatistischen oder empiristischen ›Begründungen‹ der Axiome. Schon in der sagenhaften Beobachtung fallender Äpfel zeigt sich eine unfreiwillige Komik populärer Mystifikationen, um von dem pathetischen Gedicht Alexander Popes über Newton den Lichtmacher (»God said: ›Let Newton be‹, and all was light«) gar nicht zu reden. Näher wird die Größebestimmung, welche hier ein Potenzenverhältnis enthält, auf die Gestalt einer Summe zweier voneinander unabhängiger Elemente gebracht und damit die qualitative, mit dem Begri=e zusammenhangende Bestimmung getötet. (262) Hegel polemisiert hier nur gegen die Anwendung der Addition von Vektoren wie im Parallelogramm der Kräfte auf die infinitesimalen Momente der Fliehkraft und die Wirkung der Gravitation, als setze sich die Bewegungskurve aus ruckartigen infinitesimalen Impulsen zusammen. Die »qualitative, mit dem Begri=e zusammenhängende Bestimmung« wird damit in der Tat verdeckt – mit gravierenden Folgen. 221 k
196 221 k 221 k 221 k Erste Abteilung: Die Mechanik 262 Noch die gesamte Debatte um die Willensfreiheit bei Hirnforschern im Nachgang zu den berühmten Libet-Experimenten ist nämlich der mechanistischen Metaphorik verhaftet, wie sie von Demokrit bis ins 18. Jahrhundert reicht und außer bei gebildeteren Physikern, Mathematikern und Philosophen noch bis heute herrscht. Das Bewegungsmodell der Neuronen bei Hirnforschern samt ihrer Rede von einem Aufbau eines Bewegungspotentials ist immer noch ein einfaches Impulsreaktionsmodell. Die kontrafaktisch-idealen Abstraktionen in den Reden von einem momentanen Impuls werden nicht erkannt oder nicht ausreichend beachtet. Zu einer Folge aus dem so bewiesen sein sollenden Gesetze wird gemacht, »daß in der gleichförmig beschleunigten Bewegung die Geschwindigkeiten den Zeiten proportional seien«. In der Tat ist dieser Satz aber nichts als die ganz einfache Definition der gleichförmig beschleunigten Bewegung selbst. (262) Es ist ganz falsch zu meinen, es folge aus irgendwelchen Ausdrücken der Darstellung der Di=erentiation, dass die lokalmomentanen »Geschwindigkeiten den Zeiten proportional seien«. Hegel betont mit Recht, dass diese Proportionalität längst schon gleichbedeutend damit ist, dass die Fallbewegung als gleichförmig beschleunigte Bewegung gesetzt ist. Die schlecht-gleichförmige Bewegung hat die durchlaufenen Räume den Zeiten proportional; die beschleunigte ist [die], in der die Geschwindigkeit in jedem der folgenden Zeitteile größer wird, die gleichförmig beschleunigte Bewegung somit [die], in der die Geschwindigkeiten den verflossenen Zeiten proportional sind; also V /t d. i. s/t 2 . (262 f.) Hegels leicht polemischer Ausdruck »schlecht-gleichförmige Bewegung« sagt sozusagen nebenbei, dass es in der realen Welt keine natürliche Bewegung gibt, in der die durchlaufenen Längen den Zeiten proportional sind, sondern nur die Flächen der Ellipsensegmente der Planeten – womit man, insgesamt gesehen, gerade bei einer ›gleichförmigen‹ Beschleunigung landet, freilich unter Berücksichtigung der sogenannten Winkelbeschleunigungen, also nicht einfach im Blick auf die durchlaufenen Kurvenlängen. Dies ist der einfache wahrhafte Beweis. – V ist die Geschwindigkeit überhaupt, die noch unbestimmte; so ist sie zugleich die
263 Die Materie und Bewegung 197 abstrakte, d. i. schlecht- gleichförmige. Die Schwierigkeit, die [bei] jenem Beweisen vorkömmt, liegt darin, daß V zunächst als unbestimmte Geschwindigkeit überhaupt in Rede steht, aber sich im mathematischen Ausdruck als s/t , d. i. schlecht-gleichförmige präsentiert. (263) Hegel moniert, dass man im Allgemeinen unmittelbar für klar hält, was eine Geschwindigkeit v überhaupt sei, und dass man dabei v = s/t setzt. Das Problem ist nicht die absolut vernünftige Gleichung v t = s für Durchschnittsgeschwindigkeiten v und Streckenlängen s, sondern die Bestimmung der Zeitzahlen t . Die Frage lautet: Wann sollen zwei Zeitdauern für sich, nicht bloß für uns und dabei etwa für unser Zeitgefühl, auch an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten (also vorher und nachher, früher und später) gleich heißen? Unsere Uhren als rein technische Geräte können das nicht rein willkürlich definieren. Für Hegel gibt es zunächst keinen anderen Ausweg, als die Zeitzahlen t aus den keplerschen Gesetzen als Wurzel zu definieren. Nur so gelangen wir zu einer in der Natur durch die Planetenbewegungen real gegebenen Zeit für sich. (An eine lokale Zeitmessung durch das oben schon angesprochene Zählen von subatomaren Takten wie in der Elektrodynamik bewegter Körper war ja damals noch gar nicht zu denken.) Jener Umweg des von der mathematischen Exposition hergenommenen Beweisens dient für dies Bedürfnis, die Geschwindigkeit als die schlecht-gleichförmige s/t zu nehmen und von ihr zu s/t 2 überzugehen. In dem Satze, daß die Geschwindigkeit den Zeiten proportional ist, ist die Geschwindigkeit zunächst überhaupt gesagt; so wird sie überflüssigerweise mathematisch als s/t , die schlechtgleichförmige gesetzt, so die Kraft der Trägheit hereingebracht und ihr dies Moment zugeschrieben. Damit aber, daß sie den Zeiten proportional sei, ist sie vielmehr als die gleichförmig beschleunigte s/t 2 bestimmt, und jene Bestimmung von s/t hat hier keinen Platz und ist ausgeschlossen.28 (263) 28 Fußnote Hegels: Lagrange geht nach seiner Weise in der Théorie des fonctions, 3me P., Application de la Théorie à la Mécanique, Ch. I, den einfachen, ganz richtigen Weg; er setzt die mathematische Behandlung der Funktionen voraus und findet nun in der Anwendung auf die Mechanik, für 221 k
198 222 k Erste Abteilung: Die Mechanik 264 Statt den Begri= der ›natürlichen‹ Zeit für sich im Ausgang von den relativ nachhaltigen Planetenbewegungen zu definieren, unterstellt das übliche Vorgehen die Zeitzahlen unserer Uhren und eine ebenfalls nicht in der Natur zu findende gleichförmige Geschwindigkeit v = s/t . Man kann dann zwar von der Geschwindigkeit v zur Beschleunigung s/t 2 übergehen – und damit, wie man meint, die von Galilei gemessenen Beschleunigungen im freien Fall irgendwie a priori ›erklären‹. Man übersieht dann aber erstens die Erfahrungen in unseren eigenen Setzungen gerade im Fall von sogenannten Fliehkräften bzw. Inertiallinien und außerdem die große historische und zugleich technisch-praktische Tatsache, dass wir unsere Uhrenzeiten längst schon an die planetarischen Zeiten implizit angepasst haben. Hegels Fußnote bestätigt meine Lesart. Das Gesetz des Falles ist gegen die abstrakte gleichförmige Geschwindigkeit des toten, von außen bestimmten Mechanismus ein freies Naturgesetz, d. h. das eine Seite in ihm hat, die sich aus dem Begri=e des Körpers bestimmt. (264) s = f t , in der Natur f t auch bt 2 ; s = ct 3 präsentiere sich in der Natur nicht. Hier ist mit Recht keine Rede davon, einen Beweis von s = bt 2 aufstellen zu wollen, sondern dies Verhältnis wird als in der Natur sich findend aufgenommen. Bei der Entwicklung der Funktion, indem t zu t + θ werde, wird der Umstand, daß von der sich für den in θ durchlaufenen Raum ergebenden Reihe nur die zwei ersten Glieder gebraucht werden können und die anderen wegzulassen seien, auf seine gewöhnliche Weise für das analytische Interesse erledigt. Aber jene zwei ersten Glieder werden für das Interesse des Gegenstandes nur gebraucht, weil nur sie eine. reelle Bestimmung haben (ibid. 4, 5.: on voit que les fonctions primes et secondes se présentent naturellement dans la mécanique ou elles ont une valeur et une signification déterminées). Von hier fällt er wohl auf die Newtonischen Ausdrücke von der abstrakten, d. i. schlecht-gleichförmigen Geschwindigkeit, die der Kraft der Trägheit anheimfällt, und auf die beschleunigende Kraft, womit auch die Erdichtungen der Reflexion von einem unendlich kleinen Zeitraum (dem θ), dessen Anfang und Ende hereinkommen. Aber dies hat keinen Einfluß auf jenen richtigen Gang, der diese Bestimmungen nicht für einen Beweis des Gesetzes gebrauchen will, sondern dieses, wie hier gehörig, aus der Erfahrung aufnimmt und dann die mathematische Behandlung darauf anwendet. [Vgl. dazu meine Erläuterungen in P. Stekeler, Hegels Wissenschaft der Logik. Ein dialogischer Kommentar, Bd. 1, S. 1162. PS]
264 Die Materie und Bewegung 199 Die Rede von einem »toten, von außen bestimmten Mechanismus« bezieht sich gerade auf unsere Uhren, deren Techniken der übereinstimmenden Zeitzahlenbestimmung durchaus als großartige Leistungen anzusehen sind. Methodisch aber führen sie nicht unmittelbar zu einer technikfreien und menschenunabhängigen Zeitmessung und einer schlichten, gleichförmigen Geschwindigkeit für sich. Dagegen ist Galileis Fallgesetz »ein freies Naturgesetz«, so wie die keplerschen Gesetze. Das bedeutet, dass sie »sich aus dem Begri=e des Körpers« bestimmen, also als generisch durch kanonische Setzungen geformte Darstellungen von sich in der Natur von selbst reproduzierenden Formen zu begreifen sind. Indem daraus folgt, daß es aus diesem muß abgeleitet werden können, so ist dieses sich vorzusetzen und der Weg anzugeben, wie das Galileische Gesetz, »daß die durchlaufenen Räume sich wie die Quadrate der verflossenen Zeiten verhalten«, mit der Begri=sbestimmung zusammenhängt. (264) Anders gesagt, empirisch konnte Galilei sein Fallgesetz nur in Bezug auf die relativ a priori vorausgesetzten Uhrenzeiten bestimmen, also auf Geräte, die wir hergestellt haben. Systematisch ist aber neu zu bedenken, was an diesem Gesetz menschlicher Beitrag, was in der Natur für sich gegebene Form ist. Das wird konkret erst möglich, nachdem wir über die Keplergesetze und die Massentheorie Newtons zur begri=lichen Kanonisierung der Gravitationstheorie als dem (durchaus auch nach Hegel: holistisch begründeten) Rahmen für jede ›mechanische‹ Ballistik von Körpern als Körper gelangen. Wir sehen dann im Rückblick, dass unsere Uhrenzeiten schon an die planetarische Zeit angepasst sind, so dass in Bezug auf diesen natürlichen Standard z. B. auch der prima facie kluge Gedanke material abgewiesen werden kann, es könne doch sein, dass unsere Uhren immer schneller (oder auch immer langsamer) laufen. Dieser Zusammenhang ist aber als einfach darin liegend anzusehen, daß, weil hier der Begri= zum Bestimmen kommt, die Begri=sbestimmungen der Zeit und des Raums gegeneinander frei werden, d. i. ihre Größenbestimmungen sich nach denselben verhalten. (264) Der Begri= des Körpers qua Körper oder der Masse der Materie wird kanonisch durch sein generisches relationales Bewegungsver- 222 k 222 k
200 222 k 222 k 222 f . k Erste Abteilung: Die Mechanik 264 halten zu allen anderen Körpern bestimmt – was die Beachtung von Ausnahmen einschließt. Die »Begri=sbestimmungen der Zeit und des Raums« werden in der Tat gegeneinander frei zuerst in den planetarischen Bewegungen. Im Grunde wussten das schon Platon und Aristoteles. Das Wort »frei« meint hier – auf scheinbar verquere, in Wahrheit dialektische – Weise die Freiheit von Interventionen durch willkürliches menschliches Handeln. Nun ist aber die Zeit das Moment der Negation, des Fürsichseins, das Prinzip des Eins, und ihre Größe (irgendeine empirische Zahl) ist im Verhältnisse zum Raum als die Einheit oder als Nenner zu nehmen. (264) Die Zeit ist zunächst Moment des Fürsichseins der je aktualen Prozesse bzw. der bloß erst einzelnen empirischen Ereignisse je hier und je jetzt. Sie ist Moment der Negation in Bezug auf das Nicht-mehrSein und Noch-nicht-Sein. Zeitzahlen sind im Verhältnis zu Raumzahlen als Einheiten oder Nenner zu nehmen, einfach deswegen, weil im Fall von Körperbewegungen vielfach längere Zeiten zu vielfach längeren Wegen führen. s/t ist dabei, wie gesagt, die Durchschnittsgeschwindigkeit, die in der Di=erentialrechnung zum mathematischen Kunstbegri= der Momentangeschwindigkeit ds/dt wird. Der Raum dagegen ist das Außereinandersein, und zwar keiner andern Größe als eben der Größe der Zeit; denn die Geschwindigkeit dieser freien Bewegung ist dies, daß Zeit und Raum nicht äußerlich, nicht zufällig gegeneinander sind, sondern beider Eine Bestimmung ist. (264) Der Raum ist zunächst das Auseinander der Körper zu einer festen Zeit – soweit eine solche Gleichzeitigkeit als definiert gelten kann. Dass »Zeit und Raum nicht äußerlich, nicht zufällig gegeneinander sind«, ist dabei eine tiefe Einsicht. Sie sind Abstraktionen von Momenten im Ausgang von Bewegungen in der einen und einzigen Raumzeit aller Bewegungen und Prozesse der Welt. Die als der Form der Zeit, der Einheit, entgegengesetzte Form des Außereinander des Raums, und ohne daß irgend eine andere Bestimmtheit sich einmischt, ist das Quadrat, – die Größe außer sich kommend, in eine zweite Dimension sich setzend, sich somit vermehrend, aber nach keiner andern als ihrer eigenen Bestimmt-
265 Die Materie und Bewegung 201 heit, – diesem Erweitern sich selbst zur Grenze machend und in ihrem Anderswerden so sich nur auf sich beziehend. (264 f.) Hegels Formulierung ist hier leider obskur. Es geht wohl um die von mir absichtlich vorgezogene Beobachtung, dass sowohl in der Beschleunigung des freien Falls als auch in der elliptischen Bewegungsform der Planeten sich die »Form der Zeit, der Einheit« im Quadrat zeigt, also in den zwei Dimensionen einer Fläche. Man kennt seit der Antike die geometrische Verwandlung einer Rechtecksfläche (ggf. mit einer Einheitslänge als einer der Seiten) in ein Quadrat – und umgekehrt. Dem korrespondiert das arithmetische Verfahren des Wurzelziehens – so dass wir auch kanonisch von der Teilfläche T einer Ellipse zur Größe t der Zeit übergehen können mit T = bt 2 und irgendeinem uns gerade nicht im Detail interessierenden Faktor b. Sowohl hier als auch im Fallgesetz kommt also bei der Längen- bzw. Flächenbestimmung die Zeit t ›zu sich selbst‹. Damit drücken wir die beiden natürlichen Bewegungsformen des freien Falls (der Ballistik) und der Planetenbewegung aus. Man mag das für eine oberflächliche Beobachtung halten, aber sie ist in Wahrheit sehr tief. Dies ist der Beweis des Gesetzes des Falls aus dem Begri=e der Sache. Das Potenzen-Verhältnis ist wesentlich ein qualitatives Verhältnis und ist allein das Verhältnis, das dem Begri=e angehört. – Noch ist auch in Beziehung auf Nachfolgendes hinzuzufügen, daß, weil der Fall zugleich noch Bedingtheit in der Freiheit enthält, die Zeit nur abstrakte Einheit als die unmittelbare Zahl bleibt, so wie die Größebestimmung des Raums nur zur zweiten Dimension gelangt. (265) Ohne sachbezogene Erläuterungen rätselt man herum, was Hegel hier wohl meinen könnte. Das Potenzenverhältnis ist als Übergang von Längen in die Dimension der Flächen und zurück in die Längen flächengleicher Rechtecke mit einer Einheitsseite in der Tat »wesentlich ein qualitatives Verhältnis«. Es sieht nur so aus, als wäre es eine rein quantitative Angelegenheit. Es ist in der Geometrie und Kinematik »allein das Verhältnis, das dem Begri=e angehört«. In der Geometrie sieht man das z. B. daran, dass der Satz der Thales, der Satz des Pythagoras und der noch weit wichtigere Strahlensatz, die alle quantitative Längenver- 223 k
202 Erste Abteilung: Die Mechanik 265 hältnisse ausdrücken, basal nur qualitativ über Flächengleichheiten bzw. Umlegung von Dreiecken zu begründen sind. In der Mechanik brauchen wir nur gleichförmige Beschleunigungen der Form at 2 zu betrachten, wie schon Lagrange sieht. Es ist also ein abduktiver ›Schluss‹ auf die beste, weil mathematisch einfachste Form der Darstellung und Erklärung, welcher den von Newton kanonisch gesetzten Regeln oder Gesetzen, Postulaten oder Axiome der Gravitationstheorie zugrunde liegt. 223 223 § 268 Der Fall ist das nur abstrakte Setzen Eines Zentrums, in dessen Einheit der Unterschied der partikulären Massen und Körper sich als aufgehoben setzt; Masse, Gewicht hat daher in der Größe dieser Bewegung keine Bedeutung. (265) Wir wissen jetzt, welche Form im Fallgesetz abstrakt gesetzt wird, wobei das Zentrum im irdischen Fall der Erdmittelpunkt ist, ideell versehen mit der Gesamtmasse der Erde. Masse und Gewicht der zentripetal fallenden Körper spielen keine Rolle, wie schon Galilei gezeigt hat, wohl aber der Abstand zur Erdoberfläche (bzw. genauer zum Erdmittelpunkt) und im Fall der Ballistik dann doch auch die Fliehkräfte – und damit die Masse der Geschosse und ihre Anfangsgeschwindigkeit. Aber das einfache Fürsichsein des Zentrums ist als diese negative Beziehung auf sich selbst wesentlich Repulsion seiner selbst; – formelle Repulsion in die vielen ruhenden Zentra (Sterne); – lebendige Repulsion, als Bestimmung derselben nach den Momenten des Begri=s und wesentliche Beziehung dieser hienach unterschieden gesetzten Zentra aufeinander. (265) Hegels Formulierung des Übergangs der Betrachtung vom halbfreien irdischen Fall zur freien Planetenbewegung und von da zum Kosmos aller Himmelskörper ist, wie bei ihm in solchen Fällen immer, reichlich dunkel. Das scheinbar »einfache Fürsichsein des Zentrums«, der Erde, erweist sich ja als Teil des Sonnensystems; dieses liegt in der Milchstraße mit ihren vielen relativ fixen, also »ruhenden Zentra (Sterne)«. Auf die blumige Rede von der ›lebendigen Repulsion‹ der Planeten sollten wir nicht allzu viel geben. Deren Bestimmung »nach
Absolute Mechanik 266 203 den Momenten des Begri=s« verweist in hegeltypischer Weise auf Keplers Planetensystem, das ja gleich besprochen werden wird. Diese Beziehung ist der Widerspruch ihres selbständigen Fürsichseins und ihres in dem Begri=e Zusammengeschlossenseins, die Erscheinung dieses Widerspruches ihrer Realität und ihrer Identität ist die Bewegung, und zwar die absolut freie Bewegung. (265) Das Rätsel, warum die Beziehungen der Himmelskörper allgemein ein »Widerspruch ihres selbständigen Fürsichseins und ihres in dem Begri=e Zusammengeschlossenseins« sein sollen, löst sich einfach so: Ein Planet ist ein Planet nur im Planetensystem, so wie der Mond als Erdtrabant zu den Erdsatelliten gehört. C. 223 Absolute Mechanik § 269 Die Gravitation ist der wahrhafte und bestimmte Begri= der materiellen Körperlichkeit, der zur Idee realisiert ist. (266) Hegel anerkennt hier selbst ganz explizit Newtons Gravitationstheorie als wahre theoretische Bestimmung des generischen Bereichs materieller Körperlichkeit, wie er sich in der Seinsform des Kosmos wirklich, freilich nur ceteris paribus, manifestiert, wenn sonst keine Kräfte oder Prozesse dazwischenkommen. (Auf die nach Einsteins Aufsatz von 1905 notwendigen Revisionen gehe ich nicht ein.) Die allgemeine Körperlichkeit urteilt sich wesentlich in besondere Körper und schließt sich zum Momente der Einzelnheit oder Subjektivität als erscheinendes Dasein in der Bewegung zusammen, welche hiedurch unmittelbar ein System mehrerer Körper ist. (266) Die »allgemeine Körperlichkeit urteilt sich« nur insofern »in besondere Körper«, als wir entsprechende Teilungen tätig oder im Denken symbolisch vornehmen. Das Moment ›der Einzelheit oder Subjektivität‹ verweist auf die lokale Seinsweise von (großen und kleinen) Körpern im System aller in der einen und einzigen kosmischen Welt und ihrer Raumzeit vorhandenen Körper. Wir verbinden deren »erscheinendes Dasein« hier auf der Erde nach Möglichkeit mit ihren wirklichen, objektiven Relativbewegungen. 223 223 f .
204 224 k 224 k Erste Abteilung: Die Mechanik 266 Die allgemeine Gravitation muß für sich als ein tiefer Gedanke anerkannt werden, wenn er schon die Aufmerksamkeit und Zutrauen vornehmlich durch die damit verbundene quantitative Bestimmung auf sich gezogen [hat] und seine Bewährung auf die vom Sonnensystem bis auf die Erscheinung der Haarröhrchen herab verfolgte Erfahrung gestellt worden ist, so daß er, in der Sphäre der Reflexion gefaßt, auch nur die Bedeutung der Abstraktion überhaupt und konkreter nur die der Schwere in der Größebestimmung des Falls, nicht die Bedeutung der im § angegebenen, in ihrer Realität entwickelten Idee hat. (266) Hegel anerkennt nicht nur explizit die großen kosmologischen Grundtatsachen der einen und einzigen Welt, in der wir leben, und das voll und ganz, sondern auch Newtons tiefsten Gedanken einer allgemeinen Theorie massenbezogener Gravitation. Wogegen er argumentiert, ist das Schwanken zwischen dem empiristischen Aberglauben, die Theorie sei unmittelbar induktiv und dabei rein quantitativ durch empirische Messungen begründet, und dem metaphysischen Aberglauben, es handele sich um unmittelbar wahre Naturgesetze, ohne Beachtung ihrer idealen, mathematischen Form, ihres Gesetztseins und der abduktiven Gründe für ihre kanonische Setzung. Gegen die Anwendung der Gravitation auf den Kapillar-E=ekt beim Steigen von Flüssigkeit in Haarröhrchen ist nichts zu sagen, auch wenn der E=ekt nicht ausreicht, um die Wahrheit der allgemeinen Theorie zu begründen. Die Rede über die ›in ihrer Realität entwickelte Idee‹ meint gerade die allgemeinen Anwendungen der Theorie. Wieder ist der Begri=, von dem hier die Rede ist, nichts anderes als der ganze Bereich der über Massen und Gravitationskräfte an sich darstellbaren Bewegungsformen. Unmittelbar widerspricht die Gravitation dem Gesetze der Trägheit, denn vermöge jener strebt die Materie aus sich selbst zur andern hin. – (266) In unmittelbarer und damit bloß erst oberflächlicher Betrachtung scheinen die Anziehungskräfte der Materie bzw. Körper im Widerspruch zu stehen zu den ›zentrifugalen‹ Fliehkräften. Das Problem löst sich zwar schon dadurch, dass man die tangentialen Richtungen der Fliehkräfte genauer betrachtet, so dass nur noch das Wort »zentrifugal« irreführend ist. Aber es bleiben Probleme. Man fragt z. B.:
267 Absolute Mechanik 205 Warum ›explodiert‹ der Kosmos, wo er doch ›eigentlich‹ in ein großes schwarzes Loch ›implodieren‹ sollte? Die Frage ist angesichts der Existenz schwarzer Löcher, der Notwendigkeit des Postulats eines Urknalls und angesichts der ›gegenwärtigen‹ Ausdehnung des Weltalls ganz o=enbar nicht naiv. Im Begri=e der Schwere sind, wie gezeigt, selbst die beiden Momente des Fürsichseins und der das Fürsichsein aufhebenden Kontinuität enthalten. (266) Wie gesehen, spielt die Masse für die Anziehungs- und die Fliehkräfte eine Rolle. Diese Momente des Begri=s erfahren das Schicksal, als besondere Kräfte, entsprechend der Attraktiv- und Repulsivkraft, in näherer Bestimmung als Zentripetal- und Zentrifugalkraft gefaßt zu werden, die wie die Schwere auf die Körper agieren, unabhängig voneinander und zufälligerweise in einem Dritten, dem Körper, zusammenstoßen sollen. Hiedurch wird, was am Gedanken der allgemeinen Schwere Tieferes wäre, wieder zunichte gemacht, und so lange kann Begri= und Vernunft nicht in die Lehre der absoluten Bewegung eindringen, als die so gepriesenen Entdeckungen der Kräfte darin herrschend sind. (266 f.) Hegel wehrt sich, wie gesagt, gegen eine globale Setzung von inertialen Linien. Es gibt, der Punkt wiederholt sich, keine freischwebenden, von den Massen losgelösten Attraktiv- und Repulsiv- bzw. Zentripetal- und Zentrifugalkräfte. Hegel sagt hier klar, dass seine Analyse gegen die metaphysische Hypostasierung von (infinitesimalen) Kräften gerichtet ist. Was es gibt, das sind (große) Kraftfelder um (große) Massen. Das aber war damals so noch nicht artikulierbar. In dem Schlusse, welcher die Idee der Schwere enthält, sie selbst nämlich als den Begri=, der durch die Besonderheit der Körper in die äußerliche Realität sich aufschließt und zugleich in deren Idealität und Reflexion-in-sich, in der Bewegung sich mit sich selbst zusammengeschlossen zeigt, – ist die vernünftige Identität und Untrennbarkeit der Momente enthalten, welche sonst als selbständig vorgestellt werden. – (267) Hegels Rede von einem ›Schluss‹ meint hier nur die Begründung der kanonischen Theorie oder generischen Modellierung der sich in 224 k 224 k 224 k
206 224 k 224 f . 225 k Erste Abteilung: Die Mechanik 267 der realen Welt manifestierenden Phänomene der Gravitation. Alles Relevante ist dazu schon gesagt. Die Bewegung als solche hat überhaupt schlechthin nur im Systeme mehrerer, und zwar nach verschiedener Bestimmung zueinander im Verhältnis stehender Körper einen Sinn und Existenz. Diese nähere Bestimmung im Schlusse der Totalität, der selbst ein System von drei Schlüssen ist, ist im Begri=e der Objektivität angegeben, s. § 198. (267) Dass Bewegungen nur relativ (besser: relational) sind, versteht sich von selbst – und zwar im System von allen Körpern und allen im raumzeitlichen Ordnungssystem der Welt lokalisierbaren Prozessen. Diese sind alle endlich und nur daher real. Sie sind durch Vermittlungen evtl. ›im Prinzip erfahrbar‹. § 270 Was die Körper, in welchen der Begri= der Schwere frei für sich realisiert ist, betri=t, so haben sie zu Bestimmungen ihrer unterschiedenen Natur die Momente ihres Begri=s. Einer ist also das allgemeine Zentrum der abstrakten Beziehung auf sich selbst. Diesem Extreme steht die unmittelbare, außersichseiende, zentrumlose Einzelnheit, als gleichfalls selbständige Körperlichkeit erscheinend, entgegen. Die besondern aber sind, die sowohl in der Bestimmung des Außersichseins als zugleich des Insichseins stehen, Zentra für sich sind und sich auf den ersten als auf ihre wesentliche Einheit beziehen. (267) In allen Körpern ist »der Begri= der Schwere frei für sich realisiert«; aber Hegel denkt hier konkret an Sonnen und ihre (möglichen) Planeten. Die Sonne ist das allgemeine Zentrum für das Gesamtsystem der Planeten und damit für seine ›Beziehungen auf sich selbst‹. Die planetarischen Körper sind als die unmittelbar konkreten in ihrer Existenz die vollkommensten. (267) Hegels ›Lob‹ der ›Vollkommenheit‹ des Sonnensystems und seiner Planeten gehört einer Haltung zur Natur an, die sozusagen komplementär ist zum bloßen Wissen über die Natur. Der Blick erkennt die ›Wunder‹ der Natur, indem er von der vollendeten Tatsache geistigen Lebens auf der Erde her auf deren Voraussetzungen blickt. So waren ganz viele Dinge, unter vielem anderen z. B. auch die Wechselwirkun-
Absolute Mechanik 207 gen der Planeten, entscheidende Vorbedingungen dafür, dass die Erde Eigenschaften erhalten konnte, die ein Leben auf der Erde möglich und wirklich machten. Wer diese im Großen ganz und gar kontingente Tatsache nicht als eine Art Wunder ansieht, mag das tun, sollte sich aber nicht wundern, wenn andere ihn deswegen als blasiert ansehen. Es gibt freilich immer noch eine Mehrheit von Menschen, welche die Einzigartigkeit der Erde, des Lebens und der Menschen auf ihr nicht wahrhaben wollen und wie Kant glauben, dass es ›unendlich‹ viele Gestirne mit ›Außerirdischen‹ gibt. Man stellt sich solche Außerirdischen in Science-Fiction-Filmen in Rüstungen wie die alten Perser vor. Solche Feiertagsvorstellungen zeigen nur, dass wir Menschen ganz im Unterschied zu allen anderen Lebewesen keineswegs nur in der je präsentischen realen Welt leben, sondern immer auch in einer durch Phantasie ausgemalten Welt vorgestellter Möglichkeiten. Dabei erkennt Hegel die wirklich sehr tiefe Wahrheit, dass das, was wir als Wirklichkeit des im Raum und Zeit der Gesamtwelt objektiv Vorhandenen ansprechen, eine von uns gemeinsam auf der Basis unseres realen Wissens als bestehend bewertete Möglichkeit ist. Das utopische Ideal eines ›allwissenden‹ Gottes artikuliert dabei nur die Form der Entwicklung und möglichen Erweiterung bzw. Vertiefung dieses Wissens. Der Form nach sind alle derartigen utopischen Ideale analog zu den von uns selbst verfassten Idealformen der Geometrie, in denen wir den Begri= an sich vollkommener Geraden und Winkel und damit die Idealvorstellung unendlich großer und exakter Quader artikulieren. Im Umgang mit ihnen urteilen wir, ›wie nahe‹ ein konkreter, endlicher, Fall dem ›unendlichen‹ Ideal kommt, was wohl schon Platon in seiner Lehre von einem ›Teilnehmen‹ (metechein) einer Gestalt an der Form so sieht, aber noch ohne auf die kontextbedingten Relevanzurteile einzugehen. Dabei ahnt schon Heraklit und mit ihm Platon, dass jeder reale Wissensanspruch die Bedingungen des Ideals göttlicher oder vollkommener Wahrheit ohne jede Privation und Irrtumsmöglichkeit ebenfalls immer nur mit einer großen Prise Salz erfüllt. Im realen Gebrauch der Wörter »Wissen« und »Glauben« bzw. »Erkennen« und »Meinen« kommt es dann aber, wie Hegel sieht, immer nur auf den Kontrast an, also darauf, ob man vernünftigerweise noch mit einer Ausnahme vom Normalfall zu rechnen hat oder nicht. Es ist daher in gleicher Weise logisch falsch, im Realfall immer nur
208 225 k 225 k 225 k Erste Abteilung: Die Mechanik 267 von einem Überzeugtsein und nie von einem Wissen und Erkennen zu sprechen, wie wenn man mit Protagoras oder Hume erklärt, dass es keine Kreise oder geraden Linien gibt, da deren Idealbedingungen natürlich nie erfüllt sind. Man pflegt die Sonne für das Vortre=lichste zu nehmen, insofern der Verstand das Abstrakte dem Konkreten vorzieht, wie sogar die Fixsterne höher geachtet werden als die Körper des Sonnensystems. – (267) Hegel sagt hier ironisch, seit grauer Vorzeit pflege man »die Sonne für das Vortre=lichste« zu halten. Das liege aber nur daran, dass der schematisch denkende Verstand das Größere für vortre=licher hält und das Abstrakte der Physik dem Konkreten der Biologie und der Geisteswissenschaften vorzieht. Astronomen mögen dann sogar aus Liebe zu ihrem Metier und ihrem Hobby das Sternensystem für höher achten »als die Körper des Sonnensystems«. Wieder geht es hier um unsere Haltung zur Welt. Dann nämlich wird die Aussage klar falsch, dass angesichts der Unermesslichkeit des Kosmos alles gleich wertvoll oder gleich nichtig, gleich vortre=lich oder gleich sinnlos sei. Die zentrumlose Körperlichkeit, als der Äußerlichkeit angehörig, besondert sich an ihr selbst, zum Gegensatze des lunarischen und kometarischen Körpers. (267) Auch der Mond und die Kometen sind sozusagen nur nett; wirklich schön und perfekt ist nur die Erde und das Leben. Die Gesetze der absolut-freien Bewegung sind bekanntlich von Kepler entdeckt worden; eine Entdeckung von unsterblichem Ruhme. Bewiesen hat Kepler dieselbe in dem Sinne, daß er für die empirischen Data ihren allgemeinen Ausdruck gefunden hat (§ 227). Es ist seitdem zu einer allgemeinen Redensart worden, daß Newton erst die Beweise jener Gesetze gefunden habe. (268) Hegel geht es nicht nur darum, Keplers unsterblichen Ruhm der Entdeckung der »Gesetze der absolut-freien Bewegung« der Planeten vor der Verdunkelung durch ihre formale Ableitung in Newtons axiomatischen System zu verteidigen. Allerdings meinte der noch junge Charles Sanders Peirce, Kepler hätte sich keine so große Mühe machen müssen, wenn er logisch und mathematisch so klar wie Newton gedacht hätte. Aber gerade dieser absurde Kommentar zeigt, warum wir auf methodische Ordnungen achten müssen. Denn erst
268 f. Absolute Mechanik 209 nachdem durch Galilei und Kepler »die empirischen Data ihren allgemeinen Ausdruck gefunden« haben, wird Newtons komprehensives und axiomatisch strukturiertes Lehrbuch möglich. Die Meinung, dass »Newton erst die Beweise jener Gesetze gefunden habe«, ist so klug, wie wenn man glaubte, erst die Einbettung der Sätze des Euklid in David Hilberts (halb-)axiomatische Grundlagen der Geometrie würde diese ›echt‹ beweisen. Nicht leicht ist ein Ruhm ungerechter von einem ersten Entdecker auf einen andern übergegangen. Ich bemerke hierüber folgendes: 1) daß von den Mathematikern zugestanden wird, daß die Newtonischen Formeln sich aus den Keplerischen Gesetzen ableiten lassen. Die ganz unmittelbare Ableitung ist aber einfach diese: Im dritten Keplerischen Gesetz ist A3 /T 2 das Konstante. Dies als A · A2 /T 2 gesetzt und mit Newton A/T 2 die allgemeine Schwere genannt, so ist dessen Ausdruck von der Wirkung dieser sogenannten Schwere im umgekehrten Verhältnisse des Quadrats der Entfernungen vorhanden. 2) daß der Newtonische Beweis von dem Satze, daß ein dem Gravitationsgesetze unterworfener Körper sich in einer Ellipse um den Zentralkörper bewege, auf eine konische Sektion überhaupt geht, während der Hauptsatz, der bewiesen werden sollte, gerade darin besteht, daß die Bahn eines solchen Körpers nicht ein Kreis oder sonst eine konische Sektion, sondern allein die Ellipse ist. Gegen jenen Beweis für sich (Princ. Math. l. I. Sect. II. prop. 1) sind ohnehin Erinnerungen zu machen; auch braucht die Analysis denselben, die Grundlage der Newtonischen Theorie, nicht mehr. Die Bedingungen, welche die Bahn des Körpers zu einem bestimmten Kegelschnitte machen, sind in der analytischen Formel Konstanten, und deren Bestimmung wird auf einen empirischen Umstand, nämlich eine besondere Lage des Körpers in einem bestimmten Zeitpunkte und die zufällige Stärke eines Stoßes, den er ursprünglich erhalten haben sollte, zurückgeführt; so daß der Umstand, welcher die krumme Linie zu einer Ellipse bestimmt, außerhalb der bewiesen sein sollenden Formel fällt, und nicht einmal daran gedacht wird, ihn zu beweisen. 3) daß das Newtonische Gesetz von der sogenannten Kraft der Schwere gleichfalls nur aus der Erfahrung durch Induktion aufgezeigt ist. (268 f.) 225 f . k
210 226 k Erste Abteilung: Die Mechanik 269 Newtons Größe besteht in der umfassenden Kanonisierung des allgemeinen Wissens in einem Lehrbuch mit seiner Ordnung von Postulaten, Axiomen und Theoremen, ähnlich wie Euklids Größe im Blick auf die Darstellung des mathematischen Wissens seiner Zeit. Dessen Leistung ist immens. Sie beruht aber auf den schon vorhandenen Ergebnissen begri=licher Arbeit, also auf einer Setzung kanonischer Darstellungsformen sich wiederholender Bewegungsformen – was Newton allerdings selbst betont, wenn auch nur wholesale. Hier geht es darum, dass »die Newtonischen Formeln sich aus den Keplerischen Gesetzen ableiten lassen«, wobei das Wort »ableiten« nicht formal verstanden werden darf. Die Ellipse der Planetenbewegung um den Zentralkörper ist ein Sonderfall eines Kegelschnittes, so dass hyperbolische Bewegungsformen von Satelliten mit gewissen Anfangsgeschwindigkeiten sich nach Newton ebenfalls erklären lassen, was bei Kepler noch nicht im Fokus sein konnte. Hegel übertreibt auch, wenn er sagt, dass die Di=erentialanalysis »die Grundlage der Newtonischen Theorie« sei, zumal Newton selbst in den Principia die Di=erentialrechnung bewusst umgeht. Es ist aber ganz richtig, dass »die Bedingungen, welche die Bahn des Körpers zu einem bestimmten Kegelschnitte machen«, sich in der Formel als Konstanten darstellen. Der zentrale Formteil at 2 ist dabei schon vorausgesetzt. Dennoch verallgemeinert Newton die Theorie ganz wesentlich unter Einbeziehung beliebiger ballistischen Bewegungen möglicher Erd- oder Sonnensatelliten. Der Rest wurde schon kommentiert. Es ist nichts als der Unterschied zu sehen, daß das, was Kepler auf eine einfache und erhabene Weise, in der Form von Gesetzen der himmlischen Bewegung ausgesprochen, Newton in die Reflexionsform von Kraft der Schwere, und zwar derselben, wie im Falle das Gesetz ihrer Größe sich ergibt, umgewandelt hat. Wenn die Newtonische Form für die analytische Methode ihre Bequemlichkeit nicht nur, sondern Notwendigkeit hat, so ist dies nur ein Unterschied der mathematischen Formel; die Analysis versteht es längst, den Newtonischen Ausdruck und die damit zusammenhängenden Sätze aus der Form der Keplerischen Gesetze abzuleiten (ich halte mich hierüber an die elegante Exposition in Francoeurs Traité élém. de Mécanique Liv. II. Ch. II. n. IV). – (269)
269 Absolute Mechanik 211 Hegel hat keineswegs (ganz) recht in der Aussage, dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Newton und Kepler gäbe. Newtons »Reflexionsform von Kraft der Schwere« liefert ja einen enormen Fortschritt, sogar den entscheidenden, obwohl es ebenfalls nicht falsch ist, den eigentlichen Sinn der Kraft in der sich ergebenden Bewegungsform zu sehen, was dann auch Heinrich Hertz wieder tun wird. Die bloß vage Vorstellung sich addierender infinitesimaler Impulse hilft da in der Tat nicht weiter. Es ist aber keineswegs nur die analytische Methode, die zu Keplers bloß deskriptivem Ansatz hinzukommt. Kepler kennt die allgemeine Bedeutung der Masse als Größe für die Bewegungsform noch gar nicht. Überhaupt stellt die ältere Manier des sogenannten Beweisens ein verworrenes Gewebe dar, aus Linien der bloß geometrischen Konstruktion, welchen eine physikalische Bedeutung von selbständigen Kräften gegeben wird, und aus leeren Reflexionsbestimmungen von der schon erwähnten beschleunigenden Kraft und Kraft der Trägheit, vornehmlich dem Verhältnisse der sogenannten Schwere selbst zur Zentripetalkraft und Zentrifugalkraft usw. (269) Im folgenden Punkt aber hat Hegel völlig recht: Man darf formale Ableitungen nie mit einem Begründen verwechseln. Das wäre so, wie wenn man einen Text in Kurzschrift als Begründung eines Textes in Langschrift ansähe. Axiome sind, so gesehen, nur Kurznotationen für die Theoreme, die man aus ihnen über formallogisch gültige Deduktionen erhalten kann. Daher ist bis heute auch die Vorstellung von einer axiomatischen Grundlegung mathematischer Theorien ganz verwirrt. Jedes formallogische und arithmetisch rechnende ›Beweisen‹ in axiomatischen Systemen setzt schon voraus, dass die Axiome in interessanten Modellstrukturen zu wahren Aussagen werden. Die Theoreme werden durch die Axiome und Prinzipien also nur zusammenfassend artikuliert, sprachtechnisch verdichtet. Es wäre aber inkonsequent, die Leistung kanonischer Axiomatisierung eines ganzen generischen Gegenstandsbereichs wie der Körperbewegungsformen und damit des Begri=es der Materie qua Masse nicht als solche anzuerkennen. Die Probleme der Deutung der (infinitesimalen und inertialen) Linien in der anschaulichen Darstellung der Di=erentiation von Funktionen liegen nur darin, dass man diese unmittelbar als lokal wirkende Kräfte deutet. Hegel hat daher 226 k
212 Erste Abteilung: Die Mechanik recht, auf das Metaphorische der bloß geometrischen Konstruktion der klassischen mathematischen Raumzeit mit ihrem gerichteten Zeitstrahl als Argumentbereich der Orts-Funktionen mit Werten im dreidimensionalen Zahlenbereich des Raumes zu verweisen – und auf die Unklarheit in der externen, weltbezogenen Deutung der tangentialen Inertiallinien, denen ja in der Tat »eine physikalische Bedeutung von selbständigen Kräften gegeben wird«. Hegels Zurückdrängung der Vorstellung, es gäbe eine vom jeweiligen Zentralkörper ausgehende Gravitationskraft, die in einer Art Fernwirkung die ballistischen Körper auf ihrer Bahn hält wie der Schleuderer den Stein zunächst an der Leine – wobei die freie Flugbahn von Planeten und Satelliten dann die Form eines Kegelschnitts annimmt –, tri=t sich zunächst mit Newtons eigener Devise »hypotheses non fingo«. Diese besagt, dass die Theorie der Tendenz nach ›deskriptiv‹ zu lesen ist, also nicht darüber ›spekuliert‹, über welche Vermittlung die Masse der Zentralkörper auf die Flugkörper und ihre Bahn Einfluss nehmen. Hegels eigene Verteidigung der deskriptiven Theorie Keplers läuft im Grunde auf dasselbe hinaus, nämlich auf eine Art allgemeine Feldtheorie, wie sie sich allerdings mathematisch erst dann genauer ausformulieren lässt, wenn man die ›Infinitesimalrechnung‹ voll einsetzt, um sozusagen die von der Zentralmasse verursachten lokalen Bewegungstendenzen für sich bewegende Körper im Raum wirklich im Modell darzustellen. Hegel selbst widerspricht sich also darin, dass er sowohl die Vorstellung eines unsichtbaren Bandes der Zentripetalkraft ablehnt, samt freier Fliehkraft als Tendenz zur tangentialen Flucht mit einer Größe proportional zu Masse und Lokalgeschwindigkeit, als auch die freien Kraftlinien des Bewegungsfeldes. Wir können daher seine Newtonkritik nur als teils mehr, teils weniger berechtigte Bedenken verstehen, die dazu auffordern, die problematischen Lesarten der Theorie Newtons aufzuheben. Das Gesagte betri=t auch die »Reflexionsbestimmungen der schon erwähnten beschleunigenden Kraft und Kraft der Trägheit«. Dabei mögen wir zustimmen, dass die in die Körper von uns gesetzten und dabei lokalisierten Wirkkräfte wie die der Gravitation nach Maßgabe ihrer Masse logisch gerade von der reflexionslogischen Form sind, dass die sich normal- oder idealtypisch zeigenden Bewegungsformen
269 f. Absolute Mechanik 213 der Körper relativ zueinander aus den gemeinsamen ›Kraftwirkungen‹ ergeben und im guten Fall berechnen lassen. Das bedeutet, dass sie nicht metaphysisch-ontisch zu lesen sind. Damit ist die Gefahr eines naturalistischen Physikalismus schon gebannt, samt aller ›materialistischen‹ Hypostasierungen von Kräften und Ursachen jenseits unserer Erklärungsformen. Der Glaube an einen durchgängigen Kausalnexus, der alle einzelnen Ereignisse der Welt durch eine dynamische causa e;ciens für ›erklärbar‹ hält, ist damit als pythagoreistischer Aberglaube durchschaut. Hegels Kritik geht allerdings auch zu weit und tri=t daher das Ziel nicht genau genug. Zwar wird die Bewegung der Planeten bis zum sonnenfernsten Punkt in der Tat immer langsamer und beschleunigt sich dann aufgrund der Attraktionskraft der Sonne wieder. Es scheint aber nur paradox zu sein, dass die Anziehungskraft ab diesem Punkt zunimmt. Das Problem liegt nur daran, dass eine oberflächliche Betrachtung von der Richtung der Bewegung abstrahiert. Daher ist die genannte Beschleunigung so wenig paradox wie das Kreuzen, mit dem ein Segler gegen den Wind segeln kann. Die Bemerkungen, die hier gemacht sind, bedürften einer weitläufigern Auseinandersetzung, als in einem Kompendium Platz haben kann. Sätze, die mit dem Angenommenen nicht übereinstimmen, erscheinen als Behauptungen; und indem sie so hohen Autoritäten widersprechen, als etwas noch Schlimmeres, nämlich als Anmaßungen. Das Angeführte jedoch sind nicht sowohl Sätze als bare Fakta, und die geforderte Reflexion ist nur diese, daß die Unterscheidungen und Bestimmungen, welche die mathematische Analysis herbeiführt, und der Gang, den sie nach ihrer Methode zu nehmen hat, ganz von dem zu unterscheiden ist, was eine physikalische Realität haben soll. Die Voraussetzungen, der Gang und die Resultate, welche die Analysis nötig hat und gibt, bleiben ganz außerhalb der Erinnerungen, welche den physikalischen Wert und die physikalische Bedeutung jener Bestimmungen und jenes Gangs betre=en. Hierauf ist es, daß die Aufmerksamkeit sollte geleitet werden; es ist um ein Bewußtsein zu tun über die Überschwemmung der physischen Mechanik mit einer unsäglichen Metaphysik, die – gegen Erfahrung und Begri= – jene mathematischen Bestimmungen allein zu ihrer Quelle hat. (269 f.) 226 f . k
214 227 k Erste Abteilung: Die Mechanik 270 Immerhin entschuldigt sich Hegel dafür, dass seine Bemerkungen einer genaueren Ausarbeitung bedürfen würden, zumal sie als Anmaßungen gegen den großen Newton erscheinen und auch so aufgefasst wurden. Allerdings liegt es nicht nur am beschränkten Platz des Kompendiums, dass es diese Ausarbeitung nicht gibt. Interessant ist dennoch, dass Hegel selbst betont, dass er hier nichts behauptet, sondern problematische Tatsachen nur nennt. Es geht explizit um das bloß Analogische der mathematischen Modelle samt aller Kommentierungen der ›infinitesimalen‹ Momente der Analysis – im Unterschied zur physikalischen Realität. Die Kritik an der »Überschwemmung der physischen Mechanik mit einer unsäglichen Metaphysik« ist eindeutig und weitgehend richtig; auch die Diagnose, dass diese Metaphysik eine Folge dessen ist, dass man die »mathematischen Bestimmungen« in ihrer Sprachtechnik nicht begreift. Wie im antiken Pythagoreismus werden mathematische Strukturen als unmittelbare Abbildung von Welt angesehen und damit falsch gedeutet. Es ist anerkannt, daß das inhaltsvolle Moment, das Newton außer der Grundlage der analytischen Behandlung, deren Entwicklung übrigens selbst Vieles, was zu seinen wesentlichen Prinzipien und seinem Ruhm gehörte, überflüssig gemacht, ja verworfen hat, zu dem Gehalt der Keplerischen Gesetze hinzufügte, das Prinzip der Perturbation ist, – ein Prinzip, dessen Wichtigkeit hier insofern anzuführen ist, als es auf dem Satze beruht, daß die sogenannte Attraktion eine Wirkung aller einzelnen Teile der Körper als materieller ist. Es liegt darin, daß die Materie überhaupt sich das Zentrum setzt. (270) Als Leistung Newtons anerkennt Hegel explizit »das Prinzip der Perturbation«. Das Lob ist verständlich, weil das Prinzip eine holistische Form annimmt: Alle Wirkungen sind Gesamtwirkungen »aller einzelnen Teile der Körper als materieller«. Schon ambivalenter ist Hegels ›erklärender‹ Satz, das liege daran, »dass die Materie überhaupt sich das Zentrum setzt«. Denn wir sind es, die in unseren Modellierungen des Begri=s der Materie, also des Systems der Körperbewegungen, in die Zentren Kräfte legen, um durch sie die sich generisch zeigenden Bewegungsformen darzustellen und dann in ihren Instanziierungen weitere Verläufe vorherzusagen. Richtig ist aber, dass wir dabei die Phänomene retten und daher sagen, dass
271 Absolute Mechanik 215 nicht wir die Zentren und Kräfte willkürlich festlegen, sondern die Welt selbst so ist, dass unsere Setzungen passen. Die Masse des besondern Körpers ist infolge hievon als ein Moment in der Ortsbestimmung desselben zu betrachten, und die gesamten Körper des Systems setzen sich ihre Sonne; aber auch selbst die einzelnen Körper bilden nach der relativen Lage, in welche sie nach ihrer allgemeinen Bewegung gegeneinander kommen, eine momentane Beziehung der Schwere aufeinander und verhalten sich nicht bloß in der abstrakten räumlichen Beziehung, der Entfernung, sondern setzen sich miteinander ein besonderes Zentrum, das sich aber in dem allgemeinen System teils wieder auflöst, teils aber wenigstens, wenn solches Verhältnis bleibend ist (in den gegenseitigen Störungen Jupiters und Saturns), demselben unterworfen bleibt. (270 f.) In den Bewegungsformen eines Planeten oder Satelliten im Sonnensystem spielt nicht nur die Sonne eine zentrale Rolle. Für die Bewegungen des Erdmonds ist natürlich die Erde Zentrum. Die Zentren der Massen besonderer Körper sind ein Moment ihrer Ortsbestimmung. Man denke etwa auch an kosmische ›Spiralnebel‹. Dabei tut das jeweilige System der Körper nur bedingt selbst etwas, z. B. wenn es sich ein Zentrum gibt – wie eben erläutert. Der Ausdruck steht eher dafür, dass wir passend zum Gesamtverhalten des Systems solche Zentren lokalisieren. Die wechselseitige »momentane Beziehung der Schwere« der Körper eines Systems aufeinander ist natürlich u. U. zu berücksichtigen, wie im Fall aller Wechselwirkung. Wenn nun hiernach einige Grundzüge angegeben werden, wie die Hauptbestimmungen der freien Bewegung mit dem Begri=e zusammenhängen, so kann dies für seine Begründung nicht ausführlicher entwickelt und muß daher zunächst seinem Schicksal überlassen werden. (271) Hegel überlässt seine Ideenskizzen hier explizit dem Schicksal der Rezeption, damit auch der Weiterentwicklung der Sachwissenschaft Physik. Wir können im Rückblick sagen, dass fast alle Punkte zwar nicht in Auseinandersetzung mit seinen Texten und Einsichten, aber bedingt durch die richtig analysierte Sache selbst aufgegri=en wurden, wie z. B. die Relativierung der Inertialsysteme und damit auch der De- 227 k 227 k
216 227 k 227 k 227 k Erste Abteilung: Die Mechanik 271 finitionen der Zeitzahlen bzw. der gleichen Dauern an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten. Das Prinzip dabei ist, daß der Vernunftbeweis über die quantitativen Bestimmungen der freien Bewegung allein auf den Begri=sbestimmungen des Raums und der Zeit, der Momente, deren (jedoch nicht äußerliches) Verhältnis die Bewegung ist, beruhen kann. (271) Hegel selbst nennt explizit das Problem der »quantitativen Bestimmungen der freien Bewegung« im Kontext der »Begri=sbestimmungen des Raums und der Zeit«, die es als Idee im Sinn der Realisierung der von uns gesetzten mathematisch-idealen Begri=e nur in den Realbewegungen und Realprozessen der Welt gibt. Wann wird die Wissenschaft einmal dahin kommen, über die metaphysischen Kategorien, die sie braucht, ein Bewußtsein zu erlangen und den Begri= der Sache statt derselben zu Grunde zu legen! (271) Hegels Seufzer ist und bleibt völlig verständlich. Denn er fordert hier keineswegs einen mystischen Vernunftbeweis, wie die meisten Leser dieser Passagen mutmaßen, sondern ›nur‹ das rechte Verständnis unseres formalen Rechnens mit Maßzahlen und dann auch mit infinitesimalen Pseudo-Größen etwa beim Rechnen mit Di=erentialformen. Es geht also um eine reallogische, materialbegri=liche, sinnkritische Analyse der bisher zumeist bloß erst dogmatisch gelehrten und gelernten und eben damit gläubig hypostasierten »metaphysischen Kategorien«, die man in der physikalischen Mechanik und dann in den Naturwissenschaften überhaupt gebraucht. Den »Begri= der Sache« allen Erklärungen ›zugrunde zu legen‹, bedeutet also, das Darstellungssystem vom Sein und den Erscheinungen der Sachen zu unterscheiden und zugleich die platonische Methexis der Projektion in Messungen und ihren Präsuppositionen voll zu begreifen. Hegels Betrachtung legt den Schwerpunkt und den Fokus auf die Maßtheorie der Zeit. Das ist der eigentliche Grund, warum ihn zunächst nur reproduzierbare ballistische Fallbewegungen und die sich reproduzierenden Ellipsen der Planetenbewegungen, damit die Analysen und kanonischen Setzungen Galileis und Keplers besonders interessieren. Das sagt er hier implizit (auf etwas neblige Weise) so: Daß zuerst die Bewegung im Allgemeinen eine in sich zurückkehrende ist, liegt in der Bestimmung der Körper der Besonderheit und
271 Absolute Mechanik 217 Einzelnheit überhaupt (§ 269), teils ein Zentrum in sich selbst und selbständige Existenz, teils zugleich ihr Zentrum in einem andern zu haben. (271) Allgemeine Bewegungsformen sind prototypisch zyklisch, ›in sich zurückkehrend‹. Hegel hat daher im Prinzip recht, dass die »Bestimmung der Körper der Besonderheit und Einzelnheit überhaupt« mit ihren ›natürlichen‹ und ›objektiven‹ Bewegungsformen unter Abstraktion von unseren technischen Interventionen (vom Anstoß bis zu einer Führungsrinne) methodisch in gewissem Sinn sekundär ist, da sich der Darstellungsrahmen aus der planetarischen Zeit und den relativen Richtungen im Erd- und Sonnensystem ergibt. Das meint die Rede vom Zentrum der Erde und Planeten in sich selbst, die »zugleich ihr Zentrum in einem andern«, dem der Sonne, haben. Es sind dies die Begri=sbestimmungen, die den Vorstellungen von einer Zentripetalkraft und Zentrifugalkraft zum Grunde liegen, aber darein verkehrt werden, als ob jede derselben für sich selbständig, außerhalb der andern existiere und unabhängig wirke, und sie nur in ihren Wirkungen äußerlich, damit zufällig, einander begegneten. Sie sind, wie bereits erinnert, die Linien, die für die mathematische Bestimmung gezogen werden müssen, in physische Wirklichkeiten verwandelt. (271) Hegel kommt noch einmal auf die »Zentripetalkraft und Zentrifugalkraft« zurück. Der Grund ihrer Setzung liegt erstens in der kanonisch als ruhend erklärten Sonne, zweitens in den lokal als ruhend betrachteten Planeten. Die Verkehrung, die Hegel hier zu konstatieren meint, liegt darin, dass man sich vorstellt, es gäbe die Kräfte »für sich selbständig« und nicht bloß als Momente der Bewegungsformen im Gesamtsystem. Zwar bauen wir im Modell die Wirkungen aus Momenten so auf, als würden sich die Kräfte zufällig begegnen. Aber als tangentiale Linien sind die Fliehkräfte nur Formen der mathematischen Darstellung, die nicht unmittelbar in freischwebende »physische Wirklichkeiten« wie im Fall globaler Inertialsysteme verwandelt werden dürfen. Hierin hat Hegel wohl völlig recht. Ferner ist diese Bewegung gleichförmig beschleunigt (und – als in sich zurückkehrend – abwechselnd gleichförmig retardiert). (271) Dass die Bewegung der Planeten »gleichförmig beschleunigt (und – als in sich zurückkehrend – abwechselnd gleichförmig retardiert)« ist, 227 f . k 228 k
218 228 k 228 f . k Erste Abteilung: Die Mechanik 271 f. liegt gerade daran, dass gleichen Zeiten gleiche Ellipsensegmente entsprechen. In der Bewegung als freien kommen Raum und Zeit dazu, als das, was sie sind, als Verschiedene sich in der Größenbestimmung der Bewegung geltend zu machen (§ 267 Anm.) und sich nicht wie in der abstrakten, schlecht-gleichförmigen Geschwindigkeit zu verhalten. – (271 f.) Raum und Zeit sind beide Abstraktionen aus Körperformen und Körperbewegungen. Das Maß der Zeit ist zumindest zunächst von der Planetenbewegung abhängig. Für die bloß abstrakte, schlechtgleichförmige Geschwindigkeit gibt es keine unmittelbare, objektive Instanz in der Natur. In der sogenannten Erklärung der gleichförmig beschleunigten und retardierten Bewegung aus der wechselseitigen Abnahme und Zunahme der Größe der Zentripetalkraft und Zentrifugalkraft wird die Verwirrung, welche die Annahme solcher selbständigen Kräfte herbeiführt, am größten. Nach dieser Erklärung ist in der Bewegung eines Planeten von der Sonnenferne nach der Sonnennähe die Zentrifugalkraft kleiner als die Zentripetalkraft, dagegen soll nun in der Sonnennähe selbst die Zentrifugalkraft unmittelbar wieder größer werden als die Zentripetalkraft; für die Bewegung von der Sonnennähe zur Sonnenferne läßt man auf ebensolche Weise die Kräfte in das entgegengesetzte Verhältnis treten. Man sieht, daß ein solches plötzliches Umschlagen des erlangten Übergewichts einer Kraft in ein Unterliegen unter die andere nichts aus der Natur der Kräfte Genommenes ist. Im Gegenteil müßte geschlossen werden, daß ein Übergewicht, das die eine Kraft über die andere erlangt hätte, sich nicht nur erhalten, sondern in die völlige Vernichtung der andern Kraft, und die Bewegung entweder durch das Übergewicht der Zentripetalkraft in die Ruhe, nämlich in das Stürzen des Planeten in den Zentralkörper, oder durch das Übergewicht der Zentrifugalkraft in [die] gerade Linie übergehen müßte. Der einfache Schluß, der gemacht wird, ist: weil der Körper von seiner Sonnennähe an sich mehr von der Sonne entfernt, so wird die Zentrifugalkraft wieder größer; weil er im Aphelium am weitesten von ihr entfernt ist, so ist sie daselbst am größten. Dies metaphysische Unding einer selbständigen Zentrifugal- wie Zentripetalkraft wird
271 =. Absolute Mechanik 219 vorausgesetzt; auf diese Verstandesfiktionen soll denn aber kein Verstand weiter angewendet, nicht gefragt werden, wie solche Kraft, da sie selbständig ist, aus sich bald sich schwächer als die andere, bald sich überwiegend mache und machen lasse und dann ihr Übergewicht wieder aufhebe oder sich nehmen lasse. – Wird dieser in sich grundlosen abwechselnden Zu- und Abnahme weiter zugesehen, so finden sich in der mittlern Entfernung von den Apsiden Punkte ein, in welchen die Kräfte im Gleichgewichte sind. Das darauf folgen sollende Heraustreten derselben aus dem Gleichgewichte ist etwas ebenso Unmotiviertes als jene Plötzlichkeit des Umschlagens. Man findet überhaupt leicht, daß bei dieser Erklärungsweise die Abhülfe eines Übelstandes durch eine weitere Bestimmung neue und größere Verwirrungen herbeiführt. – Eine ähnliche Verwirrung tritt bei der Erklärung der Erscheinung ein, daß unter dem Äquator der Pendel langsamer schwingt. Diese Erscheinung wird der daselbst größer sein sollenden Zentrifugalkraft zugeschrieben; man kommt ebenso leicht darauf, sie der vergrößerten Schwerkraft, als welche den Pendel stärker nach der perpendikularen Linie der Ruhe halte, zuschreiben zu können. (271 =.) Hegels Darstellung der »wechselseitigen Abnahme und Zunahme der Größe der Zentripetalkraft und Zentrifugalkraft« ist, wie schon erläutert, selbst schon leicht verwirrt, da die Richtungen der Bewegungen nicht genannt werden. Von einem »Übergewicht, das die eine Kraft über die andere erlangt hätte«, ist nicht die Rede. Es ist daher unklar, wer an das »metaphysische Unding einer selbständigen Zentrifugal- wie Zentripetalkraft« je geglaubt hat – oder ob Hegel nur mit unvorsichtig oder falsch formulierten Textbüchern kämpft. Was nun die Gestalt der Bahn betri=t, so ist der Kreis nur als die Bahn einer schlecht-gleichförmigen Bewegung zu fassen. Denkbar, wie man es nennt, ist es wohl, daß auch eine gleichförmig zu- und abnehmende Bewegung im Kreise geschehe. Aber diese Denkbarkeit oder Möglichkeit heißt nur eine abstrakte Vorstellbarkeit, welche das Bestimmte, worauf es ankommt, wegläßt und daher nicht nur oberflächlich, sondern falsch ist. Der Kreis ist die in sich zurückkehrende Linie, in der alle Radien gleich sind; d. h. er ist durch den Radius vollkommen bestimmt; es ist nur Eine, und sie ist die ganze Bestimmtheit. In der freien Bewegung aber, wo räumliche 229 k
220 229 f . k Erste Abteilung: Die Mechanik 273 f. und zeitliche Bestimmung in Verschiedenheit, in ein qualitatives Verhältnis zueinander treten, tritt notwendig dies Verhältnis an dem Räumlichen selbst als eine Di=erenz desselben hervor, welche hiemit zwei Bestimmungen erfordert. Dadurch wird die Gestalt der in sich zurückgehenden Bahn wesentlich eine Ellipse. – Die abstrakte Bestimmtheit, die den Kreis ausmacht, erscheint auch so, daß der Bogen oder Winkel, der durch zwei Radien eingeschlossen ist, von ihnen unabhängig, eine gegen sie völlig empirische Größe ist. Aber in der durch den Begri= bestimmten Bewegung müssen die Entfernung vom Zentrum und der Bogen, der in einer Zeit durchlaufen wird, in Einer Bestimmtheit befaßt sein, Ein Ganzes ausmachen, Momente des Begri=s sind nicht in Zufälligkeit gegeneinander; so ergibt sich eine Raumbestimmung von zwei Dimensionen, der Sektor. Der Bogen ist auf diese Weise wesentlich Funktion des Radius Vektor und führt, als in gleichen Zeiten ungleich, die Ungleichheit der Radien mit sich. (273 f.) In einer kreisförmigen Bahn gäbe es für einen Planeten nur konstante Richtungsbeschleunigungen bei konstanter Geschwindigkeit. Rein logisch kann man sich zwar ›vorstellen‹, dass ein Satellit auf einer Kreisbahn ohne Einwirkung weiterer Kräfte mal langsamer, mal schneller wird. Physikalisch ist das aber ein Unding. Hegels Rede davon, dass »in der freien Bewegung« angeblich »notwendig« eine »Di=erenz« auftrete nach Art der Bewegung auf einer Ellipsenbahn, ist dann freilich zumindest missverständlich. Er will wohl nur ganz kurz sagen, dass es aufgrund der Entstehung von Planeten oder natürlichen Satelliten (nämlich z. B. aus Explosionen des Zentralgestirns) eine wirklich kreisförmige Bahn gar nicht geben kann. Die »durch den Begri= bestimmte Bewegung« eines Planeten meint ja die durch das System bestimmte Bewegung. Man könnte zwar rein abstrakt denken, dass diese ›zufälligerweise‹ auch schon mal auf einer kreisförmigen Bahn liegen könnte. Konkret kann das aber aus dem erwähnten Grund nicht sein. Hegels Formulierungen sind allerdings nicht genau genug und auch im Inhalt nicht ganz eindeutig. Daß die räumliche Determination durch die Zeit als eine Bestimmung von zwei Dimensionen, als Flächenbestimmung, erscheint, hängt mit dem zusammen, was oben (§ 267) beim Falle über die Exposition derselben Bestimmtheit, das einemal als Zeit in der Wurzel,
274 Absolute Mechanik 221 das andremal als Raum im Quadrat gesagt worden. Hier jedoch ist das Quadratische des Raumes, durch die Rückkehr der Linie der Bewegung in sich selbst, zum Sektor beschränkt. – Dies sind, wie man sieht, die allgemeinen Prinzipien, auf denen das Keplerische Gesetz, daß in gleichen Zeiten gleiche Sektoren abgeschnitten werden, beruht. Dies Gesetz betri=t nur das Verhältnis des Bogens zum Radius Vektor, und die Zeit ist dabei abstrakte Einheit, in der die verschiedenen Sektoren verglichen werden, weil sie das Determinierende als Einheit ist. (274) Höchst interessant ist allerdings die Diskussion des Ergebnisses Keplers, dass gleiche Zeiten gleichen Flächen der Sektoren korrespondieren. An dem ›natürlichen‹ Prototyp der Planetenbewegungen finden wir nämlich ein natürliches Maß der Zeit. Gleichförmige, also kontrafaktisch inertiale Bewegungen und dann auch gleichförmige Beschleunigung werden zunächst nur auf dieser Grundlage definiert. Die Gleichheit zeitlicher Dauern wird also im kosmischen Maßstab ganz lokal über die von den Planeten, z. B. der Erde, durchlaufenen Sektorenflächen konkret bestimmt. Aber das weitere Verhältnis ist das der Zeit, nicht als Einheit, sondern als Quantum überhaupt, als Umlaufszeit, zu der Größe der Bahn oder, was dasselbe ist, der Entfernung vom Zentrum. Als Wurzel und Quadrat sahen wir Zeit und Raum sich zueinander verhalten im Falle, der halbfreien Bewegung, die einerseits zwar durch den Begri=, andererseits aber äußerlich bestimmt ist. Aber in der absoluten Bewegung, dem Reiche der freien Maße, erlangt jede Bestimmtheit ihre Totalität. Als Wurzel ist die Zeit eine bloß empirische Größe und als qualitativ nur abstrakte Einheit. (274) Für die Umrechnung in die zu einer Zeit t durchlaufenen Längen und dann auch Geschwindigkeiten muss die Fläche sozusagen geometrisch linearisiert werden, wie dies oben schon skizziert wurde. Man braucht dazu nur eine Einheitslänge e ; den Rest liefert die Verwandlung einer Fläche in ein Rechteck. Auch im Fallgesetz verhält sich die Länge s = at 2 zur Zeit t wie das Quadrat. Die Zeit t ergibt sich über die Wurzel aus s/a. Bildlich gesprochen ist also auch hier die Zeit zunächst durch (Rechtecks-) Flächen gegeben, die über die Wurzel in eine Zeit-Länge verwandelt 230 k
222 Erste Abteilung: Die Mechanik wird. Damit erst lassen sich Zeiten als Längen darstellen und Durchschnittsgeschwindigkeiten werden zu einfachen Proportionen s/t . Die halbfreie Bewegung des irdischen Falles etwa einer Kugel ist, wie Hegel jetzt sagt, »einerseits zwar durch den Begri=«, also die generische Form einer sich in der freien Natur reproduzierenden Bewegung bestimmt, »andererseits aber äußerlich bestimmt«, nämlich durch das Arrangement der Experimente. In der »absoluten Bewegung« der Planeten finden wir dagegen eine bestätigende Unterstützung des freien, also von unseren technischen Uhren unabhängigen, damit wenigstens im Sonnensystem ›objektiven‹ Maßes der Zeit – aus dem dann sekundär über die Lichtausbreitung ein Maß des Raumes wird. So etwas Ähnliches meint wohl die zunächst obskure Rede von der Bestimmtheit ihrer Totalität: Würde nur die Wurzel aus Galileis Fallgesetz gezogen, bliebe die Zeit bloß erst »empirische Größe«. Die qualitative Bestimmung durch Ellipsenflächen der Planetenläufe liefert dagegen eine allgemeine Zeiteinheit, und Keplers drittes Gesetz zeigt, dass und warum eine solche Setzung der Einheit zur Deutung der Zeitzahlen t sinnvoll ist. Hegel sagt jetzt leider nichts weiter dazu, dass und wie unsere Uhrentechnik dazu passende konkrete Zeitmaßzahlen liefert, so dass auch klar würde, was es hieße, dass Uhrentakte langsamer oder schneller gehen. Dann müssten die sich ergebenden kreisförmigen Zeigerbewegungen als von uns künstlich hergestellte, also nicht natürliche und nicht an die Natur angepasste Bewegungen angesehen werden. Ohne die vorgeführte Überlegung gäbe es kein absolutes, natürliches, objektives Maß der Zeit. Die Zeitzahlen wären nur erst mehr oder minder konventionell, rein abhängig von unseren Geräten. Dabei werden sogenannte Quarzuhren deswegen besonders interessant, weil sie nur spezielle Exemplare einer großen Tatsache sind. Es geht um die subatomaren Schwingungen oder Takte in jedem Körper K . Diese Takte hängen auf besondere Weisen mit dem Bewegungszustand von K relativ, sagen wir, zum Fixsternsystem und anderen bewegten Körpern K ∗ zusammen, so dass die Taktzahlen bei großen Relativbewegungen nicht mehr immer gleich sind, sondern K z. B. langsamer ›altert‹ als K ∗ . Das ›weiß‹ man aber erst seit Einsteins Arbeiten zu dem Thema.
274 f. Absolute Mechanik 223 Als Moment der entwickelten Totalität aber ist sie zugleich an ihr bestimmte Einheit, Totalität für sich, produziert sich und bezieht sich darin auf sich selbst; als das in sich Dimensionslose kommt sie in ihrer Produktion nur zur formellen Identität mit sich, dem Quadrate, der Raum dagegen als das positive Außereinander zur Dimension des Begri=s, dem Kubus. (274) Hegel sagt hier auf zunächst schwer verständliche und auch leicht irreführende Weise, in natürlichen Bewegungen wie im Fall der Ballistik oder in den Ellipsen der Planeten komme die dimensionslose Zeit t »nur zur formellen Identität mit sich, dem Quadrate«. Gleiche Zeiten zeigen sich also in der freien Natur nur in der Form von Flächen und diese müssen in (dimensionslose) Längen-Zahlen umgerechnet werden. Das liegt auch daran, dass alle natürlichen Bewegungen (richtungs-)beschleunigt sind. Im keplerschen Verhältnis des Kubus A3 zum Quadrat t 2 sieht Hegel nicht zu Unrecht eine ›natürliche‹ bzw. objektive Relation zwischen Zeitverhältnissen und Raumverhältnissen – und zwar zunächst die einzige, die in der damaligen Physik aus der Mechanik verfügbar ist. Wir können daher, wenn wir wollen, Hegels Lob der Vorsehung, die Planeten auf Ellipsen kreisen zu lassen, etwas weniger kritisch, also charitabler lesen. Natürlich gibt es keine derartige Vorsehung. Es gibt es nur die schon skizzierte relative ›Notwendigkeit‹ dafür, dass Planetenbahnen keine Kreise, sondern Ellipsen sind. Drittens meint Hegel keineswegs, dass irgendein freischwebender Begri= oder Geist diese Form für notwendig oder schön befunden habe. Er anerkennt vielmehr, dass es sich um eine für unser physikalisches Wissen zentrale Grundtatsache handelt, welche es möglich macht, unsere Maßbestimmungen (zunächst der Zeit) in ihrer Objektivität zu begreifen. Dafür waren die Einsichten Keplers notwendige Bedingungen. Ihre Realisierung behält so den ursprünglichen Unterschied derselben zugleich bei. Dies ist das dritte Keplerische Gesetz, das Verhältnis des Würfels der Entfernungen zu den Quadraten der Zeiten; – ein Gesetz, das darum so groß ist, weil es so einfach und unmittelbar die Vernunft der Sache darstellt. Die Newtonische Formel hingegen, wodurch es in ein Gesetz für die Kraft der Schwere verwandelt wird, zeigt die Verdrehung und Umkehrung der auf halbem Wege stehen bleibenden Reflexion. (274 f.) 230 k 230 k
224 Erste Abteilung: Die Mechanik 275 Das passt jetzt auch zu den weiteren Ausführungen. Denn die Realisierung des Begri=s der Materie in den planetarischen Bewegungen und dann auch den kosmisch-siderischen Prozessen liefert uns die nötigen Formen der Abstraktion von unseren subjektiven Zeiten und chronometrischen Techniken ähnlich frei Haus wie die Quader, die für die Raumvermessung und die mathematische Geometrie absolut grundlegend waren und sind, selbst wenn der indefinite Bereich ihrer Herstellbarkeit sehr begrenzt ist. In großen Räumen müssen wir zu indirekten Messungen übergehen. Die Maßzahlen werden abhängig z. B. von der Lichtausbreitung. Hegels Rede von der »Vernunft der Sache« sagt also, dass Keplers 3. Gesetz in der methodischen Ordnung zur maßtheoretischen Grundlage der Deutungen von Zeitzahlen avanciert. Hegels Kritik an Newtons Formel, welche Keplers 3. Gesetz als Folge der »Kraft der Schwere« erscheinen lässt, ist nach Hegel eine »Verdrehung und Umkehrung der auf halbem Wege stehenbleibenden Reflexion«, weil die methodische Ordnung und dabei besonders das Nichttriviale objektiver Maßbestimmungen aus allgemeinsten Gegebenheiten in der Natur übersehen wird. In der Tat hängen die physikalischen Begri=e der Arbeit (›Kraft mal Weg‹) und der Kraft als Maß der Beschleunigung von den Maßzahlen des Raumes und der Zeit und damit von den sie definierenden natürlichen (genauer: prototypischen) Bewegungen ab. 230 § 271 Die Substanz der Materie, die Schwere, zur Totalität der Form entwickelt, hat das Außersichsein der Materie nicht mehr außer ihr. Die Form erscheint zunächst nach ihren Unterschieden in den idealen Bestimmungen des Raums, der Zeit und Bewegung und nach ihrem Fürsichsein als ein außerhalb der außer sich seienden Materie bestimmtes Zentrum; aber in der entwickelten Totalität ist dies Außereinander als ein schlechthin von ihr bestimmtes gesetzt, und die Materie ist nichts außerhalb dieses ihres Außereinanderseins. Die Form ist auf diese Weise materialisiert. Umgekehrt betrachtet hat die Materie in dieser Negation ihres Außersichseins in der Totalität das vorher nur gesuchte Zentrum, ihr Selbst, die Formbestimmtheit, an ihr selber erhalten. (275) Die Passage markiert den zentralen Übergang von der Mechanik
Absolute Mechanik 225 des 17. Jahrhunderts, wie sie noch Kants Analysen prägt, zur neuen Physik, welche u. a. den (Elektro-)Magnetismus und die (Elektro-) Chemie umfasst. Sie ist, wie wirklich alle derartigen Übergänge bei Hegel, in ihrem impliziten Vorgri= auf das, was kommen soll, extrem dunkel. Was also geschieht hier? Wie ist die Gedankenführung zu verstehen? Wenn man das nicht weiß, werden die Sätze unter dem Titel »Physik« unverständlich. Wir hatten mit der extrem idealisierenden cartesischen Punktbewegungskinematik und der ›mathematischen‹ Reduktion der Körper auf ihre bloß räumlichen Ausdehnungen begonnen. Dann wurde klar, dass das, was an den sich relativ zueinander bewegenden Körperdingen einige Zeit lang beständig und für die Mechanik relevant bleibt, grob gesagt nur ihre träge Masse ist. Sie ist damit sozusagen die Substanz der Materie für die Mechanik. Nur sie ist begri=lich wesentlich für das Verhalten des Körperdings im Gegenstandbereich des Mechanismus. Die Masse ersetzt damit in der Massenpunktmechanik die res extensa der Ausdehnung eines Körpers und wird ihm gerade nicht, wie Kant es noch darstellt, von uns auf synthetisch-apriorische Weise zugesprochen. Die Analyse beginnt dann sozusagen mit einem Übergang vom Raum zur Zeit. Es folgt der Übergang von einer rein geometrisch-kinematischen Raumzeit zum holistischen System von Raum, Zeit und Materie, wie er viel später auch von Hermann Weyl als wesentlicher Bestandteil von Einsteins Relativitätstheorien erkannt wurde. Durchaus in diese Richtung weist Hegels Rede davon, dass die Materie (qua Masse in der Gravitationsmechanik) »zur Totalität der Form entwickelt« ist. Die drei Begri=e oder Gegenstands- bzw. Größenbereiche des Raumes, der Zeit und der Materie mit ihrer relativ stabilen Masse lassen sich in der Tat nur zusammen ausreichend begreifen. Dabei versteht sich von selbst, dass Hegel das spezifische Problem der speziellen Relativitätstheorie noch nicht kennen konnte. Es avancieren nämlich bei Einstein die Lorentztransformationen zu einer Definition raumzeitlicher Perspektivenwechsel. Hegel weiß nur erst, dass die schon damals als endlich bekannte Lichtgeschwindigkeit qua Größenordnung sozusagen ein absolutes Jenseits aller Körperbewegungen ist.
226 Erste Abteilung: Die Mechanik Hegel sagt dann noch, dass die räumliche Ausdehnung der realen materiellen Körper nicht trennbar ist von ihrem nur idealmathematisch vorgestellten Massenzentrumspunkt. Die spätestens seit Werner Heisenberg als physikalisch höchst relevant bekannte allgemeine Unschärfe der raumzeitlichen Stellen im Unterschied zu mathematischen Punkten habe ich dabei schon hervorgehoben. Das objektive Fürsichsein eines Dinges unterscheidet sich wesentlich von seinen idealmathematischen Darstellungen als Massenpunkt. Es ist qualitativ bestimmt, besteht aus diversen Sto=en und hat (als res extensa) eine konkrete dreidimensionale Gestalt. Daher müssen wir von der idealen, mathematisierten Punkt-Mechanik auch wieder übergehen zu den qualitativen Bestimmungen der realen Objekte der Physik. Es folgt daher eine begri=sgeschichtlich dichte Phänomenologie physikalischer Grundbegri=e und der zugehörigen abduktiven Begründungen basalen Wissens über Licht und Luft, Feuer und Wasser, Erde und Sto=e, dann auch Sonnen und Planeten – im Zusammenhang mit dem anschauenden Wahrnehmen bzw. der begri=lich immer schon dichten Apperzeption von Dingen und Prozessen. Zunächst geht es um das Sehen und Hören. Das erklärt die sonst kaum verständliche Einführung des Themas Klang. Die Haptik des taktilen Berührens war dagegen schon als Thema der Härte bzw. Undurchdringlichkeit von Festkörpern und sogar schon bei der Prüfung von Passungen von Quadern aufgetreten. Geruch und Geschmack werden dann eigentlich erst für die Chemie relevant. Friedrich Kaulbach und andere Autoren kritisieren Hegel zwar dafür, dass er die Objektivität der physischen Dinge von unseren qualitativen Unterscheidungen im sinnlich vermittelten Zugang zur Welt her rekonstruiert. Doch eine solche Kritik ist verfehlt. Denn nur in einer solchen Rekonstruktion ergibt sich ein nicht-metaphysischer Begri= realer Objektivität. Ein solcher hat insbesondere jeden idealistischen Pythagoreismus zu überwinden, der sich als Materialismus ausgibt. Dabei behauptet man sogar noch, dass wir das wahre gesetzesförmige oder kryptomathematische Wesen der Dinge und ihre wahren Kräfte nicht kennen würden, sondern eben nur das, was uns sinnlich zugänglich ist. Bei Kant wird daraus ein mystischer Unterschied zwischen Ding an sich und Erscheinung. Hegel dagegen zeigt in der Wissenschaft
Absolute Mechanik 227 der Logik, dass sich alle Objektivität und zuvor schon jedes ›Selbst‹ (von Dingen wie Lebewesen) über ein Fürsichsein aus Zuordnungen von Unterscheidungen ergibt, wobei man freilich von den Relationen bloß je zu mir oder zu uns abstraktiv absehen muss. Jedes objektive Ding steht gewissermaßen in Relation zu allen Dingen, nicht bloß zu den heutigen Menschen oder gar nur zu mir. Im Rahmen einer spekulativen, also verbal das jeweils relevante Ganze thematisierenden Reflexionslogik gelangt man dann ideativ von dem, was zu unterscheiden ist oder wäre, zur objektiven Rede von Unterschieden, Ungleichungen und Gleichheiten. Jede unmittelbare Rede über objektive Gegenstände, ihre Identitäten und ihre Eigenschaften ist demgegenüber noch ganz naiv. Sie übersieht das Ideale, Generische und Formale in jeder ›Korrespondenz‹ von Darstellung und Objekt und damit in jedem ›Zugang‹ zur Welt. Hegels Dialektik erweist sich jetzt über die Form der Anwendung von Schemata hinaus als abgrundtief ironische Einsicht, dass niemand so subjektiv idealistisch denkt wie Anhänger eines mechanischen Materialismus oder einer physikalistischen Korrespondenztheorie der Wahrheit und Wirklichkeit. Gerade in ihrer Unterscheidung zwischen ›subjektiven‹ Geltungsansprüchen und materialer Objektivität unterstellen sie eine ›unmittelbare‹ Betrachtung der Welt von der Seite eines Gottes entweder als einem perfekten Physiker oder einem allwissenden Historiker am Ende aller Tage. Aufgrund einer solchen spekulativen Vorstellung ›folgert‹ man skeptisch, dass wir armen Menschen über das wahre Wesen der Dinge gar nichts wissen, sondern nur mehr oder weniger praktisch kluge Überzeugungen haben und auch sonst auf ein Glauben angewiesen sind. Damit wird aber auch schon jede Kritik einer ›wissenschaftlichen‹ Aufklärung an einem theologischen Glauben inkohärent: Es stehen nur noch zwei Glaubenshaltungen gegeneinander, jede mit dem Anspruch, mehr oder weniger zufälligerweise ›die‹ Objektivität jenseits aller bloßen Erscheinungen zu tre=en. Man verwechselt dabei o=enbar die berechtigte Bemühung um einen ›Perspektivenwechsel‹ im Zugang zu realen Objekten der Welt, in der wir leben, mit einer ›absoluten‹ Objektivität hinter ›allen‹ Erscheinungen. Man begreift so den idealen Überschuss nicht in unseren reflexionslogischen Reden über die Formen der Über-
228 230 Erste Abteilung: Die Mechanik 275 windung der zunächst raumzeitlich bloß ›lokalen‹ und ›subjektiven‹ Zugänge zur Welt. Das metaphysische Glauben ist daher sozusagen Folge eines bloß erst mangelhaften Umgangs mit der nötigen Berücksichtigung anderer möglicher Blick- oder Sehe-Punkte. Jede instanziierte oder sich empirisch manifestierende Form ist im realen Sein als Vollzug (im Werden und in Bewegungen) sozusagen materialisiert. Umgekehrt gibt es Materie in ihrem Insichsein und Fürsichsein nur über die logische Unterscheidung dessen, was als Anderssein außer ihr ist und was als Fürsichsein in ihr ist. Das dabei angesprochene Innen ist nun aber keineswegs nur räumlich zu verstehen. Alle von uns zugeschriebenen Dispositionen und Kräfte gehören zum metaphorisch-logischen Inneren, wobei wir – ich wiederhole den wichtigen Punkt – reflexionslogisch sagen, dass ein Ding oder eine Sache eine Kraft oder Disposition hat, wenn wir die Zuschreibungen als gut, richtig oder wahr bewerten. Dabei bleibt das Wir ebenso in der Schwebe wie das Ideal eines Wissens, in dem aller reale Streit um Irrtum und Wahrheit als aufgehoben vorgestellt wird. Ihr abstraktes dumpfes In-sich-sein, als schwer überhaupt, ist zur Form entschlossen; sie ist qualifizierte Materie, – Physik. (275) Hegels allzu lakonische Formulierungskunst geht hier, wie manchmal sonst auch, schief: Man kann den Satz auf keine Weise ›wörtlich‹ lesen. Das zeigt sich eigentlich schon in der Verbindung des Dumpfen mit dem Abstrakten im Insichsein der Materie. Hegel sagt hier nicht, wie eine nur erst oberflächliche Lektüre nahelegt, dass die Materie handelt oder gar zu etwas entschlossen ist. Die stenographische Ausdrucksform ist vielmehr so zu lesen: In der Mechanik wird die Materie nur erst dumpf, abstrakt, mit der Schwere bzw. Masse identifiziert. Konkret aber haben die Körperdinge noch viele andere Eigenschaften. – Es folgt eine Art Phänomenologie unserer sinnlichen Zugänge zur Welt und eine Analyse der Konstitution basalster Unterscheidungen – bis hin zur Sto=- und Materiegleichheit. Das alles steht im Rahmen einer Kritik der ontisch-metaphysischen Deutungen rein mathematischer Theorien der Mechanik und dann auch der Physik.
Zweite Abteilung. Physik § 272 Die Materie hat Individualität, insofern sie das Fürsichsein so in ihr selbst hat, daß es in ihr entwickelt und sie damit an ihr selbst bestimmt ist. Die Materie entreißt auf diese Weise sich der Schwere, manifestiert sich, sich an ihr selbst bestimmend, und bestimmt durch die ihr immanente Form das Räumliche aus sich der Schwere gegenüber, der vorher als einem gegen die Materie andern, von ihr nur gesuchten Zentrum dieses Bestimmen zukam. (276) Der Ausdruck »Materie« steht bei Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften generisch für alle ›endlichen‹ physisch-physikalischen Gegenstände, nicht bloß für Festkörper oder für chemische Sto=e. Hegel betont von vornherein den kontrastiven Gegensatz zum ›unendlichen‹ Licht und dann auch zu den anderen Phänomenen der Elektrodynamik. Das Licht steht seit Langem auch metaphorisch für den Geist und das Sehen für das Wissen. Die endlichen Körperdinge korrespondieren der Individualität ›dunkler‹, aber ggf. sehbarer Materie, die das Licht spiegeln oder von ihm Energie erhalten. Schon in der persischen Philosophie und Religion ist das allgemeine Lichtwesen dem irdischen Prinzip des zunächst nur auf sich bezogenen Individuums gegenübergestellt. Diese Lehre hatte neben dem altägyptischen Sonnenkult (mit Amon-Re oder Aton als Gott) ganz o=enbar großen Einfluss auf die Ausgestaltung des jüdischen Nationalgottes. Bisher hat man den sowohl sprachtheoretischen und sprachgeschichtlichen als auch reflexionslogischen Zugang Hegels zum Thema Licht und Materie und damit zum Verhältnis zwischen den Frühformen einer Elektrodynamik (vor Maxwell) und der Gravitationsmechanik bewegter Festkörper fast ganz übersehen. Dieter Wandschneider und mit ihm Vittorio Hösle sind Ausnahmen, indem sie den Bezug zu Einsteins bahnbrechendem Aufsatz aus dem Jahre 1905 Die Elektrodynamik bewegter Körper hergestellt haben. Die Di=erenzen des 231
230 Zweite Abteilung: Physik Wissens zwischen 1810 und 1830 zum Wissen nach 1900 nehmen sie dennoch nicht genau genug in den Fokus. Das Wort »Individualität« steht für die Bestimmung des Fürsichseins der je einzelnen Materie, also für die Identität eines Dinges trotz verschiedener Teile. Das Fürsichsein eines Individuums D , ich wiederhole diesen wichtigen Punkt gern, besteht sozusagen aus allen prozessualen Relationen R (d , d ∗ ) zwischen Teilen oder Teilmomenten d , d ∗ von D . d = d ∗ gilt immer nur im Blick auf D . In diesem Sinn gehört mein Atmen zu meinem Fürmichsein ebenso wie z. B. jede andere zunächst leibliche Selbstbeziehung. Im Blick auf D sind d und d ∗ gleichgültige, also äquivalente (Re-)Präsentationen. Auch im einfachen Fall eines Steins gehören alle inneren Prozesse, wie z. B. sein Zusammenhalt, aber auch alle Dispositionen und Kräfte, schon rein logisch-begri=lich zu seinem Fürsichsein, aber nicht seine Lage im Raum. Diese gehört zu den Relationen R der Kategorie mit dem Titel »Für-Anderes-Sein«, für welche d , d * gilt, wenn R (d , d ∗ ) gilt. Man kann ja Sachen (also Dinge oder Prozesse) im Raum nur platzieren, indem man sie relativ zu manchen und damit zu allen anderen Sachen räumlich platziert, die nicht am selben Ort sind. Die Materie selbst, ich wiederhole auch das, tut gar nichts. Sie entreißt sich also auch nicht wörtlich der Schwere. Der metaphorische Satz sagt nur, dass ein Ding, etwa dieser Stuhl da, nicht einfach auf seine Masse im (idealen) Schwerpunkt zu reduzieren ist. Es geht also darum, dass und wie sich konkrete materielle Dinge in ihrem Sein relational zu mir, dir oder uns und allen anderen Dingen manifestieren. Jetzt können wir auch den Rest des zunächst extrem schwierigen Satzes verstehbar machen: Ein materieller Festkörper bestimmt aufgrund seiner dreidimensionalen Extension das Räumliche schon aus sich heraus. Er ist schon daher nicht einfach mit seinem Massenschwerpunkt zu identifizieren. 231 § 273 Die Physik hat zu ihrem Inhalte: A. Die allgemeine Individualität, die unmittelbaren freien physischen Qualitäten. B. Die besondere Individualität, Beziehung der Form als physischer Bestimmung auf die Schwere, und Bestimmung der Schwere durch sie.
Physik der allgemeinen Individualität 277 231 C. Die totale freie Individualität. (276) Die allgemeine Individualität (A) betri=t unsere qualitativen Grundund Grobunterscheidungen von Feuer und Licht, Flüssigkeiten und festen Sto=en – und dann auch von anderen materiellen Prozessen. Man beachte dabei die extrem allgemeine Ebene der Unterscheidungen der phänomenalen Grundbegri=e der antiken Philosophie, also Feuer, Wasser, Luft und Erde. Die besondere Individualität (B) betri=t, wie wir später sehen werden, das spezifische Gewicht und die Kräfte im Zusammenhalt eines Körpers, dann aber auch Töne und Wärme als durch Körperbewegung oder Verbrennung verursachte und von uns erspürte Prozesse. Die totale Individualität (C) betri=t das Bestehen eines Körpers aus chemischen Sto=en, seine (räumliche) Formgestalt und seinen (zeitlich begrenzten) Formenerhalt. Das Wort »frei« meint wohl das Sein und ›Tun‹ physischer Körper und physikalischer Sachen selbst in dem Sinn, dass von unseren Interventionen in die Natur durch freies Handeln gerade abzusehen ist. A. Physik der allgemeinen Individualität § 274 Die physischen Qualitäten sind a) als unmittelbar, außereinander in selbständiger Weise als die nun physisch bestimmten himmlischen Körper ; b) als bezogen auf die individuelle Einheit ihrer Totalität, – die physischen Elemente; c) als der Prozeß, der das Individuum derselben hervorbringt, – der meteorologische Prozeß. (277) Man hätte vielleicht erwarten können, dass Hegel unter physischen Qualitäten die Unterscheidbarkeiten der Dinge durch Sehen, taktiles Fühlen und Hören meint. Stattdessen beginnt er mit Sonne, Mond und Sternen (a), gefolgt von Feuer, Wasser, Luft und Erde (b) bzw. Regen, Schnee und Sonnenschein (c). Was außer der Nähe zum Volkslied ist hier das ordnende Prinzip? 231
232 Zweite Abteilung: Physik 277 a. Die freien physischen Körper α) Das Licht 232 § 275 Die erste qualifizierte Materie ist sie als reine Identität mit sich, als Einheit der Reflexion-in-sich, somit die erste, selbst noch abstrakte Manifestation. In der Natur daseiend ist sie die Beziehung auf sich als selbständig gegen die andern Bestimmungen der Totalität. Dies existierende allgemeine Selbst der Materie ist das Licht, – als Individualität der Stern, und derselbe als Moment einer Totalität die Sonne. (277) Warum beginnt Hegel mit dem Licht der Sonne? Und wozu braucht er hier hochtrabende Ausdrucksweisen, statt einfach zu sagen: Lasst uns mal mit dem Licht der Sonne beginnen? In der Tat begeht Hegel hier einen pädagogischen Fehler ersten Grades im Umgang mit seinen Lesern. Denn es ist schon schwer genug, plausibel zu machen, dass das Licht reine Identität mit sich, Einheit der Reflexion-in-sich, abstrakte Manifestation sein soll. Es ist außerdem manierierte Spielerei, erst am Ende zu sagen, dass er die ganze Zeit schon das Licht durch diese logischen Formeln charakterisiert und sich sozusagen klammheimlich darüber freut, wenn der Leser das nicht errät. Hegel beginnt in der Tat relativ willkürlich mit Sonne, Mond und Sternen. Er sagt, dass sie, wie wir wissen, natürliche Lichtproduzenten sind (nun ja, der Mond ›spiegelt‹ Licht). Das Licht selbst kennen wir aber auch vom Feuer unserer Lampen her. Wir wissen, dass Licht eine gewisse Selbständigkeit zeigt. Man kann es oder seine Reflexionen sehen, auch als Wärme spüren, ohne den das Licht aussendenden Körper selbst zu sehen. In diesem Sinn ist das Licht, das ich hier sehe, ein ›existierendes allgemeines Selbst der Materie‹. Dessen Ursache oder Ursprung ist z. B. ein ferner und damit für uns kalter Stern oder die trotz aller Entfernung relativ nahe und wärmende Sonne. Diese Nähe ist für die von ihr verursachte Helle entscheidend, nicht nur das ›Feuer‹ auf der Sonne, von dem wir heute wissen, dass es sich um atomare Fusions-Prozesse handelt.
277 Physik der allgemeinen Individualität 233 § 276 Als das abstrakte Selbst der Materie ist das Licht das Absolut-Leichte, und als Materie ist es unendliches Außersichsein, aber als reines Manifestieren, materielle Idealität untrennbares und einfaches Außersichsein. (277) Warum aber oder in welchem Sinn soll nach Hegel das Licht das abstrakte Selbst der Materie sein? Warum ist das Licht das Absolutleichte? Wie ist Licht als Materie unendliches Außersichsein und als reines Manifestieren materielle Idealität? Warum ist es untrennbares und einfaches Außersichsein? Helfen uns diese Formeln überhaupt? Hegel denkt wohl so: Natürlich sehen wir die Sonne und die Sterne selbst, wenn wir ihren Schein sehen. Und doch sehen wir nur das Licht, wie es sich hier auf der Erde bei uns und für unsere Augen manifestiert. Wir sehen die Eruptionen auf der Sonne nicht mit bloßem Auge. Die Punkte der Sterne stehen abstrakt für riesige Sonnen in riesigen Entfernungen. Absolut leicht ist das Licht nun, weil es praktisch keine Masse hat. Sogar noch die Photonen der neueren Physik haben keine ›Ruhemasse‹ (unbeschadet aller trotzdem noch möglichen Zuschreibungen von Masse über ihren Bewegungszustand, da Energie und Masse ›im Prinzip‹ umwandelbar sind). Schon seiner Etymologie zufolge ist das Licht das Leichte. In der Physik wird es später sozusagen vom Leichtesten zum Schnellsten. Dabei ist es uralte Sprachtradition, die Materie als das Dunkle aufzufassen, wie man das nicht nur in den orientalischen Lichtreligionen sehen kann. Insgesamt geht es also nur erst darum, dass Licht erstens ganz o=enbar ein physikalisches Phänomen ist, welches zweitens eine ganz andere Seinsform hat als die Dinge oder bewegten Körper, für welche die üblichen Gesetze der Stoß- und Gravitationsmechanik gelten. So sind dann auch die anderen Formeln zu lesen. Das unendliche Außersichsein des Lichts meint vielleicht, dass es, wie gleich noch gesagt werden wird, nur dort etwas bewirkt, wo es auf Körper wie die Erde, eine Pflanze oder mein Auge tri=t. Denkt man sich diese Körper weg, ist das Licht einer Sonne oder eines Sterns reines Manifestieren, das heißt bloß dispositionelle Wirkmöglichkeit. Seine Idealität ergibt sich als eben diese dispositionelle Seinsform. Das genannte Außer- 232
234 232 232 k Zweite Abteilung: Physik 278 sichsein des Lichts bedeutet, ich wiederhole den Punkt ebenfalls, dass es sich nur in seinen Wirkungen auf andere Materie zeigt. Das ist untrennbar mit seiner Seinsform verbunden: Licht ist einfach so. In der morgenländischen Anschauung der substantiellen Identität des Geistigen und des Natürlichen ist die reine Selbstischkeit des Bewußtseins, das mit sich identische Denken als die Abstraktion des Wahren und Guten, eins mit dem Lichte. – (278) Hegel macht es uns Lesern nicht leicht. Es scheint uns nämlich, dass er sich manchmal von Zwischeneinfällen treiben lässt, so wie ihm hier sozusagen die Formel »ex oriente lux« eingefallen sein mag und damit die orientalische Lichtmetaphorik zunächst für alles Wissen und Sehen (»veda«, »videre« »wit«, »wisdom«), also alles Geistige, und dann für alles Wahre und Gute. Tatsächlich aber ist das Wissen über die Parallelen der Reflexionen auf Wissen und Licht schon von Anfang an Thema. Es ist also nicht nur ein Einfall, den Hegel hier weiter kommentiert, indem er auf die Analogie der dispositionellen Seins- und Wirkweise von Licht und Geist hinweist. Vielmehr sieht er in der Analogie eine Art ahnungsvolle »substantielle Identität des Geistigen und des Natürlichen«. Diese Formel steht sogar für das implizite Programm seiner Naturphilosophie. Sie soll und kann zeigen, wie sich nicht nur die geistigen Fähigkeiten aus natürlichen Seinsmöglichkeiten ergeben, sondern auch, dass das Wissen als nichtlokale bzw. ortstranszendente Form des Geistigen am besten zu begreifen ist über den uralten Vergleich mit der nichtlokalen, ortstranszendierenden Seinsweise des Lichts. Wie das Licht sich (zunächst nur) an den Reaktionen von Körpern in seiner Wirkung zeigt, ›wirkt‹ Wissen nur auf personale Individuen, existiert aber wie das Licht auf di=use und dispositionelle Weise im Gesamtkollektiv der Menschheit. Dieses, aber nicht viel mehr als dieses, will und kann uns die Allegorie der Passage zeigen. Wenn die Vorstellung, welche man realistisch genannt hat, leugnet, daß in der Natur die Idealität vorhanden sei, so ist sie unter anderem auch an das Licht, an dieses reine Manifestieren, welches nichts als Manifestieren ist, zu verweisen. (278) Wer die Wirksamkeit von Formen und damit Idealitäten des Geistes und der Natur nicht anerkennen will, der soll sich, sagt Hegel hier, die Phänomene des Lichts ansehen. Denn Licht ist wie Wissen Dispositi-
278 Physik der allgemeinen Individualität 235 on, die bei Hegel ›reines Manifestieren‹ heißt. Aber auch dann, wenn wir schon konkreter auf die Ausbreitung von Wissen einerseits, Licht andererseits achten, ist Licht klarerweise keine körperliche Materie, sondern erst einmal Gegenbegri=, so wie seine Bewegung in seiner ›relativ unendlichen‹ Geschwindigkeit Grenz- und Gegenbegri= ist zu den immer viel langsameren Körperbewegungen. Zwar sprach man schon damals von der dualen Teilchennatur und Wellennatur der Lichtausbreitung, wobei das eine Modell auf Newton, das andere auf Huygens zurückgeführt wird. Aber beide Modelle sind Metaphern zur Darstellung von Teilphänomenen der Lichtausbreitung. Man sollte daher weder Newton noch Huygens recht geben, eher beiden. Die Rede von Korpuskeln ist ohnehin in ihrem klar nichtempirischen Status ganz unklar. Hegel geht es also zunächst um Folgendes: Holistisch-dispositionelle Raumphänomene wie die Lichtausbreitung lassen sich nicht voll in einem reinen mechanischen Modell von bewegten Punkten erklären. Die Quantenphysik ist eine neue Art von mathematischer Antwort auf das von Hegel aufgeworfene Problem. Man bleibt bei der Dualität der Wellen und Teilchen und anerkennt damit zumindest implizit die metaphorische metabasis eis allo genos: Subatomare Teilchen sind keine stabilen Körper, sondern eher bloß mathematische Entitäten mit verschieden kurzen Phasen der Existenz, aber mit typischen Wirkungen. Daher behält Hegel in seiner nachfolgenden Polemik gegen unmittelbar als gegeben unterstellte ›diskrete einfache Teilchen‹ in der Lichtausbreitung ganz und gar recht – obwohl wir heute mit Gewinn, wo es passt, über Photonen sprechen. Daß diese Gedankenbestimmung, die Identität mit sich oder das zunächst abstrakte Selbst der Zentralität, welches die Materie nun in ihr hat, – diese einfache Idealität als daseiend, das Licht sei, dieser Beweis ist, wie in der Einleitung angegeben, empirisch zu führen. (278) Im Grunde gibt Hegels Disclaimer hier selbst zu, dass Darstellung und Anordnung seiner Überlegungen suboptimal sind. Denn dass das Licht die Eigenschaften hat, die gerade diskutiert werden, erklärt Hegel selbst zu einer bloß empirischen Tatsache. Das bestätigt auch, dass es ihm hier nur um die Artikulation der Formen geht, nicht 232 k
236 232 k Zweite Abteilung: Physik 278 etwa um eine ›Begründung‹ dafür, dass es Licht in dieser Form geben müsse oder dergleichen.29 Das immanente Philosophische ist hier wie überall die eigene Notwendigkeit der Begri=sbestimmung, die alsdenn als irgend eine natürliche Existenz aufzuzeigen ist. – (278) Hegels Formulierungen sind durchaus suboptimal. Worin soll z. B. »die eigene Notwendigkeit der Begri=sbestimmung« (vgl. dazu auch Enz. § 10) bestehen? Noch einmal ist daran zu erinnern, dass Hegel unter einer Begri=sbestimmung keineswegs nur eine Definition eines aussondernden Prädikats der Form λx .φ(x ). in einem schon unterstellten Bereich G von Gegenständen versteht. Aussonderungen prädikativer Art kann es nur geben, wo ein umfassender Begri= G als Gegenstandsbereich schon als gegeben angenommen wird. Dessen Konstitution ist dann aber bestenfalls im Fall von Arten in Gattungen eine Aussonderung. So müsste z. B. Frege die höhere Arithmetik von Cantors reiner Mengenlehre, also alle reinen Mengen, schon als gegeben voraussetzen, um in ihnen die reinen natürlichen oder dann auch die reinen reellen Zahlen als Teilklassen prädikativ bestimmen zu können. Fast die gesamte Tradition der Philosophie nach Kant und Frege ist in diesem Punkt bis heute uninformiert. Gerade die sogenannte Analytische Philosophie ist daher nicht analytisch genug. Die sogenannte formale Logik denkt dementsprechend nicht formal genug über Formen nach. Sie beweist und rechnet nur in strukturierten Klassen oder Mengen reiner mathematischer Gegenstände, die in dumpfer Vorstellung als gegeben vorausgesetzt werden. Die mathematische Konstitution dieser Bereiche wird also gar nicht thematisiert. Es ist daher wirklich ein Skandal der Philosophie, dass man Hegels weit besseren Begri= des Begri=s bis heute nicht versteht oder sogar für obskur hält. Hier will Hegel m. E. nur das Folgende sagen: In wahren philosophischen Analysen und Reflexionen auf weltbezogene Wahrheiten geht es nur um die sich aus der Realität eines allgemeinen Erfahrungswissens ergebenden grundbegri=lichen oder strukturlogischen Bestimmungen. 29 Die Passagen in den §§ 7 bis 9 und im § 12 der Einleitung der Enzyklopädie, in denen Hegel das Primat der Erfahrung kommentiert, werden hier nicht eigens besprochen.
Physik der allgemeinen Individualität 237 Diese sind durch explizite Formulierungen und Kommentierungen bewusst zu machen. Das geschieht so, dass man einige relevante Beispiele ihrer Anwendung aufzeigt. Es geht in den holistischen logischen Topographien einer Philosophie der Natur also nicht etwa darum, irgendein besonderes Sachwissen zu entwickeln. Das bleibt den Sachwissenschaften vorbehalten. Das gilt dann auch für die Geisteswissenschaften. Es wäre ausgesprochen wichtig, wenn alle Beteiligten, also Philosophen wie Wissenschaftler und Laien, dies und die folgenden Punkte erkennen, also unterscheiden, und ihre Bedeutsamkeit anerkennen könnten: Erstens beruht alles Sinnverstehen auf dem Begri= als dem System von verbal lehrbarem und lernbarem Allgemeinwissen über ganze Gegenstandsbereiche (die heute auch Modellstrukturen heißen). Zweitens ist Kants Unterscheidung zwischen empirischen und apriorischen Aussagen neu zu deuten. Sie wird zum Unterschied zwischen empirischen bzw. narrativen Aussagen über einige oder viele Einzelfälle und den dabei längst schon als gesetzt und gelernt vorausgesetzten materialbegri=lichen Sätzen und Regeln. Diese definieren den jeweiligen Begri= als Bereichsstruktur. Drittens ergeben sich daraus neue Einsichten in die Arbeitsteilung des Wissens. Nur scheinbar unmittelbar wahr oder falsch sind die narrativen Erzählungen über empirische und dabei auch akzidentelle oder seltene Einzelheiten, auch die einer historiographischen Statistik. Denn sie enthalten schon Urteile über eine gute Instanziierung begri=licher Bestimmungen. In den Sachwissenschaften führen wir einen geordneten und ho=entlich disziplinierten Streit um die besten theoretisch-idealen Kanonisierungen von bedingten Defaultregeln, also von generischbegri=lichen Strukturen oder Modellen. Das Licht erweist sich nun gerade deswegen als guter Ausstieg aus dem mechanischen Denken des 17. und 18. Jahrhunderts und als Einstieg in die moderne Physik des 19. Jahrhunderts, weil es als natürliche Tatsache immer schon bekannt ist und vorausgesetzt wird, sich aber andererseits nicht als Bewegung von Korpuskeln voll erklären lässt, was immer die Newton-Tradition anderes dazu zu sagen beliebt. Hegels neues Konzept von Philosophie besteht also (das ist eine meiner ›Grundthesen‹, die sich hier bestätigt) in einer logischen Topographie von Wissen und der Artikulation einer enzyklopädischen
238 232 k Zweite Abteilung: Physik 278 Ordnung des Systems der besonderen Wissenschaften auf der Basis von absolut grundlegenden begri=lichen Unterscheidungen verschiedener Sachthemen und di=erenzierten Aspekten der Zugänge zu den Themen und Gegenständen. Die wichtigste Rahmenordnung betri=t die Themen der handlungsfreien Natur und die der in jedem personalen Leben und Handeln vorausgesetzten Institutionen des Geistes. Der folgende Satz ist nur zu verstehen, wenn man den Rahmen der Überlegung nicht vergisst. Es geht darum einzusehen, dass und wie alle Gegenstandsbereiche des Sachwissens längst schon holistisch verfasst sind. Es wäre insbesondere ein Fehler, a priori zu meinen, die Welt sei schon für sich in einen sortalen Bereich atomarer Dinge gegliedert, die sich – in mancher Vorstellung sogar nach ewigen Stoß- und Attraktionsgesetzen – relativ zueinander in einer Raumzeit bewegen. Hier nur einige Bemerkungen über die empirische Existenz der reinen Manifestation als Licht. Die schwere Materie ist trennbar in Massen, weil sie konkretes Fürsichsein und Quantität ist; aber in der ganz abstrakten Idealität des Lichts ist kein solcher Unterschied; eine Beschränkung desselben in seiner unendlichen Verbreitung hebt seinen absoluten Zusammenhang in sich nicht auf. (278) Körper und ihre Massen lassen sich teilen und bündeln. Das gilt für die reine Manifestation des Lichts nur bedingt, trotz der inzwischen bekannten technischen Möglichkeiten der Ablenkungen und Bündelung von Lichtstrahlen, wie sie Hegel (freilich noch ohne jede Kenntnis etwa von Lasern) weiter unten diskutieren wird. Hegels Kritik an Newton schießt zwar wie jene Goethes über das Ziel hinaus. Und doch sollten wir versuchen, die Kritiklinie zu verstehen. Im Fall von mittelgroßen festen Körpern bestimmt ihr Fürsichsein ihre konkrete Identität für die Zeit ihres einheitlichen Seins. Sie sind quantitative Einheiten, die sich teilen lassen. Unter der Idealität des Lichts sollten wir dagegen zunächst die Form ihrer im Prinzip kugelförmigen Ausbreitung im Raum verstehen. Diese ist zwar potentiell unendlich, also indefinit, aber es nimmt die ›Lichtstärke‹ ebenso ab, wie die Oberfläche der Lichtkugel zunimmt. Die Lichtkugel ausstrahlender Sterne wird daher mit der Entfernung natürlich optisch immer kleiner. (Die relativistischen Probleme des Bildes der Kugel können wir hier einklammern.)
278 Physik der allgemeinen Individualität 239 Die Vorstellung von diskreten einfachen Lichtstrahlen und Teilchen und Bündeln derselben, aus welchen ein in seiner Ausbreitung beschränktes Licht bestehen soll, gehört zu der übrigen Barbarei der Kategorien, die in der Physik besonders Newton herrschend gemacht hat. Es ist die beschränkteste Erfahrung, daß das Licht sich so wenig in Säcke packen als in Strahlen isolieren und in Strahlenbündel zusammenfassen läßt. (278) Die gegen Newtons Optik selbst oder ihre Anhänger gerichtete Passage geht fehl im Ausdruck, indem Hegel von einer »Barbarei der Kategorien« spricht und auf die Schildbürger hinweist, die das Licht in Säcke packen und in ihr neues Rathaus tragen wollten, bei dem sie die Fenster vergessen hatten. Denn so ist weder Newtons Teilchenmodell des Lichts noch die moderne Theorie von den Lichtquanten zu lesen. Immerhin müssen wir Hegel zugestehen, dass es ihm eben darum geht, die Metaphorik in den Ausdrucksweisen und eben damit die Notwendigkeit einer adäquaten Lektüre der theoretischen Modelle hervorzuheben. Daher ist der Reflex mancher Naturwissenschaftler, Newton zu verteidigen und Hegel für einen Ignoranten zu halten, zwar verständlich, aber mindestens ebenso falsch wie Hegels zumindest leicht überzogene Polemik. Die Untrennbarkeit des Lichts in seiner unendlichen Ausdehnung, ein physisches Außereinander, das mit sich identisch bleibt, kann vom Verstande am wenigsten für unbegreiflich ausgegeben werden, da sein eigenes Prinzip vielmehr diese abstrakte Identität ist. – (278) Die Argumentation nimmt jetzt eine überraschende Wende, indem sie sich gar nicht mehr gegen Newton, sondern (wieder) gegen Kant richtet. Denn es gehört wesentlich zu Kants Kritik der reinen Vernunft, die Hegel als bloße Kritik des Verstandes deutet, dass Raum und Zeit nur subjektiv-ideale Formen unserer Ordnung sinnlicher Gegebenheiten seien und wir den wahren Raum der Lichtausbreitung mit unserem Verstand nicht erfassen könnten. Hegel geht es hier also darum, die kantische Lehre von einer doppelten Wahrheit zu unterminieren. Es gibt keine Wahrheit der Erscheinungen nur für uns und dahinter eine unerkennbare Wahrheit der Sachen an sich. Hegels ironische Kritik liest sich jetzt so: Dass sich das Licht kugelförmig im Raum ausbreitet, ist gerade eine an die realen Phänomene sehr gut angepasste, wenn auch ideale, Setzung des Verstandes. Zu 232 f . k 233 k
240 233 k Zweite Abteilung: Physik 278 f. sagen, diese Setzung, ihr Inhalt und ihre Wahrheit seien für den Verstand unbegreiflich, ist daher völlig verquer. Im Gegenteil: Hier erkennen wir die Objektivität von Raum und Zeit, damit die Realität ihrer aus kantischer Sicht ›bloßen‹ Idealität oder Subjektivität. Das physische Auseinander der physikalischen ›Phänomene‹ oder besser ›Materien‹ (Dinge, Sachen, Prozesse) im Raum (in ihrer zunächst je lokalen Zeitlichkeit) ist daher als Grundtatsache anzuerkennen und nicht etwa in die Köpfe der Leute zu verlegen. Wenn die Astronomen darauf gekommen sind, von HimmelsErscheinungen zu sprechen, die, indem sie von uns wahrgenommen werden, bereits vor 500 Jahren und mehr vorgegangen seien, so kann man darin einerseits empirische Erscheinungen der Fortpflanzung des Lichts, die in einer Sphäre gelten, auf eine andere übertragen glauben, wo sie keine Bedeutung haben, – jedoch ist solche Bestimmung an der Materialität des Lichtes nicht im Widerspruche mit seiner einfachen Untrennbarkeit, – andererseits aber eine Vergangenheit zu einer Gegenwart nach der ideellen Weise der Erinnerung werden sehen. – (278 f.) Jetzt entkräftet Hegel noch den erwartbaren Einwand, er habe die schon damals bekannte endliche Geschwindigkeit der Lichtausbreitung bisher gar nicht berücksichtigt. Er sagt, seine Überlegung sei völlig kohärent zu dieser Einsicht, widerspreche ihr also keineswegs. Die Details einer Messung der Entfernung durch Lichtjahre gehören aber zu den Themen der Sachwissenschaft, nicht zu den begri<ichspekulativen Reflexionen der Philosophie (i. e. S.). Das physikalische Thema der Phänomene des Lichts ist allerdings in der Tat viel weiter und allgemeiner als bloß die empirischen »Erscheinungen der Fortpflanzung des Lichts«. Hegel anerkennt hier auch explizit die Materialität des Lichtes. Er erklärt, dass die nicht simultane Ausbreitung des Lichtes, die immer Zeit braucht, wie jede Bewegung auch, keineswegs im Widerspruch steht zur Einheitlichkeit der Lichtausbreitung. Alle Probleme, die sich aus der Rede ergeben können, dass wir ›in die Vergangenheit sehen‹, wenn wir das Licht eines fernen Sterns sehen, kann man daher ausklammern. Sie sind keine philosophisch-logischen Probleme im engeren Sinn. Wir können ja auch sonst mit präsentischen Zeichen für Vergangenes umgehen.
279 Physik der allgemeinen Individualität 241 Wer unbedingt will, kann sogar sagen, dass schon ein Tier ›in die Zukunft sehen‹ kann, wenn es sieht, wie ein Raubtier auf es zustürzt. Von der Vorstellung aber, daß von jedem Punkte einer sichtbaren Oberfläche nach allen Richtungen Strahlen ausgeschickt, also von jedem Punkte eine materielle Halbkugel von unendlicher Dimension gebildet würde, wäre die unmittelbare Folge, daß sich alle diese unendlich vielen Halbkugeln durchdringen. (279) Wie weit ist dann aber die ›Kritik‹ an der Vorstellung Newtons berechtigt, nach welcher sich das Licht von einer Stelle nach allen Richtungen strahlenförmig ausbreite? Hegel sagt, dass sich die vielen so entstehenden Licht(halb)kugeln durchdringen müssten, und suggeriert, dass an dieser Vorstellung etwas falsch ist. Statt daß jedoch hiedurch zwischen dem Auge und dem Gegenstande eine verdichtete, verwirrte Masse entstehen und die zu erklärende Sichtbarkeit vermöge dieser Erklärung eher die Unsichtbarkeit hervorbringen sollte, reduziert sich damit diese ganze Vorstellung selbst ebenso zur Nichtigkeit als die Vorstellung eines konkreten Körpers, der aus vielen Materien so bestehen soll, daß in den Poren der einen die andern sich befinden, in welchen selbst umgekehrt die andern stecken und zirkulieren; welche allseitige Durchdringung die Annahme der diskreten Materialität der reell sein sollenden Sto=e aufhebt und vielmehr ein ganz ideelles Verhältnis derselben zueinander, und hier des Erleuchteten und Erleuchtenden, des Manifestierten und Manifestierenden und dessen, dem es sich manifestiert, begründet; – ein Verhältnis, aus dem, als der in sich verhältnislosen Reflexion-in-sich, alle die weitern Formen von Vermittlungen, die ein Erklären und Begreiflichmachen genannt zu werden pflegen, Kügelchen, Wellen, Schwingungen usf. so sehr als Strahlen, d. i. feine Stangen und Bündel, zu entfernen sind. (279) Nach Olbers’ Paradox müsste der Nachthimmel durch die Sterne hell erleuchtet sein, wenn an jeder Stelle des Firmaments sich ein Stern befinden würde. Die Überlegung abstrahiert aber von der Tatsache, dass das Licht mit der Entfernung immer schwächer wird. Das vermeintliche Paradox Hegels operiert mit der gegenläufigen Vorstellung, dass die vielen Lichtpartikel eine dunkle Wolke bilden müssten, so dass man vor lauter Bündel von Kügelchen und Stangen in den kreuz und quer laufenden Lichtstrahlen nichts mehr sehen könnte. 233 k 233 k
242 Zweite Abteilung: Physik Es ist klar, dass es bei Hegel um die Grenzen des Teilchenmodells des Lichts geht. Hegels Polemik scheint dabei von der relativen räumlichen ›Seltenheit‹ der Lichtquanten zu abstrahieren. Auch Hegels Kritik an der Theorie von den Poren eines festen Körpers, durch den man, wie man inzwischen weiß, Röntgenstrahlen schicken kann, ist ambivalent. Im wörtlichen Sinn besteht meine Tischplatte hier nicht aus Löchern. Der Begri= der Poren ist also zumindest auf spezielle Weise zu lesen, im Sinne der Rede von den sich einerseits strahlenförmig ausbreitenden Lichtteilchen oder ›Kügelchen‹, die sich andererseits aber auf den Kugelflächen homogen verteilen und daher in größeren Entfernungen immer seltener werden – was, wie gesagt, ›erklärt‹, warum und wie das Licht schwächer wird. Wie also sollen wir mit Hegels Kritik an der »Annahme der diskreten Materialität« nicht nur des Lichtes, sondern auch der chemischen Sto=e (etwa von Flüssigkeiten und Gasen) umgehen? Was heißt es, dass diese Annahme sich aufhebe, indem sie nur ein ideelles, also formales Verhältnis der Phänomene darstelle, und zwar gerade auch der Beziehungen »des Erleuchteten und Erleuchtenden, des Manifestierten und Manifestierenden«? Hegel erläutert dazu, dass jede Erklärung der Phänomene durch das Modell angemessen zu verstehen ist. Wir sprechen reflexionslogisch so, als gäbe es die Kügelchen und Poren in der Optik und in der Chemie der Molekularbindungen oder schon der Lösungen wörtlich so, wie wir Kügelchen und Poren aus der Sphäre der mittelgroßen Objekte kennen. Doch die modelltheoretischen Metaphern und Analogien gelten nur in beschränkter Weise. Es sind z. B. die subatomaren Teilchen von anderem Typ als z. B. Ascheteilchen. Es ›besteht‹ z. B. auch Wasser in einem ganz anderen Sinn aus Sauersto= und Wassersto= als eine Limonade aus Wasser, Zucker, Geschmackssto=en und Kohlendioxid. – Es folgt eine Reflexion auf allgemeinste und daher ganz grobe Unterscheidungen in unseren Erfahrungen von Licht und ›dunkler‹ Materie.
280 Physik der allgemeinen Individualität 243 § 277 Das Licht verhält sich als die allgemeine physikalische Identität zunächst als ein Verschiedenes (§ 275), daher hier Äußeres und Anderes zu der in den andern Begri=s-Momenten qualifizierten Materie, die so als das Negative des Lichts, als ein Dunkles bestimmt ist. (280) Zunächst unterscheiden wir Helles und Dunkles, dann Licht als Ursache des Hellen und das Dunkel lichtundurchdringlicher Materie als Ursache des Dunklen – vor der Betrachtung der Farben in der Lichtreflexion. Insofern dasselbe ebenso verschieden vom Lichte für sich besteht, bezieht sich das Licht nur auf die Oberfläche dieses so zunächst Undurchsichtigen, welche hiedurch manifestiert wird, aber ebenso untrennbar (ohne weitere Partikularisation glatt) sich manifestierend, d. i. an Anderem scheinend wird. (280) Licht wird nur sichtbar entweder an den Lichtquellen selbst (von der Kerze oder dem Stern bis zur Sonne) oder an einer Oberfläche, die das Licht reflektiert (wie der Mond oder irdische Körper oder dann auch die Atmosphäre). So jedes am Andern erscheinend, und damit nur Anderes an ihm erscheinend, ist dies Manifestieren durch sein Außersichsetzen die abstrakt-unendliche Reflexion-in-sich, durch welche noch nichts an ihm selbst für sich zur Erscheinung kommt. Damit etwas endlich erscheine, sichtbar werden könne, muß daher auf irgend eine physische Weise weitere Partikularisation (z. B. ein Rauhes, Farbiges usf.) vorhanden sein. (280) Wegen der Vermittlung entweder durch das Licht aussendende Objekt (das Feuer der brennenden Kerze zum Beispiel) oder die Reflexion durch für sich selbst ›dunkle‹ Materie, kann man Licht selbst, rein für sich, gar nicht ›sehen‹ oder ›wahrnehmen‹. Das heißt, die Wirkungen des Lichts sind sozusagen Wirkungen von Licht und Dunkel zusammen. Bei Goethe findet man den Satz in Variationen.30 30 Vgl. dazu z. B. Rike Wankmüller, »Nachwort zur Farbenlehre«, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. XIII, S. 621; vgl. auch S. 630 im Brief Hegels an Goethe zu den ›Urphänomenen‹, die freilich bei Hegel zu prototypischen oder idealtypischen Fällen werden. 233 f . 234 234
244 234 234 234 Zweite Abteilung: Physik 280 § 278 Die Manifestation der Gegenstände aneinander, als durch ihre Undurchsichtigkeit begrenzt, ist außersichseiende, räumliche Beziehung, die durch nichts weiter bestimmt, daher direkt (geradlinig) ist. (280) Hegel scheint hier sagen zu wollen, dass die Rede von Lichtstrahlen sich systematisch daraus ergibt, dass die Ausbreitung des Lichts im Raum, wenn wir sie nicht als geradlinig annehmen, in ihrer besonderen geometrischen Form erklärt werden müsste. Das passt dann auch zur empirischen Beobachtung, wie sich uns die Lichtstrahlen zeigen, die etwa durch ein (Schlüssel)Loch in einen staubigen Raum fallen. Indem es Oberflächen sind, die sich zueinander verhalten, und diese in verschiedene Lagen treten können, so geschieht, daß die Manifestation eines sichtbaren Gegenstandes an einem andern (glatten) sich vielmehr an einem dritten manifestiert usf. (das Bild desselben, dessen Ort dem Spiegel zugeschrieben wird, ist in eine andere Oberfläche, das Auge oder [einen] andern Spiegel usf., reflektiert). (280 f.) Wir brauchen immer ›dritte‹ Gegenstände bzw. Oberflächen, um das reflektierte Licht sichtbar zu machen – wozu auch das Auge gehört, in das der Strahl, wie man sagt, direkt einfällt. Die Manifestation kann in diesen partikularisierten räumlichen Bestimmungen nur die Gleichheit zum Gesetz haben, – die Gleichheit des Einfallswinkels mit dem Winkel der Reflexion, wie die Einheit der Ebene dieser Winkel; es ist durchaus nichts vorhanden, wodurch die Identität der Beziehung auf irgend eine Weise verändert würde. (281) Symmetrieargumente sind es auch, die zum Postulat der Gleichheit des Einfalls- und Ausfallswinkels bei Lichtbrechung führen: In einer generischen Setzung des Normalfalls der Reflexion des Lichts auf einer ebenen Fläche kann man nur von einer solchen Gleichheit ausgehen. Vorausgesetzt ist die Homogenität bzw. die ideale Ununterscheidbarkeit aller Stellen auf der Spiegel-Ebene. Es gibt daher, so scheint Hegel zu argumentieren, keinen Grund, warum »die Identität der Beziehung« sich ändern sollte, zumal wir auch die Richtung des Strahls umkehren können. Wir sehen, dass Hegel das alles recht maulfaul und in idiosynkratischen Ausdrucksformen skizziert, so dass
281 Physik der allgemeinen Individualität 245 man es ohne passende Interpolationen nicht verstehen, damit aber auch nicht unmittelbar als irrtümlich oder falsch bewerten kann. Die Bestimmungen dieses §, die schon der bestimmtern Physik anzugehören scheinen können, enthalten den Übergang der allgemeinen Begrenzung des Lichts durch das Dunkle zur bestimmtern Begrenzung durch die partikulär-räumlichen Bestimmungen des letztern. Diese Determination pflegt mit der Vorstellung des Lichts als einer gewöhnlichen Materie zusammengehängt zu werden. Allein es ist darin nichts enthalten, als daß die abstrakte Idealität, dieses reine Manifestieren, als untrennbares Außersichsein für sich räumlich und damit äußerlich determinierter Begrenzungen fähig ist; – diese Begrenzbarkeit durch partikularisierte Räumlichkeit ist eine notwendige Bestimmung, die weiter nichts als dieses enthält und alle materiellen Kategorien von Übertragen, physikalischem Zurückwerfen des Lichts und dergleichen ausschließt. (281) Hegel weist hier die Annahme zurück, dass die vorgetragene Überlegung schon zum besonderen Wissen einer sachbestimmten empirisch-theoretischen Physik gehöre. Sie gehört stattdessen noch zu einer logisch-phänomenologischen Protophysik. Ihr Status ist damit analog zu den demonstrativen Beweisen der Kongruenzgeometrie mit Tangram-Spielen. Mit diesen ›beweist‹ (besser: demonstriert) man auf der basalsten Ebene der Elementargeometrie z. B. das Parallelenaxiom oder die Sätze des Thales, des Pythagoras oder die Strahlensätze – und damit die fundamentalen Grundsätze der projektiven Geometrie. Das geschieht protogeometrisch und protophysikalisch. Die Sätze sind auf dieser Grundlage generisch als wahr gesetzt für stabile diagonal halbierte Quader. Die entwickelte Rede von Lichtstrahlen und ihren Reflexionen auf ebenen Flächen hat noch nichts mit der spezielleren Vorstellung zu tun, dass sich auf dem Strahl materielle Lichtkorpuskel geradlinig bewegen. Das drückt Hegel in allzu dunkler Kommentarsprache aus. Die »abstrakte Idealität«, von der er spricht, besteht in den über die genannten Symmetrie-Erwägungen begründeten formalgeometrischen Reflexionsregeln. Das reine Manifestieren meint die allgemein, nicht bloß empirisch-statistisch, bekannten Grundphänomene der Reflexion des Lichts. Das untrennbare Außersichsein meint das Relationale der Lichtphänomene, bei denen wir die Rolle der Körper, an 234 f . k
246 235 k Zweite Abteilung: Physik denen sich Licht reflektiert, und sei es die Netzhaut im Auge selbst, nicht einfach vergessen dürfen oder wegabstrahieren können. Hegel hat also recht, dass die partikularisierte Räumlichkeit der das Licht reflektierenden Körper ganz wesentliches Teilmoment der protophysikalischen und dann auch physikalischen Beschreibung und Erklärung optischer Phänomene ist. Mit den Bestimmungen des § hängen die Erscheinungen zusammen, welche auf die grobe Vorstellung von der sogenannten fixen Polarisation, Polarität des Lichts geführt haben. So sehr der sogenannte Einfalls- und Reflexionswinkel bei der einfachen Spiegelung Eine Ebene ist, so sehr hat, wenn ein zweiter Spiegel angebracht wird, welcher die vom ersten reflektierte Erhellung weiter mitteilt, die Stellung jener ersten Ebene zu der zweiten, durch die Richtung der ersten Reflexion und der zweiten gebildeten Ebene ihren Einfluß auf die Stellung, Helligkeit oder Verdüsterung des Gegenstandes, wie er durch die zweite Reflexion erscheint. Für die natürliche unverkümmerte Helligkeit des zum zweitenmal reflektierten Hellseins (Lichtes) ist die normale Stellung daher notwendig, daß die Ebenen der sämtlichen resp. Einfalls- und Reflexionswinkel in Eine Ebene fallen. Wogegen ebenso notwendig folgt, daß Verdüsterung und Verschwinden des zum zweitenmal reflektierten Hellseins eintritt, wenn beide Ebenen sich, wie man es nennen muß, negativ zueinander verhalten, d. i. wenn sie senkrecht aufeinander stehen; vgl. Goethe Zur Natur[wissenschaft überhaupt], I. Bd. 1. Hft. S. 28 unten, 2. folg. S. und 3. Hft. Entopt. Farben XVIII, XIX, S. 144 folg. Daß nun (von Malus) aus der Modifikation, welche durch jene Stellung in der Helligkeit der Spiegelung bewirkt wird, geschlossen worden, daß die Lichtmolekulen an ihnen selbst, nämlich sogar an ihren verschiedenen Seiten, verschiedene physische Wirksamkeiten besitzen, wobei es auch geschieht, daß die sogenannten Lichtstrahlen als vierseitig genommen werden, auf welche Grundlage dann mit den weiter daran sich knüpfenden entoptischen Farben-Erscheinungen ein weitläufiges Labyrinth der verwickeltsten Theorie gebaut worden ist, – ist eins der eigentümlichsten Beispiele vom Schließen der Physik aus Erfahrungen. Was aus jenem ersten Phänomen, von dem die Malussche Polarisation ausgeht, zu schließen war, ist allein, daß die Bedingung der Helligkeit durch die zweite Reflexion die ist,
282 Physik der allgemeinen Individualität 247 daß der dadurch weiter gesetzte Reflexionswinkel in Einer Ebene mit den durch die erste Reflexion gesetzten Winkeln sei. (281 f.) Zu dieser Passage ist deswegen wenig zu sagen, weil die Polarisierung des Lichtes und ihre Rolle bei orthogonaler Spiegelung in Bezug auf die Helligkeit sich nicht befriedigend dadurch erklären lässt, dass man den Lichtmolekülen an ihnen selbst »verschiedene physische Wirksamkeiten« wie Malus zuspricht, auch wenn heute die Wellenlängen (und der Spin) eine ähnliche Funktion für die Erklärung optischer Phänomene haben wie damals die Hypothese von Malus. β) Die Körper des Gegensatzes § 279 Das Dunkle, zunächst das Negative des Lichts, ist der Gegensatz gegen dessen abstrakt-identische Idealität, – der Gegensatz an ihm selbst; er hat materielle Realität und zerfällt in sich in die Zweiheit, 1) der körperlichen Verschiedenheit, d. i. des materiellen Fürsichseins, der Starrheit, 2) der Entgegensetzung als solcher, welche für sich als von der Individualität nicht gehalten nur in sich zusammengesunken, die Auflösung und Neutralität, ist; jenes der lunarische, dieses der kometarische Körper. (282) Ich wiederhole die grundsätzliche logische Einsicht Hegels: Alle Aussagen über etwas setzen einen begrenzten Bereich von Gegenständen, die relevante Gattung oder den einschlägigen Begri= voraus. Formell ist der Bereich im Idealfall konstituiert durch Gleichungen und Ungleichungen für Repräsentationen der Gegenstände und durch prädikative Artbestimmungen. Sein und Nichts, Wesen und Erscheinung, Begri= und Realität sind die Themen der drei Teile der Wissenschaft der Logik. Aus ihnen und den Unterscheidungen von Raum, Zeit, bewegten Körpern und Licht (dann auch von chemischen Sto=en und Lösungen, Zahlen und geometrische Formen) entwickeln sich alle besonderen Themenbereiche des Wissens über die Natur. Es scheint dabei nur so, als behaupte Hegel, dass der Begri= selbst etwas tue. Das ist aber nur stenographische Ausdrucksweise dafür, dass wir es sind, welche auf das allgemeine Wissen, Sprache und die Bedeutungen reflektieren, die wir empraktisch gemeinsam entwickelt haben und weiterentwi- 236
248 236 k Zweite Abteilung: Physik 283 ckeln. Dieses generische Wir der Menschheit ist der allgemeine Geist. Es ist der Begri= insoweit, als alles Geistige begri=lich bedingt ist. Die Explikationen der Entwicklungen des Begri=s geschehen immer erst im Rückblick. Der Begri= an sich, ich wiederhole den zentralen Punkt, ist System begri=licher Unterscheidungen je in thematisch besonderen Gegenstandsbereichen mit ihren internen relationalen, im Weltbezug immer auch prozessualen Bestimmungen. Hier geht es nun darum, dass aus dem uralten Gegensatz vom Lichtem und Dunklem die Unterscheidung von Licht und materiellen Körpern wird, welche das Licht auf die eine oder andere Weise reflektieren. Daher ist das Dunkle zunächst das Negative des Lichten oder des Lichts. Dass die materialbegri=liche Entgegensetzung von Dunkel und Licht »abstrakt-identische Idealität« ist, also zwar »Gegensatz an ihm selbst« und doch »materielle Realität«, ist jetzt schon besser zu verstehen. Die Unterscheidung ist zunächst ebenso formal-allgemein wie auf unsere subjektive Wahrnehmung bezogen. Doch sie zerfällt in die Zweiheit der Seinsform des Lichts und der Seinsform endlicher, zunächst fester (also nicht flüssiger oder gasförmiger) Körperdinge: Feste Dinge bilden über ihre körperliche Verschiedenheit einen eigenen Gegenstandsbereich mit prozessualen Raumzeitrelationen. Ihr materielles Fürsichsein definiert ihre Identität über eine gewisse Starrheit, d. h. einen relativen Formerhalt bei allen relativen Bewegungen zu anderen Dingen. Zunächst sollte erstaunen, dass Hegel den Mond und die Kometen so wichtig nimmt. Aber das passt zu seiner hier wohl absichtlich archaischen Sichtweise. Mond und Kometen waren für die orientalische Astronomie besonders interessant, während die Sternzeichen zur antiken Technik der Navigation gehören. Diese beiden Körper haben auch im System der Schwere als relative Zentralkörper die Eigentümlichkeit, die denselben Begri= zu Grunde liegen hat als ihre physikalische, und die hier bestimmter bemerkt werden kann. – Sie drehen sich nicht um ihre Achse. (283) Dass Mond und Kometen »im System der Schwere« des Sonnensystems sich nicht um ihre Achse drehen, ist eine nicht besonders interessante gemeinsame Form ihrer Bewegung. Die Phrase, dass
283 Physik der allgemeinen Individualität 249 diese Eigentümlichkeit »denselben Begri= zu Grunde liegen hat«, macht schon viel zu viel aus dieser Tatsache. Der Körper der Starrheit als des formellen Fürsichseins, welches die im Gegensatze befangene Selbständigkeit und darum nicht Individualität ist, ist deswegen dienend und Trabant eines andern, in welchem er seine Achse hat. Der Körper der Auflösung, das Gegenteil der Starrheit, ist dagegen in seinem Verhalten ausschweifend und in seiner exzentrischen Bahn wie in seinem physikalischen Dasein die Zufälligkeit darstellend; – sie [diese Körper] zeigen sich als eine oberflächliche Konkretion, die ebenso zufällig sich wieder zerstäuben mag. – (283) Der Kommentar zum Erdtrabanten ist inhaltlich ganz unwichtig und ebenfalls allzu hochtrabend formuliert. Dabei geht es nur darum, dass der Mond als Beispiel eines Himmelskörpers auftritt, der, anders als die Kometen in ihrem Schweif, keine Masse verliert – und der Erde auch seine Rückseite nicht zeigt. Die Metapher vom Dienen hat keinerlei weitere Bedeutung. Hegels Sprachspiele wie in der Rede vom ausschweifenden Verhalten der Kometen sind zu diskontieren, ebenso wie die Rede von ihrer exzentrischen Bahn. Der Mond hat keine Atmosphäre und entbehrt damit des meteorologischen Prozesses. Er zeigt nur hohe Berge und Krater und die Entzündung dieser Starrheit in sich selbst; – die Gestalt eines Kristalls, welche Heim (einer der geistvollen Geognosten) auch als die ursprüngliche der bloß starren Erde aufgezeigt hat. – (283) Dass der Mond keine Atmosphäre hat und daher kein Wetter kennt, ist wie der Hinweis auf Berge und Krater eine korrekte Feststellung, mehr nicht. Die Rede von einer »Entzündung dieser Starrheit in sich selbst« ist wohl zeitbedingter Unsinn, da die Krater nicht auf Vulkanausbrüche, sondern auf Meteoriteneinschläge zurückgehen. Ebenso behandeln würde ich die Rede von der Gestalt eines Kristalls. Es geht dabei nur um die Abkühlung und Erstarrung der Erdkruste, wie sie Hegel auf analoge Weise auch für den Mond annimmt. Der Komet erscheint als ein formeller Prozeß, eine unruhige Dunstmasse; keiner hat etwas Starres, einen Kern, gezeigt. Gegen die Vorstellung der Alten, daß die Kometen bloß momentan gebildete Meteore sind, tun die Astronomen in den neuesten Zeiten nicht mehr so spröde und vornehm als vormals. Bisher ist nur erst die 236 k 236 k 236 k
250 236 f . k Zweite Abteilung: Physik 283 Wiederkehr von etlichen aufgezeigt, andere sind nach der Berechnung erwartet worden, aber nicht gekommen. Vor dem Gedanken, daß das Sonnensystem in der Tat System, in sich wesentlich zusammenhängende Totalität ist, muß die formelle Ansicht von der gegen das Ganze des Systems zufälligen, in die Kreuz und Quere hervortretenden Erscheinung der Kometen aufgegeben werden. (283) Der Text schweift wie ein Komet etwas aus. Terminologisch interessant ist, dass die Seinsweise und Identität eines Kometen als ›formeller Prozess‹, also als relativ stabile Prozessform aufgefasst wird – nach Art einer sich bewegenden Gaswolke ohne starren Kern. Das Sonnensystem ist als System zu begreifen, so dass die ›echten Kometen‹ sich auf berechenbaren und rekurrenten Bahnen bewegen. Manche scheinbaren Kometen wurden als bloße Meteoriten erkannt. So läßt sich der Gedanke fassen, daß die andern Körper des Systems sich gegen sie wehren, d. i. als notwendige organische Momente verhalten und sich erhalten müssen; damit können bessere Trostgründe als bisher gegen die von den Kometen befürchteten Gefahren an die Hand gegeben werden; – Trostgründe, die vornehmlich nur darauf beruhen, daß die Kometen sonst so viel Raum im weiten Himmel für ihre Wege haben und darum doch wohl nicht (welches ›doch wohl nicht‹ gelehrter in eine WahrscheinlichkeitsTheorie umgeformt wird) die Erde tre=en werden. (283 f.) Zunächst scheint die Überlegung leicht verrückt, auch wenn wir uns über ihre metaphorische Darstellung gerade deswegen nicht weiter zu unterhalten brauchen, weil sie ja problematisiert wird. Denn es hat auch nach Hegel keinen Sinn anzunehmen, dass die Planeten sich gegen Kometen wehren könnten. Einen mittleren Schutz vor Meteoriten bietet auf der Erde nur die Atmosphäre. Mit anderen Worten, Hegel verneint die Vorstellung, die Planeten könnten sich ähnlich wie Organismen verhalten, die sich gegen bestimmte Gefährdungen ihrer Integrität wehren können. Bessere Trostgründe gegen die Angst, ein Komet könne auf die Erde stürzen, liefert, wie Hegel durchaus mit verdeckter Ironie sagt, das Wissen über ihre festen Bahnen. Vordem hatte man nur erst gesagt, dass für die Kometen so viel Platz im Raum sei, dass wir nicht damit rechnen müssten, dass sie ›zufällig‹ auf die Erde tre=en – wobei man in der Wahrscheinlichkeitstheorie allerlei Abschätzungen der Erwartbarkeiten vornehmen kann. Hegel
284 Physik der allgemeinen Individualität 251 hält weder etwas von dieser Art Trost noch von jeder vermeintlichen Sicherheit. Es kann immer doch ein Himmelkörper relativ plötzlich die Erde akzidentell zerstören. Hegel hat aber völlig recht, dass uns ein derartiger Zufall angesichts der Endlichkeit wirklich aller Dinge und einer ohnehin riesigen Restkontingenz in allem irdischen Geschehen nicht weiter beunruhigen sollte. γ) Der Körper der Individualität § 280 Der Gegensatz in sich zurückgegangen, ist die Erde oder der Planet überhaupt, der Körper der individuellen Totalität, in welcher die Starrheit zur Trennung in reale Unterschiede aufgeschlossen und diese Auflösung durch den selbstischen Einheitspunkt zusammengehalten ist. (284) Hegel wäre voll verrückt, wenn er sagen würde, der Gegensatz zwischen Licht und Materie bringe durch Rückgang in sich Planeten hervor. Dass man ihn formal so lesen kann, ist ihm aber durchaus anzukreiden. Was er sagen will, ist wohl – wie der gesamte Kontext seiner Überlegungen zeigt – nur dieses: Die Erde und die Planeten bilden zusammen mit der Sonne und ggf. Kometen das Sonnensystem. Dieses ist eine seit Jahrmillionen relativ stabile Einheit oder individuelle Totalität. Wieder sollten wir nicht über den ungewohnten Ausdruck »selbstischer Einheitspunkt« für die Sonne stolpern. Sie ist ja das (Masse- und Kraft-)Zentrum für die realen Unterschiede der paar Planeten und ihrer Bahnen, deren rekurrente Bewegungen durch sie zusammengehalten werden und die aus der Sonne so ähnlich hervorgegangen sein können wie der Mond aus der Erde. Wie die Bewegung des Planeten als Achsendrehung um sich und zugleich Bewegung um einen Zentralkörper die konkreteste und der Ausdruck der Lebendigkeit ist, ebenso ist die Licht-Natur des Zentralkörpers die abstrakte Identität, deren Wahrheit, wie [die] des Denkens in der konkreten Idee, in der Individualität ist. (284) Wir könnten Hegels Vergleich der ›konkretesten‹ Lebendigkeiten wohl mit gnädigem Schweigen übergehen. Es geht aber nicht um irgendwelche Erklärungen, etwa gar in Konkurrenz zu (theoretischen) Erklärungen der Naturwissenschaften, auch nicht um eine mystische 237 237 k
252 237 k Zweite Abteilung: Physik 284 Teleologie, als hätte es ein Weltgeist klug so eingerichtet, dass sich die Erde um ihre Achse und um die Sonne dreht, weil wir gerne Tage und Nächte, auch Sommer und Winter haben, obwohl Hegels ebenso holprige wie betuliche Formulierungen das so erscheinen lassen. Der Gedanke ist wohl dieser: Im Rückblick von der Tatsache her, dass es Leben auf der Erde in den Formen gibt, wie wir sie kennen, spielen die großen Tatsachen der Bewegungsformen im Sonnensystem eine wichtige Rolle. Das gilt insbesondere für die Entfernung und damit das Licht der Sonne, das sozusagen akzidentellerweise weder zu hell und heiß noch zu kalt und kümmerlich für das Leben auf der Erde ist. Wir müssen die Perspektive, in der Hegels Sätze jeweils zu lesen sind, o=enbar immer allererst justieren. Hier wird z. B. nicht gesagt: Erst geschah das, dann das, dann das, vielleicht wegen dem und dem. Vielmehr starten wir mit dem Konkretesten, den heutigen Tatsachen, und dabei mit dem Leben auf der Erde. Dann sehen wir, dass dieses möglich geworden ist durch die großen allgemeinen Tatsachen der Entstehung des Sonnensystems. Relativ zur Konkretheit der Entwicklung von Leben auf der Erde sind diese Tatsachen vorgängig. Das Wissen aber über Existenz, Identität und Entstehung des Sonnensystems ist trivialerweise abhängig davon, dass wir Menschen auf der Erde es entwickelt haben. Tiere wissen davon nichts, um von Steinen gar nicht zu reden. Die zunächst dunkle Formulierung, dass die Wahrheit des Denkens in der Idee liegt, ist daher ebenfalls trivial wahr, weil die Idee als der realisierte Begri= bestimmt ist. Der hinter Hegels unglücklicher Formulierung versteckte Gedanke besagt also: So, wie die Entwicklung ›der Idee‹, hier: der Tatsachen des gemeinsamen Personseins, geistesgeschichtliche Voraussetzung für alles Wissen, Denken und Handeln ist, so ist das Sonnensystem und die Evolution des Lebens auf der Erde naturgeschichtliche Vorbedingung. Was die Reihe der Planeten betri=t, so hat die Astronomie über die nächste Bestimmtheit derselben, ihre Entfernungen, noch kein wirkliches Gesetz entdeckt. (284) Es gibt eine relativ uninteressante Debatte um Hegels angeblich völlig inkompetenten Versuch in seiner Jenenser Dissertation, eine Erklärung und nicht bloß Beschreibung der konkreten Planetenbahnen zu finden. Es war zwar falsch zu meinen, eine solche wäre wirklich
284 Physik der allgemeinen Individualität 253 bedeutsam – etwa indem man an eine einzige Eruption denkt, in der alle Planeten gleichzeitig, aber mit verschiedenem Anfangsimpuls und in ihren verschiedenen Größen auf ihre Umlaufbahnen geschleudert wurden. Mit Sicherheit falsch ist die Unterstellung, Hegel habe an einer pythagoreistischen Zahlenmystik bei der Erklärung der Entfernungen der Planeten von der Sonne festgehalten – falls er je an eine solche geglaubt haben sollte. Ebenso können auch die naturphilosophischen Versuche, die Vernünftigkeit der Reihe in der physikalischen Bescha=enheit und in Analogien mit einer Metallreihe aufzuzeigen, kaum als Anfänge, die Gesichtspunkte zu finden, auf die es ankommt, betrachtet werden. – (284) Hegel kommentiert seine in der Tat spekulativ-hypothetischen Ansätze in Jena nach dem Muster des Novalis: »Hypothesen sind Netze, nur der wird fangen, der auswirft.«31 Es ist schön zu sehen, dass sich Karl Popper schon in diesem Motto seiner Logik der Forschung als unbewusster Hegelianer erweist. Zunächst betrachtet Hegel dazu einen, wie er meint, parallelen Fall, nämlich die Begründung der Gesetze oder Regeln der chemischen Wahlverwandtschaften oder Reaktionsdispositionen von Sto=en, etwa von Metallen: Es war schwer, am Anfang die relevanten »Gesichtspunkte zu finden, auf die es ankommt«. Nachdem wir das System von Mendelejew haben und etwas über Atome und Elektronen wissen, ist hier alles leichter. Das Unvernünftige aber ist, den Gedanken der Zufälligkeit dabei zu Grunde zu legen und z. B. in Keplers Gedanken, die Anordnung des Sonnensystems nach den Gesetzen der musikalischen Harmonie zu fassen, nur eine Verirrung einer träumerischen Einbildungskraft (mit Laplace) zu sehen und nicht den tiefen Glauben, daß Vernunft in diesem Systeme ist, hochzuschätzen; – ein Glaube, welcher der einzige Grund der glänzenden Entdeckungen dieses großen Mannes gewesen ist. – Die ganz ungeschickte und auch nach den Tatsachen völlig irrige Anwendung der Zahlenverhältnisse der Töne, welche Newton auf die Farben gemacht, hat dagegen Ruhm und Glauben behalten. (284) 31 Novalis, Schriften, Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, hg. v. H.J. Mähl, München: Hanser 1978 und Darmstadt: WBG 1999, S. 434. 237 k 237 k
254 Zweite Abteilung: Physik 285 Hegel stellt seinen – gescheiterten – Ansatz in Jena jetzt sogar in einen Vergleich mit dem Vorgehen Keplers. Wie man weiß, hatte Tycho de Brahe empirisch gezeigt, dass das kopernikanische Planetenmodell nicht stimmen konnte. Kepler aber blieb von einer gewissen ›pythagoreischen Sphärenharmonik‹ überzeugt und probierte mühsam aus, wie man den kopernikanischen Ansatz und Tycho de Brahes Phänomene retten könnte. Noch Charles Sanders Peirce meint, wie schon gesagt, Kepler hätte das Ergebnis schneller erreichen können, wenn er ›systematischer‹ gedacht hätte. Er erkannte erst später, wie naiv ein solches Urteil ist. Denn erst nachdem man auf Keplers Ergebnissen aufbauen kann, gibt es hier das systematische Denken, das Peirce empfiehlt. Hegel sieht, dass auch Laplace an der Sache ganz unvernünftig vorbeiredet, indem er Keplers Hartnäckigkeit einer zufälligen Verirrung einer träumerischen Einbildungskraft zuschreibt. Hegel selbst scheint nun aber über das Ziel hinauszuschießen, wenn er von einem »tiefen Glauben« spricht, »dass Vernunft in diesem System ist«. Allerdings ist das Argument ganz richtig. Es besagt, dass man ohne den Glauben, dass es einfache Gesetze gibt, diese gar nicht finden kann. Das hat mit Mystik weit weniger zu tun als damit, dass alle Mathematisierungen in der Physik am Ende auf genialen Vereinfachungen aufruhen, wobei nach Möglichkeit die Phänomene zu retten sind. Dennoch passen z. B. Newtons »Anwendung der Zahlenverhältnisse der Töne« nicht »auf die Farben«. b. Die Elemente 237 f . § 281 Der Körper der Individualität hat die Bestimmungen der elementarischen Totalität, welche unmittelbar als frei für sich bestehende Körper sind, als unterworfene Momente an ihm; so machen sie seine allgemeinen physikalischen Elemente aus. (285) Die sogenannten physikalischen Elemente (stoicheia) sind die der Antike, also Feuer, Wasser, Luft und Erde. Schon Platon begreift (im Timaios) das Feuer sozusagen als allgemeine Energie. Er steht damit in der Nachfolge des Heraklit, mehr noch als in der des Empedokles. Das Wasser wird zum Aggregatzustand des Flüssigen, die Luft zum Gasförmigen und die Erde steht für Festkörper. Platon modelliert die-
285 Physik der allgemeinen Individualität 255 se ›Elemente‹ durch ›molekulare‹ Strukturen, indem er dem Feuer die Dreieckspyramide zuordnet. Der Oktaeder steht für brennbare Flüssigkeiten, der Ikosaeder für brennbare Gase, der Würfel für die nicht brennbare Erde. Der Dodekaeder korrespondiert dem Äther im Himmel. Die schnellen und spitzen Dreieckspyramiden des Feuers lassen die Oktaeder und Ikosaeder mit ihren acht bzw. zwanzig Dreieckseiten platzen. Asche ist Erde, würfelförmig, und damit unverbrennbarer Rest: Die rechtwinkligen Seiten der Würfel zerlegen sich nicht wie gleichseitigen Dreiecke ›des Flüssigen‹ und ›Gasförmigen‹ (durch die Seitenhalbierenden) in (je sechs) kleinere gleichseitige Dreiecke. Die ›Atome‹ Platons sind also, sozusagen, die dreieckigen (im Fall des Äthers: fünfeckigen) Plättchen der fünf vollkommenen platonischen Körper. Das Modell ist in seiner Form genial. Die moderne Chemie entwickelt zwar weit bessere, aber der Grundform nach durchaus analoge, Modellierungen für die geometrische Struktur der ›Moleküle‹ und für die Reaktionen ihrer Spaltung oder Zusammensetzung. Hegel geht es hier aber wohl vornehmlich um den logisch-begri=lichen Unterschied zwischen gegenständlichen Elementen als vereinzelten Individuen in sortalen und damit zählbaren Mengen wie z. B. sieben Äpfeln in einem Korb und den so genannten Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde. Diese sind Massenterme, die als solche keine Mengen von Individuen, Atomen oder Molekülen benennen, sondern Aggregatzustände. Das Wort »Materie« meint dann so etwas wie ›Sto=lichkeit‹ und ist daher nicht schon per se ein Ausdruck für eine Menge von Atomen und Molekülen. Für die Bestimmung eines Elements ist in neuern Zeiten willkürlich die chemische Einfachheit angenommen worden, die mit dem Begri=e eines physikalischen Elements nichts zu tun hat, welches eine reale, noch nicht zur chemischen Abstraktion verflüchtigte Materie ist. (285) Hegels Rede von der »verflüchtigten Materie« spielt darauf an, dass chemische Prozesse vorzugsweise in gasförmigem Zustand stattfinden. Die ›chemische Abstraktion‹ verweist darauf, dass der Begri= der chemischen Sto=e durch die Sto=-Äquivalenz definiert ist und diese wiederum durch die chemischen Reaktionen. Chemisch einfach sind die chemischen Elemente der später von Mendelejew aufgestellten Elemente-Tafel der Atome als Grundlage für die chemi- 238 k
256 Zweite Abteilung: Physik 285 schen Verbindungen der Moleküle. – Das Wort »willkürlich« hätte Hegel sich hier sparen können oder ersetzen sollen. Gemeint ist das konstruktive Moment in den ›chemischen‹ Atom- und Molekül-Modellen von Demokrit und Platon bis ins 19. Jahrhundert. Der Ausdruck »reale Materie« verweist darauf, dass wir uns gerade mit der erscheinungsnahen Identität von Dampf, Wasser und Eis als prototypischen Fällen für Luft, Flüssiges und Festkörper beschäftigen – also mit den Grundlagen der Physik in der klassischen Antike. α) Die Luft 238 § 282 Das Element der unterschiedlosen Einfachheit ist nicht mehr die positive Identität mit sich, die Selbstmanifestation, welche das Licht als solches ist, sondern ist nur negative Allgemeinheit, als zum selbstlosen Moment eines Andern herabgesetzt, daher auch schwer. (285) Es sind nicht nur historische Gründe, die einen Blick auf die antike Naturphilosophie des Feuers als Energie, der Luft oder der Gase, des Wassers oder des Flüssigen, schließlich der Erde oder der festen Körper sinnvoll machen. Er dient auch einem phänomenologischen Interesse. Denn hier finden wir, wie gesagt, oberflächennahe Abstraktionen und ›Metamorphosen‹ der physikalischen ›Elemente‹, die natürlich noch gar keine Elemente im heutigen Sinn der Chemie sind. Vielmehr geht es um die wirklich basale begri=liche bzw. logische Di=erenz zwischen sortalen Körperdingen auf der einen Seite, Materie qua Sto= oder Masse (Luft, Wasser) und Prozessen oder Ereignissen wie ein Feuer auf der anderen Seite. Man sieht das nicht sofort. Und doch sehen wir, dass und warum begri=liche Formen und ›Gegenstandsbereiche‹ nicht unabhängig von einem allgemeinen Wissen über generisch-normale Seinsformen, Sachbereiche und Prozesse sind. Historisch steht Empedokles für die vier physikalischen ›Elemente‹, Thales für das Wasser, Anaximander für das Apeiron verwandelbarer Sto=e, Heraklit für das Feuer als energetischen Prozess, Anaximenes für die Luft als alles durchdringend. Diese Luft ist zunächst Thema von Hegels logischem Kommentar. Hegel sagt, dass die Luft im Unterschied zum Licht schwer ist. Sie ist also Materie mit Masse. Sie lässt aber das Licht durchscheinen.
285 Physik der allgemeinen Individualität 257 Die abstrakten Formulierungen für das Licht als »Identität mit sich« und »Selbstmanifestation« taugen freilich wenig. Dasselbe gilt für die Charakterisierung der Luft als »negative Allgemeinheit«. Dass Luft und Gase selbstlos sind, heißt nur, dass sie keine unmittelbaren Individuen sind, sondern reine ›Massen‹, benannt durch sogenannte mass terms. Diese Identität ist als die negative Allgemeinheit die verdachtlose, aber schleichende und zehrende Macht über das Individuelle und Organische; die gegen das Licht passive, durchsichtige, aber alles Individuelle in sich verflüchtigende, nach außen mechanisch elastische, in alles eindringende Flüssigkeit, – die Luft. (285) Wieder sind Hegels Formulierungen ganz manieristisch. Dass es sich um Bestimmungen der Luft handelt, steht zwar im Titel, den man aber nicht zum Text zählen darf. Und es steht in einem Nachklapp hinter einem Gedankenstrich, der sozusagen auf folgende Art uns Leser anspricht: Es sollte dir, lieber Leser, klar sein, dass wir gerade abstrakt von der Luft sprechen. Die Liste generischer Normaleigenschaften irdischer Luft erscheint zunächst völlig antiquiert: Luft soll mechanisch elastische und in alles eindringende Flüssigkeit sein. Dabei ist sie gar nicht flüssig, sondern gasförmig. Warum soll die Luft »verdachtlos«, »schleichend«, »zehrend« sein? In welchem Sinn ist sie negative Allgemeinheit? Verdachtlos ist Luft wohl dann, wenn man ihre ggf. giftigen Inhaltssto=e nicht sehen oder riechen kann. Schleichend und zehrend hat sie Macht über das Individuelle, weil man an das Atmen gar nicht denkt, es sei denn, man hat zu wenig Luft. Macht über das Organische hat sie wegen des Gehalts an Sauersto= und Kohlendioxid. Die Durchsichtigkeit der Luft wurde schon genannt, ebenso, dass beim Übergang in den gasförmigen Zustand das Individuelle eines Körpers sich verflüchtigt. Damit kommen wir zur ersten allgemeinen Charakterisierung der irdischen Luft: Die Luft ist negative Allgemeinheit, weil wir sie beim Atmen nur bemerken, wenn sie fehlt. Hegels Zugang zur Luft beginnt also ersichtlich bei uns und unseren Basiserfahrungen mit ihr. Sie ist in diesem Sinn klar ›phänomenologisch‹, trotz der abstrakten Überschriften für die entsprechenden Dimensionen der Erfahrung. 238
258 Zweite Abteilung: Physik 286 β) Die Elemente des Gegensatzes 238 238 § 283 Die Elemente des Gegensatzes sind erstens das Fürsichsein, aber nicht das gleichgültige der Starrheit, sondern das in der Individualität als Moment gesetzte, als die fürsichseiende Unruhe derselben, – das Feuer. – (286) Das Feuer soll das ›Element‹ des ›Gegensatzes‹, der Auflösung, Verbrennung, Vernichtung sein, so bei Heraklit, aber auch der Reinigung und Neuschöpfung. Welche Art des Fürsichseins oder der Selbstbezugnahme das sein soll, sagt Hegel nicht. Die bloß erst negative Auskunft, es sei nicht »das gleichgültige der Starrheit« gemeint, also die Identität eines Festkörpers, reicht nicht aus. Hegel meint, nach dem »sondern« den positiven Sinn dieses Fürsichseins zu erläutern, nämlich als »das in der Individualität als Moment gesetzte« Fürsichsein »als die fürsichseiende Unruhe«, womit er wie Heraklit das Feuer als energetischen Prozess deutet. Hegel geht hier viel zu sorglos mit dem Problem um, den ›esoterischen‹ Text allgemein verstehbar zu machen. Dabei helfen auch die ›Zusätze‹ bzw. ›exoterischen‹ Erläuterungen aus den Vorlesungen häufig nur sehr wenig. Wir können dem Text am Ende den folgenden Sinn entnehmen oder zuschreiben: Das Feuer ist traditionell ein ›physikalisches Element‹, dessen Fürsichsein sich aber nur als Prozess der Verbrennung und damit immer auch als Vernichtung von etwas zeigt, freilich mit einer neuen Sache als Ergebnis, wie etwa beim Kochen oder in der Herstellung von Stahlschwertern oder auch beim Brennen von Töpfen – um einige Beispiele zu nennen. Die Luft ist an sich Feuer (wie sie sich durch Kompression zeigt), und Feuer ist sie, gesetzt als negative Allgemeinheit oder sich auf sich beziehende Negativität. (286) Dass die Luft an sich Feuer sei, könnte heißen, dass nur Gasförmiges brennt. Wenn Festkörper und Flüssigkeiten brennen, werden sie durch die Hitze des Brandes allererst in Gase verwandelt. Aber auch die Kompression von Luft erwärmt den Behälter, so dass man traditionell gemeint haben mag, es fände eine Verbrennung statt. Was uns Hegel selbst hier genau sagen will, bleibt sein Geheimnis. – Der allgemeine Ausdruck »negative Allgemeinheit oder sich auf sich be-
286 Physik der allgemeinen Individualität 259 ziehende Negativität« meint wohl den Prozess des Brennens bzw. der Erwärmung und damit der Zerstörung und Veränderung. Es ist die materialisierte Zeit oder Selbstischkeit (Licht identisch mit Wärme), – das schlechthin Unruhige und Verzehrende, in welches ebenso die Selbstverzehrung des Körpers ausschlägt, als es umgekehrt äußerlich an ihn kommend ihn zerstört, – ein Verzehren eines Andern, – das zugleich sich selbst verzehrt und so in Neutralität übergeht. (286) Der Text bleibt höchst obskur. Dass das Feuer »materialisierte Zeit« sei, klingt tief, aber man weiß nicht, was es bedeutet. Gemeint ist wohl nur, dass ein Brand ein materieller Prozess ist, der eine Zeit lang dauert. Er ist ein Ereignis oder Geschehen, kein Körperding und kein Sto=. Feuer ist also (anders als in Platons Modell) nicht von der Art der Luft, des Wassers oder der Erde bzw. der Festkörper. Zunächst versteht man auch die Rede von einer »Selbstischkeit« nicht. Gemeint ist wohl nur, dass Ereignisse wie eine Feuersbrunst einer Scheune oder einer Möbelfabrik je hier und jetzt Instanziierungen eines Scheunen- oder Fabrikbrandes sind. Es gibt auch die uralte Identifikation von Licht und Wärme des Feuers, vor allem im Blick auf die Sonne, so dass auch das Licht mit dem Feuer verbunden ist und bleibt. Dass das Feuer unruhig ist und verzehrend, können wir ebenfalls zugestehen, oder dass Hegel Ausdrücke wie »Selbstverzehrung des Körpers« liebt. Gemeint ist nur, dass Feuer erlöscht, wenn es keine Nahrung mehr erhält – so dass es in der Verzehrung der Nahrung sich selbst verzehrt. Wenn es aber äußerlich an Körper kommt, zerstört es manches, nämlich das Brennbare. Mit Erreichen einer gewissen Temperatur verbrennen die brennbaren Körper. Die »Neutralität« ist wohl ein etwas zu großes Wort für das Ende des Verbrennungsprozesses. Wir tun trotz aller Unklarheit der Ausdrucksform gut daran, Hegel hier nicht etwa so zu verstehen, als wolle er seine Kommentare zur antiken Physik als aktuellen Beitrag zur modernen Physik angesehen wissen. Das wäre in der Tat reiner Humbug. Es geht, wie ich zu zeigen versuche, weit eher um die allgemeine begri=slogische Form von »Erde«, also von Festkörpern, »Luft« und »Wasser« als Massentermen und »Feuer« als Prozesswort – in ihrem engen Zusammenhang mit Grundtatsachen der Welt. Das ist begri=slogisch keineswegs trivial, 238
260 Zweite Abteilung: Physik 286 übrigens so wenig wie die Dualität von Welle und Teilchen in der Lehre vom Licht und in der Atomphysik. 239 § 284 Das andere [Element] ist das Neutrale, der in sich zusammengegangene Gegensatz, der, ohne fürsichseiende Einzelnheit, hiemit ohne Starrheit und Bestimmung in sich, ein durchgängiges Gleichgewicht, alle mechanisch in ihm gesetzte Bestimmtheit auflöst, Begrenztheit der Gestalt nur von außen erhält und sie nach außen sucht (Adhäsion) [und] ohne die Unruhe des Prozesses an ihm selbst schlechthin die Möglichkeit desselben, die Auflösbarkeit, wie die Fähigkeit der Form der Luftigkeit und der Starrheit als eines Zustandes außer seinem eigentümlichen, der Bestimmungslosigkeit in sich, ist; – das Wasser. (286) Neben Luft und Feuer ist das Wasser ein antikes ›Element‹ – so dass wir bis heute sagen, dass sich Wassertiere in ›ihrem Element‹ wohlfühlen. Das Wasser heißt neutral wohl nur, weil es Feuer löscht und Lösungsmittel ist. Die weiteren Kommentare zum Wasser und zu anderen Flüssigkeiten sind in ihrer vagen Allgemeinheit erst einmal auszulegen. Anders als ein Festkörper, also etwa ein Eisklotz vor dem Schmelzen, ist Wasser keine »fürsichseiende Einzelnheit«, also kein ›sortaler Gegenstand‹ mit relativ nachhaltigen Identitätsbedingungen. »Wasser« ist ein Massenterm. Festkörper dagegen sind relativ starr; das heißt, sie erhalten für eine Zeitdauer ihre Gestalt. Das tun sie gerade dann, wenn sie als Körper elastisch sind, also auch nach Verformungen ihre alte Form wieder annehmen. Luft und Wasser (also Gase und Flüssigkeiten) sind nun aber auch in einem gewissen Sinn elastisch: Sie leisten starren Körpern relativ wenig Widerstand und nehmen ihre ›formlose Gestalt‹ einer homogenen Masse gleich wieder an, nachdem sie durch einen Körper verdrängt wurden. Hegels Rede von einem ›durchgängigen Gleichgewicht‹ und von der Auflösung aller mechanischen Bestimmtheit eines Körpers, der verflüssigt wird, verweist auf eben diese ›Homogenität‹. Das wird noch klarer, wenn Hegel sagt, dass nur ihre äußeren Behälter den Flüssigkeiten eine Formgestalt geben können, sonst verlaufen
287 Physik der allgemeinen Individualität 261 sie auf der Erdoberfläche. Außerdem erwähnt er den schon früher genannten Kapillare=ekt der Adhäsion. Der Gegensatz von Feuer und Wasser besteht nun nicht etwa nur darin, dass (echtes) Wasser (normales) Feuer löscht, sondern dass Flüssigkeiten Sto=e sind, »ohne die Unruhe des Prozesses an ihm selbst«, im Unterschied zu Prozessen der Verbrennung. Aber so wie Feuer seine ›Nahrung‹ verbrennt, können sich Körper wie Zucker oder Salz in Flüssigkeiten auflösen und verlieren dabei ihre starre Form. Der obigen Metapher von der Luft als Flüssigkeit setzt Hegel hier die Gegenmetapher von der Luftigkeit des Wassers gegenüber. γ) Individuelles Element § 285 Das Element des entwickelten Unterschiedes und der individuellen Bestimmung desselben ist die zunächst noch unbestimmte Erdigkeit überhaupt, als von den andern Momenten unterschieden; aber als die Totalität, die dieselben bei ihrer Verschiedenheit in individueller Einheit zusammenhält, ist sie die sie zum Prozeß anfachende und ihn haltende Macht. (287) Ich übersetze Hegels allzu abstrakte und von ihm selbst explizit »esoterisch« genannte Ausdrucksweise zunächst ganz radikal in eine exoterische Rede über anschauliche Beispiele und Prototypen. Erdig sind Sto=e wie Sand, Kalk, Zement oder Lehm, aus denen man u. a. Ziegel, Betonbauten und Keramik durch Brennen herstellt, welches Körper »bei ihrer Verschiedenheit in individueller Einheit zusammenhält«. Erdigkeit als Sto= unterscheidet sich »von den anderen Momenten« des Gasförmigen und Flüssigen also so, dass »Erde« zur Titelüberschrift über alle Körperdinge wird, die einige Zeit lang ihre Form behalten und (damit) auch als Individuen wiedererkennbar sind. Bei Platon gehören die nicht weiter verbrennbaren Sto=e (die Asche) zum ›Erdigen‹. Dieses besteht sozusagen aus Körnern, die zwar klein sind, aber dennoch als feste Körper gelten. Die Totalität des Gesamtbereichs aller vier ›Elemente‹ und ihr ›Zusammenhalt‹ hat nichts mit physikalischen Kräften zu tun, sondern meint nur ihren innerweltlichen Gesamtsachbereich, zu dem auch die Energien zählen wie das Feuer, das allerlei Prozesse anfacht, oder 239
262 Zweite Abteilung: Physik 287 die Gravitation als dynamische Macht, welche ja Erde und Gestirne zusammenhält. c. Der elementarische Prozeß 239 § 286 Die individuelle Identität, unter welche die di=erenten Elemente und deren Verschiedenheit gegeneinander und gegen ihre Einheit gebunden sind, ist eine Dialektik, die das physikalische Leben der Erde, den meteorologischen Prozeß, ausmacht; die Elemente, als unselbständige Momente, haben in ihm ebenso allein ihr Bestehen, als sie darin erzeugt, als existierende gesetzt werden, nachdem sie vorhin aus dem Ansich als Momente des Begri=s entwickelt worden sind. (287) Wenn man diese Texte nicht begri=slogisch lesen würde, wären sie o=enkundiger Unsinn. Zusätzliche Probleme bereiten Hegels Metaphern. Während die Dialektik der Vernunft die besondere Anwendung semantischer Allgemeinformen auf einzelne Bezugssituationen mit konkreter, aber immer subjektiver Urteilskraft unter Beachtung möglicher privativer Ausnahmen ist, betri=t die ominöse Dialektik der Natur die konkreten Prozesse und ihre Abweichungen vom immer bloß abstrakt-allgemeinen ›Gesetzeswissen‹. Die artbestimmte individuelle Identität von Einzelprozessen in der Welt und auf der Erde fällt unter diese Dialektik. In den Prozessen spielen verschiedene ›Elemente‹ (Sachen, Momente) di=erente Rollen. Metaphorisch nennt Hegel Klima und Wetter »das physikalische Leben der Erde«. Die irdischen meteorologischen Prozesse bilden in der Tat die konkreten Voraussetzungen für das jeweilige irdische Leben, selbst wenn Menschen und manche Tiere sich auch an lebensfeindliche Regionen anpassen können und es gewisse Spielräume der Bedingungen gibt, welche für das Überleben einer Art notwendigerweise erfüllt sein müssen. Hegel geht es wohl nur darum, dass »die Elemente« als »unselbständige Momente« in einem komplexen und mit allerlei Zufällen im Einzelnen ausgestatteten Gesamtprozess des Klimas (also des Wetters) auf der Erde in den diversen Regionen eine Rolle spielen und ihr (natürliches) Bestehen haben. Das Klima war damals noch weitgehend ›natürlich‹, also kaum von Menschen beeinflusst – wenn man von regionalen Entwaldungen absieht –, wie wir inzwischen besser als
287 f. Physik der allgemeinen Individualität 263 Hegels Zeit wissen. Dieses Klima erzeugt die Lebensbedingungen auf der Erde, die als für uns gesetzte bzw. vorausgesetzte in manchem Betracht kontingent waren, sind und bleiben werden. Das zu leugnen, hat keinen Sinn. Das, was wir über Teilstücke dieser klimatischen Prozesse wissen, stammt aus dem abstrakt-allgemeinen Wissen der Mechanik, der Chemie und der Physik an sich. Hegels Argumentation läuft darauf hinaus, dass alle Liebe zum Wissen vergeblich ist und enttäuscht werden wird, wenn man die Grenzen der Anwendung dieses schematischen Allgemeinwissens auf so konkrete Fälle wie Wetter und Leben und damit das hier von Hegel entwickelte MetaWissen über Formen und Grenzen generisch allgemeinen Wissens nicht angemessen berücksichtigt. Wie die Bestimmungen der gemeinen Mechanik und der unselbständigen Körper auf die absolute Mechanik und die freien Zentralkörper angewendet werden, so wird die endliche Physik der vereinzelten individuellen Körper für dasselbe genommen, als die freie selbständige Physik des Erdenprozesses ist. Es wird für den Triumph der Wissenschaft gehalten, in dem allgemeinen Prozesse der Erde dieselben Bestimmungen wiederzuerkennen und nachzuweisen, welche sich an den Prozessen der vereinzelten Körperlichkeit zeigen. (287) Die übliche Begeisterung für Newtons Gravitationsmechanik stammt daher, dass in ihr die ›sublunare‹ und die ›supralunare‹ Ballistik zusammengeführt werden. Dazu muss man bei den einzelnen irdischen Körpern von allen möglichen weiteren Bewegungsmomenten abstrahieren, nicht nur von der Reibung etwa auch der Luft, also des Windes. Man muss den Ort auf der Erde berücksichtigen, da diese nicht rund, sondern abgeflacht ist, ferner ggf. magnetische Kräfte und natürlich alle technischen Antriebsmaschinen. Allein in dem Felde dieser vereinzelten Körper sind die der freien Existenz des Begri=es immanenten Bestimmungen zu dem Verhältnis herabgesetzt, äußerlich zueinander zu treten, als voneinander unabhängige Umstände zu existieren; ebenso erscheint die Tätigkeit als äußerlich bedingt, somit als zufällig, so daß deren Produkte ebenso äußerliche Formierungen der als selbständig vorausgesetzten und so verharrenden Körperlichkeiten bleiben. – (287 f.) 239 f . k 240 k
264 240 k Zweite Abteilung: Physik Die »immanenten Bestimmungen« der zunächst ominösen »freien Existenz des Begri=es« begreift man nur dann, wenn man weiß, dass es um die Objektivität der Seins-, Prozess- und Bewegungsformen geht, die wir unter Absehung von unseren eigenen Interventionen und subjektiven Darstellungen als das natürliche Geschehen für sich setzen. Aus den kanonischen Idealformen bauen wir das sich konkret zeigende Verhalten der Sachen zusammen, etwa in der Berechnung der Flugbahn einer Kugel bei starkem Gegenwind oder der Folgen des Aufpralls eines Autos auf einen Baum etc. Dabei treten verschiedene Formen präparierten Allgemeinwissens in der Form verschiedener Kräfte oder Wirkweisen »äußerlich zueinander«. Man tut so, als wären sie »voneinander unabhängige Umstände«. Zwar ist jedem klar, dass es sich um Idealisierungen handelt und dass alle Gesetze nur im Prinzip, also generisch-formal, als geltend gesetzt sind. Aber man verharmlost diese zentrale Einsicht unmittelbar wieder, indem man zwischen den von Menschen gesetzten Gesetzen (den einzigen, die es real gibt) und den unerkannten wahren Gesetzen der Natur selbst zu unterscheiden beliebt, an die man glaubt und von denen man sagt, dass unser Wissen über sie nur unvollkommen sei. Hegel erkennt den zentralen Aberglauben, den auch noch Kant befördert hat, in der hier unterstellten Art der Trennung von ›absoluter‹ (besser: idealer) Wahrheit und unserem konkreten (immer falliblen) Wissen und Erkennen. Das konkrete Problem, dass Erklärungen post hoc äußerlich bedingte Voraussetzungen narrativ nachtragen, habe ich schon genannt, die »somit als zufällig« anzusehen sind – was die Begrenzungen generischer Erklärungen nur erneut ins Licht rückt. Hegel ist also weit radikaler als Kant im Blick auf die Anerkennungen der Grenzen menschlichen Wissens, auch wenn diese jetzt ganz anders zu verstehen sind. Denn bei ihm schließt diese Anerkennung das logische Wissen um das bloß Ideale unserer reflexionslogischen Reden über natürliche Kräfte, Naturgesetze und Naturkausalitäten ein. Entsprechendes gilt für unsere spekulativen, bildlich-allegorischen ›Betrachtungen‹ der ›objektiven‹ Welt von der Seite, die als solche nur Reflexionen sind, keine Betrachtungen, auch nicht aus der ›Sicht‹ eines Gottes in seinem utopischen Nirgendwo und Überall und seinem ewigen Nirgendwann und Immer. Das Aufzeigen jener Gleichheit oder vielmehr Analogie wird da-
288 Physik der allgemeinen Individualität 265 durch bewirkt, daß von den eigentümlichen Unterschieden und Bedingungen abstrahiert wird, und so diese Abstraktion oberflächliche Allgemeinheiten, wie die Attraktion, hervorbringt, Kräfte und Gesetze, in welchen das Besondere und die bestimmten Bedingungen mangeln. Bei der Anwendung von konkreten Weisen der bei der vereinzelten Körperlichkeit sich zeigenden Tätigkeiten auf die Sphäre, in welcher die unterschiedenen Körperlichkeiten nur Momente sind, pflegen die in jenem Kreise erforderlichen äußerlichen Umstände in dieser Sphäre teils übersehen, teils nach der Analogie hinzugedichtet zu werden. – (288) Hegel erweist sich hier als logischer Meister der Abstraktion. Er erkennt insbesondere die Gefahr, irgendwelche weiteren Hypothesen zu den schon guten Erklärungen hinzuzudichten. Noch der späte Newton ist dagegen auf die Kritik an seiner actio in distans hin eingeknickt und hat sein an sich ganz richtiges Motto hypotheses non fingo aufgegeben. Es sind dies überhaupt Anwendungen von Kategorien eines Feldes, worin die Verhältnisse endlich sind, auf eine Sphäre, innerhalb der sie unendlich, d. i. nach dem Begri=e, sind. (288) Ohne den Namen zu nennen, bezieht sich Hegel hier o=ensichtlich auf Le Sage, der aus der Billardballmechanik die Himmelsmechanik ›begründen‹ will und dazu ›unendlich‹ schnell schwirrende Teilchen im Äther und eine Abschattung durch die Sonne annimmt. Auch hier ist das gedankliche Modell genial, seine Anwendung zur ›Erklärung‹ der Gravitation aber abwegig. Der Grundmangel bei der Betrachtung dieses Feldes beruht auf der fixen Vorstellung von der substantiellen, unveränderlichen Verschiedenheit der Elemente, welche von den Prozessen der vereinzelten Sto=e her vom Verstande einmal festgesetzt ist. (288) Es liegt nahe, Hegels Kritik am Atomismus mit dem ›Argument‹ zu verwerfen, die Atomtheorien von Dalton und Mendelejew über Max Planck und Niels Bohr bis zu Werner Heisenberg seien doch erfolgreich und damit wahr. Man operiert in ihnen aber längst nicht mehr mit relativ zueinander bewegten Korpuskeln. Die neuere Atomphysik ist methodisch fortschrittlicher insofern, als das Metaphorische in der Rede von Atomen, Teilchen, Molekülen etc. eigentlich ganz klar ist: Es gibt gar keine unteilbaren ewigen Teilchen mehr. Auch die 240 k 240 k
266 240 k 240 f . 241 Zweite Abteilung: Physik 288 f. Atome heißen nur noch so. – Das Problem ist, dass der Physikalismus besonders unter heutigen Biologen und Hirntheoretikern nach Form und Inhalt noch immer identisch ist mit dem von Hegel zu Recht kritisierten Mechanismus des 18. Jahrhunderts. Wo auch an diesen sich höhere Übergänge zeigen, z. B. daß im Kristall das Wasser fest wird, Licht, Wärme verschwindet usf., bereitet sich die Reflexion eine Hilfe durch nebulose und nichtssagende Vorstellungen von Auflösung, Gebunden-, Latent-werden und dergleichen. Hierher gehört wesentlich die Verwandlung aller Verhältnisse an den Erscheinungen in Sto=e und Materien, zum Teil imponderable, wodurch jede physikalische Existenz zu dem schon erwähnten Chaos von Materien und deren Aus- und Eingehen in den erdichteten Poren jeder andern gemacht wird, wo nicht nur der Begri=, sondern auch die Vorstellung ausgeht. Vor allem geht die Erfahrung selbst aus; es wird noch eine empirische Existenz angenommen, während sie sich nicht mehr empirisch zeigt. (288 f.) Hegels Beispiele interessieren nicht weiter. Er wehrt sich hier nur gegen leere, rein verbale oder bloß erst mathematische Erklärungen, die so tun, als redeten sie über möglicherweise zu entdeckende ›empirische‹ Entitäten wie z. B. die superschnellen Teilchen in Le Sages Gravitationsmodell oder dann etwa auch die ›Strings‹ der heutigen Stringtheorie. Dabei wären schon rein erdichtete Poren von verschieden dichten Anordnungen der Atome etwa im Fall von Graphit und Diamant zu unterscheiden gewesen. § 287 Der Prozeß der Erde wird durch ihr allgemeines Selbst, die Tätigkeit des Lichts, ihr ursprüngliches Verhältnis zur Sonne, fortdauernd angefacht und dann nach der Stellung der Erde zur Sonne (Klimate, Jahrszeiten usf.) weiter partikularisiert. – (289) Hegel nennt das gesamte irdische Sein mit Klima, Flora und Fauna als Teilmomenten ›den Prozess der Erde‹. Ihr allgemeines Selbst wird durch das Licht der Sonne angetrieben, wie das schon Heraklit weiß. Das eine Moment dieses Prozesses ist die Diremtion der individuellen Identität, die Spannung in die Momente des selbständigen Gegensatzes in Starrheit und in selbstlose Neutralität, wodurch die Erde der Auflösung zugeht, einerseits zum Kristall, einem Monde,
289 Physik der allgemeinen Individualität 267 andererseits zu einem Wasserkörper, einem Kometen, zu werden, und die Momente der Individualität ihren Zusammenhang mit ihren selbständigen Wurzeln zu realisieren suchen. (289) Es geht hier um die Endlichkeit irdischen Lebens, genauer darum, dass die ganze »Erde der Auflösung zugeht«. Sie wird in the long run entweder »zum Kristall, einem Monde«, also einem toten Planeten, oder vielleicht auch zu einem Kometen, der langsam seine Masse verliert, wie ein »Wasserkörper«. Im ersten Fall wird sie sozusagen zu einem Haufen von Steinen, die kein Selbst haben. In Bezug auf den zweiten Fall meinen noch heute manche, dass es Kometen waren, die das Wasser auf die Erde gebracht haben. In der Gegenwart allerdings sehen wir noch Prozesse der Ausdi=erenzierungen ›der individuellen Identität‹ besonders von Lebewesen, Tieren und Menschen. § 288 Das andere Moment des Prozesses ist, daß das Fürsichsein, welchem die Seiten der Entgegensetzung zugehen, sich als die auf die Spitze getriebene Negativität aufhebt; – die sich entzündende Verzehrung des versuchten unterschiedenen Bestehens, durch welche ihre wesentliche Verknüpfung sich herstellt und die Erde sich als reelle und fruchtbare Individualität geworden ist. (289) Die Rede vom anderen Moment betri=t die Gegenwart, bis zu der die Erde ganz einzigartig geworden ist, indem sie Leben, sogar geistiges Leben, hervorgebracht hat. Das Fürsichsein ist hier nicht die bloß logische Form von Selbstbeziehungen, sondern das Gesamt aller irdischen Prozesse als Teil des Ganzen der Erde. Erdbeben, Vulkane und deren Eruptionen mögen als dem Prozesse der Starrheit der freiwerdenden Negativität des Fürsichseins, dem Prozesse des Feuers angehörig angesehen werden, wie dergleichen auch am Monde erscheinen soll. – (289) Die »Prozesse der Starrheit der freiwerdenden Negativität des Fürsichseins« verweisen wohl auf den Vulkanismus und das heiße, flüssige Magma im Inneren der Erde. Die oben schon erwähnte Meinung, es gäbe Vulkane auf dem Mond, hat sich nicht bewahrheitet. Die Wolken dagegen mögen als der Beginn kometarischer Körperlichkeit betrachtet werden können. (289) 241 241 k 241 k
268 241 k 241 k 241 f . Zweite Abteilung: Physik 289 f. Damals dachte man wohl, die Wolken der Atmosphäre wären als Anfang einer langsamen Auflösung der Materie der Erde im Weltall zu sehen. Das Gewitter aber ist die vollständige Erscheinung dieses Prozesses, an die sich die andern meteorologischen Phänomene als Beginne oder Momente und unreife Ausführungen desselben anschließen. (289 f.) Man könnte nach diesen Vorstellungen sozusagen aufseufzen und sagen: Es ist doch sehr gut, dass es Regen und Gewitter gibt. Sie bringen das Wasser zurück auf die Erde. Hegel neigt klar dieser Kreislauftheorie zu, und artikuliert seine Kritik an der Vorstellung, dass Teile der Wolken im Weltall ›kometarisch‹ verschwinden viel zu kurz durch die Rede von ›unreifen‹ Ausführungen. Die Physik hat bisher weder mit der Regenbildung (ungeachtet der von de Luc aus den Beobachtungen gezogenen und, unter den Deutschen, von dem geistreichen Lichtenberg gegen die Auflösungstheorien urgierten Folgerungen), noch mit dem Blitze, auch nicht mit dem Donner zurechtkommen können; ebensowenig mit andern meteorologischen Erscheinungen, insbesondere den Atmosphärilien, in welchen der Prozeß selbst bis zum Beginn eines irdischen Kernes fortgeht. Für das Verständnis jener alltäglichsten Erscheinungen ist in der Physik noch am wenigsten Befriedigendes geschehen. (290) Der damalige Stand der Physik reichte o=enbar nicht aus, um auch nur die Regenbildung voll zu erklären oder gar die elektrostatische Ursache der Blitze und dann auch des Donners durch Ausdehnung feuchter Luft in Überschallgeschwindigkeit beim Durchgang eines Blitzes. § 289 Indem der Begri= der Materie, die Schwere, seine Momente zunächst als selbständige, aber elementarische Realitäten auslegt, ist die Erde abstrakter Grund der Individualität. In ihrem Prozesse setzt sie sich als negative Einheit der außereinander seienden abstrakten Elemente, hiemit als reale Individualität. (290) Als einigermaßen stabiler Planet ist die Erde mit ihrer Masse »abstrakter Grund«, also allgemeine Ursache, »der Individualität« von irdischen Lebewesen. Der irdische Prozess als generisches Ganzes
Physik der besondern Individualität 290 f. 269 aller Prozesse auf der Erde unter Einschluss der Atmosphäre ermöglicht die reale Individualität des Lebens. B. Physik der besondern Individualität § 290 Die vorher elementarischen Bestimmtheiten nun der individuellen Einheit unterworfen, so ist diese die immanente Form, welche für sich die Materie gegen ihre Schwere bestimmt. (290) Die »elementarischen Bestimmtheiten«, von denen Hegel hier spricht, sind wohl die allgemeinen der Gravitationsmechanik. Die ›individuelle Einheit‹ besteht im irdischen Gesamtprozess, vom Klima bis zum Vulkanismus, von allen Wirkungen des Wassers bis zu allem Leben. Es zeigen sich dabei Unterschiede der Materie, von denen ihre Reduktion auf bloße Massen abstrahiert hatte, was der nächste Satz bestätigt: Die Schwere als Suchen des Einheitspunktes tut dem Außereinander der Materie keinen Eintrag, d. i. der Raum, und zwar nach einem Quantum, ist das Maß der Besonderungen, der Unterschiede der schweren Materie, der Massen; die Bestimmungen der physikalischen Elemente sind noch nicht in ihnen selber ein konkretes Fürsichsein, damit dem gesuchten Fürsichsein der schweren Materie noch nicht entgegengesetzt. (290 f.) Hegels Formulierung ist nicht die unsere. Hier sagt er nur, dass wir für den Unterschied zwischen Materie bloß als Masse und damit als Gegenstand reiner Gravitationsmechanik und konkreten Körpern zumindest auch etwas wissen müssen über die ›Metamorphosen‹ des Körpers in Verflüssigung und Verbrennung. Dazu gehört, welche gasförmigen Sto=e entstehen. Es wird dabei die Abstraktion, die zum Körper bloß als Punkt mit Masse geführt hatte, partiell zurückgenommen. Jetzt durch die gesetzte Individualität der Materie ist sie in ihrem Außereinander selbst ein Zentralisieren gegen dies ihr Außereinander und gegen dessen Suchen der Individualität, di=erent gegen das ideelle Zentralisieren der Schwere, ein immanentes anderes 242 242 242
270 242 242 f . 243 k Zweite Abteilung: Physik 291 Bestimmen der materiellen Räumlichkeit als durch die Schwere und nach der Richtung derselben. (291) Die mit einem Körper gegebene, meinethalben auch gesetzte »Individualität der Materie« ist sozusagen die Äquivalenz der materiellen Sto=e. Für die Äquivalenz und Metrik der Massen war die Gleichheit und lineare Ordnung des Gewichts ausreichend, gemessen über die Stärke der Tendenz, sich in Richtung Erdmittelpunkt zu bewegen. Dieser Teil der Physik ist die individualisierende Mechanik, indem die Materie durch die immanente Form, und zwar nach dem Räumlichen, bestimmt wird. Zunächst gibt dies ein Verhältnis zwischen beidem, der räumlichen Bestimmtheit als solcher und der ihr zugehörigen Materie. (291) Der Teil der Physik, in dem die besonderen Körperformen und sto=liche Materien eine Rolle spielen, nennt Hegel »individualisierende Mechanik«. § 291 Diese individualisierende Formbestimmung ist zunächst an sich oder unmittelbar, so noch nicht als Totalität gesetzt. Die besondern Momente der Form kommen daher als gleichgültig und außereinander zur Existenz, und die Formbeziehung ist als ein Verhältnis Verschiedener. Es ist die Körperlichkeit in endlichen Bestimmungen, bedingt durch Äußeres zu sein und in viele partikuläre Körper zu zerfallen. Der Unterschied kommt so teils in der Vergleichung von verschiedenen Körpern miteinander, teils in der reellern, jedoch mechanisch-bleibenden Beziehung derselben zur Erscheinung. Die selbständige Manifestation der Form, die keiner Vergleichung, noch der Erregung bedarf, kommt erst der Gestalt zu. (291) Ich hatte schon von der Körperform oder Gestalt wie Quader, Kugel etc. gesprochen, wie sie für die Statik und Dynamik besonderer Körper relevant ist. Man denke auch an die Aerodynamik von Vögeln (und Fischen), wie sie gerade auch für die Biologie interessant wird, samt der Organisation des Außen und des Innen und dem Schutz von allem Inneren u. a. durch eine Haut mit wenigen Ö=nungen. Die Passage hat kaum mehr Inhalt. Wie überall die Sphäre der Endlichkeit und Bedingtheit, so ist hier die Sphäre der bedingten Individualität der am schwersten aus
292 Physik der besondern Individualität 271 dem übrigen Zusammenhang des Konkreten abzuscheidende und für sich festzuhaltende Gegenstand, um so mehr, da die Endlichkeit ihres Inhalts mit der spekulativen Einheit des Begri=s, die zugleich nur das Bestimmende sein kann, im Kontraste und Widerspruche steht. (292) Je konkreter die Dingarten und Prozesstypen werden, desto schwieriger ist es, sie angemessen in ihrer ›objektiven Natur‹ zu bestimmen. Denn es geht um eine abstraktive Einklammerung bloß besonderer perspektivischer Zugänge, also um die Formen der Transsubjektivität, des Perspektivenwechsels und damit der Objektivierung. Viele Menschen interessieren sich z. B. so wenig wie Löwen oder Fische für Insekten und ihre Arten, außer wenn sie lästig werden, oder für bizarre Formen der Landschaft, außer sie werden irgendwie nützlich (etwa im Tourismus) oder schädlich (wie in einer Wüste). Die Endlichkeit dieser relationalen Inhalte steht im Kontrast zur Einheit der Dinge in ›allen‹ ihren Relationen zu anderen Dingen, so dass z. B. Insekten wie Bienen und Landschaften für das Leben von Mensch und Tier unbemerkt ganz wichtig werden können. Eine spekulative Betrachtung des Gesamtsystems Erde, wie sie Hegel fordert, wird dies angemessen zu berücksichtigen haben – obwohl wir wissen, wie schwierig das ist. § 292 Die Bestimmtheit, welche die Schwere erleidet, ist a) abstrakt einfache Bestimmtheit und damit als ein bloß quantitatives Verhältnis an ihr, – spezifische Schwere; b) spezifische Weise der Beziehung materieller Teile, – Kohäsion. c) Diese Beziehung der materiellen Teile für sich, als existierende Idealität, und zwar α) als das nur ideelle Aufheben – der Klang; β) als reelles Aufheben der Kohäsion – die Wärme. (292) Die Schwere leidet natürlich an gar nichts und ihr geschieht auch gar nichts. Hegel sagt hier nur in seiner bildhaften Sprache, dass auch im Blick auf die Teile einzelner Körper ihr jeweiliges spezifisches Gewicht zu beachten ist, ferner die konkrete und nachhaltige Beziehung der Teile zueinander, ihre Kohäsion. – Es folgen Klang und Wärme, also die physikalische Akustik der Schallwellen und die Wärmelehre. Hegel spricht von einer existierenden Idealität insofern, als es sich 243
272 Zweite Abteilung: Physik 292 zunächst um empfundene Beziehungen zu uns als Subjekten handelt, so aber, dass die Physik des Schalls und der Wärme am Ende so objektiv, d. h. subjektinvariant oder perspektiventranszendent, wird wie alle wahre Physik. Dabei ist angesichts der Phänomene zunehmender Di=usion die Charakterisierung der Wärme als »reelles Aufheben der Kohäsion« durchaus korrekt – zumal als Verallgemeinerung der Zusammenhänge der Wärmegrade mit Schmelz- und Siedepunkten der materiellen Sto=e. Weit weniger verständlich ist zunächst, welche Art von ideeller Aufhebung die akustische Erzeugung von Schallwellen durch Luftschwingungen sein soll. Gemeint ist wohl, dass sich in der Objektivität von Schwingungen und Schallwellen das bloß erst subjektive Hören von Klängen aufhebt. Wärme wird erst später, durch Ludwig Boltzmann, ebenfalls über Schwingungen, genauer: den Bewegungszustand subatomarer Teilchen, erklärt. a. Die spezifische Schwere 243 § 293 Die einfache, abstrakte Spezifikation ist die spezifische Schwere oder Dichtigkeit der Materie, ein Verhältnis des Gewichts der Masse zu dem Volumen, wodurch das Materielle als selbstisch sich von dem abstrakten Verhältnisse zum Zentralkörper, der allgemeinen Schwere, losreißt, aufhört, die gleichförmige Erfüllung des Raums zu sein, und dem abstrakten Außereinander ein spezifisches Insichsein entgegensetzt. (292) Dichte ist Verhältnis von Masse zu Volumen eines Körpers. Mit der Dichteverteilung sprechen wir auch schon über das spezifische Innere des Körpers. Hegels blumige Kommentarsprache ist obskur, nicht nur, weil das Materielle selbst gar nichts tut. Gemeint ist hier wohl nur, dass die Unterschiede der materiellen Sto=e, z. B. des Goldes oder des Wassers in ihrem Selbst, also ihrer Identität als sto=liche Materie (d. h. nicht als individuelle Körper wie Tische oder Häuser) diese längst schon ›losreißen‹ von dem, was Hegel als das abstrakte Verhältnis der Körper als bloßen Massepunkten zum Zentralkörper anspricht. Anders gesagt, die Chemie der Sto=e überschreitet die Darstellungs-
293 Physik der besondern Individualität 273 formen der Mechanik bei Weitem. Hegel kritisiert im Folgenden alle die ›Theorien‹ seiner Zeit, welche diese Tatsache nicht anerkennen oder durch Zusatztheorien wegerklären wollen. Die verschiedene Dichtigkeit der Materie wird durch die Annahme von Poren erklärt, – die Verdichtung durch die Erdichtung von leeren Zwischenräumen, von denen als von einem Vorhandenen gesprochen wird, das die Physik aber nicht aufzeigt, ungeachtet sie vorgibt, sich auf Erfahrung und Beobachtung zu stützen. – (292 f.) Die verschiedenen Dichten von Materialien sind wesentlich auch durch die Sto=art bestimmt, nicht nur durch Poren. Die Hohlräume im Holz oder in porösen Steinen suggerieren zwar, dass die kleinere Dichte sich ganz und gar durch Poren erklären ließe, was aber nicht zur Dichte von Flüssigkeiten passt. Erst nach der Entdeckung der atomaren Struktur der Moleküle erhält die Porentheorie der Dichte eine zunächst nicht erwartbare, aber auch ganz neu zu verstehende ›Bestätigung‹. Hegels Kritik bleibt daher berechtigt. Sie richtet sich gegen die Vorstellung, es gäbe eine einzige Art von Materie und alle Verschiedenheit stamme aus der räumlichen Verteilung. Ein Beispiel von existierendem Spezifizieren der Schwere ist die Erscheinung, daß ein auf seinem Unterstützungspunkte gleichgewichtig schwebender Eisenstab, wie er magnetisiert wird, sein Gleichgewicht verliert und sich an dem einen Pole jetzt schwerer zeigt als an dem andern. Hier wird der eine Teil so infiziert, daß er, ohne sein Volumen zu verändern, schwerer wird; die Materie, deren Masse nicht vermehrt worden, ist somit spezifisch schwerer geworden. – (293) Das physikalisch höchst fragwürdige Beispiel interessiert nicht weiter. Die Sätze, welche die Physik bei ihrer Art, die Dichtigkeit vorzustellen, voraussetzt, sind: 1) daß eine gleiche Anzahl gleichgroßer materieller Teile gleich schwer ist; wobei 2) das Maß der Anzahl der Teile das Quantum des Gewichts ist, aber 3) auch der Raum, so daß, was von gleichem Gewichtsquantum ist, auch gleichen Raum einnimmt; wenn daher 4) gleiche Gewichte doch in einem verschiedenen Volumen erscheinen, so wird durch Annahme der Poren die Gleichheit des Raums, der materiell erfüllt sei, erhalten. Die Erdichtung der Poren im vierten Satze wird notwendig durch die drei 243 k 243 f . k 244 k
274 244 k 244 k Zweite Abteilung: Physik 293 ersten Sätze, die nicht auf Erfahrung beruhen, sondern nur auf den Satz der Verstandesidentität gegründet, daher formelle, apriorische Erdichtungen sind, wie die Poren. – (293) Die Grundsätze der Dichte als physikalischer Größe sind zunächst ganz und gar plausibel: Das Gewicht einer Menge von Körpern addiert sich 1), gleich große materielle Teile gleicher Dichte sind gleich schwer 2) und gleich schwere Teile gleicher Dichte nehmen den gleichen Raum ein 3). Daraus schließt man nun so: Wenn zwei Körper das gleiche Gewicht, aber verschiedenes Volumen haben, muss es beim größeren Körper Poren, also Materie-Löcher im Innern geben. Der Schluss unterschlägt die implizite Prämisse, dass es sich um Körper gleicher Dichte handelt, und operiert mit der unausgesprochenen Prämisse, dass verschiedene Dichten sich nur über Poren erklären ließen, dass also im Prinzip alle Sto=e gleiche Dichte haben – oder es sogar im Grunde nur eine Sto=art gebe. Die »Erdichtung der Poren im vierten Satze« wird notwendig, wenn man die verschiedenen Dichten von Sto=en nicht als Phänomen sui generis versteht. Man sollte Hegel gerade so lesen, dass er eben das einklagt, also z. B. die Dichte von Eisen und Aluminium oder auch Graphit und Diamant von der Dichte einer Schaummatratze zu unterscheiden verlangt. Dass die drei ersten Sätze »nicht auf Erfahrung beruhen, sondern nur auf den Satz der Verstandesidentität gegründet« seien, bedeutet: 1) stützt sich zwar auf gewisse Erfahrungen im Umgang mit Körpern, aber nur, wenn diese von gleichem Sto= sind. 2) und 3) gelten dagegen aus rein aus definitorischen Gründen. Kant hat bereits der Quantitätsbestimmung der Anzahl die Intensität gegenübergestellt, und an die Stelle von mehr Teilen in gleichem Volumen die gleiche Anzahl, aber von einem stärkern Grade der Raumerfüllung gesetzt und dadurch einer sogenannten dynamischen Physik den Ursprung gegeben. – (293) Die Dichte ist eine intensive Größe. Hegel verweist auf Kant, der solche Größen explizit anerkennt und von verschiedenen Graden der Raumerfüllung als einem eigenständigen Phänomen spricht. Wenigstens hätte die Bestimmung des intensiven Quantums so viel Recht als die des extensiven, auf welche letztere Kategorie sich jene gewöhnliche Vorstellung der Dichtigkeit beschränkt. (293)
294 Physik der besondern Individualität 275 In einer jetzt schon defensiveren Abschwächung der Kritik betont Hegel, dass wenigstens zunächst das intensive Quantum der verschiedenen Dichten anzuerkennen sei, bevor man sie durch Poren erklärt, um das Postulat durchzusetzen, dass ›eigentlich‹ alle Materie die gleiche Dichte hat. Denn dann wären die Unterschiede der Dichte in der Tat nur durch Poren zu erklären. Die intensive Größebestimmung hat aber hier dies voraus, daß sie auf das Maß hinweist und zunächst ein Insichsein andeutet, das in seiner Begri=sbestimmung immanente Formbestimmtheit ist, die erst in der Vergleichung als Quantum überhaupt erscheint. Dessen Unterschiede als extensives oder intensives aber – und weiter geht die dynamische Physik nicht – drücken keine Realität aus. (§ 103 Anm.) (293) Die Größenbestimmung der Dichte definiert auf phänomenologisch klare Weise ein Maß. Dabei hat es keinen Sinn zu fragen, ob es sich um eine extensive oder eine intensive Größe handelt. Alle messbaren Größen sind als solche extensional, auch wenn sie ›Inneres‹ messen. § 294 Die Dichtigkeit ist nur erst einfache Bestimmtheit der schweren Materie; aber indem die Materie das wesentliche Außereinander bleibt, so ist die Formbestimmung weiter eine spezifische Weise der räumlichen Beziehung ihres Vielfachen aufeinander, – Kohäsion. (294) Die Dichte ist »nur erst einfache Bestimmtheit« von Körpern und Körperteilen, weil sie als einfaches Verhältnis von Gewicht zu Volumen definiert ist. Die Kohäsion der Körper betri=t dagegen ihre Gestaltkonstanz. Diese ist nicht mehr so einfach zu messen, geschweige denn zu erklären, so wenig wie der Begri= der Härte. Mark Wilson zeigt das in dem schönen Buch Wandering Significance. An Essay on Conceptual Behavior – ohne zu wissen, dass seine gesamten phänomenologischen Untersuchungen den materialbegri=lichen Überlegungen Hegels weit näherstehen als den abstrakten Thesen seines Leitphilosophen W. V. O. Quine. Härtegrade definieren z. B. grobe praktische Ordnungen, etwa in der Reihe: Graphit – Marmor – Granit – Diamant. Starrheit und Härte eines formbaren oder geform- 244 k 244
276 Zweite Abteilung: Physik 294 ten Körpers messen wir am Widerstand, den er im mechanischen Druck- und Stoßverhalten gegen andere solche Körper zeigt. b. Kohäsion 245 245 § 295 In der Kohäsion setzt die immanente Form eine andere Weise des räumlichen Nebeneinanderseins der materiellen Teile, als durch die Richtung der Schwere bestimmt ist. Diese somit spezifische Weise des Zusammenhalts des Materiellen ist erst am Verschiedenen überhaupt gesetzt, noch nicht zu in sich beschlossener Totalität (Gestalt) zurückgegangen; sie kommt somit nur gegen gleichfalls verschiedene, und kohärent verschiedene, Massen zur Erscheinung und zeigt sich daher als eine eigentümliche Weise des Widerstands im mechanischen Verhalten gegen andere Massen. (294) Die Kohäsion von Körpern ist durch lokal viel stärkere Kräfte bedingt als die Gravitation. Vor dem 20. Jahrhundert gibt es für sie, wie für die Härte, eigentlich noch gar keine befriedigende physikalische Erklärung. Man blieb zunächst auf ein allgemeines phänomenologisches Erfahrungswissen angewiesen. Zu diesem gehört auch das Wissen um die Kristallisation zu einem starren Körper und dessen Auflösung in Flüssigkeiten oder dann auch beim Verdampfen bei hinreichender Hitze. § 296 Diese Formeinheit des mannigfaltigen Außereinander ist an ihr selbst mannigfaltig. α) Ihre erste Bestimmtheit ist der ganz unbestimmte Zusammenhalt, insofern Kohäsion des in sich Kohäsionslosen, daher die Adhäsion mit Anderem. β) Die Kohärenz der Materie mit sich selbst ist zunächst die bloß quantitative, – die gemeine Kohäsion, die Stärke des Zusammenhalts gegen Gewicht, – ferner aber die qualitative, die Eigentümlichkeit des Nachgebens und ebendamit des sich selbständig in seiner Form Zeigens gegen Druck und Stoß äußerer Gewalt. (294) Adhäsion ist die Art, wie Flüssigkeiten dazu tendieren, in einem Zusammenhang zu bleiben, etwa als Tropfen. Von Kohärenz ist dabei heute nicht mehr die Rede. Zur »Eigentümlichkeit des Nachgebens«
295 Physik der besondern Individualität 277 bzw. des Formerhalts oder der Formzerstörung gehören Starrheit, auch Sprödigkeit und Elastizität. Nach der bestimmten Weise der Raumformen produziert die innerlich mechanisierende Geometrie die Eigentümlichkeit, eine bestimmte Dimension im Zusammenhalte zu behaupten, die Punktualität, – Sprödigkeit, die Linearität, – Rigidität überhaupt und näher Zähigkeit, die Flächenhaftigkeit, – Dehnbarkeit, Hämmerbarkeit. (294 f.) Ausdrücke wie Punktualität, Linearität haben sich überlebt, auch Rigidität und Zähigkeit. Es geht um die (Ver-)Formbarkeit der Körper und ihrer Oberflächen, wie z. B. von Ton, Glas oder Eisen, ihre Dehnbarkeit oder Schmiedbarkeit. § 297 γ) Das Körperliche, gegen dessen Gewalt ein Körperliches im Nachgeben zugleich seine Eigentümlichkeit behauptet, ist ein anderes Körperindividuum. Aber als kohärent ist der Körper auch an ihm selbst außereinanderseiende Materialität, deren Teile, indem das Ganze Gewalt leidet, gegeneinander Gewalt ausüben und nachgeben, aber als ebenso selbständig die erlittene Negation aufheben und sich herstellen. Das Nachgeben und darin die eigentümliche Selbsterhaltung nach außen ist daher unmittelbar verknüpft mit diesem innern Nachgeben und Selbsterhalten gegen sich selbst, – die Elastizität. (295) Geformte Körper sind für die Zeit, in der sie die Form erhalten, Körperindividuen. Ihre Teilung ändert sie als Körper. Hegels abstraktmetaphorische Rede von einer erlittenen Negation verweist auf mögliche Formveränderungen durch äußere Einflüsse und damit auf die logische Semantik der Gleichheit und Verschiedenheit formveränderter Körper. Eine Statue, der eine Nase abgeschlagen wird, ist z. B. dieselbe und doch nicht dieselbe Statue. Das gilt für alle verformten Körper, noch vor der weit radikaleren Abstraktion zur bloßen Sto;dentität. Elastisch sind verformbare Körper, die bei Beendigung äußeren Drucks ihre ›alte‹ Gestalt ›von selbst‹ wieder annehmen. Wieder ist der wichtige Punkt ein gleichheits- und abstraktionslogischer. Hegel interessiert sich nicht in erster Linie für physikalische 245 245 f .
278 Zweite Abteilung: Physik 295 Sach- und Detailfragen. Diese überlässt er, wie es sich gehört, den Fach- und Sachphysikern. 246 § 298 Es kommt hier die Idealität zur Existenz, welche die materiellen Teile als Materie nur suchen, der für sich seiende Einheitspunkt, in welchem sie, als wirklich attrahiert, nur negierte wären. (295) Auch im Gebrauch der Wörter »ideell« für »formenbezogen«, »Idealität« für »Formenabhängigkeit« und »Idealismus« für »Formenbewusstsein« etwa im Unterschied zu »Materialismus« im Sinne eines einseitigen Fokus auf die Materie oder den Körper qua Körper ist Hegels Sprache nicht mehr die unsrige. Klar ist nur, dass man sie ohne Übersetzung nicht (mehr) versteht. In den sich in ihrer Form erhaltenden Körpern kommt nun in einem trivialen Sinn »die Idealität zur Existenz«. Es zeigt sich, heißt das, die Formenabhängigkeit der jeweils relevanten Körperidentität. Bei Hegel bedeutet ja »existieren« und »Existenz« nach der eigenen Erläuterung in der Wesenslogik gerade, dass sich eine Artform oder ein Wesen als ›Grund‹ von realen Erscheinungen zeigt. In der Philosophie geht es um das von uns nachzuvollziehende Bewusstsein der Verfassung der wesensbestimmenden Begri=e oder Grundformen in unserem Denken und Reden über die Welt. Mit einem subjektiven oder gar solipsistischen Idealismus, dem zufolge die Welt bloß meine Welt und diese die Welt meiner Vorstellungen sein soll, hat das überhaupt nichts zu tun. Nicht nur im Fall von Elastizität, sondern bei jeder ›Selbstformung‹ von Sto=en wie z. B. bei der Kristallisation von Salz oder bei der Abkühlung von Magma ›suchen‹ sozusagen »die materiellen Teile« die Form, freilich noch ohne enaktive Sensitivität wie in der Flora und enaktive Perzeption wie in der Fauna der höheren Lebewesen. Man kann, wenn man will, von einer für sich seienden, also nicht durch uns gesetzten Einheit des entstehenden Körpers sprechen. Im Fall der Massenpunktmechanik aber sind wir es, die den ganzen Körpern mit einem ›Einheitspunkt‹ identifizieren. Gäbe es nämlich wirklich einen festen Zentralpunkt für die starke Attraktion bei der Körperbildung, käme es zu keiner Formbildung. (Kleinere Festkörper wie Steine bilden sich übrigens durch Auseinanderbrechen von Gestein, das sich als solches unter Druck bildet.)
295 f. Physik der besondern Individualität 279 Dieser Einheitspunkt, insofern sie nur schwer sind, ist zunächst außer ihnen und so nur erst an sich; in der aufgezeigten Negation, welche sie erleiden, ist diese Idealität nun gesetzt. (295) Es ist nicht ganz klar, was hier gesagt wird. Eine Lesart ist diese: Soweit Körper und Sto=e nur erst als schwere Massen betrachtet werden, liegt das einheitsbildende Zentrum »außer ihnen« – sozusagen im Mittelpunkt von Erde, Mond, Planet oder Gestirn. Nach einer anderen Lesart sind wir es, welche in den Modellierungen der klassischen Mechanik die Körper mit Massenpunkten identifizieren. Aber sie ist noch bedingt, die nur eine Seite des Verhältnisses, dessen andere Seite das Bestehen der außereinanderseienden Teile ist, so daß die Negation derselben in ihr Wiederherstellen übergeht. Die Elastizität ist daher nur Veränderung der spezifischen Schwere, die sich wiederherstellt. (295) Die Formbildungen sind natürlich durch allerlei Umstände bedingt. Elastizität wie z. B. die eines Gummiballs besteht, wie gesagt, darin, dass durch Krafteinwirkung von außen verformte elastische Körper bei Aufhebung dieser Kraft von selbst wieder die vorherige Form annehmen. Hegels Formulierung umgeht m. E. unnötigerweise die Rede über Körperformen. Er ersetzt sie dadurch, dass er von der inneren Verteilung der spezifischen Dichte spricht, die sich wiederherstelle. Wenn hier und sonst von materiellen Teilen die Rede ist, so sind nicht Atome, noch Molecules, d. h. nicht abgesondert für sich bestehende zu verstehen, sondern nur quantitativ oder zufällig unterschiedene, so daß ihre Kontinuität wesentlich von ihrer Unterschiedenheit nicht zu trennen ist; die Elastizität ist die Existenz der Dialektik dieser Momente selbst. Der Ort des Materiellen ist sein gleichgültiges bestimmtes Bestehen, die Idealität dieses Bestehens ist somit die als reelle Einheit gesetzte Kontinuität, d. i. daß zwei vorher außereinander bestehende materielle Teile, die also als in verschiedenen Orten befindlich vorzustellen sind, jetzt in Einem und demselben Orte sich befinden. Es ist dies der Widerspruch, und er existiert hier materiell. (295 f.) Atome und Moleküle sind ganz andersgeartete Teile eines Körpers als etwa ein Tischbein als Teil des Tisches. Der zunächst schwierige Satz, die Elastizität sei »die Existenz der Dialektik« von Kontinuität und Unterschiedenheit besagt inhaltlich nur, dass, wenn eine von 246 246 246 k
280 246 k 246 k Zweite Abteilung: Physik 296 außen aufgebaute Spannung aufgehoben wird, ein elastischer Körper sozusagen von selbst wieder seine alte Form sucht: Wir sehen hier sozusagen metaphorisch eine Spannung zwischen dem Materiellen, das sich durch Druck von außen bewegen lässt, und der Idealität des Formerhalts durch innere Kohäsionskräfte. Hegel liebt dabei das eigentlich nur harmlose, gar nicht tiefe, aber den Leser verwirrende Spiel der Rede über einen real existierenden Widerspruch wohl allzu sehr. Es geht dabei sicher nur um Folgendes: Wenn mein Daumen einen Gummiball eindrückt, so befindet er sich an einem Ort, den eigentlich Teile des elastischen Balls einnehmen. Es ist derselbe Widerspruch, welcher der Zenonischen Dialektik der Bewegung zum Grunde liegt, nur daß er bei der Bewegung abstrakte Orte betri=t, hier aber materielle Orte, materielle Teile. (296) Der Zusammenhang der Elastizität etwa eines Gummibandes mit der »Zenonischen Dialektik der Bewegung« ist nicht unmittelbar einsichtig. Zenons Paradoxien der Bewegung stehen aber ohnehin im Kontext der Einsichten seines Lehrers Parmenides von Elea. Dieser unterscheidet zwischen zeitallgemeinen Normalformen der Episteme und den je aktualen Erscheinungen der Doxa. Die Episteme lehrt, was im Normalfall passiert. Die Doxa berichtet oder beschreibt, was im Einzelfall geschieht. Wenn man die Episteme als das Wissen dessen ansieht, was es nachhaltig und wirklich gibt, gehören Zeit und Bewegung zur Doxa, nicht zur ewigen Wahrheit oder Wirklichkeit. Im Fall der Darstellung der Elastizität geht es um die Di=erenz zwischen den Orten materieller Teile in der ›natürlichen‹ Form im Unterschied zu den Orten, an die sie durch äußeren Druck oder Zug verschoben sind – so dass sich die Teile (jetzt auch qua Atome und Moleküle) nach Aufhebung des äußeren Einflusses auf typische Weise wieder an ›ihre‹ Orte bewegen. In der Bewegung setzt sich der Raum zeitlich und die Zeit räumlich (§ 260); die Bewegung fällt in die Zenonische Antinomie, die unauflöslich ist, wenn die Orte als Raumpunkte und die Zeitmomente als Zeitpunkte isoliert werden, und die Auflösung der Antinomie, d. i. die Bewegung, ist nur so zu fassen, daß Raum und Zeit in sich kontinuierlich sind und der sich bewegende Körper in demselben Orte zugleich ist und nicht, d. i. zugleich in einem andern ist, und
296 Physik der besondern Individualität 281 ebenso derselbe Zeitpunkt zugleich ist und nicht, d. i. ein anderer zugleich ist. (296) Die Passage ist sachlich tief. Zeit ist, wie Aristoteles definiert, Maßzahl der Bewegung, arithmos kinēseōs, geordnet nach dem Früher und Später (proteron und hysteron). Wir brauchen es aber etwas genauer: 1. Alles Empirische bewegt sich immer, weil Bewegung relativ ist und sich immer etwas bewegt. 2. Zeit ist das abstrakt Gemessene einer Zeitmessung, die zunächst mit einer Ordnung von längeren, kürzeren oder gleich langen Bewegungen bzw. Prozessen mit Anfang und Ende beginnt. 3. In aktualer Empirie ist dazu eine grobe, aber je hinreichend genaue Ordnung eines Vorher, Jetzt und Nachher voraussetzt. 4. Gleiche Dauern von rekurrenten Prozessen definieren gleiche Zeiten. Es bedarf kanonischer Vergleichsbewegungen, um gleiche Dauern nicht nur in der Gegenwart zu definieren. 5. Schon für Platon und Aristoteles liefern die Planetenbewegungen und damit auch die der Erde relativ zur Sonne eine solche ›natürliche‹ Standardbewegung sozusagen frei Haus. (Hegel erkennt, wie erläutert, vor dem Hintergrund der Leistungen Keplers, dass man die Flächen der Sektoren der elliptischen Bewegungen der Planeten als natürliches Maß der Zeit begreifen kann und muss.) 6. In diesem Sinn ist der scheinbar absurde Aphorismus zu verstehen, in der Bewegung (der Planeten) setze »sich der Raum zeitlich und die Zeit räumlich«. 7. Zenons Antinomie wäre unauflöslich, wenn man ausgedehnte Orte oder Stellen in der Welt als Mengen idealgeometrischer Raumpunkte auffassen würde und von Zeitpunkten redete, als gäbe es momentan ein rein relationales System der Raumpunkte. 8. Eine endgültige Auflösung der Antinomie ist dadurch möglich, dass man mit Zenon und Hegel die reale Raumzeit der sich bewegenden Körper von den mathematischen Modellen (schon der Pythagoreer) unterscheidet. 9. Dann aber müssen wir sogar noch die mathematische Raumzeit als Form an sich ›in sich kontinuierlich‹ rekonstruieren, was vor Georg Cantors spekulativer Mengenlehre und seiner (bzw. Richard
282 246 f . k 247 k Zweite Abteilung: Physik 296 Dedekinds) Definition ›aller‹ reellen Zahlen Ò noch gar nicht möglich gewesen war.32 So ist in der Elastizität der materielle Teil, Atom, Molecule zugleich als a;rmativ seinen Raum einnehmend, bestehend gesetzt, und ebenso zugleich nicht bestehend, – als Quantum in Einem als extensive Größe und als nur intensive Größe. – Gegen das Ineinssetzen der materiellen Teile in der Elastizität wird für die sogenannte Erklärung gleichfalls die oft erwähnte Erdichtung der Poren zu Hülfe genommen. Wenn zwar sonst in abstracto zugegeben wird, daß die Materie vergänglich, nicht absolut sei, so wird sich doch in der Anwendung dagegen gesträubt, wenn sie in der Tat als negativ gefaßt, wenn die Negation an ihr gesetzt werden soll. (296) Beim Ziehen eines elastischen Bandes scheinen sich Poren zu vergrößern, beim Druck auf einen elastischen Gummiball zu verkleinern – so aber, dass die Moleküle weiterhin dispositionell danach streben, nachher wieder den gleichen Raum wie vorher einzunehmen. D. h., es scheint so, als wäre die alte Form noch als »bestehend gesetzt, und ebenso zugleich nicht bestehend«. Man sagt vielleicht, dass es sie als immanente Kraft als dispositionelles Streben zwar gibt, aber die Aktualisierung eine Aufhebung des äußeren Drucks oder Zugs voraussetzt. Die Poren sind wohl das Negative – denn es hilft nichts, es muß zu dieser Bestimmung fortgegangen werden, – aber sind das Negative nur neben der Materie, das Negative nicht der Materie selbst, sondern da, wo sie nicht ist; so daß in der Tat die Materie nur als a;rmativ, als absolut-selbständig, ewig, angenommen wird. (296 f.) Es ist nicht einfach, zwischen bloß erdichteten und wirklichen Poren oder Hohlräumen in den Körpern wie in einem mit Luft aufgepumpten Ball oder Reifen zu unterscheiden bzw. zwischen geometrischen Modellen verdichteter Packung von atomaren Teilchen und der empirischen Realität. Hegel seufzt daher sozusagen auf: »es hilft nichts, es muß zu dieser Bestimmung fortgegangen werden«. Dennoch ist im sogenannten Vakuum nicht einfach ›gar nichts‹. Und Materie ist nicht absolut-selbständig, ewig, auch wenn sie im Normalfall nicht einfach 32 Ein bewegter Körper ist ›jetzt‹ immer schon an verschiedenen Stellen zugleich. Schon Zenon, Platon und Aristoteles kennen ganz o=enbar den Unterschied zwischen mathematischen Punkten und realen Stellen.
297 Physik der besondern Individualität 283 verschwindet, trotz des physikalischen Grundphänomens der Di=usion. Man meint dennoch, mit einer festen Anzahl von materiellen Teilchen in einem Gesamtraum rechnen zu können. Leider passt das Bild weder zum Prinzip der Endlichkeit von aller körperlichen Materie noch zur modernen Atomphysik, welche die Vorstellung von festen (sub-)atomaren Teilchen längst aufgegeben hat. Nur physikalische und philosophische Laien operieren noch mit Atomen nach Art des Leukipp oder Demokrit. Das alles heißt, dass es Widersprüche im schematisch schließenden Gebrauch des atomaren Bildes von Materie gibt, so dass zum bloßen Verstand des regelfolgenden Rechnens im Modell die dialektische Vernunft erfahrener Anwendung auf die reale Welt immer noch hinzukommen muss. Das zu bezweifeln hat keinen Sinn. Eben das sagt Hegel im nächsten Satz: Dieser Irrtum wird durch den allgemeinen Irrtum des Verstandes, daß das Metaphysische nur ein Gedankending neben, d. i. außer der Wirklichkeit sei, eingeführt; so wird neben dem Glauben an die Nicht-Absolutheit der Materie auch an die Absolutheit derselben geglaubt; jener findet außer der Wissenschaft statt, wenn er stattfindet; dieser aber gilt wesentlich in der Wissenschaft. (297) Der spekulative Irrtum materialistischer Metaphysik zeigt sich darin, dass die Leute einerseits glauben, alles sei ewige Materie in einem ansonsten leeren Raum, andererseits, dass die Materie von sich aus Formen bilde, wenigstens eine Zeit lang, so dass doch nicht ›alles‹ Materie ist, da es ja auch stabile dispositionelle Gesetze und damit Formenbildungen gibt. Am ersten Horn des Widerspruchs hält sich eine außerwissenschaftliche Weltanschauung als sonntägliche Ideologie fest, am zweiten die Naturwissenschaft am Werktag, aber ohne die Spannung zu den eigenen Fest- und Sonntagsreden zu bemerken, da reine Materie per definitionem keine Gesetze und Formen ›kennen‹ bzw. befolgen kann, schon gar keine solchen, welche, wie schon die Kohäsion der Körper, um vom Magnetismus und der Elektrizität gar nicht zu reden, ganz o=enbar weit über die Gravitationse=ekte der Massen hinausgehen. 247 k
284 247 247 Zweite Abteilung: Physik 297 § 299 Die Idealität, die hierin gesetzt ist, ist eine Veränderung, die ein doppeltes Negieren ist. (297) Es wird ganz o=enbar mit den sogenannten Kräften der Kohäsion und Elastizität eine Idealität, also Formenkonstanz, gesetzt. Sie zeigt sich in typischen Veränderungen. Der Sinn der Rede von einem doppelten Negieren wird am Beispiel des verformten Balles anschaulich, der seine Form wiederfindet. Das Negieren des (außereinander) Bestehens der materiellen Teile wird ebenso negiert als das Wiederherstellen ihres Außereinanderseins und ihrer Kohäsion; sie ist Eine Idealität als Wechsel der einander aufhebenden Bestimmungen, das innere Erzittern des Körpers in ihm selbst, – der Klang. (297) Der Übergangssatz zu Klang und Akustik als weiteren Bereich der Physik hat wieder die hegeltypische Form, die man ihm hätte verbieten müssen. Richtig ist, dass diese Phänomene über die Seins- und Erklärungsformen der Mechanik der Massen weit hinausgehen. Klänge entstehen durch ein ›inneres Erzittern des Körpers in ihm selbst‹ – und breiten sich durch ein Medium wie die Luft wellenförmig aus. c. Der Klang 247 f . § 300 Die spezifische Einfachheit der Bestimmtheit, welche der Körper in der Dichtigkeit und dem Prinzip seiner Kohäsion hat, diese zuerst innerliche Form, hindurchgegangen durch ihr Versenktsein in das materielle Außereinander, wird frei in der Negation des für sich Bestehens dieses seines Außereinanderseins. Es ist dies das Übergehen der materiellen Räumlichkeit in materielle Zeitlichkeit. Damit daß diese Form so im Erzittern, d. i. durch die momentane ebenso Negation der Teile wie Negation dieser ihrer Negation, die aneinander gebunden eine durch die andere erweckt wird, und so, als ein Oszillieren des Bestehens und der Negation der spezifischen Schwere und Kohäsion, am Materiellen als dessen Idealität ist, ist die einfache Form für sich existierend und kommt als diese mechanische Seelenhaftigkeit zur Erscheinung. (297 f.) Klang ist ein »Übergehen der materiellen Räumlichkeit in materi-
298 Physik der besondern Individualität 285 elle Zeitlichkeit«. Die Formulierung ist zwar gnomisch, aber genial. Denn es geht um den Zusammenhang von Formen des Erzitterns etwa einer elastischen Saite und den Wirkungen des erzeugten Schalls etwa im Hören von Tönen und Tonfolgen. Hegels obskur-abstrakte Formel von einer »Negation dieser ihrer Negation« bezieht sich darauf, dass ein Körper durch Druck oder Zug aus der Ruhelage bewegt wird, in seinem Streben, diese wieder einzunehmen, oszilliert und dadurch Schwingungen der Luft und Schallwellen verursacht. Mit Blasinstrumenten erzeugen wir die Schwingungen sozusagen direkt. – Wieder besteht die Idealität des Materiellen in einem Formenerhalt bzw. einer Formenkonstanz und deren Transformation, wie in der Verwandlung von Schallwellen in gehörte Klänge oder Töne und von bestimmten Schwingungsverhältnissen in gehörte Harmonien. Es ist nur ein blumiger Ausdruck dafür, wenn Hegel sagt, es käme dabei eine »mechanische Seelenhaftigkeit zur Erscheinung«. Den Anfang des Textstücks können wir als abstrakten Auftakt in Hegels Manier einfach übergehen. Reinheit oder Unreinheit des eigentlichen Klanges, die Unterschiede desselben von bloßem Schall (durch einen Schlag auf einen soliden Körper), Geräusch usf. hängt damit zusammen, ob der durchdringend erzitternde Körper in sich homogen ist, aber dann ferner mit der spezifischen Kohäsion, mit seiner sonst räumlichen Dimensionsbestimmung, ob er eine materielle Linie, materielle Fläche und dabei eine begrenzte Linie und Fläche oder ein solider Körper ist. – Das kohäsionslose Wasser ist ohne Klang, und seine Bewegung als bloß äußerliche Reibung seiner schlechthin verschiebbaren Teile gibt nur ein Rauschen. Die bei seiner innern Sprödigkeit existierende Kontinuität des Glases klingt, noch mehr die unspröde Kontinuität des Metalls klingt durch und durch in sich, usf. (298) Schall setzt sich auch im Wasser fort. Man kann auch gewisse Klänge, nicht nur ein Rauschen, durch fallendes Wasser erzeugen. Der Satz, das kohäsionslose Wasser sei ohne Klang, ist daher mit einer Prise Salz zu lesen. Die Mitteilbarkeit des Klangs, dessen sozusagen klanglose, der Wiederholung und Rückkehr des Zitterns entbehrende Fortpflanzung durch alle in Sprödigkeit usf. noch so verschieden bestimmten Körper (durch feste Körper besser als durch die Luft – durch die Erde 248 k 248 k
286 248 k 248 f . Zweite Abteilung: Physik 298 auf viele Meilen weit, durch Metalle nach der Berechnung zehnmal schneller als durch Luft) – zeigt die durch sie frei hindurchziehende Idealität, welche ganz nur deren abstrakte Materialität ohne die spezifischen Bestimmungen ihrer Dichtigkeit, Kohäsion und weiterer Formierungen in Anspruch nimmt und ihre Teile in die Negation, ins Erzittern bringt; dieses Idealisieren selbst ist nur das Mitteilen. (298) Die Mitteilbarkeit des Klangs betri=t die Ausbreitung des Schalls und seine Geschwindigkeit. Hegel betont die Rolle der Idealität, also der Formen der Sachen und Dinge, die dabei eine Rolle spielen. Das Qualitative des Klanges überhaupt, wie des sich selbst artikulierenden Klanges, des Tones, hängt von der Dichtigkeit, Kohäsion und weiter spezifizierten Kohäsionsweise des klingenden Körpers ab, weil die Idealität oder Subjektivität, welche das Erzittern ist, als Negation jener spezifischen Qualitäten, sie zum Inhalte und zur Bestimmtheit hat; hiemit ist dies Erzittern und der Klang selbst danach spezifiziert und haben die Instrumente ihren eigentümlichen Klang und Timbre. (298) Die Idealität des Klangs als di=erentielle Formwahrnehmung gehört zur Subjektivität, bei uns Menschen wie bei den Tieren, freilich je mit anderen Ausprägungen. Die Instrumente haben »ihren eigentümlichen Klang und Timbre« nicht zufällig, sondern weil wir sie nicht zuletzt aufgrund von Analogien zu Singstimmen herstellen. Natürliche Klänge wie im Fall von Trommeln werden dann als Rhythmusinstrumente und damit sozusagen als technische Hilfen beim Tanz eingesetzt. § 301 An dem Erzittern ist das Schwingen, als äußere Ortsveränderung, nämlich des räumlichen Verhältnisses zu andern Körpern, zu unterscheiden, welches gewöhnliche eigentliche Bewegung ist. Aber obzwar unterschieden, ist es zugleich identisch mit der vorhin bestimmten innern Bewegung, welche die freiwerdende Subjektivität, die Erscheinung des Klanges als solchen ist. (299) Das innere Erzittern einer Saite als elastischer Körper ist zwar von seinem äußeren Schwingen als Ortsveränderung zu unterscheiden, aber beide sind sowohl kausal als auch über die Form der Rezeption
299 Physik der besondern Individualität 287 systematisch verbunden, was wir an den Fortsetzungen der Schwingungen im Medium Luft und dann in der Physiologie des Hörens systematisch untersuchen können. Die Existenz dieser Idealität hat um ihrer abstrakten Allgemeinheit willen nur quantitative Unterschiede. (299) Die Existenz der Idealität oder Formenkonstanz durch alle Transformationen hindurch ist nicht zu bezweifeln. Sie ist sogar durch rein quantitative Unterschiede eben der Schwingungen oder Schallwellen mit ihrer Amplitude etc. darstellbar. Im Reiche des Klanges und der Töne beruht daher ihr weiterer Unterschied gegeneinander, ihre Harmonie und Disharmonie auf Zahlenverhältnissen und deren einfacherem oder verwickelterem und entfernterem Zusammenstimmen. (299) Es ist nicht ganz zu verwundern, dass »Harmonie und Disharmonie auf Zahlenverhältnissen« beruhen. Und doch geht es um ganz andere Formen und Gesetze als in der unmittelbaren Mechanik von Druck und Stoß und der Gravitationsballistik der schweren Massen. Das Schwingen der Saiten, Luftsäulen, Stäbe usf. ist abwechselnder Übergang aus der geraden Linie in den Bogen, und zwar in entgegengesetzte [Bögen]; mit dieser so nur scheinenden äußern Ortsveränderung im Verhältnisse zu andern Körpern ist unmittelbar die innere, die abwechselnde Veränderung der spezifischen Schwere und der Kohäsion verbunden; die gegen den Mittelpunkt des Schwingungsbogens zu liegende Seite der materiellen Linie ist verkürzt, die äußere Seite aber verlängert worden, die spezifische Schwere und Kohäsion von jener also vermindert, von dieser vermehrt, und dies selbst gleichzeitig. (299) Inhaltlich liefert die Passage nichts Neues. In Ansehung der Macht der quantitativen Bestimmung in diesem ideellen Boden ist an die Erscheinungen zu erinnern, wie eine solche Bestimmung durch mechanische Unterbrechungen in eine schwingende Linie, Ebene gesetzt, sich selbst der Mitteilung, dem Schwingen der ganzen Linie, Ebene über den mechanischen Unterbrechungspunkt hinaus mitteilt und Schwingungsknoten darin bildet, was durch die Darstellungen Chladnis anschaulich gemacht wird. – Ebenso gehören hieher die Erweckungen von harmonischen Tönen in benachbarten Saiten, denen bestimmte Größen- 249 249 249 k 249 k
288 Zweite Abteilung: Physik 299 f. Verhältnisse zu der tönenden gegeben werden; am allermeisten die Erfahrungen, auf welche Tartini zuerst aufmerksam gemacht, von Tönen, die aus andern gleichzeitig ertönenden Klängen, welche in Ansehung der Schwingungen in bestimmten Zahlenverhältnissen gegeneinanderstehen, hervorgehen, von diesen verschieden sind und nur durch diese Verhältnisse produziert werden. (299 f.) Bemerkenswert ist hier nur noch der Hinweis auf die »Erweckungen von harmonischen Tönen in benachbarten Saiten«, da sie die objektive Kausalität der Schwingungs- und Schallwellenlehre bestätigt. 249 f . 250 k § 302 Der Klang ist der Wechsel des spezifischen Außereinanderseins der materiellen Teile und des Negiertseins desselben; – nur abstrakte oder sozusagen nur ideelle Idealität dieses Spezifischen. Aber dieser Wechsel ist hiemit selbst unmittelbar die Negation des materiellen spezifischen Bestehens; diese ist damit reale Idealität der spezifischen Schwere und Kohäsion, – Wärme. (300) Das neue Thema, die Wärme, wird wieder in einem zunächst als superkünstlich erscheinenden Übergang eingeführt. Allerdings hängt Wärme in der Tat ebenfalls mit dem Schwingungsverhalten der Materie zusammen, jetzt aber nicht von geformten materiellen Teilen wie einer Saite, sondern bloß der Körper qua Sto=massen – in »Negation des materiellen spezifischen Bestehens«. Hegels Ausdruck »reale Idealität der spezifischen Schwere« ist noch abstrakter. Er besagt, dass Wärme eine Zustandsform der Körper qua Körper bzw. Sto=e qua Sto=e ist, also auch von Wasser oder Luft, genauer: von Flüssigkeiten oder Gasen. Die Erhitzung der klingenden Körper wie der geschlagenen, auch der aneinander geriebenen, ist die Erscheinung von der dem Begri=e nach mit dem Klange entstehenden Wärme. (300) Einen ersten Zusammenhang von Klang und Wärme im Erzittern der Körper kann man an der »Erhitzung der klingenden Körper« wahrnehmen. Am Ende führt das bis zu Boltzmanns Wärmelehre und hängt sogar mit der physiologischen Erzeugung von Wärme durch ein halbautomatisches Zittern des Leibes zusammen.
301 Physik der besondern Individualität 289 d. Die Wärme § 303 Die Wärme ist das sich Wiederherstellen der Materie in ihre Formlosigkeit, ihre Flüssigkeit, der Triumph ihrer abstrakten Homogeneität über die spezifischen Bestimmtheiten; ihre abstrakte, nur ansichseiende Kontinuität als Negation der Negation ist hier als Aktivität gesetzt. Formell, d. i. in Beziehung auf Raumbestimmung überhaupt, erscheint die Wärme daher als ausdehnend, als aufhebend die Beschränkung, welche das Spezifizieren des gleichgültigen Einnehmens des Raums ist. (300 f.) Bei erster Lektüre erscheint das hier Gesagte als Unsinn. Hegel sagt aber nur, dass bei Erhitzung Körper und Flüssigkeiten gasförmig werden und dabei ihre Form verlieren. Auf das Pathos der Rede über den »Triumph« der homogenen Aggregatzustände über feste Körper brauchen wir nicht viel zu geben. Zu präzisieren ist aber: Wärme sorgt zwar für ein Ansteigen der Di=usion, aber Eis hat geringere Dichte als Wasser. § 304 Diese reale Negation der Eigentümlichkeit des Körpers ist daher sein Zustand, in seinem Dasein nicht sich selbst a;rmativ anzugehören; diese seine Existenz ist so vielmehr die Gemeinschaft mit Andern und die Mitteilung an sie, – äußere Wärme. (301) An der Tatsache, dass Körper auf Zufuhr von Wärmeenergie entsprechend reagieren, hebt Hegel hervor, dass sie ihre Form nicht unabhängig von äußeren Umständen erhalten können – so dass alle relativ bzw. relational festen Körperformen von entsprechenden äußeren Bedingungen abhängen. Die blumige Rede von Gemeinschaft und Mitteilung verweist nur auf die Übertragung der Wärme-Energie. Die Passivität des Körperlichen für dieselbe beruht auf der in der spezifischen Schwere und Kohäsion an sich vorhandenen Kontinuität des Materiellen, durch welche ursprüngliche Idealität die Modifikation der spezifischen Schwere und Kohäsion für jene Mitteilung, für das Setzen der Gemeinschaft, keine wirkliche Grenze sein kann. (301) 250 250 250
290 250 k 250 f . k Zweite Abteilung: Physik 301 Auf Wärme-Energie reagieren Körper ›passiv‹, wobei verschiedene Sto=e Wärme verschieden leiten oder verschieden schnell absorbieren, so aber, dass die ursprüngliche geometrische Form des Sto=es am Ende keine sehr große Rolle spielt. Schmelz und Siedepunkte, heißt das, sind unabhängig von den geometrischen Formen der Festkörper. Hegel erklärt nicht, warum das so ist, sondern kommentiert es nur auf abstrakte Weise. Inkohärentes, wie Wolle, und an sich Inkohärentes (d. i. Sprödes wie Glas) sind schlechtere Wärmeleiter als die Metalle, deren Eigentümlichkeit ist, gediegene, ununterbrochene Kontinuität in sich zu besitzen. Luft, Wasser sind schlechte Wärmeleiter um ihrer Kohäsionslosigkeit willen, überhaupt als noch unkörperliche Materien. – (301) Luft isoliert, daher auch Wolle. Metalle sind dagegen gute Wärmeleiter. Hegels ›Erklärung‹ durch Wörter wie »Inkohärentes« und »gediegene, ununterbrochene Kontinuität« führt nicht weiter. Die Mitteilbarkeit, nach welcher die Wärme von dem Körper, in dem sie zunächst vorhanden ist, trennbar und somit als ein gegen ihn Selbständiges, sowie als ein an ihn von außen Kommendes erscheint, ferner die damit zusammenhängenden weitern mechanischen Determinationen, welche in das Verbreiten gesetzt werden können (z. B. die Reperkussion durch Hohlspiegel), ingleichen die quantitativen Bestimmungen, die bei der Wärme vorkommen, – sind es vornehmlich, die zur Vorstellung der Wärme als eines selbständig Existierenden, einer Wärme-Materie geführt haben. Man wird aber wenigstens Anstand nehmen, die Wärme einen Körper oder auch nur ein Körperliches zu nennen; worin schon liegt, daß die Erscheinung von besonderem Dasein sogleich verschiedener Kategorien fähig ist. So ist auch die bei der Wärme erscheinende beschränkte Besonderheit und Unterscheidbarkeit von den Körpern, an denen sie ist, nicht hinreichend, die Kategorie von Materie, die wesentlich so Totalität in sich ist, daß sie wenigstens schwer ist, auf sie anzuwenden. (301 f.) Licht und Wärme sind in gewissem Sinn keine Materie. Die Ausbreitung von Wärme ist Di=usion energetisch bewegter Teilchen. Die Temperatur ist ein zunächst rein konventionell durch die Messmethoden definiertes Maß. Durch Hohlspiegel kann man Licht bzw. Strahlung bündeln.
302 Physik der besondern Individualität 291 Jene Erscheinung der Besonderheit liegt vornehmlich nur in der äußerlichen Weise, in welcher die Wärme in der Mitteilung gegen die vorhandenen Körper erscheint. – Die Rumfordischen Versuche über die Erhitzung der Körper durch Reibung beim Kanonenbohren z. B. hätten die Vorstellung von besonderer, selbständiger Existenz der Wärme längst ganz entfernen können; hier wird sie gegen alle Ausreden – rein in ihrer Entstehung, und ihre Natur als eine Zustandsweise aufgezeigt. (302) Reibung erzeugt Wärme. Im Körper existiert sie als Bewegungszustand der Moleküle. Selbständig existiert sie, wie gesagt, nicht als Wärmesto=, sondern als subatomare Bewegungsenergie, auch als Strahlung. Hegel spricht noch von einer Zustandsweise. Die abstrakte Vorstellung der Materie enthält für sich die Bestimmung der Kontinuität, welche die Möglichkeit der Mitteilung und als Aktivität die Wirklichkeit derselben ist, und Aktivität wird diese ansichseiende Kontinuität als die Negation gegen die Form, – die spezifische Schwere und Kohäsion, wie weiterhin gegen die Gestalt. (302) Hier geht es nur darum, dass die Phänomenologie der Wärme schon zeigt, warum die Physik nicht bloße Mechanik der Bewegung von Körpern ist. Die Thermodynamik ist jedenfalls zunächst ein besonderes Thema. Wenn am Ende in Boltzmanns Erklärung von Wärme dennoch wieder eine Art Rückführung auf Bewegungen geschieht, so doch auf eine Weise, die keineswegs mehr an Wärmesto=theorien anschließt. Auf ähnlich radikale Weise unterscheiden sich der alte und der neue Atomismus. Unsere »abstrakte Vorstellung der Materie« geht von Körpern aus, deren materielle Sto=e stabil zusammenhängen und außer im Fall ›inkohärenter‹ Sachen (Dingmengen, Massen) wie Sand oder Wolle sich nicht so einfach auseinanderreißen lassen – so dass die dafür nötige Kraft der inneren Kraft der Attraktion korreliert. Diese Kontinuität betrachtet Hegel nun auch als Teilmoment der Wärmeleitung. Die »Aktivität« der erhitzten Teile eines Körpers erweist sich »als die Negation gegen die Form« – die sich ja in der Verflüssigung des Körpers mit seiner Kohäsion auflöst. 251 k 251 k
292 251 251 f . k Zweite Abteilung: Physik 302 f. § 305 Die Mitteilung der Wärme an verschiedene Körper enthält für sich nur das abstrakte Kontinuieren dieser Determination durch unbestimmte Materialität hindurch, und insofern ist die Wärme nicht qualitativer Dimensionen in-sich, sondern nur des abstrakten Gegensatzes von Positivem und Negativem und des Quantums und Grades fähig wie eines abstrakten Gleichgewichts, als eine gleiche Temperatur der Körper zu sein, unter welche sich der Grad verteilt. Da aber die Wärme Veränderung der spezifischen Schwere und Kohäsion ist, ist sie zugleich an diese Bestimmungen gebunden, und die äußere, mitgeteilte Temperatur ist für die Bestimmtheit ihrer Existenz durch die besondere spezifische Schwere und Kohäsion des Körpers bedingt, dem sie mitgeteilt wird; – spezifische Wärme-Kapazität. (302 f.) Beim Erhitzen oder Gefrieren verändert sich die Dichte, sagt Hegel hier auf seine nicht kanonische und sprachlich auch etwas holprige Weise. Wärme ist auch in gewisser Weise unabhängig vom erwärmten Sto=. Das meint der Satz, dass sie keine ›qualitativen Dimensionen in sich‹ habe. – Die Rede vom abstrakten Gegensatz von Positivem und Negativem charakterisiert nur die Form der quantitativen Wärmegrade und die Tendenz der Di=usion, so dass am Ende in einem Raum alles gleich warm wird. Das ist sozusagen die phänomenologische Urform des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik, bei Hegel artikuliert unter dem Titel »eines abstrakten Gleichgewichts«. Die »spezifische WärmeKapazität« von Sto=en und Körpern betri=t die nötige Energie und die Zeit, die es braucht, sie aufzuheizen oder dann auch abzukühlen. Die spezifische Wärme-Kapazität, verbunden mit der Kategorie von Materie und Sto=, hat zur Vorstellung von latentem, unmerkbarem, gebundenem Wärmesto= geführt. Als ein nicht Wahrnehmbares hat solche Bestimmung nicht die Berechtigung der Beobachtung und Erfahrung, und als erschlossen beruht sie auf der Voraussetzung einer materiellen Selbständigkeit der Wärme (vergl. Anm. § 286). Diese Annahme dient auf ihre Weise, die Selbständigkeit der Wärme als einer Materie empirisch unwiderleglich zu machen, eben dadurch, daß die Annahme selbst nichts Empirisches ist. Wird das Verschwinden der Wärme oder ihr Erscheinen, wo sie vorher nicht vorhanden war, aufgezeigt, so wird jenes für ein bloßes Verbergen oder sich zur Unmerkbarkeit Binden, dieses für ein Hervortreten aus der bloßen
303 Physik der besondern Individualität 293 Unmerkbarkeit erklärt; die Metaphysik von Selbständigkeit wird jener Erfahrung entgegengesetzt, ja a priori der Erfahrung vorausgesetzt. (303) Die Überlegung dient weiterhin der Widerlegung der damals wohl noch gängigen Vorstellung von einem ›latenten, unmerkbaren, gebundenen Wärmesto= ‹. Hegel polemisiert also nur gegen ›metaphysische‹ Hypostasierungen einer angeblich grundsätzlich nicht wahrnehmbaren Materie der Wärme. Methodisch besteht er (wie jeder Empiriker und Phänomenologe) darauf, dass sich alle ›objektiven‹ Verschiedenheiten von ›objektiven‹ Sachen und Dingen in Unterscheidbarkeiten »der Beobachtung und Erfahrung« zeigen können müssen. Worauf es für die Bestimmung, die hier von der Wärme gegeben worden, ankommt, ist, daß empirisch bestätigt werde, daß die durch den Begri= für sich notwendige Bestimmung, nämlich der Veränderung der spezifischen Schwere und Kohäsion, in der Erscheinung sich als die Wärme zeige. (303) Hegels Wissenschaftstheorie verteidigt also das methodische Prinzip, dass sich alle objektiv gesetzten Sachen und Eigenschaften auf spezifische Weise in unterscheidbaren Erscheinungen zeigen und so empirisch bestätigen lassen müssen. Dabei zeigt schon das Verhältnis von Wesen und Erscheinung, wie Hegel es in der Wesenslogik analysiert, dass alle in einem objektbezogenen Wissen sinnvoll gesetzten Sachen und Dinge – z. B. die chemischen Sto=e – nicht unbedingt unmittelbar, wohl aber auf stabile oder ›substantielle‹ (nachhaltige, reproduzierbare) Weise mittelbar, etwa über ›kausale‹ (d. h. begri=lich gesetzte) Normalfolgen in Perzeptionen unterscheidbar sein müssen. Aufgrund der Erklärung von Erscheinungen durch wirkliche Sachen, die als Instanzen von Arttypen zu verstehen sind, gibt es nichts Bestimmtes ohne spezifische Normalfall-Wirkungen in der empirischen Realität. Alles, was als wirklich gesetzt wird, muss sich als auf vernünftige Weise gesetzt ausweisen. In diesem Sinn – und zunächst nur in diesem – ist alles Wirkliche vernünftig und sind alle vernünftigen Setzungen wirklich. Das gilt sowohl für die als ›wahr‹ erklärten gesetzes- und regelförmigen ›objektiven‹ Erklärungen von Phänomenen der handlungsfreien Natur als auch für die normativen Bedingungen eines normalerweise funktionstüchtigen oder ›guten‹ kooperativen Lebens und Handelns. 252 k
294 252 k 252 k Zweite Abteilung: Physik 303 f. Dass der Begri= die kausal notwendigen bzw. normalen Veränderungen der Dichte und Kohäsion bei Erhitzung setze, die sich in der Erscheinung als Wärme zeigen, ist nur im Ausdruck leicht unglücklich formuliert. Denn jede Rede von sogenannten kausalen Wirkungen setzt begri=liche Setzungen voraus, welche auf allgemein gute Weise die je lokal und perspektivisch erfahrbaren Phänomene ›retten‹ und so den Übergang von subjektiven Erscheinungen zu objektiven ›Ursachen‹ allererst vermitteln. Die enge Verbindung zunächst von beidem erkennt sich leicht in den vielfachen Erzeugungen (und in ebenso vielfachen Arten des Verschwindens) von Wärme, bei Gärungen, den andern chemischen Prozessen, Kristallisationen und Auflösungen derselben, bei den schon erwähnten mechanischen innern, mit äußerlichen verbundenen, Erschütterungen, Anschlagen der Glocken, Schlagen des Metalls, Reibungen usf. Die Reibung von zwei Hölzern, oder im gewöhnlichen Feuerschlagen, bringt das materielle Außereinander des einen Körpers durch die schnell drückende Bewegung des andern in Einen Punkt momentan zusammen, – eine Negation des räumlichen Bestehens der materiellen Teile, die in Hitze und Flamme des Körpers oder einen sich davon abscheidenden Funken ausschlägt. – (303 f.) Wärme kann durch Reibung oder einen chemischen Prozess wie Oxidation verursacht sein. Schon Heraklit vermutete, dass die Ursache der Wärme im lebenden Leib eine Art Verbrennungsprozess, also ›Feuer‹ ist. Kristallisationen kehren den Prozess der Auflösung bei Abkühlung um. Es ist daher ganz richtig, Hitze als auflösende ›Gegenkraft‹ zur Kohäsionskraft ›kalter‹ und starrer Körper anzusehen. Das nur meint die zunächst ominöse Rede von der »Negation des räumlichen Bestehens der materiellen Teile« – wobei Hegel sicher auch noch im Diesigen eines zeitbedingten Halbwissens herumstochert. Die weitere Schwierigkeit ist, die Verbindung der Wärme mit der spezifischen Schwere und Kohäsion als die existierende Idealität des Materiellen zu fassen, – hiezu eine Existenz des Negativen, welche selbst die Bestimmtheit dessen enthält, was negiert wird, die ferner die Bestimmtheit eines Quantums hat und als Idealität eines Bestehenden sein Außersichsein und sein Sich-setzen in Anderem, die Mitteilung, ist. – (304)
304 Physik der besondern Individualität 295 In Hegels halbprivater Kommentarsprache bedeutet die Rede von der existierenden Idealität des Materiellen, dass es in der Natur stabile Formen des Seins, der Bewegung und der Prozesse, wenn auch nur für die generisch guten Fälle, wirklich gibt. Diese Formen stellen sich von selbst ein, obgleich wir es sind, die sie begri=lich explizieren bzw. strukturell modellieren, und zwar so, dass wir nach Möglichkeit über typische Ereignisfolgen einzelne Geschehnisse ›erklären‹ können. Dabei beginnen wir immer mit lokalen, perspektivischen, perzeptivisch-qualitativen, also subjektiven Unterscheidungen. Dann aber erkennen wir invariante bzw. transsubjektive Verschiedenheiten und Äquivalenzen der Sachen selbst. Hegels Titel dafür ist »Existenz des Negativen, welche selbst die Bestimmtheit dessen enthält, was negiert wird«. Ein wesentliches Hilfsmittel der Objektivierung sind gegenständliche Redeformen und quantitative Bestimmungen. Die Idealität eines Bestehenden wie z. B. der Wärme ist nicht das subjektive Fühlen, sondern eine relativ stabile Form. Das »Außersichsein und sein Sichsetzen in Anderem, die Mitteilung« der Wärme ist ihre Ausbreitung, die objektive Tendenz zur Di=usion. Es handelt sich hier, wie überall in der Naturphilosophie, nur darum, an die Stelle der Verstandes-Kategorien die Gedankenverhältnisse des spekulativen Begri=es zu setzen und nach diesen die Erscheinung zu fassen und zu bestimmen. (304) Der Fokus des Interesses der Überlegung Hegels wird hier noch einmal klar benannt. Es geht nicht um das kausale Erklären wie in den Sachwissenschaften, sondern um dessen Logik und die Einbettung in generische Theorien und/oder ideale Modelle. Es geht damit auch um die Methodologie der begri=lichen Setzung ›objektiver‹ Gegenstandsarten und den Gesetzen relationaler oder prozessualer Seinsoder Vollzugsformen. Wie »überall in der Naturphilosophie« geht es also »nur darum«, den angelernten oder willkürlich vorgeschlagenen Schemata eines bloß erst formalen Schließens im Rechnen und Erklären – das meint die Rede von den Verstandeskategorien – ein ›spekulatives‹ Nachdenken über deren Gesamtverfassung zur Seite zu stellen. Diese »Gedankenverhältnisse des spekulativen Begri=es« werden nur möglich in einer logischen Topographie der Konstitution 252 k
296 Zweite Abteilung: Physik 304 objektiver Gegenstände, kausaler Erklärungen und insbesondere einer generisch-allgemeinen Rettung der realen, empirischen Phänomene. 252 f . 253 § 306 Die Wärme als Temperatur überhaupt ist zunächst die noch abstrakte und ihrer Existenz und Bestimmtheit nach bedingte Auflösung der spezifizierten Materialität. Sich aber ausführend, in der Tat realisiert, gewinnt das Verzehren der körperlichen Eigentümlichkeit die Existenz der reinen physischen Idealität, der frei werdenden Negation des Materiellen und tritt als Licht hervor, jedoch als Flamme, als an die Materie gebundene Negation der Materie. Wie das Feuer zuerst (§ 283) aus dem Ansich sich entwickelte, so wird es hier gesetzt, daß es sich als äußerlich bedingt aus den existierenden Begri=smomenten innerhalb der Sphäre der bedingten Existenz erzeugt. – Es verzehrt sich ferner so als Endliches zugleich mit den Bedingungen, deren Verzehren es ist. (304) Festkörper werden bei entsprechender Hitze flüssig und danach gasförmig. Feuer im engeren Sinn steht heute für ein Verbrennen, also für den chemischen Prozess der Oxidation. Der zunächst ganz ominöse Satz, dass sich das Feuer zuerst aus dem Ansich entwickelt habe, besagt nicht etwa, dass man aus einer logischen Kategorie Feuer schlagen könne. Hegel sagt auf idiosynkratische Weise, dass das antike Element »Feuer« noch nicht als Oxidation oder Verbrennung im engeren Sinn gemeint war, sondern insgesamt als Energie an sich. Das heißt, die Begri=sentwicklung der Darstellung chemischer Prozesse begann mit der Ausdi=erenzierung der Aggregat- und damit Energiezustände. § 307 Die Entwicklung der realen, d. i. die Form an ihr enthaltenden Materie geht so in ihrer Totalität in die reine Idealität ihrer Bestimmungen, in die mit sich abstrakt identische Selbstischkeit über, die in diesem Kreise der äußerlichen Individualität selbst (als Flamme) äußerlich wird und so verschwindet. Die Bedingtheit dieser Sphäre ist, daß die Form ein Spezifizieren der schweren Materie, und die Individualität als Totalität nur erst an sich war. In der Wärme ist gesetzt das Moment der realen Auflösung der Unmittelbarkeit und der zunächst
304 f. Physik der besondern Individualität 297 vorhandenen Gleichgültigkeit des spezifizierten Materiellen gegeneinander. Die Form ist daher jetzt als Totalität dem als gegen sie widerstandslosen Materiellen immanent. – Die Selbstischkeit als die unendliche sich auf sich beziehende Form ist als solche in die Existenz getreten; sie erhält sich in der ihr unterworfenen Äußerlichkeit und ist als die frei dies Materielle bestimmende Totalität, – die freie Individualität. (304 f.) In seinen Übergangstexten nennt Hegel am Ende der Überleitung das neue Thema immer so, wie ein Zauberkünstler aus seinem Hut mit doppeltem Boden einen Hasen zieht. Hegel will hier wohl sagen, dass es ab jetzt um eine genauere Betrachtung des Erhalts und der Auflösung von Körperformen einerseits, chemischen Sto=en einer bestimmten Art andererseits geht. Die »reine Idealität ihrer Bestimmungen« meint eben diese allgemeinen Momente des Formenerhalts und der Formenveränderung. Der Ausdruck »mit sich abstrakt identische Selbstischkeit« meint wohl die stabilen Formen der Formveränderung – so dass z. B. in chemischen Reaktionen die beteiligten Atome sich zu neuen Molekülen zusammensetzen, aber weder in ihrer Art noch in ihrer Gesamtmasse ändern. Die äußeren Erscheinungen des Feuers bei einer Verbrennung, die Flamme und damit das Licht, sind nun nicht etwa nur phänomenale Erscheinungen, bestimmt über ihre Wahrnehmbarkeit, sondern eigene physikalische Gegenstände, sozusagen neben den sie verursachenden sto=lichen Prozessformen, gerade so wie die Wärme. Hegels abstrakte Sätze, das ist zu betonen, erklären hier nichts, sondern kommentieren nur unsere Darstellungen von Formen. Die ›schwere Materie‹ wird z. B. als Amalgam chemischer Sto=e spezifiziert. Die Formgestalt des relativ festen Körpers und seine sto=liche Materie trennen sich sozusagen in der Verflüssigung durch Wärme, so wie unter Druck oder bei Abkühlung bzw. in einem Trocknungsprozess einer Lösung Sto=e fest werden (bei Hegel: zu einem ›Kristall‹).
298 Zweite Abteilung: Physik C. 253 f . 254 305 Physik der totalen Individualität § 308 Die Materie ist zuerst an sich die Totalität des Begri=s als schwere; so ist sie nicht an ihr selbst formiert; der Begri= in seinen besondern Bestimmungen an ihr gesetzt, zeigt zunächst die endliche, in ihre Besonderheiten auseinanderfallende Individualität. (305) Hegel spricht noch von ›der Materie‹ in ihrer begri=lich durch ihre jeweilige Gesamtmasse (heute: die ›Menge‹ von Atomen und Molekülen) bestimmten »Totalität« – unter Absehung von Änderungen des Aggregatzustandes. Dabei haben gleiche materielle Massen gleiche Schwere, womit wir die zwei Momente in der Rede von gleicher Masse schon disambiguiert haben. Keine Masse oder Materiemenge ist »an ihr selbst formiert«. Das heißt, sie ist invariant gegen den Formverlust bei Verflüssigung oder Verdampfung. Die Totalität des Begri=s nun gesetzt, ist der Mittelpunkt der Schwere nicht mehr als die von der Materie gesuchte Subjektivität, sondern ihr immanent als die Idealität jener zuerst unmittelbaren und bedingten Formbestimmungen, welche nunmehr als von innen heraus entwickelte Momente sind. Die materielle Individualität, so in ihrer Entwicklung identisch mit sich, ist unendlich für sich, aber zugleich bedingt; sie ist die subjektive Totalität nur erst unmittelbar ; daher, obgleich für sich unendlich, enthält sie das Verhältnis zu Anderem; und erst im Prozesse kommt sie dazu, daß diese Äußerlichkeit und Bedingtheit als sich aufhebend gesetzt wird; so wird sie existierende Totalität des materiellen Fürsichseins, die dann an sich Leben ist und im Begri=e in dasselbe übergeht. (305 f.) Die Textpassage ist prima facie ebenso obskur wie verrückt. Ich versuche, sie auseinanderzulegen. Der »Mittelpunkt der Schwere« auf der Erde ist der Erdmittelpunkt. Irdische Massen streben im Normalfall in diese Richtung. Das ist keineswegs falsch, sondern Allgemeinwissen, wie es spätestens seit Aristoteles in Texten nach und nach explizit formuliert ist. Hegels Rede über eine »von der Materie gesuchte Subjektivität« meint hier – wohl bewusst metaphorisch – die Erde als individuelles Sein und Zentrum für alle irdische Materie und materiellen Prozesse, unter Einschluss der Atmosphäre. Die Formenbildungen der festen Körper unter Druck oder Abküh-
306 Physik der totalen Individualität 299 lung ist der jeweiligen physikochemischen Materie immanent. Hegel bestätigt meinen Übersetzungsvorschlag: Die »Idealität« von materiellen Sto=en besteht in ihren »unmittelbaren und bedingten« Selbstformungen. Dass diese »unendlich für sich, aber zugleich bedingt« sind, bedeutet nur, dass es viele konkrete Ausprägungen der durch die Umwelt bedingten arttypischen Formenbildungen gibt. Die Rede von einer ›subjektiven‹ Totalität der Selbstformung eines physischen Körpers ist eine Metonymie. Ein nichtlebender physischer Körper K ist ›eigentlich‹ kein Subjekt. Es gibt aber physikalische Prozesse des Selbsterhalts. Volle Subjektivität ergibt sich erst in Lebensprozessen der Autopoiesis als allgemeiner »Totalität des materiellen Fürsichseins«, die schon »an sich Leben ist«. Denn Leben ist an sich Formerhalt und für sich Autopoiesis, wie das noch genauer erläutert werden wird. § 309 Die totale Individualität ist: a. unmittelbar Gestalt als solche, und deren abstraktes Prinzip in freier Existenz erscheinend, – der Magnetismus; b. bestimmt sie sich zum Unterschiede, den besondern Formen der körperlichen Totalität; diese individuelle Besonderung zum Extreme gesteigert, ist die Elektrizität. c. Die Realität dieser Besonderung ist der chemisch di=erente Körper, und die Beziehung desselben, – die Individualität, welche Körper zu ihren Momenten hat, sich als Totalität realisierend, der chemische Prozeß. (306) Der Titel »totale Individualität« meint die Gesamtform des Zusammenhalts von Festkörpern für einige Zeit. Dabei sind gewisse starke Attraktionskräfte verantwortlich für die unmittelbare Gestaltkonstanz als solche. Da damals gerade die magnetischen Kräfte entdeckt worden waren, bringt Hegel alle diese Kräfte unter den metonymischen, aber explizit als abstrakt-allgemein ausgewiesenen Titel des Magnetismus. Die freie Existenz der damit nur erst pars pro toto sogenannten ›magnetischen‹ Kräfte besteht darin, dass es sich um eine eigene und eigens anzuerkennende Form starker natürlicher Kräfte handelt, die sich nicht auf die relativ zur Größe der Körper viel schwächeren Gravitationskräfte reduzieren lassen. 254
300 Zweite Abteilung: Physik 306 Dabei war auch der Zusammenhang mit der Elektrizität schon bekannt, so dass man diese neue Physik der heute atomar und subatomar modellierten Kräfte zunächst unter den Titel eines Elektromagnetismus und dann auch einer Elektrodynamik bringen kann. Hegels blumige Umschreibungen der Elektrizität als »individuelle Besonderung«, die »zum Extreme gesteigert« sei, ist zeitbedingt. Dabei war auch schon der Zusammenhang mit chemischen Reaktionen bekannt, wobei von heute her gesehen die sogenannten Elektronen sowohl bei der Molekülbindung als auch in der Elektrolyse und Ionisierung von Flüssigkeiten bzw. in Batterien eine zentrale Rolle spielen (was aber vor Hermann von Helmholtz so noch nicht explizit bekannt war). Hegel geht es hier um die Realität dieser Phänomene und damit die Notwendigkeit eines neuen Verständnisses der Physik insgesamt, wie es weit über die Druck-, Stoß- und Gravitationsmechanik hinausreicht. Gerichtet ist diese Betonung gegen einen metaphysischen Materialismus und Newtonianismus, soweit diese in einem mathematischen Punktbewegungsmodell und dem Dogma von einer unmittelbaren Isomorphie mit ›der Wirklichkeit‹ befangen bleiben, und zwar trotz aller Lippenbekenntnisse, unser Wissen sei endlich und fallibel. a. Die Gestalt 254 f . § 310 Der Körper als totale Individualität ist unmittelbar, ruhende Totalität, somit Form des räumlichen Zusammenseins des Materiellen, daher wieder zuerst Mechanismus. Die Gestalt ist somit materieller Mechanismus der nun unbedingt und frei bestimmenden Individualität, – der Körper, dessen spezifische Art des innern Zusammenhalts nicht nur, sondern dessen äußerliche Begrenzung im Raume durch die immanente und entwickelte Form bestimmt ist. Auf solche Weise ist die Form von selbst manifestiert und zeigt sich nicht erst als eine Eigentümlichkeit des Widerstands gegen fremde Gewalt. (306) Das Totale der Individualität eines Körpers besteht begri=slogisch in allen seinen raumzeitlichen und damit prozessualen Relationen seines Für-sich-Seins und Für-Anderes-Seins, wie eben skizziert. Zunächst führt uns das wieder zum Mechanismus von relativen Kör-
307 Physik der totalen Individualität 301 perbewegungen und ggf. von Formveränderungen, wobei sich in natürlichen Formationen die Formen von selbst instanziieren. Erst sekundär zeigt sich die nachhaltige Form in einem relativen Widerstand gegen äußere Einflüsse. § 311 Die α) unmittelbare, d. i. die als in sich formlos gesetzte Gestalt ist einerseits das Extrem der Punktualität der Sprödigkeit, andererseits das Extrem der sich kugelnden Flüssigkeit; – die Gestalt als innere Gestaltlosigkeit. (307) Hegels Rede über Formen und dann auch über die ›Punktualität‹ wäre problematisch, wenn man sie nicht metonymisch zu lesen hätte. Reine Punkte, Linien und Formen gibt es ja nur in dem von uns konstruierten Modell einer formentheoretischen Geometrie. Hegel will wohl nur sagen, dass wir einen Körper K durch einen Punkt PK vertreten, solange uns seine Formgestalt nicht weiter interessiert. Die Gestalt würde so als formlos gesetzt. Gerade eine Kugelform ist Form innerer Gestaltlosigkeit, genauer: Homogenität. – Spröde heißt ein Körper, wenn er auf Druck gleich in mehrere Teile auseinanderbricht, sich also nicht stetig verformt wie ein elastischer Körper. Hegels spröder Körper ist also einfach ein relativ formstabiler, starrer Festkörper. § 312 β) Das Spröde, als an sich seiende Totalität der formierenden Individualität, schließt sich zum Unterschiede des Begri=s auf. Der Punkt geht zunächst in die Linie über, und die Form setzt sich an derselben in Extreme entgegen, welche als Momente kein eigenes Bestehen haben und nur durch ihre Beziehung, welche erscheinend ihre Mitte und Indi=erenzpunkt des Gegensatzes ist, gehalten sind. Dieser Schluß macht das Prinzip der Gestaltung in ihrer entwickelten Bestimmtheit aus und ist in dieser noch abstrakten Strenge – der Magnetismus. (307) Hegels Überlegung ist hier äußerst dunkel. Irgendwie scheint er sagen zu wollen, dass ein geformter starrer Körper in seiner Art und Form näher begri=lich zu bestimmen ist. In der Geometrie sind Punkte Linienschnitte. Bewegte Punkte lassen eine Linie als Spur zurück. Hegels Linie ist aber wohl eine gerade Strecke. 255 255
302 255 k Zweite Abteilung: Physik 307 Er denkt hier aber o=enbar schon ganz konkret an einen Stabmagneten mit zwei Polen. Das ist sein gutes Recht. Aber die ›Entwicklung‹, die dazu führen soll, bleibt düster, samt der Rede von einem Schluss, einem Prinzip der Gestaltung und einer abstrakten Strenge. Freilich befinden wir uns wieder in einem seiner manierierten Übergangstexte. Diese muss man Hegel wohl insgesamt verzeihen – etwa indem man sie einfach aus dem Text herausstreicht. Der Magnetismus ist eine der Bestimmungen, die sich vornehmlich darbieten mußten, als der Begri= sich in der bestimmten Natur vermutete und die Idee einer Naturphilosophie faßte. Denn der Magnet stellt auf eine einfache naive Weise die Natur des Begri=es, und zwar in seiner entwickelten Form als Schluß (§ 181) dar. Die Pole sind die sinnlich existierenden Enden einer realen Linie (eines Stabes, oder auch in einem nach allen Dimensionen weiter ausgedehnten Körper); als Pole haben sie aber nicht die sinnliche, mechanische Realität, sondern eine ideelle; sie sind schlechthin untrennbar. Der Indi=erenzpunkt, in welchem sie ihre Substanz haben, ist die Einheit, in der sie als Bestimmungen des Begri=s sind, so daß sie Sinn und Existenz allein in dieser Einheit haben, und die Polarität ist die Beziehung nur solcher Momente. (307) Der Begri=, der hier etwas tut, ist nichts anderes als die Institution unseres theoretischen Wissens, das als solches zugleich Begri=sentwicklung qua Artikulation von Formen ist. Es ist dann aber zunächst ein reines Rätsel, wie der Magnet »die Natur des Begri=es« darstellen oder modellieren soll. Hegel hat wohl wieder auf für ihn typische Weise ›vergessen‹, uns zu sagen, dass es sich um den besonderen Begri= oder Bereich der relativ formstabilen Körper handelt. Dabei sind die starken Nahkräfte, die für den Zusammenhalt von Festkörpern ›verantwortlich‹ sind, im Rahmen einer Physik des Elektromagnetismus zu verstehen und zu erklären. Ohne diesen Bezug (bzw. seine Interpolation) bleibt die Rede von einem Schluss oder Zusammenschluss des Positiven und Negativen mystifizierend. Mit dem Wort »denn« beginnt die späte Erläuterung, was Hegel oben in der Rede von der geraden Linie zwischen den Magnetpolen eines Körpers wohl gemeint hat. Hegel skizziert hier also wohl nur die Form eines Magnetstabs. Der Indi=erenzpunkt ist seine Mitte. Man kann diese Mitte benutzen,
307 f. Physik der totalen Individualität 303 um den ganzen magnetischen Stab punktförmig zu vertreten. Am Stab oder der Strecke sind die Pole »Bestimmungen des Begri=s« des Körpers insofern, als ungleichnamige Pole eines magnetischen Stabes sich so anziehen, dass sie bei hinreichend ebenen Berührungsflächen einen relativ stabilen neuen ganzen Körper bilden. Damit werden Magnete (und wird der Magnetismus) zum Prototyp starker Nahkräfte, welche starre oder ›spröde‹ Körper zusammenhalten.33 Der Magnetismus hat außer der hiedurch gesetzten Bestimmung keine weitere besondere Eigenschaft. Daß die einzelne Magnetnadel sich nach Norden und damit in Einem nach Süden richtet, ist Erscheinung des allgemeinen Erdmagnetismus. – Daß aber alle Körper magnetisch sind, hat einen schiefen Doppelsinn; der richtige ist, daß alle reelle, nicht bloß spröde Gestalt dieses Prinzip der Determination enthält; der unrichtige aber, daß alle Körper auch dieses Prinzip, wie es in seiner strengen Abstraktion existiert, d. i. als Magnetismus ist, an ihnen zur Erscheinung bringen. Eine Begri=sform so in der Natur vorhanden aufzeigen wollen, daß sie in der Bestimmtheit, wie sie als eine Abstraktion ist, allgemein existieren solle, wäre ein unphilosophischer Gedanke. Die Natur ist vielmehr die Idee im Elemente des Außereinander, so daß sie ebenso wie der Verstand die Begri=smomente zerstreut festhält und in Realität darstellt, aber in den höhern Dingen die unterschiedenen Begri=sformen zur höchsten Konkretion in Einem vereint (s. Anm. folg. §). (307 f.) Nach harmlosen Feststellungen zum Magnetismus, etwa zum allgemeinen Erdmagnetismus, hebt Hegel hervor, dass nicht alle Körper im ›wörtlichen‹ Sinn des Urbilds seiner Metapher, also eines Magnetstabs, magnetisch sind, sondern dass er das Wort »Magnetismus« metonymisch für alle starken Kräfte des Formerhalts eines (starren, ›spröden‹) Körpers gebraucht. Hegel betont also, dass die Formstabilität eines Körpers eine Begri=sform ist, die als solche viel allgemeiner und abstrakter ist als das typische Beispiel pars pro toto eines Magneten. ›Unphilosophisch‹ wäre es, die allgemeinen Formen theoretischer Kräfte wie die des Formerhalts von Körpern, wenn man sie nach einem prototypischen Fall benennt, modelliert und darstellt, 33 Es ist hier wohl nicht vom Begri=lichen an sich, sondern von den Begri=en der Materie und der geformten Festkörper die Rede. 255 f . k
304 Zweite Abteilung: Physik 308 unmittelbar mit dem analogischen Paradigma – hier: dem Magnetismus – zu identifizieren. 256 256 k 256 f . k § 313 Insofern diese sich auf sich beziehende Form zunächst in dieser abstrakten Bestimmung, Identität der bestehenden Di=erenzen zu sein, existiert, also noch nicht in der totalen Gestalt zum Produkte geworden und paralysiert ist, ist sie als Tätigkeit, und zwar in der Sphäre der Gestalt die immanente Tätigkeit des freien Mechanismus, nämlich die örtlichen Verhältnisse zu bestimmen. (308) Die »sich auf sich beziehende Form« eines festen Körpers ist nach dem Gesagten einfach ihr zeitlicher Selbsterhalt, sofern nicht äußere Kräfte den artbegri=sgemäßen inneren Zusammenhalt oder ›Zusammenschluss‹ auseinanderreißen oder zerbrechen. Es gibt sie »zunächst in dieser abstrakten Bestimmung« als Identität eines Körpers an sich von dieser oder jener Art, an dessen Instanzen an und für sich es immer auch Teile und Unterschiede (»Di=erenzen«) gibt. Ein Körper existiert als Instanziierungen seiner Art, also seines Begri=s, indem er sich so in seiner Form zeigt. Seine totale Gestalt als Materie ist durch die konkrete Äquivalenz zur Sto=masse nach einer etwaigen Verwandlung in einen flüssigen oder gasförmigen Zustand gegeben. Das meint die ominöse Rede von seiner Paralysierung. Hegel spricht obskur von einer immanenten Tätigkeit »des freien Mechanismus«, also ohne menschliche Intervention, die gemäß der Artform die Gestalt von Festkörpern bestimmt, wie man das z. B. an der Tendenz zur Kugelform der Himmelskörper sehen kann. Es ist hier ein Wort über die in jetziger Zeit so anerkannte und in der Physik sogar fundamental gewordene Identität von Magnetismus, Elektrizität und Chemismus zu sagen: (308) Es folgt ein Kommentar zum »wesentlichen Fortschritt« der neueren Physik zunächst unter dem Titel eines »Elektro-Chemismus«. Es entwickelt sich ja gerade die Elektrodynamik als Elektromagnetismus und als Elektrochemie, also die Einsicht in den Zusammenhang »von Magnetismus, Elektrizität und Chemismus«. Hegels Kommentar wird, wie fast immer, schon dadurch verständlicher, dass man die Reihung seiner Darstellung abändert. Der Gegensatz der Form im individuellen Materiellen geht auch
308 f. Physik der totalen Individualität 305 dazu fort, sich zum realern, elektrischen, und zu dem noch realern, dem chemischen Gegensatze zu bestimmen. Allen diesen besondern Formen liegt eine und dieselbe allgemeine Totalität der Form als ihre Substanz zum Grunde. Ferner sind Elektrizität und Chemismus als Prozesse Tätigkeiten vom reellern, physisch weiter bestimmten Gegensatze; aber außerdem enthalten diese Prozesse vor allem Veränderungen in den Verhältnissen der materiellen Räumlichkeit. Nach dieser Seite, daß diese konkrete Tätigkeit zugleich mechanisierende Bestimmung ist, ist sie an sich magnetische Tätigkeit. Inwiefern sie als solche auch innerhalb dieser konkretern Prozesse zur Erscheinung gebracht werden kann, sind die empirischen Bedingungen hievon in neuern Zeiten gefunden worden. Es ist daher für einen wesentlichen Fortschritt der empirischen Wissenschaft zu achten, daß die Identität dieser Erscheinungen in der Vorstellung anerkannt worden ist, welche Elektro-Chemismus, oder etwa auch Magneto-Elektro-Chemismus oder wie sonst, genannt wird. Allein die besondern Formen, in welchen die allgemeine existiert, und deren besondre Erscheinungen sind auch ebenso wesentlich voneinander zu unterscheiden. Der Name Magnetismus ist darum für die ausdrückliche Form und deren Erscheinung als in der Sphäre der Gestalt als solcher, sich nur auf Raumbestimmungen beziehend, aufzubehalten, so wie der Name Elektrizität gleichfalls für die damit ausdrücklich bezeichneten Erscheinungsbestimmungen. Früher ist Magnetismus, Elektrizität und Chemismus gänzlich abgesondert, ohne Zusammenhang miteinander, jedes als eine selbständige Kraft betrachtet worden. Die Philosophie hat die Idee ihrer Identität, aber mit ausdrücklichem Vorbehalt ihres Unterschiedes gefaßt; in den neuesten Vorstellungsweisen der Physik scheint auf das Extrem der Identität dieser Erscheinungen übergesprungen worden und die Not zu sein, – daß und wie sie zugleich auseinanderzuhalten seien. Die Schwierigkeit liegt in dem Bedürfnis, beides zu vereinigen; gelöst ist sie allein in der Natur des Begri=es, aber nicht in der Identität, die eine Konfusion der Namen in einem Magneto-Elektro-Chemismus ist. (308 f.) Zunächst beschränkten sich die erkannten Phänomene des Magnetismus auf Anziehungen und Abstoßungen von Körperoberflächen im Raum. Die Phänomene der Elektrizität betrafen die elektrische Spannung, ihre quantitativen Messungen und dann ihren Einsatz
306 Zweite Abteilung: Physik in der Elektrolyse – womit man aber schon im Bereich der Chemie gelandet ist, so wie auch schon im Fall der Magnetisierbarkeiten von Metallen. Jetzt geht es darum, zu sehen, dass es sich nicht um völlig voneinander unabhängige Kräfte handelt. Der zentrale Punkt, den Hegel mit seinem Hinweis auf die sogenannte Philosophie der Identität, also seine Arbeiten zunächst in Kooperation mit Schelling, hervorhebt, ist wohl bis heute nicht in seiner Bedeutung begri=en. Es geht im Kern um das logische Verständnis der Identität von Dingen und Sachen, die von ihrem prozessualen An-und-für-sich-Sein als Instanziierung eines zeitlich begrenzten Artoder Formerhalts nach einer Phase des Entstehens und vor einer Phase des Vergehens gar nicht verschieden sind. Sie mögen sich dann immer noch in verschiedenen Umgebungen anders zeigen, nämlich in Abhängigkeit von den Beziehungen zu anderen Sachen. Das ist immer holistisch zu betrachten. Der Grundfehler jeder Form des Empirismus und der kantischen Transzendentalphilosophie besteht hier darin, die besonderen epistemischen Beziehungen zu uns als Beobachter und Handelnde willkürlich aus den Gesamtrelationen zu anderen Dingen und Sachen zu isolieren. So wie alle Eigenschaften der reinen Zahlen rein logisch auf Relationen zu allen Zahlen zurückzuführen sind, so sind alle Eigenschaften aller Dinge dispositionell. Die Dispositionen aber sind holistisch so zu begreifen, dass die von uns unmittelbar bemerkbaren Wirkungen auf uns nur einen verschwindend kleinen, wenn auch besonders wichtigen Teil ausmachen. Es ist daher ganz falsch, die Dinge und ihre Eigenschaften aus empirischen Wirkungen auf uns irgendwie aufbauen zu wollen, wie wir das bei Hume und sogar noch bei Kant sehen. Die basalen logischen Einsichten werden von Hegel nach den allgemeinen Vorarbeiten der Seinslogik in der Wesenslogik entwickelt: Jeder objektive Gegenstand unserer Weltbezugnahmen ist immer schon so, dass er sich in verschiedenen Umgebungen je anders zeigt, wobei man aber manche der unterschiedlichen Erscheinungen als Erscheinungen desselben bewerten kann bzw. muss, andere aber als Äußerungen verschiedener Dinge entweder schon der Art nach oder bloß in ihrer einzelnen Identität. Von besonderer Bedeutung ist dabei die schon von Platon vordiskutierte und von Aristoteles entwickelte Einsicht in die Identität von
Physik der totalen Individualität 307 Seele und Leben, auch von Seinsform und Seinsvollzug – qua Instanziierung einer Form. Das Problem ›des Verstandes‹ ist, dass eine bloß statisch-relationale Logik des Aussagens nach dem Muster der Mathematik nicht in der Lage ist, diese Identitätslogik von Gegenstand und Seinsprozess, Seinsform und prozessualem Vollzug explizit darzustellen. Das liegt insbesondere daran, dass zeitliche Prozesse in einer rein relationalen, zeitallgemeinen Sprache der Episteme ohne dialektische Bezugnahme auf ein konkretes Sprechen und damit auf eine subjektive Doxa gar nicht artikulierbar sind. Schon Heraklit, Parmenides, Zenon und mit ihnen Platon und Aristoteles ahnen dies oder wissen es im Ansatz. Das erklärt ihre bis heute in der Sache kaum begri=ene, bestenfalls nur erst berichtsförmig bekannte, fundamentale Kritik an einer bloß statischen mathematischen Logik des Pythagoreismus. Diese Kritik schlägt bis in den latenten Neo-Pythagoreismus der mathematischen Naturtheorien von Galilei, Descartes, Leibniz und Newton bis Kant durch, aber dann auch bis in die formallogischen Analysen der Analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Das alles zeigt auf interessante Weise, wie man nur auf Kosten der Verengung des eigenen Horizonts darauf verzichten kann, sich mit den Leistungen eines Denkens vergangener Zeiten auseinanderzusetzen. Dass dabei die Überwindung der Barrieren der unterschiedlichen Sprechweisen schwierig ist, sollte ebenso klar sein, wie dass wir uns mit dem angeblichen Fortschritt des eigenen Wissens nicht überheblich zufriedengeben sollten. Hier redet Hegel also über das Chemische, Elektrische und Magnetische; und er spricht von einem ausdrücklichen »Vorbehalt ihres Unterschiedes«, indem nämlich festzuhalten bleibt, dass magnetische Wirkungen andere sind als chemische Prozesse und diese sich auch von den allgemeinen Phänomenen der Elektrizität unterscheiden. Der Zusammenhang, der erst später auf molekularer Ebene über das Verhalten von Elektronen und Atomen bzw. ganzer Moleküle klarer darstellbar wird, war damals nur erst als grundsätzliche Tatsache bekannt. Wenn Hegel sagt, dass »in den neuesten Vorstellungsweisen der Physik« die abstrakten Einsichten der Philosophie zu Identität und Objektivität wie nach einer Art Gedankenübertragung auch zu finden ist, so nennt er damit gerade die Bedeutung der manchmal ›roman-
308 Zweite Abteilung: Physik tisch‹ genannten Naturphilosophie in Jena für die spätere Physik und Physiologie. Diese Naturphilosophie florierte mit Schelling als illustrer Figur in der Philosophie und Johann Wilhelm Ritter in der Physik. Nachhaltige Wirkungen sind unter anderen über Carl August von Eschenmeyer, Heinrich Ste=ens, Hans Christian Ørsted oder Johannes Peter Müller vermittelt.34 Jetzt wird u. U. auch Hegels schwierige Rede von den ›Extremen‹ der Identität von Erscheinungen, die man leicht ›überspringt‹, verständlich. Denn alle Dinge D sehen nicht nur von verschiedenen Orten verschieden aus, sondern verändern sich auch in der Zeit, so dass die Erscheinung d 1 von D gestern und seine Erscheinung d 2 heute in der Gleichung d 1 = d 2 verschiedene Termini bzw. ›Extreme‹ (horoi) sind, obwohl sie (Re-)Präsentationen desselben Gegenstandes D sind. Dass sie »zugleich auseinanderzuhalten« sind, ist klar. Man denke dabei z. B. an die einfache Metamorphose der Erscheinungsformen von Raupe, Puppe und Schmetterling oder an die schon schwierigeren Ursache-, Erscheinungs- und Bewegungsformen von Wellen, Klängen, Licht und Elektrizität. Hegel hat also ganz recht. Die »Schwierigkeit liegt in dem Bedürfnis, beides zu vereinigen«, da wir nur so mit der gegenstands- und eigenschaftslogischen Form »Etwas-über-etwas-sagen« schematisch, also rein verstandeslogisch umgehen können – besonders mit dem Leibnizprinzip der Substitution von d 1 und d 2 in entsprechenden Aussagen über D als Ganzes. Man versteht das alles erst, wenn man die Natur des Begri=es voll begreift, und das heißt, wie ich in den Kommentaren zu Hegels Logik erläutert habe, die Seins-, Wesens- und Begri=sformen der Gegenstandsbereiche in Einheit mit ihren Explikationsformen. Daher gibt es auch eine Konfusion in der üblichen Rede von einem »MagnetoElektro-Chemismus«: Die Phänomene der magnetischen Anziehung, des Elektromagnetismus und der chemischen Reaktionen, nicht nur 34 Den Naturphilosophen in Jena ging es darum, das Erklärungsmodell der reinen Mechanik von Descartes und Newton bis zu Kant in der Physik so zu erweitern, dass auch Erklärungen von Phänomenen wie Elektrizität, Magnetismus, der Chemie, des Lichts und des Farbensehens möglich werden, während das Leben der Lebewesen zum Thema der Biologie wird.
Physik der totalen Individualität 309 der Elektrolyse, hängen zwar eng zusammen, sind aber nicht einfach identisch oder aufeinander reduzierbar. Jetzt erst können wir den Anfang der Passage sinnvoll erläutern. Dass der »Gegensatz der Form« eines physischen Gegenstandes »im individuellen Materiellen« irgendwie fortgehe, nämlich »zum realern, elektrischen, und zu dem noch realern, dem chemischen Gegensatze« bedeutet dieses: Sowohl in der Änderung des Aggregatzustands eines Körpers oder Sto=es K als auch in chemischen Reaktionen mit einem Körper oder Sto= K ∗ bleibt die Gesamtmasse erhalten. Das eben meint die abstrakte Rede davon, dass »eine und dieselbe allgemeine Totalität der Form als ihre Substanz« den Reaktionen zu Grunde liegt. Das Wort »Form« steht hier nicht für Körpergestalten, sondern für das, was sich in den chemischen Prozessen wandelt. Anders als die relativ einfachen Phänomene der magnetischen Anziehung sind chemische Bindungen und ihre Veränderung in chemischen Reaktionen schon wesentlich komplexer. Das gilt erst recht für die Phänomene der Elektrizität – was niemand bezweifelt, zumal es hier ganz o=ensichtlich ein sprachlich-symbolisches Darstellungsproblem gibt, das in ersten Schritten Ørsted durch Analogien aus der Wasserwirtschaft – wie »Strom«, »Schalter« (= Schotte), »Fließen«, ggf. auch »Ladung« – aufhebt, wozu sich Bilder aus dem Magnetismus (»Spannung«) gesellen. Die Rede von einem »reellern, physisch weiter bestimmten Gegensatze« verweist auf eben diese Konkretisierungen, welche die abstrakten Modelle einer (Massen-) Punktbewegungsmechanik von Galilei, Kepler und Descartes über Newton und Leibniz bis Kant weit hinter sich lässt. Heute operieren sozusagen nur noch formalistische Philosophen und, in philosophierenden Sonntagsreden, auch Biologen und (Neuro-)Physiologen mit dem mechanisch-materialistischen Modell des 18. Jahrhunderts. Die moderne Physik hat die nötige Vielfalt und Grenzen der rein geometrischen Bahnkurven als Modelle für reale Erklärungen längst anerkannt, selbst wenn noch nicht einmal alle Physiker das klar genug sehen. Die Lehrbücher des sogenannten Dialektischen Materialismus waren erst recht nicht in der Lage, diese Dinge und Hegels Ein-
310 Zweite Abteilung: Physik 309 f. sichten verständlich zu machen,35 obwohl Friedrich Engels und Karl Marx der Kritik Hegels an einem mechanischen Materialismus völlig zugestimmt haben, auch wenn sie sein Programm einer nichtnaturalistischen Verweltlichung des Geistes o=enbar nicht (ganz) begri=en haben. Die Prozesse der Änderung der Aggregatzustände sind zunächst »Veränderungen in den Verhältnissen der materiellen Räumlichkeit«. Wir wissen inzwischen, dass sich auch chemische Reaktionen so darstellen lassen. Dabei besteht die ›mechanisierende Bestimmung‹ darin, dass man die typischen Unterschiede des Verhaltens über räumliche Konfigurationen der heute so genannten Atome und Moleküle erklärt. Hegel spricht noch ganz tentativ davon, dass es sich bei den sich ändernden (inneren) Bindungen und der für sie nötigen (oder wie bei einer Verbrennung freigesetzten) Energie um Prozesse (›Tätigkeiten‹) handelt, die ›an sich magnetisch‹ seien. Das ist wieder im oben erläuterten Sinn pars pro toto zu lesen. Es ist also explizit und bewusst metonymisch bzw. rein analogisch formuliert. 257 § 314 Die Tätigkeit der Form ist keine andere als die des Begri=s überhaupt, das Identische di=erent und das Di=erente identisch zu setzen, hier also in der Sphäre der materiellen Räumlichkeit das im Raume Identische di=erent zu setzen, d. i. es von sich zu entfernen (– abzustoßen), und das im Raume Di=erente identisch zu setzen, d. i. es zu nähern und zur Berührung zu bringen (– anzuziehen). (309 f.) Hegels Ansätze einer bildlichen Umschreibung von Prozessformen, wie wir sie teils praktisch kennen, teils begri=lich explizit modellieren, sind veraltet. »Tätigkeit der Form« ist der Verlauf einer sich wiederholenden oder wiederholbaren Prozessform. Unser einfaches Beispiel ist die Magnetisierung eines Eisenstabs und die Anziehung ungleichnamiger bzw. Abstoßung gleichnamiger Pole. An einem Prozess wie der Anziehung zweier Stabmagneten werden Momente di=erent gesetzt und das so Di=erente wieder zusammengefügt, nämlich Pluspol und Minuspol, die sich anziehen. 35 Vgl. dazu z. B. I. S. Narski, Dialektischer Widerspruch und Erkenntnislogik, Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften 1973.
310 Physik der totalen Individualität 311 Diese Tätigkeit, da sie in einem Materiellen, aber noch abstrakt (und nur als solche ist sie Magnetismus) existiert, beseelt sie nur ein Lineares (§ 256). (310) Die ›Beseelung‹, von welcher Hegel hier metaphorisch spricht, steht für die durch die Magnetisierung der Stäbe erzeugten Dispositionen der Anziehung und Abstoßung. In solchem können die beiden Bestimmungen der Form nur an seinem Unterschiede, d. i. an den beiden Enden, geschieden hervortreten, und ihr tätiger, magnetischer Unterschied besteht nur darin, daß das eine Ende (der eine Pol) dasselbe – ein Drittes – mit sich identisch setzt, was das andere (der andere Pol) von sich entfernt. (310) Der Beitrag der inneren Kräfte der Magneten wird erst erkennbar, wenn man sie zerschneidet, etwa halbiert. Sonst ›wirken‹ sie nur an den »beiden Enden«: Wir haben an einem Stab zwei Magnetpole, die auf einen dritten Pol an einem anderen Stabmagneten abstoßend oder anziehend reagieren. Hegel versucht, diese prozessual-relationale Form genauer, dabei aber abstrakt-allgemein zu artikulieren. Das Gesetz des Magnetismus wird so ausgesprochen, daß gleichnamige Pole sich abstoßen und die ungleichnamigen sich anziehen, die gleichnamigen feindschaftlich, die ungleichnamigen aber freundschaftlich sind. Für die Gleichnamigkeit ist jedoch keine andere Bestimmung vorhanden, als daß diejenigen gleichnamige sind, welche gleicherweise von einem Dritten beide angezogen oder beide abgestoßen werden. Dies Dritte aber hat ebenso seine Determination allein darin, jene Gleichnamigen, oder überhaupt ein Anderes entweder abzustoßen oder anzuziehen. Alle Bestimmungen sind durchaus nur relativ, ohne verschiedene sinnliche, gleichgültige Existenz; es ist oben (Anm. § 312) bemerkt worden, daß so etwas wie Norden und Süden keine solche ursprüngliche, erste oder unmittelbare Bestimmung enthält. (310) Die Rede von den gleichnamigen Polen habe ich schon verwendet. Auf das Bild des Feindschaftlichen und Freundschaftlichen können wir verzichten. Hegel betont, dass alle Bestimmungen »durchaus nur relativ« sind. Man kann nicht unmittelbar ›sehen‹, welcher Pol positiv ist. Die Freundschaftlichkeit des Ungleichnamigen und die Feindschaftlichkeit des Gleichnamigen sind hiemit überhaupt nicht eine folgende oder noch besondere Erscheinung an einem vorausgesetz- 257 257 257 f . k 258 k
312 Zweite Abteilung: Physik 310 ten, einem eigentümlich schon bestimmten Magnetismus, sondern drücken nichts anderes als die Natur des Magnetismus selbst aus, und damit die Natur des Begri=s, wenn er in dieser Sphäre als Tätigkeit gesetzt ist. (310) Trotz der Metaphern versteht sich der Gedanke wohl von selbst. 258 258 § 315 γ) Die Tätigkeit in ihr Produkt übergegangen, ist die Gestalt, und bestimmt als Kristall. (310) Hegel geht jetzt vom Fall der Zusammenfügung zweier Stabmagneten zu den inneren Kräften über, welche den Zusammenhalt eines Festkörpers bewirken. Er möchte beide Fälle in eine Analogie bringen. Das erklärt den zunächst obskuren Übergang zur Betrachtung eines Kristalls: Wenn sich z. B. Salzkörner auskristallisieren, bilden sie einen festen Körper. In dieser Totalität sind die di=erenten magnetischen Pole zur Neutralität reduziert, die abstrakte Linearität der ortbestimmenden Tätigkeit zur Fläche und Oberfläche des ganzen Körpers realisiert; näher die spröde Punktualität einerseits zur entwickelten Form erweitert, die formelle Erweiterung der Kugel aber zur Begrenzung reduziert. Es wirkt die Eine Form, den Körper nach außen (die Kugel begrenzend) und (die Punktualität gestaltend) seine innere Kontinuität durch und durch (Durchgang der Blätter, Kerngestalt) zu kristallisieren. (310 f.) Was es heißt, dass die »di=erenten magnetischen Pole« im Innern eines Stabes »zur Neutralität reduziert« sind, habe ich im Grunde schon im Kontext der Halbierung eines Stabmagneten erläutert. In Analogie dazu ›neutralisieren‹ sich die inneren Kräfte eines Kristalls. In beiden Fällen muss man Kraft aufwenden, um die Körper wieder zu teilen. Die zunächst obskuren Reden von der ›Gestaltung der Punktualität‹, ›Linearität der Oberflächen‹ und ›formellen Erweiterung der Kugel zur Begrenzung‹ bedeuten zusammen einfach, dass es in einer Kristallisation eine Tendenz zur Bildung eines mehr oder weniger regelmäßigen körperlichen Polyeders als »Kerngestalt« gibt. Den Prozess selbst skizziert der Ausdruck »Durchgang der Blätter« – etwa bei der ›Trocknung‹ von Salz.
311 Physik der totalen Individualität 313 b. Die Besonderung des individuellen Körpers § 316 Die Gestaltung, das den Raum bestimmende Individualisieren des Mechanismus, geht in die physikalische Besonderung über. Der individuelle Körper ist an sich die physische Totalität; diese ist an ihm im Unterschiede, aber wie er in der Individualität bestimmt und gehalten ist, zu setzen. (311) Das »den Raum bestimmende Individualisieren« ist im Fall der Kristallisation eines (zunächst relativ kleinen) Körpers klar. Der individuelle Körper ist angesichts der verschiedenen Aggregatsformen und der chemischen Prozesse nur »an sich die physische Totalität«. Es gibt Unterschiede, die sich prozessual ergeben. Der Körper als das Subjekt dieser Bestimmungen enthält dieselben als Eigenschaften oder Prädikate; aber so, daß sie zugleich ein Verhalten zu ihren ungebundenen, allgemeinen Elementen und Prozesse mit denselben sind. (311) Eigentlich ist gar nicht der geformte Festkörper, sondern sein materielles, ›atomares‹ Substrat »das Subjekt«, also der Gegenstand der sich aus wirklichen und möglichen (relationalen) Prozessen ergebenden prädikativen Bestimmungen. Es ist ihre unmittelbare, noch nicht gesetzte (welches Setzen der chemische Prozeß ist) Besonderung, wonach sie noch nicht in die Individualität zurückgeführt, nur Verhältnisse zu jenen Elementen, nicht die reale Totalität des Prozesses, sind. Ihre Unterscheidung gegeneinander ist die ihrer Elemente, deren logische Bestimmtheit in ihrer Sphäre aufgezeigt worden. (§ 282 =.) (311) Die chemischen Prozesse definieren die chemischen Sto=e. Aus ihnen entwickelt sich die moderne theoretische Erklärung der chemischen Reaktionen über das neue, zunächst ›chemische‹, Modell der Atome und Moleküle. Diese haben nur noch sehr entfernt mit Leukipps und Demokrits Atomen als Figürchen mit mechanischen Haken und Ösen nach Art von Klettverschlüssen zur Erklärung ihrer lokalen Attraktions- oder Kohärenzkräfte zu tun. Die reine Totalität des chemischen Prozesses im generischen Singular ist der Gesamtbereich alle chemischen und elektrolytischen Prozesse, also das Gesamtthema der Chemie. 258 258 258
314 259 k 259 k Zweite Abteilung: Physik 311 f. Bei dem alten, allgemeinen Gedanken, daß jeder Körper aus den vier Elementen, oder dem neuern Paracelsischen, daß er aus Merkurius oder Flüssigkeit, Schwefel oder Öl und Salz bestehe, und bei vielen andern Gedanken dieser Art ist vors erste die Widerlegung leicht gewesen, indem man unter jenen Namen die einzelnen empirischen Sto=e verstehen wollte, welche zunächst durch solche Namen bezeichnet sind. (311 f.) Über die uralten Reden von den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde macht man sich heute zu Unrecht lustig und erklärt, es sei reine Spekulation gewesen, als Thales erklärte, alles käme aus dem Wasser. Anaximenes hatte dann die Luft oder das Gasförmige, Heraklit aber das Feuer oder die Energie zum Grundwesen erklärt. Dabei war allen diesen Autoren der antiken Naturphilosophie schon klar gewesen, dass sie die Wörter metonymisch (metaphorisch, analogisch) verwendeten. Thales sprach also nicht einfach von H2 O. Spätestens sein Freund Anaximander machte das deutlich, indem er den Ursto= das Indefinite, das Apeiron, nannte. Es ging also nicht um »die einzelnen empirischen Sto=e«, noch nicht einmal nur um die phänomenalen Aggregatzustände, wie Platons Theorie chemischer Reaktionen zeigt,36 zumal Feuer als Energie gar kein ›Sto=‹ ist. Dabei mag es immerhin sein, dass wir trotz der Berichte des Aristoteles (oder gerade wegen ihrer leichten Polemik) noch gar nicht genau genug verstehen, wie sich Empedokles die vier Elemente und die ›Freundschaft‹ (philia) der Attraktion bzw. die Feindschaft der Repulsion strukturtheoretisch genauer vorgestellt haben mag. Analoges gilt für die Spekulationen des Paracelsus, nach denen alles »aus Merkurius oder Flüssigkeit, Schwefel oder Öl und Salz bestehe«. Auch hier geht es Hegel keineswegs um deren wörtliche Verteidigung, sondern nur darum, dass man den systematischen begri=lichen Beitrag solcher theoretischen Entwürfe für die weitere Entwicklung angemessen würdigt. Es ist aber nicht zu verkennen, daß sie viel wesentlicher die Begri=sbestimmungen enthalten und ausdrücken sollten; es ist daher vielmehr die Gewaltsamkeit zu bewundern, mit welcher der Gedanke 36 Vgl. dazu auch P. Stekeler-Weithofer, »Plato and the Method of Science«. Hist. of Philos. Quarterly 9, 1992, S. 359–378.
312 Physik der totalen Individualität 315 in solchen sinnlichen besondern Existenzen nur seine eigene Bestimmung und die allgemeine Bedeutung erkannte und festhielt. (312) Hegels Ausdrucksweise ist herrlich ambivalent, wo er »die Gewaltsamkeit« bewundert, mit welcher man in der Entwicklung der Wissenschaft scheinbar starrköpfig an Metonymien und Metaphern festhält, wenn diese praktisch zu guten Erklärungen in der theoretischen Physik beitragen. Nur Laien halten an der Meinung fest, das Wasser des Thales oder die Luft des Anaximenes sei der besondere Sto= unserer sinnlichen Erfahrung gewesen. Auch Wellen gibt es nicht nur in Wasser und Luft. Lichtwellen brauchen noch nicht einmal einen Äther als Medium, wie wir inzwischen wissen. Darüber sollten wir schon deswegen nicht erstaunen, weil das Bild von einer wellenförmigen Lichtausbreitung von Anfang an ein abstraktes, aber analogisch verfasstes Modell war, nicht anders als die Rede vom ›Fließen‹ des elektrischen Stromes. Es galt und gilt dabei immer, nur die passenden Inferenzen vom Urbild in den Bild- oder Anwendungsbereich zu übertragen, unpassende aber nicht – wobei es o=enbar nicht immer einfach war und häufig nicht einfach ist, das Unpassende verbal explizit und eben damit dingfest zu machen. Fürs andere ist ein solches Auffassen und Bestimmen, da es die Energie der Vernunft zu seiner Quelle hat, welche sich durch die sinnliche Spielerei der Erscheinung und deren Verworrenheit nicht irremachen, noch sich gar in Vergessenheit bringen läßt, weit über das bloße Aufsuchen und das chaotische Hererzählen der Eigenschaften der Körper erhaben. (312) Analogien und damit kanonisierte Metaphern sind die Ideengeber und Strukturbildner der Physik. Sie spielen bei der Entwicklung von Sprache und Begri=en in allen Wissenschaften eine zentrale Rolle. Man kann sie, wenn man will, die »Energie der Vernunft« nennen. Das narrative »Hererzählen der Eigenschaften der Körper« ist dagegen wie jeder rein empirische Bericht und auch jede bloße Statistik noch lange keine Wissenschaft und führt auch nicht allein zu wissenschaftlichem Wissen (Episteme). In diesem Suchen gilt es für Verdienst und Ruhm, immer noch etwas Besonderes ausgegangen zu haben, statt das so viele Besondere auf das Allgemeine und den Begri= zurückzubringen und diesen darin zu erkennen. (312) 259 k 259 k
316 Zweite Abteilung: Physik 312 Über die Suche nach allgemeinen Strukturen und Gesetzen meinen viele Leute immer noch, dass man von empirischen Sonderfällen wie dem Fall eines Apfels unmittelbar wie Newton unter dem Baum zum Einfall einer Gravitationstheorie kommen könnte. α) Verhältnis zum Licht 259 259 k 259 k 259 k § 317 In der gestalteten Körperlichkeit ist die erste Bestimmung ihre mit sich identische Selbstischkeit, die abstrakte Selbstmanifestation ihrer als unbestimmter, einfacher Individualität, – das Licht. Aber die Gestalt leuchtet als solche nicht, sondern diese Eigenschaft ist (vorh. §) ein Verhältnis zum Lichte; 1) Der Körper ist als reiner Kristall in der vollkommenen Homogeneität seiner neutral-existierenden innern Individualisierung durchsichtig und ein Medium für das Licht. (312) Hegel ändert die Aspekte seiner Zugänge zu den behandelten Themen gelegentlich für den Leser etwas abrupt. Es geht ab jetzt nämlich um die optisch-visuelle Gestaltwahrnehmung geformter Körper und damit um die Verhältnisse zwischen Festkörpern, Licht und unserer Wahrnehmung. Die »abstrakte Selbstmanifestation« einer einfachen »Individualität« ist hier ihre Sehbarkeit. Häufig leuchtet der Körper nicht selbst, sondern reflektiert Licht, wie der Mond. Ein reiner Kristall ist dagegen wie Glas durchsichtig und so selbst »ein Medium für das Licht«. Was in Beziehung auf Durchsichtigkeit die innere Kohäsionslosigkeit der Luft ist, ist im konkreten Körper die Homogeneität der in sich kohärenten und kristallisierten Gestalt. – (312) Luft und Gase sind ›kohäsionslos‹ und daher anders als Festkörper (oder auch Wolken bzw. Rauch mit vielen kleinen Tropfen und Körpern) durchsichtig. Der individuelle Körper unbestimmt genommen, ist freilich sowohl durchsichtig als undurchsichtig, durchscheinend usf. (312) Hegel sagt hier in der von ihm extensiv gebrauchten generischen Sprachform (im stenographischen Singulare Tantum), dass nur manche Körper durchsichtig sind, andere sind undurchsichtig, andere milchig durchscheinend usf. Aber die Durchsichtigkeit ist die nächste erste Bestimmung dessel-
313 Physik der totalen Individualität 317 ben als Kristalls, dessen physische Homogeneität noch nicht weiter in sich besondert und vertieft ist. (312 f.) Hegel beginnt mit einem durchsichtigen Kristall wohl nur deswegen, weil bei ihm die haptische Undurchdringlichkeit bei gleichzeitiger Lichtdurchlässigkeit besonders auffällt und der Gedanke einer reinen res extensa naheliegt. Außerdem war schon oben das aus einer Salzlösung gewonnene Salz, das mehr oder weniger homogen kristallisiert, als Beispiel diskutiert worden. § 318 2) Die erste, einfachste Bestimmtheit, die das physische Medium hat, ist seine spezifische Schwere, deren Eigentümlichkeit für sich in der Vergleichung, so auch in Beziehung auf Durchsichtigkeit nur in der Vergleichung der verschiedenen Dichtigkeit eines andern Mediums zur Manifestation kommt. Was bei der Durchsichtigkeit beider von dem einen (– dem vom Auge entferntern –) in dem andern Medium (um die Dar- und Vorstellung zu erleichtern, mag jenes als Wasser, dieses als Luft genommen werden) wirksam ist, ist allein die Dichtigkeit, als den Ort qualitativ bestimmend: das Volumen des Wassers mit dem darin enthaltenen Bilde wird daher so in der durchsichtigen Luft gesehen, als ob dasselbe Volumen Luft, in die jenes gesetzt ist, die größere spezifische Dichtigkeit, die des Wassers hätte, also in einen um so kleinern Raum kontrahiert wäre, – sogenannte Brechung. (313) Hegels phänomenologische Kommentare zur Lichtbrechung sind nicht ganz falsch, aber, anders als er meint und unterstellt, in dieser Form nicht übermäßig interessant. Der Ausdruck Brechung des Lichts ist zunächst ein sinnlicher und insofern richtiger Ausdruck, als man z. B. einen ins Wasser gehaltenen Stab bekanntlich gebrochen sieht; auch wendet sich dieser Ausdruck für die geometrische Verzeichnung des Phänomens natürlich an. Aber ein ganz anderes ist die Brechung des Lichts und der sogenannten Lichtstrahlen in physikalischer Bedeutung, – ein Phänomen, das viel schwerer zu verstehen ist, als es dem ersten Augenblicke nach scheint. (313) Phänomenologisch kann und muss man unterscheiden zwischen Farben, die über Pigmente entstehen (paint), und Farben, die wie im 260 260 k
318 260 f . k Zweite Abteilung: Physik 313 f. Fall des Regenbogens oder des Blaus von Himmel und Wasser durch physikalische Lichtbrechung verursacht sind, wie sich keineswegs nur Hegel ausdrückt. Bei den Farben von Pflanzen und Tieren unterscheidet man demgemäß solche, die durch Pigmenteinlagerungen etwa in der Haut vermittelt sind, von den auf physikalischem Weg zustande kommenden Strukturfarben der Lichtbrechung. Die Pigmentfarben werden durch ›chemische‹ Farbsto=e hervorgerufen, die Strukturfarben bei Insekten entstehen durch dünne Chitin-Lamellen im Wechsel mit dünnen Luftschichten (Interferenzfarben). Dies nur als Ergänzung. Abgerechnet das sonstige Unstatthafte der gewöhnlichen Vorstellung macht sich die Verwirrung, in welche sie verfallen muß, in der Verzeichnung der angenommenermaßen sich von einem Punkte aus als Halbkugel ausstrahlenden Lichtstrahlen leicht augenfällig. Es muß in Rücksicht der Theorie, wodurch die Erscheinung erklärt zu werden pflegt, an die wesentliche Erfahrung erinnert werden, daß der ebene Boden eines mit Wasser gefüllten Gefäßes eben, somit ganz und gleichförmig gehoben erscheint, – ein Umstand, welcher der Theorie gänzlich widerspricht, aber, wie es in solchen Fällen gewöhnlich geschieht, darum in den Lehrbüchern ignoriert oder verschwiegen wird. – Worauf es ankommt, ist, daß Ein Medium nur schlechthin Durchsichtiges überhaupt ist, und erst das Verhältnis zweier Medien von verschiedener spezifischer Schwere das Wirksame wird für eine Partikularisation der Sichtbarkeit, – eine Determination, die zugleich nur ortbestimmend, d. h. durch die ganz abstrakte Dichtigkeit gesetzt ist. Ein Verhältnis der Medien als wirksam findet aber nicht im gleichgültigen Nebeneinandersein, sondern allein statt, indem das eine in dem andern – nämlich hier nur als Sichtbares – als Sehraum gesetzt ist. Dieses andere Medium wird von der immateriellen Dichtigkeit des darin gesetzten sozusagen infiziert, so daß es in ihm den Sehraum des Bildes nach der Beschränkung zeigt, die es selbst (das Medium) erleidet und ihn damit beschränkt. Die rein mechanische, nicht physisch reale Eigenschaft, sondern ideelle der Dichtigkeit, nur raumbestimmend zu sein, kommt hier ausdrücklich vor, sie scheint so außerhalb des Materiellen, dem sie angehört, zu wirken, weil sie allein auf den Ort des Sichtbaren wirkt; ohne jene Idealität läßt sich das Verhältnis nicht fassen. (313 f.)
314 f. Physik der totalen Individualität 319 Hegels Kritik an Newtons Optik leidet wie die Goethes an ihrer polemischen Form. Sie wäre richtig, wenn nur gesagt würde, dass Newtons Theorie noch nicht alles zu den Farbphänomenen sagt und dass die Theorie, wie alle derartigen Theorien, einer besonderen praktischen Projektion auf die reale Welt der erfahrbaren Phänomene bedarf. Ein Satz der Art, Farbe sei nichts anderes als physikalische Lichtbrechung, ist daher bestenfalls cum grano salis wahr; wörtlich genommen ist er falsch. Das liegt nicht nur an der Physiologie unserer und dann auch animalischer Farbwahrnehmung, sondern sozusagen auch an der Chemie der Farben und den konkreten Umständen von diesen und anderen Farberscheinungen. Ansonsten sind Hegels Texte zeitbedingt zu beurteilen. Die Passagen zu den Farben kann man dabei als inhaltlich nicht allzu wesentlich auch übergehen. § 319 Diese zunächst äußerliche Vergleichung und das In-eins-setzen verschiedener die Sichtbarkeit bestimmender Dichtigkeiten, welche in verschiedenen Medien (Luft, Wasser, dann Glas usf.) existieren, ist in der Natur der Kristalle eine innerliche Vergleichung. Diese sind einerseits durchsichtig überhaupt, andererseits aber besitzen sie in ihrer innern Individualisierung (Kerngestalt) eine von der formellen Gleichheit,37 der jene allgemeine Durchsichtigkeit angehört, abweichende Form. Diese ist auch Gestalt als Kerngestalt, aber ebenso ideelle, subjektive Form, die wie die spezifische Schwere den Ort bestimmend wirkt und daher auch die Sichtbarkeit, als räumliches Manifestieren auf spezifische Weise, von der ersten abstrakten Durchsichtigkeit verschieden, bestimmt, – doppelte Strahlenbrechung. (314 f.) Hegel spricht hier über die Brechung von Licht im Fall von Kristallen sowohl an den äußeren Oberflächen als auch ggf. im Innern. 37 Fußnote Hegels: Das Kubische überhaupt ist hier unter der formellen Gleichheit bezeichnet. Als hier genügende Bestimmung der Kristalle, welche die sogenannte doppelte Strahlenbrechung zeigen, in Ansehung ihrer innern Gestaltung, führe ich die aus Biot, Phys. III, ch. 4., p. 325 an: »Dies Phänomen zeigt sich an allen durchsichtigen Kristallen, deren primitive Form weder ein Kubus noch ein regelmäßiges Oktaeder ist.« 261
320 261 k 262 k Zweite Abteilung: Physik 315 Die Kategorie Kraft könnte hier passend gebraucht werden, indem die rhomboidalische Form (die gewöhnlichste unter den von jener formellen Gleichheit der Gestalt in sich abweichenden) durch und durch den Kristall innerlich individualisiert, aber, wenn dieser nicht zufällig in Lamellen gesplittert ist, nicht zur Existenz als Gestalt kommt und dessen vollkommene Homogeneität und Durchsichtigkeit nicht im mindesten unterbricht und stört, nur als immaterielle Bestimmtheit wirksam ist. (315) Hegels Kategorie der Kraft meint ein System von Dispositionen. Ich kann nichts Tre=enderes in Beziehung auf den Übergang von einem zunächst äußerlich gesetzten Verhältnis zu dessen Form als innerlich wirksamer Bestimmtheit oder Kraft anführen, als wie Goethe die Beziehung der äußerlichen Vorrichtung von zwei zueinander gerichteten Spiegeln auf das Phänomen der entoptischen Farben, das im Innern des Glaskubus in seiner Stellung zwischen ihnen erzeugt wird, ausdrückt. Zur Naturwissenschaft [überhaupt] I. Bd., 3s Heft, XXII. S. 148, heißt es von den »natürlichen, durchsichtigen, kristallisierten Körpern«: »Wir sprechen also von ihnen aus, daß die Natur in das Innerste solcher Körper einen gleichen Spiegelapparat aufgebaut habe, wie wir es mit äußerlichen, physisch-mechanischen Mitteln getan« – vergl. vorherg. S. daselbst.38– Es handelt sich, wie gesagt, bei dieser Zusammenstellung des Äußern und Innern nicht von Refraktion, wie im Paragraph, sondern von einer äußern Doppelspiegelung und dem ihr im Innern entsprechenden Phänomen. So ist weiter zu unterscheiden, wenn es daselbst S. 147 heißt: »man habe beim rhombischen Kalkspat gar deutlich bemerken können, daß der verschiedene Durchgang der Blätter und die deshalb gegeneinander wirkenden Spiegelungen die nächste Ursache der Erscheinung seien«, – daß im Paragraph von der sozusagen rhomboidalischen Kraft oder Wirksamkeit, nicht von Wirkung existierender Lamellen (vgl. I. Bd. 1. Heft zur Naturwissenschaft [überhaupt] S. 25) gesprochen wird. (315 f.) Würden Goethe und Hegel nur auf die Unterschiede der Struk38 Fußnote Hegels: Was ich über dieses Apperçu gesagt, hat Goethe so freundlich aufgenommen, daß es Heft 4 zur Naturwissenschaft S. 294 zu lesen ist.
316 Physik der totalen Individualität 321 turfarben an Lamellen zu Pigmentfarben und dann noch auf die typischen Signalwirkungen und symbolischen Konnotationen von Farben aufmerksam gemacht haben, wäre nichts an ihren Überlegungen auszusetzen. § 320 3) Dies immaterielle Fürsichsein (Kraft) der Form zu innerlichem Dasein fortgehend, hebt die neutrale Natur der Kristallisation auf, und es tritt die Bestimmung der immanenten Punktualität, Sprödigkeit (und dann Kohäsion) ein, bei noch vollkommener, aber formeller Durchsichtigkeit (– sprödes Glas z. B.). Dies Moment der Sprödigkeit ist Verschiedenheit von dem mit sich identischen Manifestieren, dem Lichte und der Erhellung; es ist also innerer Beginn oder Prinzip der Verdunkelung, noch nicht existierendes Finsteres, aber wirksam als verdunkelnd; (sprödes Glas, obgleich vollkommen durchsichtig, ist die bekannte Bedingung der entoptischen Farben). (316) Die entoptischen Farben betre=en die Physiologie der Farbwahrnehmung; die Rede von der immateriellen Kraft betri=t die Zuordnungen von Dispositionen als bedingten Wirkungen auf Farben wahrnehmende Wesen, z. B. Tiere und Menschen. Die partiell veralteten Reden über Kristallisation, immanente Punktualität, Sprödigkeit und Kohäsion betre=en sehbare Festkörper in ihren Absorptions- und Reflexionseigenschaften, also in ihren Relationen zum Licht, zu denen auch die Licht(un)durchlässigkeit gehört, die, wie wir heute wissen, auch von den Wellenlängen des Lichts abhängt. Das Verdunkeln bleibt nicht bloß Prinzip, sondern geht gegen die einfache, unbestimmte Neutralität der Gestalt außer den äußerlich und quantitativ bewirkten Trübungen und geringeren Durchsichtigkeiten fort zum abstrakten einseitigen Extreme der Gediegenheit, der passiven Kohäsion (Metallität). So gibt dann ein auch für sich existierendes Finsteres und für sich vorhandenes Helles, vermittelst der Durchsichtigkeit zugleich in konkrete und individualisierte Einheit gesetzt, die Erscheinung der Farbe. (316) Hegels Manie und Manier, uns erst am Ende zu sagen, dass wir gerade von Licht und Farbe sprechen, ist hier besonders lästig. Metallität ist nur ein Beispiel dafür, dass manche Körper undurchsichtig 262 262 f .
322 263 k 263 k 263 k 263 f . k Zweite Abteilung: Physik 316 f. sind, so wie Kristalle und Glas als Beispiele für (partiell) durchsichtige Körper dienen. Dem Licht als solchem ist die abstrakte Finsternis unmittelbar entgegengesetzt (§ 277). Aber das Finstre wird erst reell als physische individualisierte Körperlichkeit, und der aufgezeigte Gang der Verdunkelung ist diese Individualisierung des Hellen, d. h. hier des Durchsichtigen, nämlich der im Kreise der Gestalt passiven Manifestation, zum Insichsein der individuellen Materie; das Durchsichtige ist das in seiner Existenz homogene Neutrale; das Finstre das in sich zum Fürsichsein Individualisierte, das aber nicht in Punktualität existiert, sondern nur als Kraft gegen das Helle ist und darum ebenso in vollkommener Homogeneität existieren kann. – (316 f.) In der Unterscheidung zwischen hell und dunkel ist das Licht nicht einfach das optische Licht und das Dunkle ist nicht immer ein (›metallischer‹, undurchsichtiger) Festkörper. Im Weltall liegt das Dunkle auch am fehlenden Licht, beim Blinden fehlt u. U. die Lichtwahrnehmung überhaupt. Die Metallität ist bekanntlich das materielle Prinzip aller Färbung – oder der allgemeine Färbesto=, wenn man sich so ausdrücken will. (317) Hegels Rede von der Metallität steht hier wohl veraltet für Pigmentfärbungen. Was vom Metalle hier in Betracht kommt, ist nur seine hohe spezifische Schwere, in welche überwiegende Partikularisierung sich die spezifische Materie gegen die aufgeschlossene innere Neutralität der durchsichtigen Gestalt zurücknimmt und zum Extreme steigert; im Chemischen ist dann die Metallität ebenso einseitige, indi=erente Base. (317) Was Hegel hier weiter zur Metallität sagt, sollten wir einfach gnädig übergehen. In der gemachten Aufzeigung des Ganges der Verdunkelung kam es darauf an, die Momente nicht nur abstrakt anzugeben, sondern die empirischen Weisen zu nennen, in denen sie erscheinen. Es erhellt von selbst, daß beides seine Schwierigkeiten hat; aber, was für die Physik noch größere Schwierigkeiten hervorbringt, ist die Vermengung der Bestimmungen oder Eigenschaften, die ganz verschiedenen Sphären angehören. So wesentlich es ist, für die
317 f. Physik der totalen Individualität 323 allgemeinen Erscheinungen wie Wärme, Farbe usf. die einfache spezifische Bestimmtheit unter noch so verschiedenen Bedingungen und Umständen auszufinden, so wesentlich ist es auf der andern Seite, die Unterschiede festzuhalten, unter denen solche Erscheinungen sich zeigen. Was Farbe, Wärme usf. sei, kann in der empirischen Physik nicht auf den Begri=, sondern muß auf die Entstehungsweisen gestellt werden. Diese aber sind höchst verschieden. Die Sucht aber, nur allgemeine Gesetze zu finden, läßt zu diesem Ende wesentliche Unterschiede weg und stellt nach einem abstrakten Gesichtspunkte das Heterogenste chaotisch in Eine Linie (wie in der Chemie etwa Gase, Schwefel, Metalle usf.). So die Wirkungsweisen nicht nach den verschiedenen Medien und Kreisen, in welchen sie statthaben, partikularisiert zu betrachten, hat dem Verlangen selbst, allgemeine Gesetze und Bestimmungen zu finden, nachteilig sein müssen. So chaotisch finden sich diese Umstände nebeneinander gestellt, unter denen die Farbenerscheinung hervortritt, und es pflegen Experimente, die dem speziellsten Kreise von Umständen angehören, gegen die einfachen allgemeinen Bedingungen, in denen sich die Natur der Farbe dem unbefangenen Sinne ergibt, den Urphänomenen, entgegengestellt zu werden. Dieser Verwirrung, welche bei dem Scheine feiner und gründlicher Erfahrung in der Tat mit roher Oberflächlichkeit verfährt, kann nur durch Beachtung der Unterschiede in den Entstehungsweisen begegnet werden, die man zu diesem Behuf kennen und in ihrer Bestimmtheit auseinanderhalten muß. (317 f.) Hegel betont hier negativ mit vollem Recht, dass eine simple Reduktion der physikalischen Phänomene des Lichts, der Chemie und Elektrochemie, auch des Magnetismus und der elektrischen Wirkungen, erst recht aber der Physiologie und Neurophysiologie auf eine einfache Punktbewegungsmechanik keine gute Idee ist. Was er positiv zu den Phänomenen sagt, ist zeitbedingt und verständlicherweise noch unbeholfen. Zunächst ist sich davon als von der Grundbestimmung zu überzeugen, daß die Hemmung der Erhellung mit der spezifischen Schwere und der Kohäsion zusammenhängt. Diese Bestimmungen sind gegen die abstrakte Identität der reinen Manifestation (das Licht als solches) die Eigentümlichkeiten und Besonderungen der Körperlichkeit; von ihnen aus geht diese weiter in sich, in das 264 k
324 264 f . k Zweite Abteilung: Physik 318 Finstre, zurück; es sind die Bestimmungen, welche unmittelbar den Fortgang der bedingten zur freien Individualität (§ 307) ausmachen und hier in der Beziehung der erstern zur letztern erscheinen. Die entoptischen Farben haben darin das Interessante, daß das Prinzip der Verdunkelung hier die Sprödigkeit als immaterielle (nur als Kraft wirksame) Punktualität ist, welche in der Pulverisierung eines durchsichtigen Kristalls auf eine äußerliche Weise existiert und die Undurchsichtigkeit bewirkt, wie z. B. auch Schäumen durchsichtiger Flüssigkeit, usf. – Der Druck einer Linse, der die epoptischen Farben erzeugt, ist äußerlich mechanische Veränderung bloß der spezifischen Schwere, wobei Teilung in Lamellen und dergleichen existierende Hemmungen nicht vorhanden sind. – (318) Wieder sind die ›positiven‹ Aussagen zur Farbwahrnehmung veraltet, besonders die Rede vom »Druck« einer Linse, welche irgendwie die Lichtbrechung erklären soll. Halbwegs korrekt scheint die Beobachtung der Brechungseigenschaften von »Lamellen« (bei eingeschlossener Luft) und dass die Lichtbrechung mit den verschiedenen Dichten der Sto=e zusammenhängt (wie im Fall von Luft und Wasser). Bei der Erhitzung der Metalle (Veränderung der spezifischen Schwere) entstehen auf ihren Oberflächen flüchtig aufeinanderfolgende Farben, welche selbst nach Belieben festgehalten werden können (Goethe, Farbenlehre I. S. 191). – In der chemischen Bestimmung tritt aber durch die Säure ein ganz anderes Prinzip der Erhellung des Dunkeln, der immanentern Selbstmanifestation, der Befeurung ein. Aus der Betrachtung der Farben für sich ist die chemisch determinierte Hemmung, Verdunkelung, Erhellung, zunächst auszuschließen; denn der chemische Körper, wie das Auge (bei den subjektiven, physiologischen Farbenerscheinungen), ist ein Konkretes, das vielfache weitere Bestimmungen in sich enthält, so daß sich die, welche sich auf die Farbe beziehen, nicht bestimmt für sich herausheben und abgesondert zeigen lassen, sondern vielmehr wird die Erkenntnis der abstrakten Farbe vorausgesetzt, um an dem Konkreten das sich darauf Beziehende herauszufinden. (318 f.) Als ergänzender Kommentar könnte die folgende historische Beobachtung reichen: Seine ›chemische‹ Farbenlehre hat Wilhelm Ostwald reich, seine bahnbrechenden Arbeiten zur Katalyse haben ihn berühmt gemacht.
319 Physik der totalen Individualität 325 Das Gesagte bezieht sich auf die innere Verdunklung, insofern sie zur Natur des Körpers gehört; in Beziehung auf die Farbe hat es insofern Interesse, sie nachzuweisen, als die durch sie bewirkte Trübung nicht auf eine äußerlich für sich existierende Weise gesetzt und damit so nicht aufgezeigt werden kann. Ein aber in äußerlicher Existenz als trübend wirksames Medium ist ein weniger durchsichtiges, nur durchscheinendes Medium überhaupt; ein ganz durchsichtiges (die elementarische Luft ist ohne das Konkrete, wie ein solches schon in der Neutralität des unindividualisierten Wassers liegt), wie Wasser oder reines Glas, hat einen Anfang von Trübung, die durch Verdickung des Mediums besonders in Vermehrung der Lagen (d. i. unterbrechenden Begrenzungen) zum Dasein kommt. Das berühmteste äußerlich trübende Mittel ist das Prisma, dessen trübende Wirksamkeit in den zwei Umständen liegt, erstlich in seiner äußern Begrenzung als solcher, an seinen Rändern; zweitens in seiner prismatischen Gestalt, der Ungleichheit der Durchmesser seines Profils von der ganzen Breite seiner Seite bis zur gegenüberstehenden Kante. Zu dem Unbegreiflichen an den Theorien über die Farbe gehört unter anderem, daß in ihnen die Eigenschaft des Prisma, trübend zu wirken und besonders ungleich trübend nach der ungleichen Dicke der Durchmesser der verschiedenen Teile, durch die das Licht fällt, übersehen wird. (319) Die ›Erklärungen‹ der Farben durch ›Trübungen‹ taugen wenig. Die Verdunkelung aber überhaupt ist nur der eine Umstand, die Helligkeit der andere; zur Farbe gehört eine nähere Determination in der Beziehung derselben. Das Licht erhellt, der Tag vertreibt die Finsternis; die Verdüsterung als bloße Vermischung des Hellen mit vorhandenem Finstern gibt im allgemeinen ein Grau. Aber die Farbe ist eine solche Verbindung beider Bestimmungen, daß sie, indem sie auseinandergehalten sind, ebensosehr in Eins gesetzt werden; sie sind getrennt, und ebenso scheint eines im andern; eine Verbindung, die somit Individualisierung zu nennen ist; ein Verhältnis, wie bei der sogenannten Brechung aufgezeigt wurde, daß eine Bestimmung in der andern wirksam ist und doch für sich ein Dasein hat. Es ist die Weise des Begri=s überhaupt, welcher als konkret die Momente zugleich unterschieden und in ihrer Idealität, ihrer Einheit enthält. Diese Bestimmung findet sich in der Goetheschen Darstellung auf 265 k 265 f . k
326 266 k Zweite Abteilung: Physik 319 f. die ihr gehörige sinnliche Weise ausgedrückt, – daß beim Prisma das Helle über das Dunkle, oder umgekehrt, hergezogen wird, so daß das Helle ebenso noch als Helles selbständig durchwirkt, als es getrübt [ist], daß es (im Falle des Prisma), die gemeinschaftliche Verrückung abgerechnet, ebensowohl an seiner Stelle bleibt, als es zugleich verrückt wird. Wo das Helle oder Dunkle oder vielmehr Erhellende und Verdunkelnde (beides ist relativ) in den trüben Medien für sich existiert, behält das trübe Medium, vor einen dunklen Hintergrund, auf diese Weise als erhellendes wirkend, gestellt – und umgekehrt –, seine eigentümliche Erscheinung, und zugleich ist eins im andern negativ, beides identisch gesetzt. So ist der Unterschied der Farbe von dem bloßen Grau (– obgleich z. B. bloß grauer, ungefärbter Schatten sich vielleicht seltner findet, als man zunächst meint) zu fassen – er ist derselbe als innerhalb des Farben-Vierecks der Unterschied des Grünen von dem Roten, jenes die Vermischung des Gegensatzes, des Blauen und des Gelben, dieses die Individualität desselben. (319 f.) Die Mischung von blauer und gelber Farbe (paint) ergibt bekanntlich Grün. Die Ausdrucksweise, dass weißes (farbloses) Licht aus ›allen‹ Farben ›besteht‹, ist logisch von ganz anderem Typ als die Mischung von Malfarben. Nach der bekannten Newtonischen Theorie besteht das weiße, d. i. farblose Licht aus fünf oder aus sieben Farben; denn genau weiß dies die Theorie selbst nicht. – Über die Barbarei vors erste der Vorstellung, daß auch beim Lichte nach der schlechtesten ReflexionsForm, der Zusammensetzung, gegri=en worden ist und das Helle hier sogar aus sieben Dunkelheiten bestehen soll, wie man das klare Wasser aus sieben Erdarten bestehen lassen konnte, kann man sich nicht stark genug ausdrücken; so wie über die Ungeschicklichkeit und Unrichtigkeit des Newtonischen Beobachtens und Experimentierens, nicht weniger über die Fadheit desselben, ja selbst, wie Goethe gezeigt hat, über dessen Unredlichkeit; – eine der auffallendsten sowie einfachsten Unrichtigkeiten ist die falsche Versicherung, daß ein durch ein Prisma bewirkter einfarbiger Teil des Spektrums, durch ein zweites Prisma gelassen, auch wieder nur einfarbig erscheine – (Newt. Opt. L. I. P. I. prop. V in fine); (. . . ) (320 f.) Die im Grunde viel zu vielen Worte, mit denen Hegel hier gegen
321 Physik der totalen Individualität 327 das Beobachten und Experimentieren Newtons zu Felde zieht, wie »Ungeschicktheit«, »Unrichtigkeit«, »Fadheit« und sogar »Unredlichkeit«, zeigen, dass hier Hegel ein weit größeres Problem als Newton hat. Das ist nicht zuletzt deswegen so, weil er ganz o=enbar Goethe gefallen will. Hegels Polemik ist auch ein wenig typisch für Logiker. Wir finden analoge Beispiele überzogener, wenn auch partiell berechtigter Kritik bei Frege (z. B. auch gegen Cantor), Russell (z. B. gegen einen mit Berkeley oder McTaggart verwechselten Hegel) und Wittgenstein (z. B. auch gegen den Ethnologen George Frazer). (. . . ) alsdenn über die gleich schlechte Bescha=enheit des Schließens, Folgerns und Beweisens aus jenen unreinen empirischen Daten; Newton gebrauchte nicht nur das Prisma, sondern der Umstand war ihm auch nicht entgangen, daß zur Farbenerzeugung durch dasselbe eine Grenze von Hell und Dunkel erforderlich sei (Opt. Lib. II. P. II. p. 230 ed. lat. Lond. 1719), und doch konnte er das Dunkle als wirksam zu trüben übersehen. Diese Bedingung der Farbe wird überhaupt von ihm nur bei einer ganz speziellen Erscheinung (und auch dabei selbst ungeschickt), nebenher und nachdem die Theorie längst fertig ist, erwähnt. So dient diese Erwähnung den Verteidigern der Theorie nur dazu, sagen zu können, diese Bedingung sei Newton nicht unbekannt gewesen, nicht aber dazu, als Bedingung sie mit dem Lichte an die Spitze aller Farbenbetrachtung zu stellen. Vielmehr wird jener Umstand, daß bei aller Farbenerscheinung Dunkles vorhanden ist, in den Lehrbüchern verschwiegen, so wie die ganz einfache Erfahrung, daß, wenn durchs Prisma eine ganz weiße (oder überhaupt einfarbige) Wand angesehen wird, man keine Farbe (im Falle der Einfarbigkeit keine andere als eben die Farbe der Wand) sieht, sobald aber ein Nagel in die Wand geschlagen, irgendeine Ungleichheit auf ihr gemacht wird, sogleich und nur dann und nur an solcher Stelle, Farben zum Vorschein kommen. Zu den Ungehörigkeiten der Darstellung der Theorie ist darum auch diese zu zählen, daß so viele widerlegende Erfahrungen verschwiegen werden; (. . . ) (321) Goethes Reden vom Hellen, Dunklen und den Trübungen führen, wie gesagt, nicht weiter. Das Monitum, es werde verschwiegen, dass »bei aller Farbenerscheinung Dunkles vorhanden ist«, ist im Grunde unverständlich: Man kann etwas nur verschweigen, wenn man es für 266 f . k
328 267 k 267 k 267 k 267 k Zweite Abteilung: Physik 321 f. wichtig hält. Wer Unwichtiges nicht sagt, ist nicht ›unredlich‹. Damit kollabiert aber Hegels Kritik schon weitgehend. (. . . ) hierauf endlich insbesondere über die Gedankenlosigkeit, mit der eine Menge der unmittelbaren Folgerungen jener Theorie (z. B. die Unmöglichkeit achromatischer Fernrohre) aufgegeben worden und doch die Theorie selbst behauptet wird; – (. . . ) (321 f.) Die Leistungskraft und der Erklärungsbereich der Optik Newtons mag einer Präzisierung bedürfen. Der Vorwurf der Gedankenlosigkeit ist aber unangebracht. (. . . ) zuletzt aber über die Blindheit des Vorurteils, daß diese Theorie auf etwas Mathematischem beruhe, als ob die, zum Teil selbst falschen und einseitigen, Messungen nur den Namen von Mathematik verdienten, und als ob die in die Folgerungen hineingebrachten quantitativen Bestimmungen irgendeinen Grund für die Theorie und die Natur der Sache selbst abgäben. (322) Hegels Rede von ›falschen und einseitigen Messungen‹ ist erstens allzu allgemein und zweitens unangemessen. Ein Hauptgrund, warum die ebenso klare als gründliche, auch sogar gelehrte, Goethesche Beleuchtung dieser Finsternis im Lichte nicht eine wirksamere Aufnahme erlangt hat, ist ohne Zweifel dieser, weil die Gedankenlosigkeit und Einfältigkeit, die man eingestehen sollte, gar zu groß ist. – (322) Die Hervorhebung der gründlichen Forschungen Goethes und seine Darstellung als Gelehrter ist klar ihrer Freundschaft geschuldet – und verführt Hegel zu einer etwas unnötigen Polemik gegen die »Gedankenlosigkeit und Einfältigkeit« derer, die Goethes Arbeiten anders einschätzen. Statt daß sich diese ungereimten Vorstellungen vermindert hätten, sind sie in den neuesten Zeiten auf die Malusschen Entdeckungen noch durch die Polarisation des Lichts und gar durch die Viereckigkeit der Sonnenstrahlen, durch eine links rotierende Bewegung roter und eine rechts rotierende blauer Lichtkügelchen, vollends durch die wieder aufgenommenen Newtonschen Fits, die accès de facile transmission und accès de facile réflexion zu weiterem metaphysischem Galimathias vermehrt worden. – Ein Teil solcher Vorstellungen entsprang auch hier aus der Anwendung von Di=erential-Formeln auf Farbenerscheinungen, indem die guten Bedeutungen, welche
322 f. Physik der totalen Individualität 329 Glieder dieser Formeln in der Mechanik haben, unstatthafterweise auf Bestimmungen eines ganz andern Feldes übertragen worden sind. (322) Die Rede von den Lichtkügelchen zeigt, gegen welche Modellbilder sich die Polemik mit Recht richtet, wenn man diese wörtlich liest. Es mangelt aber an einer wohlwollenden Lektüre der theoretischen Darstellungen in Newtons Optik. Hegel hat nur darin recht, dass die Di=erential- und Integralrechnung zur Berechnung von Flächen und Kurvenlängen in der Geometrie, Architektur, Statik und Mechanik eine zentrale Bedeutung hat, nicht aber in einer Theorie der Lichtbrechung und Farben. β) Der Unterschied an der besonderten Körperlichkeit § 321 Das Prinzip des einen Gliedes des Unterschiedes (das Fürsichsein) ist das Feuer (§ 283), aber noch nicht als realer chemischer Prozeß (§ 316), auch nicht mehr die mechanische Sprödigkeit, sondern in der physischen Besonderheit, Brennlichkeit an sich, welche zugleich di=erent nach außen das Verhältnis zum Negativen in elementarischer Allgemeinheit, zu der Luft, dem unscheinbar Verzehrenden (§ 282), der Prozeß derselben am Körperlichen ist; die spezifische Individualität als einfacher theoretischer Prozeß, die unscheinbare Verflüchtigung des Körpers an der Luft – der Geruch. (322 f.) Zunächst klingt hier alles ganz obskur. Warum soll das Feuer, aber noch nicht als chemischer Prozess, das »Prinzip des einen Gliedes des Unterschiedes« sein? Wieder ist der typische Manierismus Hegels lästig: Erst der Schluss der Passage sagt uns, dass er gerade den Geruch eines Körpers bzw. Gases kommentiert. Hegel sagt, dass der typische Geruch zum Fürsichsein, also zur Bestimmung eines Sto=es gehören kann. In der Tat kann man manche ›physische Besonderheit‹ bzw. besondere chemische Sto=e riechen. Mit einer ›Brennlichkeit an sich‹ hat das wenig zu tun. Man versteht damals wohl das viel allgemeinere Phänomen der Di=usion und der direkten Sublimation (etwa auch von Trockeneis) noch nicht ausreichend, die Hegel immerhin ganz richtig als eine »unscheinbare Verflüchtigung des Körpers an der Luft« charakterisiert. Der Geruch 267 f .
330 268 k 268 Zweite Abteilung: Physik 323 eines Körpers ist also vermittelt über eine Di=usion. Riechen ist nur insofern ein einfacher theoretischer Prozess, als es hier nur erst um das unmittelbare sinnliche Unterscheiden geht, nicht um den höchst komplexen chemischen und physiologischen Prozess des Riechens. Die Eigenschaft des Geruchs der Körper, als für sich existierende Materie (§ 126), der Riechsto=, ist Öl, das als Flamme verbrennende. Als bloße Eigenschaft existiert das Riechen z. B. in dem ekelhaften Geruche des Metalls. (323) Hegel selbst glaubt m. E. keineswegs an eine ominöse Lehre von eigenen Riechsto=en in den Dingen. Öle binden zwar Sto=e, die bei Verbrennung besondere Gerüche freisetzen, ähnlich wie die Harze im Fall von Weihrauch. Aber damit erkennen wir nur, dass wir Gase riechen. Es gibt außerdem sicher ekelhaftere Gerüche als die ›des Metalls‹. § 322 Das andere Moment des Gegensatzes, die Neutralität (§ 284), individualisiert sich zur bestimmten physischen Neutralität der Salzigkeit und deren Bestimmungen, Säure usf., – zum Geschmack, einer Eigenschaft, die zugleich Verhältnis zum Elemente, der abstrakten Neutralität des Wassers, bleibt, in welchem der Körper als nur neutral lösbar ist. Umgekehrt ist die abstrakte Neutralität, die in ihm enthalten ist, von den physischen Bestandteilen seiner konkreten Neutralität trennbar und als Kristallisations-Wasser darstellbar, welches aber im noch unaufgelösten Neutralen, freilich nicht als Wasser, existiert. (§ 286 Anm.) (323) Die Bemerkung zeigt exemplarisch, wie Hegel ganze Themenbereiche in zwei Sätzen kommentiert. Unser gustatorischer Geschmack unterscheidet sehr grob Salziges und weniger Salziges, Saures und Süßes – und, wie man heute ebenfalls weiß, Umami, den ›holistischen‹ Geschmack von Fleisch, den das Glutamat verstärkt. Ohne Geruch unterscheiden wir schon kaum mehr. Es werden dabei, grob gesagt, in Wasser gelöste Sto=typen und ihre Konzentration durch Geschmacksknospen detektiert.
324 Physik der totalen Individualität 331 γ) Die Totalität in der besondern Individualität; Elektrizität § 323 Die Körper stehen nach ihrer bestimmten Besonderheit zu den Elementen in Beziehung, aber als gestaltete Ganze treten sie auch in Verhältnis zueinander, als physikalische Individualitäten. Nach ihrer noch nicht in den chemischen Prozeß eingehenden Besonderheit sind sie Selbständige und erhalten sich gleichgültig gegeneinander, ganz im mechanischen Verhältnisse. Wie sie in diesem ihr Selbst in ideeller Bewegung als ein Schwingen in sich als Klang kundtun, so zeigen sie nun in physikalischer Spannung der Besonderheit gegeneinander ihre reelle Selbstischkeit, die aber zugleich noch von abstrakter Realität ist, als ihr Licht, aber ein an ihm selbst di=erentes Licht, – elektrisches Verhältnis. (324) Wieder müssen wir hinten beginnen, denn es geht jetzt um das elektrische Verhältnis zwischen Körpern in einer Entladung einer elektrischen Spannung – gemessen in Volt und Ampère. Im Blitz, einem Lichtstrahl oder als Funke zeigt sich dieses als Licht. Hegel charakterisiert Licht fast stereotyp als »reelle Selbstischkeit«, spricht aber hier noch von seiner abstrakten, also unspezifischen Realität. – Was aber soll an einem Licht, das sich in einem elektrischen Prozess zeigt, »an ihm selbst di=erent« sein? Nun ja, Hegel kommentiert hier, wie der nächste Paragraph bestätigt, wohl nur ganz allgemein die statische Elektrizität etwa eines an einem Tuch geriebenen Bernsteins. Sehr tief ist das noch nicht. Es klingt hier daher alles erst einmal wirklich sehr allgemein. § 324 Die mechanische Berührung setzt die physische Di=erenz des einen Körpers in den andern; diese Di=erenz ist, weil sie zugleich mechanisch selbständig gegeneinander bleiben, eine entgegengesetzte Spannung. (324) Die Rede von einer mechanischen Berührung verweist auf die Reibung von Glas oder Bernstein. Dass sich dabei eine physische Differenz der sich aneinander reibenden Körper ergibt, betri=t natürlich nur solche Fälle, in denen z. B. das Harz und das Tuch sich elektrostatisch aufladen. Es wird damit eine entgegengesetzte Spannung 268 269
332 269 269 Zweite Abteilung: Physik 324 f. erzeugt. Hegel erklärt hier nichts, sondern beschreibt bekannte Phänomene, und das etwas allzu unvermittelt in höchst abstrakter Sprache. In diese tritt daher nicht die physische Natur des Körpers in ihrer konkreten Bestimmtheit ein, sondern es ist nur als Realität des abstrakten Selbsts, als Licht, und zwar ein entgegengesetztes, daß die Individualität sich manifestiert und in den Prozeß schickt. – (324 f.) Der Kommentar sagt zunächst nur, dass zur physischen Natur eines Körpers nicht bloß die Ausdehnung und Masse gehört, sondern etwa auch seine Magnetisierbarkeit und die elektrische Aufladbarkeit wie im Fall des Bernsteins. Auf dessen griechisches Wort »elektron« gehen ja die Bezeichnungen für das Elektrische weltweit zurück. Das »daher« ist hier auf keinen Fall als Anspruch auf eine ›kausale Erklärung‹ zu deuten. Dabei hängt die Elektrizität in der Tat mit den Phänomenen des Lichts, der allgemeinen Elektrodynamik zusammen. Hegels Rede vom »abstrakten Selbst« des Lichts an sich verweist auf eine entsprechende Disposition und passt zur »reellen Selbstischkeit« des Lichts in seinen Manifestationen: Entgegengesetzte elektrische Ladungen führen ggf. zu einem Prozess der Entladung und manifestieren sich z. B. in einem Lichtbogen. Die Aufhebung der Diremtion, das andere Moment dieses oberflächlichen Prozesses, hat ein indi=erentes Licht zum Produkt, das als körperlos unmittelbar verschwindet und außer dieser abstrakten physikalischen Erscheinung vornehmlich nur die mechanische Wirkung der Erschütterung hat. (325) Hegel spricht abstrakt-allgemein von einer »Aufhebung der Diremtion«. Eine elektrische Entladung ist ein besonderes Beispiel. Ein anderes Beispiel ist die oben schon besprochene Verbindung zweier Stabmagneten an ungleichnamigen Polflächen – welche ja ebenfalls die Spannung der Anziehung in gewisser Weise ›neutralisiert‹ oder ›aufhebt‹, um Hegels eigene Sprachformen zur Illustration zu verwenden. Ein ›oberflächlicher Prozess‹ ist hier als aktual manifeste Erscheinung zu verstehen. Indi=erent ist das Licht als Produkt der Entladung im Blitz oder Lichtbogen nur insofern, als man am ›weißen‹ Licht zunächst keine weiteren Unterschiede erkennen kann. Das Licht war oben schon als ›körperlos‹ bestimmt worden. – Alle Phänomene des
325 Physik der totalen Individualität 333 Lichts (und der Elektrizität) stehen schon aufgrund ihrer Schnelle kategorial den sehr langsamen Bewegungen der Körper gegenüber. Daher verschwindet das Licht eines Blitzes sozusagen unmittelbar, fast instantan. Außerdem kann es bei einer Entladung einen elektrischen ›Schlag‹ geben, den Hegel hier als »mechanische Wirkung der Erschütterung« anspricht, was für den Knall des Donners ja auch stimmt. Was die Schwierigkeit beim Begri=e der Elektrizität ausmacht, ist einesteils die Grundbestimmung von der ebenso physischen als mechanischen Trägheit des Körperindividuums in diesem Prozesse. (325) Um das Phänomen der Elektrizität begri=lich zu fassen, sind nicht nur die mechanischen Bewegungszustände der Körper gegeneinander zu betrachten, sondern die gesamte Form des Verhaltens der relativ stabilen Körperindividuen zueinander in den Prozessen der Auf- und Entladung und ihrer »mechanischen« Folgen. Die elektrische Spannung wird darum einem Andern, einer Materie, zugeschrieben, welcher das Licht angehöre, das abstrakt für sich, verschieden von der konkreten Realität des Körpers, welche in ihrer Selbständigkeit bleibt, hervortritt. (325) Man sollte die elektrische Spannung, meint Hegel, nicht einfach einer besonderen Materie in den Körpern zuschreiben, sondern das Phänomen holistisch-relational unter Beachtung der Arttypen der Körper und körperlichen Prozesse begreifen. Im aufgeladenen Bernstein ist z. B. keine eigene Lichtmaterie eingeschlossen, die sich bei Entladung entäußerte. Und doch ist das Bild am Ende nicht ganz falsch, wie wir an den Modellen der Bewegung von Elektronen, Photonen und anderen Teilchen in den späteren Theorien sehen können. Andernteils ist die Schwierigkeit die allgemeine des Begri=s überhaupt, das Licht in seinem Zusammenhange als Moment der Totalität aufzufassen, und zwar hier nicht mehr frei als Sonnenlicht, sondern als Moment des besondern Körpers, indem es an sich sei als das reine Selbst desselben und aus dessen Immanenz erzeugt in die Existenz trete. (325) Die Schwierigkeit, das Phänomen Licht zu verstehen, ist von einem logischen Standpunkt her gesehen nur ein Sonderfall des allgemeinen Problems, das holistisch Relationale und Prozessuale in weltbezogenen Begri=en bzw. Sachbereichen zu begreifen. Die Lichterzeugung 269 k 269 k 269 k
334 269 k 269 k 269 f . k Zweite Abteilung: Physik 325 durch elektrischen Strom gehört zur ›Totalität‹ der Erscheinungen der Elektrizität, wobei wir hier erst einmal nicht über das ›freie‹, also nicht in Experimenten erzeugte Sonnenlicht sprechen, dessen Erklärung freilich deswegen nicht weniger interessant ist. Alle Details überlässt Hegel aber der Sachwissenschaft Physik. Sie ist Arbeit am Begri= der physikalischen Natur, nicht die Naturphilosophie. Diese interessieren nur die allgemeinen logisch-begri=lichen Grundformen des Seins der Natur und des Wissens über die Natur – und ihr rechtes Verständnis. Wie das erste Licht, das der Sonne (§ 275), nur aus dem Begri=e als solchem [hervorgeht], so findet hier (wie § 306) ein Entstehen des Lichtes, aber eines di=erenten, aus einer Existenz, dem als besondern Körper existierenden Begri=e, statt. (325) Hegel sagt hier nicht etwa, es gehe das Licht der Sonne aus dem Begri= des Begri=s hervor. Seine merkwürdige Diktion meint schlicht dies: Licht auszusenden gehört zur Wesensart einer Sonne, also auch unserer Sonne. – In den Phänomenen der Elektrizität zeigt sich aber ein zunächst anderes, besonderes »Entstehen« von Licht, das wir neben den Phänomenen des Lichts der Sterne und Sonnen einerseits, eines irdischen Feuers andererseits zu betrachten haben. Bekanntlich ist der frühere, an eine bestimmte sinnliche Existenz gebundene Unterschied von Glas- und Harz-Elektrizität durch die vervollständigte Empirie in den Gedankenunterschied von positiver und negativer Elektrizität idealisiert worden; – ein merkwürdiges Beispiel, wie die Empirie, die zunächst das Allgemeine in sinnlicher Form fassen und festhalten will, ihr Sinnliches selbst aufhebt. – (325) Es gibt keine besondere Glas- und Harz-Elektrizität, und trotz der Unterscheidung von Gleich- und Wechselstrom auch keine besondere positive oder negative Elektrizität. D. h., die Bestimmung des ›Positiven‹ ist hier, wie beim Magnetismus, konventionell. Es gibt keinen ›natürlichen‹ fact of the matter. Wenn in neuern Zeiten viel von der Polarisation des Lichts die Rede geworden ist, so wäre mit größerem Rechte dieser Ausdruck für die Elektrizität aufbehalten worden als für die Malusschen Erscheinungen, wo durchsichtige Medien, spiegelnde Oberflächen und die verschiedenen Stellungen derselben zueinander und viele anderweitige Umstände es sind, welche einen äußerlichen Unter-
326 Physik der totalen Individualität 335 schied am Scheinen des Lichtes hervorbringen, aber nicht einen an ihm selbst. – (325) Hegels Distanz zu den Untersuchungen der Polarisation des Lichts ist veraltet; sein Vorschlag, die Polarisation der Elektrizität zu untersuchen, führt der Sache nach zumindest in die Nähe der Unterscheidung von Gleich- und Wechselstrom. Die Bedingungen, unter welchen die positive und die negative Elektrizität hervortreten, die glättere oder mattere Oberfläche z. B., ein Hauch und so fort, beweisen die Oberflächlichkeit des elektrischen Prozesses und wie wenig darein die konkrete physikalische Natur des Körpers eingeht. (325 f.) Die Rede von der »Oberflächlichkeit des elektrischen Prozesses« besagt, dass in die besonderen Verfahren der Erzeugung elektrischer Spannungen durch Reiben von Oberflächen »die konkrete physikalische Natur des Körpers« nur erst ›äußerlich‹ eingeht. Ebenso zeigen die schwache Färbung der beiden elektrischen Lichter, Geruch, Geschmack, nur den Beginn einer Körperlichkeit an dem abstrakten Selbst des Lichts, in welchem sich die Spannung des Prozesses hält, der, obgleich physisch, doch nicht ein konkreter Prozeß ist. (326) Der für uns heute ›falsch‹ klingende Satz will nur darauf hinaus, dass die Phänomene des elektrischen Lichtes und der Geruch einer Entladung nicht schon beweisen, dass es eine besondere elektrische Materie gäbe. Hegels Rede von einem bloßen »Beginn einer Körperlichkeit an dem abstrakten Selbst des Lichts« ist gar nicht so ganz falsch. Dass die Prozesse nicht als konkret zu bezeichnen seien, ist kein glücklicher Vorschlag, auch wenn sie keine normalen Körperbewegungen sind. Die Negativität, welche das Aufheben der entgegengesetzten Spannung ist, ist hauptsächlich ein Schlag ; – das sich aus seiner Entzweiung mit sich identisch setzende Selbst bleibt auch als diese Totalisierung in der äußerlichen Sphäre des Mechanismus stehen. Das Licht als Entladungsfunke hat kaum einen Anfang, sich zur Wärme zu materialisieren, und die Zündung, die aus der sogenannten Entladung entspringen kann, ist (Berthollet Statique Chimique. I. Partie, Sect. III, not. XI) mehr eine direkte Wirkung der Erschütterung als die Folge einer Realisation des Lichtes zu Feuer. – (326) 270 k 270 k 270 k
336 270 k 270 k 270 f . Zweite Abteilung: Physik 326 Es liegt, wie wir wissen, nur am Mangel damaligen Wissens, wenn Hegel betont, dass einzelne Entladungsfunken noch nicht ausreichen, sich zu »Wärme zu materialisieren«. Dass die mögliche Entzündung eines Brandes durch eine elektrische Entladung mechanische Wirkung der Erschütterung durch einen ›Stromschlag‹ sein soll, ist falsch. Richtig ist nur, dass elektrische Wärme nicht aus einer chemischen Verbrennung (Oxidation) stammt. Insofern die beiden Elektrizitäten an verschiedenen Körpern getrennt voneinander gehalten werden, so tritt, wie beim Magnetismus (§ 314), Bestimmung des Begri=s ein, daß die Tätigkeit darin besteht, das Entgegengesetzte identisch und das Identische entgegen zu setzen. (326) Die beiden Elektrizitäten, von denen Hegel spricht, bestehen in der positiven und negativen Spannung der beiden durch Reibung elektrostatisch gemachten Körper. Wieder geht es um die Analogie zu den Polen von Magneten. Sie ist einerseits mechanisierende Tätigkeit als räumliches Anziehen und Abstoßen, welche Seite, insofern sie isoliert für die Erscheinung werden kann, den Zusammenhang mit der Erscheinung des Magnetismus als solchen begründet; andererseits physisch in den interessanten Erscheinungen der elektrischen Mitteilung als solcher oder [der] Leitung, und als Verteilung. (326) Im Magnetismus gibt es den ›mechanisierenden‹, also sich in einer Tendenz zur räumlichen Bewegung zeigenden Prozess des Anziehens und Abstoßens. Die ›elektrischen Mitteilungen‹ betre=en einfach die Prozesse der Ladung und Entladung, die elektrischen Leiter und Leitungen, dann auch die Verteilung des elektrischen Stroms durch entsprechende Schalter oder Schaltungen. § 325 Die Besonderung des individuellen Körpers bleibt aber nicht bei der trägen Verschiedenheit und Selbsttätigkeit der Verschiedenen stehen, aus welcher die abstrakte reine Selbstischkeit, das Lichtprinzip, zum Prozeß, zu Spannung Entgegengesetzter und Aufheben derselben in ihrer Indi=erenz heraustritt. Da die besondern Eigenschaften nur die Realität dieses einfachen Begri=es, der Leib ihrer Seele, des Lichtes, sind und der Komplex der Eigenschaften, der besondere
326 f. Physik der totalen Individualität 337 Körper, nicht wahrhaft selbständig ist, so geht die ganze Körperlichkeit in die Spannung und in den Prozeß ein, welcher zugleich das Werden des individuellen Körpers ist. Die Gestalt, welche zunächst nur aus dem Begri=e hervorging, somit nur an sich gesetzt war, geht nun auch aus dem existierenden Prozesse hervor und stellt sich als das aus der Existenz Gesetzte dar, – der chemische Prozeß. (326 f.) Hegel macht, wie immer, etwas zu viele unpassende Worte, um zum neuen Thema, den chemischen Prozessen, überzuleiten. Wir beginnen auch wieder besser mit dem Ende der Passage: Manche ›Gestalten‹ der Sto=e sind visuell oder durch Riechen oder Schmecken unterscheidbar, so wie z. B. Schwefelwassersto= oder Süßes und Salziges. Diese Unterscheidungen betre=en zunächst nur besondere Unterschiede von manchen Sto=arten. Sie gehen insofern »nur aus dem Begri=e« ganz grober und auf unsere Sinnlichkeit bezogener Artunterscheidungen hervor. Objektiviert und verfeinert werden diese erst über die chemischen Reaktionen, welche die Sto=arten allererst definieren. Jetzt können wir zum Anfang der Passage übergehen: Neben den besonderen magnetischen oder elektrisch geladenen Körpern, ihren Massen und ihren räumlichen Körperformen sind für die Physik im Ganzen die Verschiedenheit der chemischen Sto=e und ihre Reaktionen miteinander von zentraler Bedeutung. Die Enge der Themen und Erklärungen einer bloßen Punktbewegungsmechanik und Gravitationstheorie wird dabei weit hinter sich gelassen. Im Fall eines einzelnen elektrisch aufladbaren Körpers – wie etwa des Glasstabes oder Bernsteins vor mir – instanziieren seine »besonderen Eigenschaften« nur den einfachen Begri=, also den Arttyp. Das heißt einfach: Jeder andere Glasstab oder Bernstein würde sich gleich verhalten. Auch der Satz, der aufgeladene Bernstein sei nur Leib seiner »Seele, des Lichtes«, also der Elektrizität, verweist nur auf die allgemeinen, beliebig wiederholbaren Prozessformen. Analoges gilt dann auch für eine ›Batterie‹ oder Voltaische Säule im weiter unten kommentierten ›Galvanismus‹ erstens als Lehre von der Umwandlung chemischer Energie bzw. chemischer Prozesse in elektrische Energie oder in elektrische Prozesse, zweitens als Lehre von der Addierbarkeit und damit von der Quantität elektrischer Spannung (gemessen in Volt) und Energie (gemessen in Ampère). Es geht dabei also keines-
338 Zweite Abteilung: Physik 327 wegs nur um die von Galvani zufällig entdeckte Muskelkontraktion von toten Fröschen. – Dabei sind, wie wir inzwischen sehen können, die Eigenschaften in besonderen Körpern »nicht wahrhaft selbständig« definiert, sondern über relationale Dispositionen bestimmt. Zu betrachten ist also ihr Reaktionsverhalten zu typischen anderen Sachen. Gerade in der Chemie wird die ganze Körperlichkeit der Sachen relevant. Der Satz richtet sich gegen die Abstraktionen in der klassischen Mechanik. Es kommen ja die magnetischen und elektrischen Spannungen hinzu, ferner die Dispositionen zu chemischen Reaktionen, damals unter dem Titel von »Wahlverwandtschaften«, damit dann auch all die erst später entdeckten starken Bindungen und Wechselwirkungen in Atomen und Molekülen. Das »Werden des individuellen Körpers« meint wohl nur diese seine Gesamtkonstitution. c. Der chemische Prozeß 271 § 326 Die Individualität in ihrer entwickelten Totalität ist, daß ihre Momente so bestimmt sind, selbst individuelle Totalitäten, ganze besondere Körper zu sein, die zugleich nur als di=erent gegeneinander in Beziehung sind. (327) Hegel hat, logisch gesehen, völlig recht, dass die (physiko-chemische) Identität von körperlichen Dingen und materiellen Sto=en, aus denen sie bestehen, definiert ist durch artbestimmende Di=erenzen und di=erentiell bedingte Dispositionen. Diese wiederum sind bestimmt durch die reproduzierbaren oder rekurrent auftretenden Prozessformen, die man grob als prozessuale Beziehungen ansprechen kann, in denen die Dinge und Sto=e zueinander stehen. Wassersto= ist z. B. das, was durch Oxidation (also mit Sauersto=) zu Wasser wird. Der Form nach sind auch die Pole der Magneten oder die elektrischen Ladungen relational definiert. Das Gleiche ist dabei immer (nur) das, was in Systemen von zwei- oder mehrgliedrigen Relationen nicht als (polar) verschieden bestimmt oder gesetzt ist. Daher bestimmt das System der unterschiedenen chemischen Elemente (Atome) zusammen mit den unterschiedenen (molekularen) Elementverbindungen die chemischen Sto=e in ihrer Verschiedenheit
327 Physik der totalen Individualität 339 und ihrer Identität. Hinzu kommen dann noch ›inkohärente‹ (also nicht ›reine‹) Mischungen von Sto=en und Körpern. Diese Beziehung als die Identität nicht identischer, selbständiger Körper ist der Widerspruch, – somit wesentlich Prozeß, der dem Begri=e gemäß die Bestimmung hat, das Unterschiedene identisch zu setzen, es zu indi=erentiieren, und das Identische zu di=erentiieren, es zu begeisten und zu scheiden. (327) Hegels Ausdruck »Widerspruch« für »Spannung« ist in diesem Kontext dispositioneller Strebetendenzen leider verwirrend, sogar untauglich. Richtig und absolut wichtig aber ist seine Hervorhebung, dass hier alles wesentlich im Kontext von Prozessen bestimmt ist. Es geht dabei um arttypische Normalprozesse, die dem Begri=, also den beteiligten Sto=arten, gemäß sind. Das »Unterschiedene identisch zu setzen, es zu indi=erenzieren« ist dabei nur Hegels Ausdruck dafür, dass chemische Elemente und Sto=e durch ihre typischen Rollen in chemischen Prozessen definiert sind. Dasselbe gilt übrigens der logischen Form nach auch für jeden gesellschaftlichen Status einer Person bzw. eines personalen Subjekts. Hegel packt wie immer allzu viel an Inhalt in die Wörter und Sätze. So meint z. B. die ominöse Rede von einer Begeistung der Sachen die Form unseres als richtig und gut bewerteten Unterscheidens, auch Nichtunterscheidens und definitorischen Bestimmens, in Anpassung an phänomenal rekurrente Prozesstypen. § 327 Zunächst ist der formale Prozeß zu beseitigen, der eine Verbindung bloß Verschiedener, nicht Entgegengesetzter ist. (327) Hegel hat weiterhin darin recht, dass es methodisch falsch wäre, mit irgendwelchen unsystematischen Verschiedenheiten von Sachen und amalgamierten Mischungen zu beginnen. Es geht um (etwa polar) ›entgegengesetzte‹ Sachen wie Sauersto= und Wassersto= oder Kohlensto=, nicht etwa um Haare, Sand, Lehm und Knochen, um nur ein paar willkürliche Beispiele zu nennen. Sie bedürfen keines existierenden Dritten, in welchem sie als ihrer Mitte an sich Eines wären, das Gemeinschaftliche oder ihre Gattung macht schon die Bestimmtheit ihrer Existenz zu einander aus; ihre 271 271 271
340 271 271 271 f . Zweite Abteilung: Physik 327 f. Verbindung oder Scheidung hat die Weise der Unmittelbarkeit, und Eigenschaften ihrer Existenz erhalten sich. (327 f.) Katalysatoren als vermittelnde Drittsto=e werden für chemische Reaktionen höchst interessant. Logisch braucht man sie jedoch nicht eigens zu betrachten. Das jeweils Gemeinschaftliche von verschiedenen Sto=en wie Kohlensto=, Sticksto= und Sauersto= liegt erstens darin, dass sie jeweils zur gleichen Gattung der chemischen Elemente gehören, und zweitens darin, dass sie im Kohlendioxid (auch Kohlenmonoxid) bzw. Sticksto=dioxid vorkommen – also mit anderen Elementen reagieren. Solche Verbindungen chemisch gegeneinander unbegeisteter Körper sind die Amalgamation und sonstiges Zusammenschmelzen von Metallen, Vermischung von Säuren miteinander und derselben, des Alkohols usf. mit Wasser und dergleichen mehr. (328) Das Wort »unbegeistet« taugt hier nicht recht. Gemeint sind wohl Sachen, die nicht auf typische Weise so miteinander chemisch reagieren wie die ›reinen‹ chemischen Sto=e bzw. ihre Atome und Moleküle. Hegel nennt als Beispiel Amalgame von Metallen, wie sie nicht nur für Zahnreparaturen wichtig werden. Noch nicht einmal eine ›Zuckerlösung‹ ist eine ›chemische‹ Lösung von der Art einer Salzlösung. § 328 Der reale Prozeß aber bezieht sich zugleich auf die chemische Differenz (§ 200 =.), indem zugleich die ganze konkrete Totalität des Körpers in ihn eingeht (§ 325). – (328) Man muss das Wort »Totalität« nicht mögen. Es signalisiert bei Hegel (hier und auch sonst) bloß, dass die einzelnen Sachen (hier also die Sto=e und Elemente so wie die Zahlen und dann auch die Personen) nur in einem Gesamtsystem von Sachen (oder Personen) in ihrer Seinsweise bestimmt bzw. definiert sind. Es wird gleich noch klarer werden, dass und warum chemische Prozesse sich auf die Artdi=erenzen chemischer Sto=e oder Elemente beziehen, wobei »die ganze konkrete Totalität des Körpers«, also die gesamte materielle Sto=lichkeit, in sie eingeht. Die Körper, die in den realen Prozeß eintreten, sind in einem Dritten, von ihnen Verschiedenen, vermittelt, welches die abstrakte, nur erst an sich seiende Einheit jener Extreme ist, die durch den
328 f. Physik der totalen Individualität 341 Prozeß in die Existenz gesetzt wird. Dieses Dritte sind daher nur Elemente, und zwar selbst verschieden als [solche] teils des Vereinens, die Neutralität überhaupt, das Wasser, teils des Di=erentiierens und Scheidens, die Luft. (328) Chemische Reaktionen treten sozusagen ›vorzugsweise‹ in wässrigen Lösungen auf – oder wenn Gase miteinander reagieren. Hegels altertümelnde Formulierung führt hier nicht weiter. Indem in der Natur die unterschiedenen Begri=smomente auch in besonderer Existenz sich herausstellen, so ist auch das Scheiden und Neutralisieren des Prozesses jedes an ihm ebenso ein Gedoppeltes, nach der konkreten und nach der abstrakten Seite. Das Scheiden ist einmal Zerlegen der neutralen Körperlichkeit in körperliche Bestandteile, das andremal Di=erentiieren der abstrakten physischen Elemente in die vier hiemit noch abstraktern chemischen Momente des Sticksto=s, Sauersto=s, Wassersto=s und Kohlensto=s, welche zusammen die Totalität des Begri=s ausmachen und nach dessen Momenten bestimmt sind. Hienach haben die chemischen Elemente 1) die Abstraktion der Indi=erenz, der Sticksto=, und 2) die beiden [Abstraktionen] des Gegensatzes, der für sich seienden Di=erenz, der Sauersto=, das Brennende, und der dem Gegensatze angehörigen Indi=erenz, der Wassersto=, das Brennbare, 3) die Abstraktion ihres individuellen Elements, der Kohlensto=. (328 f.) Chemie beginnt als eine Art Scheide- und Kochkunst. Das Scheiden ist die Methode der Suche nach reinen Sto=en bzw. nach chemischen Elementen, die am Ende das System der Atome und danach der Moleküle definieren. Hegel betrachtet zunächst nur erst die wichtigen vier Sto=e Sticksto=, Sauersto=, Wassersto= und Kohlensto=. Dass diese »zusammen die Totalität des Begri=s ausmachen«, ist ein merkwürdig falscher Satz. Er klingt so, als gäbe es nur diese vier Elemente. Hegel will die Titel aber o=enbar metonymisch für ganze Klassen von Sto=en bzw. chemischen Elementen verwenden, was aber auch der Unkenntnis der Zeit geschuldet sein mag. Demnach ›haben‹ nach Hegel die chemischen Elemente vier ›Momente‹ (meinetwegen auch ›Abstraktionen‹), wobei unklar ist, warum der Sticksto= das Moment oder die Abstraktion »der Indi=erenz« sein soll. Dass Hegel Sauersto= und Wassersto= als Momente des Gegensatzes und der »für sich 272
342 Zweite Abteilung: Physik seienden Di=erenz« auffasst, mag angesichts der Bedeutung von Wasser in der Elektrolyse noch einigermaßen verstehbar sein. Aber nicht nur Wassersto=, auch Kohlensto= und Sticksto= sind brennbar. Man kann, wenn man unbedingt will, den Sauersto= als das in der Oxidation Brennende nennen. Warum aber der Kohlensto= »die Abstraktion« des »individuellen Elements« der Natur oder der Körperlichkeit, der Totalität, der Di=erenz oder Indi=erenz sein soll (all das sind mögliche Lesarten) ist nicht unmittelbar verstehbar. Hegel geht hier wohl nach der Methode vor, dass alle Gegenstandsbestimmungen aus basalen Unterscheidungen stammen. Daher möchte er die vier wichtigsten Sto=e (oder besser: ›Sto=-Arten‹) der neueren Chemie als das Erbe der uralten vier Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft darstellen und damit einen Zusammenhang in der Geistesgeschichte chemischen Wissens verstehbar machen. Der Sticksto= vertritt dann sozusagen alles Erdige (auch Metalle wie Eisen etc.), der Sauersto= nach der Entdeckung Lavoisiers das Feuer, der Wassersto= ergibt sich zusammen mit dem Sauersto= als ›Di=erenz‹ des Wassers und der Kohlensto= erscheint als individualisierte bzw. verkörperte Luft, die ja als das Brennbare galt, da ›nur‹ Gase brennen. Alle Wissensentwicklung führt von abstrakt-allgemeinen, aber in unserer sinnlichen Rezeption grob angezeigten Unterscheidungen zu di=erenzierenden Besonderungen. Dabei fügt Hegel dieser im Grunde uralten Einsicht gerade auch des Aristoteles und aller bloß erst klassifikatorischen Qualitäts-, Eigenschafts- oder Prädikationstheorie mit ihrer allzu großen Abhängigkeit von Relationen zu unserer Sinnlichkeit den neuen und absolut zentralen Aspekt hinzu, dass die Ausdi=erenzierungen durch relationale und inferentielle, also di=erentiell bedingte und damit dispositionelle Normalfallprozesse vermittelt sind. Mit anderen Worten, es sind die prozessualen Relationen der differentiell nach Art und Begri= bestimmten Sachen an sich, also als Typen, zu ›allen‹ anderen typisierten Sachen eines (begri=lichen) Themen- oder Gegenstandsbereichs, nicht etwa nur die unmittelbaren epistemisch-empirischen Beziehungen zu uns Menschen und unserer Sinnlichkeit mit ihren begrenzten qualitativen Unterscheidungsmöglichkeiten, welche die objektiven Dinge und Sachen in Natur und Welt definieren.
329 Physik der totalen Individualität 343 Die Neuheit dieser wirklich tiefen Einsicht in den Begri= objektiver Wahrheit und die Schwierigkeit ihrer Artikulation führen dazu, dass man Hegels Sprache nicht versteht. Das gilt in unserem Kontext besonders für den Ausdruck »begeisten«. Er benennt, wie gesagt, dispositionelle Zuschreibungen gerade auch im Kontext definitorischer Artbestimmungen. Ebenso ist das Vereinen das einemal Neutralisieren konkreter Körperlichkeiten, das andremal jener abstrakten chemischen Elemente. So sehr ferner die konkrete und die abstrakte Bestimmung des Prozesses verschieden ist, so sehr sind beide zugleich vereinigt, denn die physischen Elemente sind als die Mitte der Extreme das, aus dessen Di=erenzen die gleichgültigen konkreten Körperlichkeiten begeistet werden, d. i. die Existenz ihrer chemischen Di=erenz erlangen, die zur Neutralisierung dringt und in sie übergeht. (329) Die ›physischen Elemente‹ haben drei Aggregatzustände und verwandeln sich durch deren Äquivalenz sozusagen in Mischungen ›chemischer‹ Elemente oder Sto=arten. Deren Di=erenzen zeigen sich in chemischen und dann auch ›elektrischen‹ Reaktionen. Dennoch bleiben die physischen Körper Vermittler für die Setzung von Dispositionen, durch welche »die gleichgültigen konkreten Körperlichkeiten begeistet werden«. Nach unserer Vorarbeit ist klar, was das heißt: Es geht erstens um unsere generischen Zuschreibungen und zweitens das objektive Haben dispositioneller Eigenschaften, soweit die Zuschreibungen transsubjektiv stabil als richtig bewertet werden (können). Das Gleichgültige der Körperlichkeit besteht in der Sto=äquivalenz. Kohle brennt ja z. B. als Festkörper, als flüssige Kohle und als Gas sozusagen auf die gleiche Weise: Im ersten Fall bewirkt die Hitze des Brennens aber selbst erst die Umwandlung des Festkörpers in das brennende Gas. »Neutralisierung« ist Hegels Ausdruck für das Ergebnis chemischer Reaktionen in Aktualisierungen dispositioneller Prozesse. Im Fall der Verbrennung ist es ein Vereinen mit Sauersto=. 272
344 272 272 f . Zweite Abteilung: Physik 329 § 329 Der Prozeß ist zwar abstrakt dies, die Identität des Urteilens und des In-Eins-setzens der durchs Urteil Unterschiedenen zu sein, und als Verlauf ist er in sich zurückkehrende Totalität. (329) An dem Satz lässt sich zeigen, wie Hegels generisch-verdichtete Redeform auseinanderzulegen ist. Er spricht hier darüber, was ein Prozess ist. Abstrakt oder seiner Form nach beginnt er mit unterscheidbaren Ausgangsszenarien, aus denen auf ›normale Weise‹ ein Endszenario entsteht. Im Fall eines chemischen Prozesses spricht Hegel von einer »Neutralisierung« einer dispositionellen Spannung bzw. einer Strebenstendenz. Es sollte uns jetzt nicht mehr überraschen, dass Hegel dabei unser (mögliches, gemeinsames) Urteilen und Unterscheiden sozusagen nicht einfach lostrennt von dem Unterscheidbaren und damit Verschiedenen. Das meint die Rede vom Ineinssetzen »der durchs Urteil Unterschiedenen« in der begri=lichen Bestimmung der objektiven Sachen. Den normalen Verlauf der Prozesse kann man, wenn man will, »in sich zurückkehrende Totalität« nennen. Aber seine Endlichkeit ist, daß seinen Momenten auch die körperliche Selbständigkeit zukommt; sie enthält damit dies, daß er unmittelbare Körperlichkeiten zu seiner Voraussetzung hat, welche jedoch ebensosehr nur seine Produkte sind. Nach dieser Unmittelbarkeit erscheinen sie als außerhalb des Prozesses bestehend, und dieser als an sie tretend. Ferner fallen deswegen die Momente des Verlaufs des Prozesses selbst als unmittelbar und verschieden auseinander, und der Verlauf als reale Totalität wird ein Kreis besonderer Prozesse, deren jeder den andern zur Voraussetzung hat, aber für sich seinen Anfang von außen nimmt und in seinem besondern Produkt erlischt, ohne sich aus sich in den Prozeß, der das weitere Moment der Totalität ist, fortzusetzen und immanent darein überzugehen. (329) Die Endlichkeit aller realen, z. B. chemischen Prozesse besteht darin, dass Ausgangs- und Endzuständen eine gewisse »körperliche Selbständigkeit zukommt«. Dabei gibt es Zwischenprodukte, etwa das Kohlengas bei der Verbrennung von Kohle in Form von Koks. Daher müssen wir immer auch ganze ›Kreise‹ besonderer Prozesse darstellen, »deren jeder den andern zur Voraussetzung hat, aber für sich seinen Anfang von außen nimmt«, wie etwa die Erhitzung
330 Physik der totalen Individualität 345 der Kohlekörper durch einen brennenden Span oder von Kohlestaub durch einen elektrischen Funken, um die Beispiele schon ein wenig auszubauen. Der Prozess erlischt, wenn der Kohlehaufen in die Produkte des Prozesses verwandelt ist oder kein Sauersto= mehr da ist. Der Körper kommt in einem dieser Prozesse als Bedingung, in einem andern als Produkt vor; und in welchem besondern Prozesse er diese Stellung hat, macht seine chemische Eigentümlichkeit aus; auf diese Stellungen in den besondern Prozessen kann sich allein eine Einteilung der Körper gründen. (329) In solchen Prozessen liefern materielle Körper in ihren Relationen zueinander einen typischen Ausgang bzw. ein typisches Produkt. Ihre ›Rollen‹ in den Prozessen definieren ihre »chemische Eigentümlichkeit«, wie schon gesagt wurde, was aber Hegel erst hier betont. Ich hebe den wichtigen und ganz wahren zentralen Satzteil durch Wiederholung hervor: Auf diese Stellungen in den besonderen Prozessen kann sich allein eine Einteilung der Körper gründen. Die zwei Seiten des Verlaufs sind 1) vom indi=erenten Körper aus durch seine Begeistung zur Neutralität, und 2) von dieser Vereinung zurück zur Scheidung in indi=erente Körper. (330) Hegel spricht hier, wie ich ebenfalls schon vorsorglich erläutert habe, nicht in geistig verwirrter Weise von einer Begeistung der Körper. Er versucht nur, unser Verfahren der Bestimmung von Sto=arten durch Zuschreibungen von Dispositionen und reflektierten Bewertungen der Zuschreibungen als richtig zu kommentieren. Es geht um zwei Seiten oder Momente der begri=lichen Bestimmung bzw. des realen Bestimmtseins eines chemischen Sto=es. Der erste Schritt führt »vom indi=erenten Körper«, etwa Sticksto=, Wassersto= oder Kohlensto=, über die »Begeistung« der Zuordnung von Reaktionsdispositionen zur »Neutralität« der in der Reaktion entstehenden chemischen Verbindung. Der zweite Schritt führt »von dieser Vereinung zurück zur Scheidung in indi=erente Körper«, also z. B. von den Oxiden als chemischen Verbindungen zu den Elementen – etwa auch im Verfahren der Elektrolyse. In der ›romantischen Naturphilosophie‹ scheint auf ein Projekt der Spiritualisierung der Natur eine Naturalisierung des Menschen zu folgen. Aber aus Hegels vermeintlicher ›Spiritualisierung‹ der Natur wird nach meinem Lesevorschlag eine sinn- und metaphysikkritische 273 273
346 Zweite Abteilung: Physik 330 Konstitutionsanalyse der begri=lichen Formen wissenschaftlicher Darstellung und Erklärung natürlicher Dinge, Sachen und Prozesse. Hinzu kommt ihre Anwendung in empirischen Einzelaussagen, also in Tatsachen konstatierenden Berichten. Aus der ›Naturalisierung‹ des Menschen aber wird eine nichtnaturalistische Verweltlichung des Geistes durch eine Strukturanalyse der Besonderheiten denkenden Handelns. Dies geschieht vor dem Hintergrund eines in gemeinsamer Geistesgeschichte entwickelten Allgemeinwissens. Dieses ist immer das semantische Rückgrat der Sprache und damit des Verstandes. Hinzu kommt die Dialektik vernünftigen Verstehens und Sprechens, wie wir noch sehen werden. α) Vereinung § 330 1) Galvanismus 273 Den Anfang des Prozesses und damit den ersten besondern Prozeß macht die der Form nach unmittelbare, indi=erente Körperlichkeit, welche die unterschiedenen Eigenschaften noch unentwickelt in die einfache Bestimmung der spezifischen Schwere zusammengeeint hält, die Metallität. Die Metalle, nur verschieden, nicht begeistet gegeneinander, sind Erreger des Prozesses, dadurch daß sie durch jene gediegene Einheit (an sich seiende Flüssigkeit, Wärme-ElektrizitätsLeitungsfähigkeit), ihre immanente Bestimmtheit und Di=erenz einander mitteilen; als selbständig zugleich treten sie damit in Spannung gegeneinander, welche so noch elektrisch ist. (330) Auf die Vereinigungsprozesse einer Oxidation lässt Hegel Scheidungsprozesse der Elektrolyse folgen. Es ist aber nicht ganz klar, warum er zunächst auf die Metalle zu sprechen kommt, auch wenn sie natürlich für die Chemie und die Elektrizität wichtige Elemente sind. Die Metalle sind »nicht begeistet gegeneinander«, weil sie nicht miteinander chemisch reagieren. Legierungen sind Amalgame. Die Passage spricht von einer ›gediegenen Einheit der Metalle‹, wohl auch deswegen, weil sie bei Normaltemperatur relativ starre und ›dichte‹ Festkörper bilden. Dass Metalle an sich flüssig seien, bedeutet wohl nicht viel mehr, als dass sie gewisse Eigenschaften des Flüssigen
330 f. Physik der totalen Individualität 347 bzw. Wassers auch als Festkörper nach entsprechender Abkühlung erhalten: Sie sind gute Leiter für Wärme und elektrischen Strom. Aber an dem neutralen, somit trennbaren Medium des Wassers in Verbindung mit der Luft kann die Di=erenz sich realisieren. (330) Metalle oxidieren gerade dann, wenn sie mit Wasser und Luft zugleich in Berührung kommen. Interessant ist dabei nur, wie Hegel diesen Sachverhalt zu kommentieren beliebt. Durch die Neutralität, somit aufgeschlossene Di=erentiierbarkeit des (reinen oder durch Salz usf. zur konkretern Wirkungsfähigkeit erhobenen) Wassers tritt eine reelle (nicht bloß elektrische) Tätigkeit des Metalles und seiner gespannten Di=erenz zum Wasser ein; damit geht der elektrische in den chemischen Prozeß über. (330) Hegels Rede von der Neutralität und Di=erenzierbarkeit des Wassers meint wohl seine Zerlegbarkeit in Wassersto= und Sauersto=. Salzwasser ist noch wirksamer für die Oxidation von Metallen. Hier entwickelt sich ein (elektro-)chemischer Prozess, in dem aus Eisen ein Eisenoxid wie Fe2 O3 entsteht. Hegel spricht unter anderem auch von Sto=en wie dem Eisenhydroxid, ›Eisenocker‹, also Fe(OH)3 , das sich ggf. im Salzwasser bildet: Seine Produktion ist Oxydierung überhaupt und Desoxydierung oder Hydrogenation des Metalls (wenn sie so weit geht), wenigstens Entwicklung von Hydrogengas, wie gleichfalls von Oxygengas, d. i. ein Setzen der Di=erenzen, in welche das Neutrale dirimiert worden, auch in abstrakter Existenz für sich (§ 328), wie zugleich im Oxyd (oder Hydrat) ihre Vereinung mit der Base zur Existenz kommt; – die zweite Art der Körperlichkeit. (330 f.) Die Rede von »Desoxydierung oder Hydrogenation« des Metalls bezieht sich wohl auf das Eisenhydroxid. In entsprechenden Prozessen entwickeln sich ggf. auch gasförmiger Wassersto= und Sauersto=. Hegels schwierige Rede von einem »Setzen der Di=erenzen« meint nichts anderes als Prozesse, in denen sich z. B. Wasser in Hydrogen (H) und Oxygen (O) spaltet und so das »Neutrale dirimiert« wird. Nach dieser Exposition des Prozesses, insofern er in seiner ersten Stufe vorhanden ist, ist die Unterscheidung der Elektrizität von dem Chemischen des Prozesses überhaupt und hier des galvanischen insbesondere, sowie deren Zusammenhang eine klare Sache. Aber die Physik obstiniert sich, im Galvanismus als Prozeß nur Elektri- 273 273 f . 274 274 k
348 274 k Zweite Abteilung: Physik 331 zität zu sehen, so daß der Unterschied der Extreme und der Mitte des Schlusses zu einem bloßen Unterschiede von trocknen und feuchten Leitern und beide überhaupt unter der Bestimmung von Leitern zusammengefaßt werden. (331) Details der großartigen Entdeckungen Galvanis und Alessandro Voltas interessieren uns in unserer allgemeinen methodischen Reflexion nicht. Wichtig ist nur der grundsätzliche Zusammenhang von manchen chemischen und manchen elektrischen Prozessen – und die »Unterscheidung der Elektrizität von dem Chemischen des Prozesses überhaupt«. Hegels Kritik daran, dass manche Physiker im Galvanismus nur elektrische und nicht auch chemische Prozesse sehen wollen, kann man zur Kenntnis nehmen. Der Punkt ist vielleicht insofern bedeutsam, als er ein Beispiel ist für die auch sonst auftretenden Probleme eines methodischen oder auch nur verbalen Reduktionismus in den Naturwissenschaften. Man findet diesen in allen Aussagen der Art, dass ›eigentlich‹ alles durch die Atom- und Quantenphysik erklärbar sei. – Es ist nicht nötig, hier auf nähere Modifikationen Rücksicht zu nehmen, daß die Extreme auch di=erente Flüssigkeiten sein können und die Mitte ein Metall, – daß teils die Form der Elektrizität (wie im § angegeben) festgehalten, teils das einemal vorherrschend gemacht, das andremal die chemische Wirksamkeit verstärkt werden kann; daß gegen die Selbständigkeit der Metalle, welche Wasser und konkretere Neutralitäten oder schon fertige chemische Entgegensetzung von Säuren oder Kaustischem zu ihrer Di=erentiierung brauchen, um in Kalke überzugehen, die Metalloide so unselbständig sind, um im Verhältnis zur Luft sogleich zu ihrer Di=erentiierung überzuspringen und Erden zu werden usf. (331) Auch Hegel interessiert sich nicht für die hier nur berichtsförmig gelisteten Details; diese sind und bleiben Thema der Sachwissenschaften. Sein Interesse gilt den großen Themen und Begri=en zunächst in ihrer physikalischen Eigenständigkeit, also der Elektrizität, dem Magnetismus und den chemischen Reaktionen. Dennoch sind auch ihre Zusammenhänge methodisch zu beachten, zumal die Chemie zur Physik der Elektronenhülle der Atome und Moleküle wird. Dabei müssen wir dennoch immer auch auf die unterschiedlichen realen Phänomene achten.
332 Physik der totalen Individualität 349 Diese und viele andere Partikularitäten ändern nichts, sondern stören etwa vielmehr die Betrachtung des Urphänomens des galvanischen Prozesses, dem wir diesen ersten wohlverdienten Namen lassen wollen. (331) Die Hommage an Luigi Galvani ist natürlich voll verdient und betri=t keineswegs nur die Zufallsentdeckung der unter Einwirkung elektrischen Stroms am metallischen Balkongeländer zuckenden Froschschenkel, sondern die Ursprünge des Wissens über Elektrizität und manche Zusammenhänge mit chemischen und physiologischen Prozessen. Was die deutliche und einfache Betrachtung dieses Prozesses sogleich mit der Auffindung der einfachen chemischen Gestalt desselben in der Voltaischen Säule getötet hat, ist das Grundübel der Vorstellung von feuchten Leitern. (331) Alessandro Volta zeigte die Identität der elektrischen Phänomene in der Physiologie und in nichtorganischen Kontexten – womit er die Vorstellung mit Recht ›getötet‹ hat, Elektrizität sei eine besondere Kraft des Lebens. Es klingt hier nur wegen der halbironischen Anspielung so, als stimme Hegel Volta nicht zu. Allerdings klingt die Rede vom »Grundübel der Vorstellung von feuchten Leitern« hier zunächst so, als habe Hegel etwas nicht begri=en. Damit ist das Auffassen, die einfache empirische Anschauung der Tätigkeit, die im Wasser als Mittelglied gesetzt und an und aus ihm manifestiert wird, beseitigt und aufgegeben worden. Statt eines Tätigen wird es als träger Leiter genommen. (331 f.) Hegel interessiert sich für die aktive Rolle des Wassers in elektrochemischen Prozessen – und befürchtet wohl, dass diese durch Voltas Batterien als Energiespeicher von den Leuten übersehen werden, da eine Batterie dem Nutzer wie eine black box erscheint – mit der Gefahr einer Mystifizierung elektrischer Phänomene durch Trivialisierung. Für den Endverbraucher kommt der Strom ja einfach aus der Steckdose. Es hängt damit dann zusammen, daß die Elektrizität gleichfalls als ein Fertiges nur durch das Wasser wie durch die Metalle durchströmend angesehen, daher denn auch die Metalle insofern nur als Leiter und gegen das Wasser als Leiter erster Klasse genommen werden. (332) 274 k 274 k 274 k 274 f . k
350 275 k 275 k 275 k Zweite Abteilung: Physik 332 Hegels Überlegung oder Argumentation richtet sich o=enbar nur gegen die allzu einfache Vorstellung, man könne den elektrischen Strom »als ein Fertiges« auffassen, das »durch das Wasser wie durch die Metalle« strömt. Das Verhältnis von Tätigkeit aber, schon von dem einfachsten an, nämlich dem Verhältnis des Wassers zu Einem Metall bis zu den vielfachen Verwicklungen, die durch die Modifikationen der Bedingungen eintreten, findet sich in Hrn. Pohls Schrift: ›Der Prozeß der galvanischen Kette‹ empirisch nachgewiesen, zugleich mit der ganzen Energie der Anschauung und des Begri=s der lebendigen Naturtätigkeit begleitet. (332) Hegel verweist für Details auf Pohls Schrift – die uns hier nicht weiter interessiert – und hebt selbst nur hervor, dass die Prozesse (›Tätigkeit‹) der über die Metallstäbe der Anode und Kathode durch Wasser geleiteten Elektrizität im Ganzen zu beschreiben und zu verstehen sind. Vielleicht hat nur diese höhere, an den Vernunftsinn gemachte Forderung, den Verlauf des galvanischen und des chemischen Prozesses überhaupt als Totalität der Naturtätigkeit zu erfassen, dazu beigetragen, daß bisher die geringere Forderung wenig erfüllt worden ist, nämlich die, von dem empirisch nachgewiesenen Faktischen Notiz zu nehmen. – (332) Die Forderung nach holistischer Betrachtung der galvanischen und der chemischen Prozesse schreibt Hegel implizit seiner und Schellings Naturphilosophie zu, so dass die Passage ein gewisses Eigenlob enthält. Es geht darum, die empirisch nachgewiesenen Phänomene in den theoretischen Erklärungen aufzuheben bzw. zu ›retten‹, und sich nicht mit allzu groben Kommentaren oder rein schematisch modellierenden ›Erklärungen‹ zufrieden zu geben. Zu ausgezeichnetem Ignorieren der Erfahrungen in diesem Felde gehört, daß zum Behufe der Vorstellung von dem Bestehen des Wassers aus Oxygen und Hydrogen das Erscheinen des einen an dem einen, des andern an dem entgegengesetzten Pole der Säule, in deren tätigen Kreis das Wasser gesetzt ist, als eine Zersetzung desselben so angegeben wird, daß von dem Pole, wo das Oxygen sich entwickelt, das Hydrogen als der von demselben ausgeschiedene andere Teil des Wassers, und ebenso von dem Pole, wo das
332 f. Physik der totalen Individualität 351 Hydrogen sich entwickelt, das Oxygen sich heimlich durch die noch als Wasser existierende Mitte und respektive auch durcheinander hindurch auf die entgegengesetzte Seite begeben. (332) Man beschreibt eine galvanische Zelle und auch die Elektrolyse des Wassers so, dass, wenn sich an der Kathode Hydrogen entwickelt, der Sauersto= durch das Wasser zur Anode ›hinüberwandert‹. Damit kann man die Zersetzung des Wassers erklären. Zunächst fragt man vielleicht, was daran falsch sein soll. Das Problem ist, um es gleich zu sagen, dass keineswegs immer die ganzen Moleküle die ganzen Entfernungen abwandern, so wenig wie die Wasserteile der Wellen. Das Unstatthafte solcher Vorstellung in sich selbst wird nicht nur unbeachtet gelassen, sondern ignoriert, daß bei einer Trennung des Materiellen der beiden Portionen des Wassers, die jedoch so veranstaltet ist, daß eine aber nur leitende Verbindung (durch ein Metall) noch bleibt, die Entwicklung des Oxygengases an dem einen Pole und des Hydrogengases an dem andern auf gleiche Weise unter Bedingungen erfolgt, wo auch ganz äußerlicherweise jenes für sich grundlose, heimliche Durchmarschieren der Gase oder Molecules nach ihrer gleichnamigen Seite unmöglich ist; wie ebenso die Erfahrung verschwiegen wird, daß, wenn eine Säure und ein Alkali, an den entgegengesetzten entsprechenden Polen angebracht, beide sich neutralisieren, wobei ebenso vorgestellt wird, daß zur Neutralisierung des Alkali eine Portion Säure von der entgegenstehenden Seite sich auf die Seite des Alkali begebe, wie ebenso zur Neutralisation der Säure sich auf ihre Seite eine Portion Alkali von der entgegenstehenden Seite, – daß, wenn sie durch eine Lackmustinktur verbunden werden, in diesem sensibeln Medium keine Spur von einer Wirkung und damit Gegenwart der durch sie hindurchgehen sollenden Säure wahrgenommen wird. (332 f.) In der Elektrolyse des Wassers bewegen sich keineswegs einfach ›Gase oder Moleküle‹ durch das Wasser von der Anode zur Kathode: Wenn man zwei Behälter durch einen Metalldraht verbindet, entsteht an der Kathode im einen Behälter Wassersto=, an der Anode im anderen Sauersto=. Bewirkt wird das durch den durchgeleiteten Strom. Die Wassersto=- und Sauersto=atome können dabei keineswegs durch den Draht wandern. Es sind noch nicht einmal die positiv geladenen Kationen, die zur negativ geladenen Kathode ›wandern‹ so wie die 275 k
352 275 f . k 276 k Zweite Abteilung: Physik 333 Anionen zur Anode. – Es ist kein Wunder, dass man das damals noch nicht voll verstanden hatte. Denn dazu bedarf es der Begri=e des Elektrons, der Ionen und der Ionisierung. Es kann hiezu auch angeführt werden, daß die Betrachtung des Wassers als bloßen Leiters der Elektrizität – mit der Erfahrung der schwächern Wirkung der Säule mit solcher Mitte als mit andern, konkretern Mitteln – die originelle Konsequenz hervorgebracht hat, daß (Biot, Traité de Phys. Tom. II, p. 506) l’eau pure, qui transmet une électricité forte, telle que celle que nous excitons par nos machines ordinaires, devient presqu’ isolante pour les faibles forces de l’appareil électromoteur (in dieser Theorie der Name der Voltaischen Säule). – Zu der Kühnheit, das Wasser zu einem Isolator der Elektrizität zu machen, kann nur die Hartnäckigkeit der Theorie, die sich selbst durch eine solche Konsequenz nicht erschüttern läßt, bringen. (333) Im Grunde interessiert uns Hegels Polemik gegen Biot nicht weiter, der sagt, dass Wasser ›fast‹ ein Isolator ist. Allerdings sehen wir hier, dass Hegel selbst die Texte von Kollegen und Wissenschaftlern keineswegs immer charitabel liest. Denn er hätte ja auch sagen können, dass Wasser in der Tat schlechter leitet als Metall. Dass und wie Elektronen (nicht die ganzen Moleküle) ›wandern‹, konnte Hegel, wie gesagt, noch nicht wissen. Seine Kritik am Modell der wandernden atomaren Teilchen ist sowohl korrekt, als auch übertrieben. Er hat recht zu betonen, dass diese Phänomene von anderem Typ sind als die ›mechanischen‹ Bewegungen mittelgroßer trockener Körper oder auch nur von Gasen und Molekülen. Um eben diese Anerkennung der Besonderheiten der Phänomene, Prozessformen, damit auch Dispositionen und Kräfte der Chemie und Elektrodynamik gegenüber den alten ›mechanischen‹ Modellen sich bewegender Körperchen (Korpuskeln) geht es nach meinem Lesevorschlag von Hegels Naturphilosophie. Dabei werden die Korpuskeln in der mathematisierten Mechanik zugleich als punktförmige Individuen oder monadische Gegenstände dargestellt, obwohl sie immer als ausgedehnte Körper mit Masse und Teilen aufzufassen sind. Dieser Widerspruch bleibt normalerweise gerade auch im Physikunterricht bis heute zumeist unaufgelöst. Aber bei dem Mittelpunkte der Theorie, der Identifizierung der Elektrizität und des Chemismus, geschieht es ihr, daß sie vor dem
333 Physik der totalen Individualität 353 so auffallenden Unterschiede beider sozusagen zurückschreckt, aber dann damit sich beruhigt, daß dieser Unterschied unerklärlich sei; – gewiß, wenn die Identifizierung vorausgesetzt ist, ist ebendamit der Unterschied zum unerklärlichen gemacht. (333) Der zentrale Punkt, um den es geht, betri=t die völlige Identifizierung der Phänomene der Elektrizität mit denen des Chemismus. Die chemischen Reaktionen lassen sich jedenfalls nicht reduzieren auf Bewegungen von Korpuskeln oder Teilchen, wie man sich diese damals vorstellte. Dabei interessiert sich Hegel im Grunde nur für die Kritik an jeder Form von spekulativer materialistischer Metaphysik. Diese versichert typischerweise, dass alles Materiebewegung sei, dass wir armen Menschen das angesichts unseres beschränkten Wissens nur im Detail nicht beweisen können. Es liege demnach nur an der Kleinheit der Partikel, dass wir ihre Bewegungen nicht direkt ›sehen‹ können. Man ›entschuldigt‹ sich dafür großzügig und bittet um Nachsicht, dass deswegen z. B. die phänomenalen Unterschiede zwischen magnetischen, elektrischen und chemischen und dann auch biologischen Prozessen leider im Detail unerklärlich seien, erst recht die neurophysiologischen und mentalen des Gemüts (mind) und der Psyche. Es sei aber gewiss so, dass sie sich alle ›im Prinzip‹ aus (sub-)atomaren Teilchenbewegungen (etwa dann auch von sogenannten Neuronen) erklären lassen. Man meint, damit alle kausalen Ursachen irgendwie in Hegels allgemeinem Sinn als ›mechanische‹ auffassen zu können, damit die Physik auf die Mechanik und diese auf Bewegungsgleichungen reduzieren zu können. Das aber ist sowohl falsche Metaphysik als auch falsche Wissenslogik und Wissenschaftsmethodologie. Das ist selbst dann so, wenn im späteren Teilchenmodell der Atomphysik doch auch noch Teile der Idee sich bewegender Photonen und Elektronen, Mesonen etc. aufgehoben sind. Man kann Hegels Argumentation charitabel gerade so lesen, dass er eine vernünftige Aufhebung des nur erst analogischen Modells fordert. Es geht darum, alle diese Modelle in ihrem beschränkten Sinn zu verstehen. Was also ist das Gleiche, das in mechanischen und chemischen, magnetischen und elektrischen Prozessen geschieht? Und was ist dabei jeweils auch noch zu unterscheiden? Dieselbe Frage ist später z. B. an die Physiologie und die Psychologie zu stellen.
354 276 k 276 k Zweite Abteilung: Physik 333 Schon die Gleichsetzung der chemischen Bestimmtheit der Körper gegeneinander mit der positiven und negativen Elektrizität sollte sich für sich sogleich als oberflächlich und ungenügend zeigen; (. . . ) (333) Man kann die chemischen Sto=e nicht durch ihr Verhalten im Bereich der elektrischen Phänomene allein definieren. Dennoch sagt man bis heute leicht verkürzt und doch passend, die ganze Chemie beruhe auf den Eigenschaften und Wechselwirkungen der Elektronen, Ionen, Atome etc., eben der ›Elektronenhülle‹ der Moleküle. Wer sich an diesem höchst allgemeinen, selbst schon spekulativen, Satz einfach festhält, wird natürlich Hegels ›Kritik‹ an einem solchen Satz für falsch halten. Dabei tri=t diese Kritik wohl nur eine allzu naive, ›reduktionistische‹, damit metaphysische, also gar nicht die ›wissenschaftliche‹ Lesart dieses gnomischen Merksatzes oder Orakels. (. . . ) gegen das chemische Verhältnis, so sehr es an äußere Bedingungen z. B. der Temperatur geknüpft und sonst relativ ist, ist das elektrische vollkommen flüchtig, beweglich, der Umkehrung durch den leisesten Umstand fähig. (333) Die chemischen Reaktionsverhältnisse sind sehr stabil, auch wenn sie natürlich von der Temperatur abhängen. Hegel überschätzt möglicherweise das ›Flüchtige‹ der elektrischen Phänomene, zumal man sie wie magnetische Wirkungen auf Dauer stellen kann, was man damals freilich nur erst partiell wusste. Dabei stehen die Leistungen von Richard Laming, Wilhelm Weber und Hermann von Helmholtz bei der Entwicklung der Idee der (zunächst punktförmigen!) Elektronen (und dann auch von Ionen) zur theoretischen Erklärung sowohl der Phänomene der Chemie als auch der Elektrizität außer Frage. Aber erstens geschieht das alles erst später im 19. Jahrhundert und zweitens setzt es das praktische Wissen um die chemischen Reaktionen und die gleich noch zu besprechende Stöchiometrie voraus. Drittens muss bei der Anwendung aller theoretischen Modelle der Physik immer auch noch mit urteilskräftiger Erfahrung und vernünftigem Augenmaß eine Zuordnung zu beobachtbaren Phänomenen hergestellt werden. Mehr fordert Hegel hier gar nicht. Freilich kann man immer meinen, eine zu frühe Kritik an einer theoretischen Idee, also an einem allgemeinen und abstrakten Begri= an sich im Sinne Hegels, d. h. ohne die Kunst der besonderen
334 Physik der totalen Individualität 355 Projektion auf die realen Erfahrungen, könne die Entwicklung der Wissenschaft aufhalten. Aber ein unmittelbares, reines Theoretisieren hilft keineswegs. Die schwierige Kritik an reinen Theorien ist analog zur Schwierigkeit, das Analogische in den Modellen der Theoretischen Physik klar zu sehen. Dazu gilt es, explizit zu machen, wie sie sich sachlich im Detail zur Experimentalphysik verhalten. Man kann Hegel so lesen, dass er das allgemeine Problem in der hier vorgeführten Überlegung wenigstens in Ansätzen erkennt und nennt. Wenn ferner die Körper Einer Seite, z. B. die Säuren, durch ihre quantitativen und qualitativen Sättigungsverhältnisse zu einem Kali genau gegeneinander unterschieden werden, so bietet dagegen der bloß elektrische Gegensatz, wenn er auch etwas Festeres wäre, gar nichts von dieser Art der Bestimmbarkeit dar. Aber wenn auch der ganze sichtliche Verlauf der reellen körperlichen Veränderung im chemischen Prozesse nicht beachtet und zum Produkte geeilt wird, so ist dessen Verschiedenheit von dem Produkte des elektrischen Prozesses zu auffallend, um eine Befremdung hierüber bei der vorhergegangenen Identifizierung beider Formen unterdrücken zu können. (334) Die Frage ist zweitrangig, ob Hegel seine Beispiele in allen Details adäquat beschreibt, diskutiert und die Urteile der Fachkollegen richtig beurteilt oder nicht. Hier spricht er von sauren und alkalischen Lösungen und über ihre Sättigungsverhältnisse. Hegel will nur, dass der o=ensichtliche »Verlauf der reellen körperlichen Veränderung im chemischen Prozesse« beachtet werde. Im Fall der galvanischen bzw. voltaischen ›Batterien‹ und der Elektrolyse führt eben diese Forderung zur Entdeckung der Ionen. Denn diese setzt voraus, dass nicht einfach unmittelbar »zum Produkte geeilt wird«, weder in chemischen noch in elektrolytischen Prozessen. D. h., es sind die ›Befremdungen‹, die sich aus den Experimenten ergeben, wirklich ernst zu nehmen und nicht einfach bei der Tagesordnung einer Lieblingstheorie zu bleiben, obwohl man einige Phänomene als durch sie ›unerklärlich‹ anerkennt – wie z. B. die scheinbare Wanderung ganzer Atome durch einen Draht. Ich will mich an die Äußerung dieser Befremdung halten, wie sie von Berzelius in s. Essai sur la théorie des proport. chim. etc. Paris 1819 naiv vorgetragen wird. S. 73 heißt es: Il s’élève pourtant ici une question qui ne peut être resolue par aucun phénomène ana- 276 k 276 k
356 276 k 276 f . k Zweite Abteilung: Physik 334 logue à la décharge électro-chimique (chemische Verbindung wird der Elektrizität zulieb Entladung genannt), . . . ils restent dans cette combinaison avec une force, qui est supérieure à toutes celles qui peuvent produire une séparation mécanique. (334) Auf das höchst interessante Zitat von Jens Jakob Berzelius, des ›Vaters der modernen Chemie‹, und seine ›Frage, die man nicht lösen könne durch ein Phänomen wie die Entladung‹, die er »électrochimique« nennt, gehe ich nur kurz ein. Berzelius sagt, grob übersetzt und im Rückblick vom späteren Wissen her formuliert, dass man im Zusammenhang von Chemie und Elektrizität die extrem schnellen ›Bewegungen‹ der später »Ionen« und »Elektronen« genannten ›Körper‹ noch nicht voll verstehe und erst recht nicht die dabei wirkenden oder freigesetzten Kräfte der Bindungen in den Atomen und Molekülen, die ja weit größer sind als alles, was man aus der normalen Mechanik bewegter Körper kennt. Berzelius hat damit absolut recht. Im Grunde stimmt Hegel dem wohl zu, auch wenn der Fortgang des Textes und seine Polemik gegen Berzelius das leider verdunkeln. Les phénomènes électriques ordinaires . . . ne nous éclairent pas sur la cause de l’union permanente des corps avec une si grande force, après que l’état d’opposition électrique est détruit. (334) Die bekannten Phänomene der Elektrizität erklären außerdem noch nicht kausal, fährt Berzelius fort, die nachhaltige Einheit der festen Körper, also die starken inneren Attraktionskräfte, die sich gerade auch darin zeigen, welche starken elektrischen Kräfte etwa zur Aufspaltung von Wasser nötig sind. Die im chemischen Prozeß vorkommende Veränderung der spezifischen Schwere, Kohäsion, Gestalt, Farbe usf., ferner aber der sauren, kaustischen, kalischen usf. Eigenschaften sind bei Seite gestellt und alles in der Abstraktion von Elektrizität untergegangen. (334) Hegels Kritik an Berzelius wird nun aber ganz ungerecht. Er scheint jedenfalls auf einer oberflächennahen Betrachtung der chemischen Prozesse zu bestehen. Doch von der Masse, Gestalt und Farbe der Körper dürfen und müssen wir, anders als Hegel mit Berthollet meint, hier absehen, partiell auch von den »sauren, kaustischen, kalischen usf. Eigenschaften«. Dass diese Dinge »in der Abstraktion von Elektrizität untergegangen« sind, ist also methodisch durchaus nicht falsch, sondern gehört zu dem von Berzelius mit Recht vorangetriebenen
334 Physik der totalen Individualität 357 Programm der neuen Wissenschaft Chemie. Freilich fällt auch dieses unter die Bedingungen einer theoretischen Rettung der Phänomene. Nach meinem Verständnis steht folgende Argumentation hier eigentlich am falschen Ort, denn sie passt überhaupt nicht auf Berzelius und auf sein Zitat: Man werfe doch der Philosophie nicht mehr ihr Abstrahieren von dem Besonderen und ihre leeren Allgemeinheiten vor! wenn über positiver und negativer Elektrizität alle jene Eigenschaften der Körperlichkeit vergessen werden dürfen. (334) Wenn die auf das wahre Ganze gehende Philosophie allgemein über Seinsformen und logische Formen spricht, dann ist das notwendigerweise abstrakt. Ihre Aufgabe ist ja Kritik an irregeführten spekulativen Sätzen. Jeder metaphysische Glaube an unerkennbare Hinterwelten oder andere mögliche Welten steht in dieser Kritik. Positiv geht es um die explizite Artikulation ›guter‹ und ›wahrer‹ Haltungen zum Ganzen des Seins, die aber, weil in allem sinnvollen Reden ein nachvollziehbares Unterscheiden steckt, nur negative Philosophie der Abwehr von Unrichtigem sein kann. Hegel sagt zwar mit Recht, dass man noch zu wenig über die verschiedenen Themen und Sprachformen verstanden hat, wenn man der Philosophie ihr »Abstrahieren von dem Besonderen und ihre leeren Allgemeinheiten« vorwirft, selbst aber höchst allgemein von atomarer Materie spricht und das Spekulative in dieser Rede von Materie und Atom gar nicht bemerkt. Aber Berzelius verfolgt ein weit konkreteres Sachproblem, nämlich das einer Modifikation der durchaus antiquierten ›körperlichen‹ Begri=e des Atoms und des Moleküls in Anpassung an das Wissen um chemische Prozesse. Es geht also um eine ganz neue Art von Atomtheorie, und das schon lange vor der ›Entdeckung‹ von Elektronen und Ionen. – Zwar geht es Hegel um eine Kritik an mechanisierenden ›Verdinglichungen‹ in fingierten Hypothesen oder Theorien zur ›Erklärung‹ von dispositionellen Eigenschaften wie der magnetischen, elektrischen und chemischen Eigenschaften sogenannter ›Materie‹; aber die Kritik geht, wie oben schon gesagt, immer auch zu weit. Eine vormalige Manier der Naturphilosophie, welche das System und den Prozeß der animalischen Reproduktion zum Magnetismus, das Gefäßsystem zur Elektrizität potenziert oder vielmehr verflüch- 277 k 277 k
358 277 k Zweite Abteilung: Physik 334 tigt und verdünnt hat, hat nicht oberflächlicher schematisiert, als jene Reduktion des konkreten körperlichen Gegensatzes bescha=en ist; mit Recht ist in jenem Falle solches Verfahren, das Konkrete ins Kurze zu ziehen und das Eigentümliche zu übergehen und in der Abstraktion wegzulassen, verworfen worden; warum nicht auch im vorliegenden? – (334) Zunächst kritisiert Hegel die ›vormalige Naturphilosophie‹. Gemeint sind seine eigenen früheren Ansätze und die Schellings, die in der Tat allzu abstrakt geblieben waren. Denn es wurde dabei nur der animalische Galvanismus verbal verallgemeinert. Man sprach metonymisch von einem lebendigen Magnetismus und einer organischen Elektrizität auch in nichtbiologischen Prozessen – ähnlich wie später in gewissen Varianten des Vitalismus. Hegel formuliert das abzulehnende Verfahren drastisch genug: Es wurden Prozesse des Lebens »potenziert oder vielmehr verflüchtigt und verdünnt«. Diese Schematisierungen waren viel zu oberflächlich, als dass sie uns hätten helfen können, die Einheit von Natur und Welt einerseits, die Di=erenz zwischen ›toter‹ Dingwelt, organischem Leben und geistigem Zusammenleben andererseits ›zugleich‹ begreifen zu können. Dieses Zugleich aber war und ist das große Programm der hegelschen Naturphilosophie. Man beachte, wie radikal sich Hegel damit in der Sache von Schelling absetzt, auch wenn die Formulierungen das nicht ganz so hart sagen. Aber es wird noch ein Umstand der Schwierigkeit im Unterschiede des konkreten Prozesses von dem abstrakten Schema übriggelassen, nämlich die Stärke des Zusammenhangs der durch den chemischen Prozeß zu Oxyden, Salzen usf. verbundenen Sto=e. Diese Stärke kontrastiert für sich allerdings sehr mit dem Resultate der bloß elektrischen Entladung, nach welcher die zu positiver und negativer Elektrizität erregten Körper gerade in demselben Zustande und so unverbunden jeder für sich geblieben ist, als er es vorher und beim Reiben war, der Funke aber verschwunden ist. (334 f.) Was Hegel hier genau sagen will, ist unklar. Die Stärke einer chemischen Bindung zeigt sich ja unter anderem gerade darin, wie viel an elektrischer Energie man zu ihrer Aufspaltung investieren muss. An welche Kontrastierung denkt Hegel also? Trägt ihn hier seine ›Argumentation‹ gegen Berzelius nicht aus der Kurve? Man könnte in der
335 Physik der totalen Individualität 359 Tat vermuten, dass ihr schon ein Mangel an Verständnis der Arbeiten von Alessandro Volta und dessen Wissen um die Stromstärke seiner ›Batterien‹ zugrunde liegt. Hegels ›Phänomene‹ der Elektrizität würden dann, böse gesagt, kaum über die Harzelektrizität eines sporadischen Funkens geriebenen Bernsteins und die statische Elektrizität in Fellen, Haaren oder Wolken hinausgehen. Solche Fünkchen und Blitze wären in der Tat viel zu schwach oder in der Dauer zu kurz, um solche Folgen zu zeitigen wie die Spaltung von Wasser in Hydrogen und Oxygen. Allerdings ist diese Lesart nicht konsistent, zumal sie keineswegs zu Hegels Wissen über die Elektrolyse passt. Dieser ist das eigentliche Resultat des elektrischen Prozesses, mit ihm wäre daher das Resultat des chemischen Prozesses nach jenem Umstande, der die Schwierigkeit der behaupteten Gleichheit beider Prozesse machen soll, zu vergleichen. Sollte sich nicht diese Schwierigkeit dadurch beseitigen lassen, daß angenommen würde, im Entladungsfunken sei die Verbindung der positiven und negativen Elektrizität von derselben Stärke als nur irgend der Zusammenhang einer Säure und eines Kalischen im Salze[?] (335) Berzelius setzt die Kraft, die Wasser als H2 O zusammenhält (oder eine saure oder salzige Lösung), der Kraft gleich, die man aufwenden muss, um diese Einheit zu ›zerstören‹ (détruire). Hegel stimmt dem zunächst einfach zu: »die Verbindung der positiven und negativen Elektrizität« müsse »von derselben Stärke« sein »als nur irgend der Zusammenhang einer Säure und eines Kalischen im Salze«. Aber der Funke ist verschwunden, so läßt er sich nicht mehr vergleichen; vornehmlich aber liegt es zu o=enbar vor Augen, daß ein Salz, Oxyd noch ein weiteres Ding im Resultat des Prozesses über jenen elektrischen Funken ist; für einen solchen Funken wird übrigens gleichfalls unstatthafterweise die Licht- und Wärme-Entwicklung, die im chemischen Prozesse erscheint, erklärt. (335) Hegel scheint nun den Fehler zu begehen, die elektrischen Funken als sporadisch verschwindend darzustellen. Richtig ist, dass man die ›Kraft‹ eines solchen Phänomens (auch eines Blitzes) nicht in unmittelbarer Wahrnehmung messen kann. Solche momentanen Ereignisse lassen »sich nicht mehr vergleichen«. Was wir Hegel zugestehen können und wohl auch müssen, ist dieses: Ein Oxid oder Wasser ist ebenso wie Sauersto= und Wassersto= jeweils phänomenal eine 277 k 277 k
360 277 f . k Zweite Abteilung: Physik 335 ›eigentümliche‹ Sache. Sie sind der Art nach von anderen verschieden, so wie zunächst auch die Elektrostatik als latenter Zustand und ihre Entladung als Prozesstyp. Hegels Sprache ist dann aber manchmal schlicht unverständlich. Hier z. B. weiß man nicht, was es heißen könnte, für »einen solchen Funken« eine »Licht- und Wärme-Entwicklung« zu erklären, die »im chemischen Prozesse erscheint«. Daher weiß man auch nicht, was daran unstatthaft sein soll. Berzelius äußert über die angegebene Schwierigkeit: Est-ce l’e=et d’une force particulière inhérente aux atomes, comme la Polarisation électrique – d. h. ob das Chemische nicht noch etwas Verschiedenes im Körperlichen sei von der Elektrizität? – gewiß und augenscheinlich! – ou est-ce une propriété électrique qui n’est pas sensible dans les phénomènes ordinaires? d. h. wie oben, in den eigentlich elektrischen Erscheinungen; diese Frage ist ebenso einfach bejahend zu beantworten, daß nämlich in der eigentlichen Elektrizität das Chemische nicht vorhanden und deswegen nicht wahrnehmbar, daß das Chemische erst im chemischen Prozesse wahrnehmbar ist. (335) Berzelius fragt nun zu Recht, ob es eine ganz besondere inhärente Kraft in den Atomen nach Art der elektrischen Polarisation bzw. einer Magnetisierung gibt. Hegel liest das allzu schräg oder gar falsch so, als frage Berzelius, ob man die chemischen und elektrischen Prozesse und Kräfte überhaupt unterscheiden sollte. Er antwortet: gewiss doch! Auch Berzelius’ Frage nach dem Wo, dem Ort, der elektrischen Eigenschaften der Materie ist nicht falsch gestellt, sondern gerade auch von heute her gesehen absolut korrekt: Man setzt die für die Chemie und für die elektrischen Phänomene relevanten Kräfte und Dispositionen in die Elektronenhülle der Atome und Moleküle. Ebenfalls korrekt ist Berzelius’ Betonung, dass ohne entsprechende Umgebungsbedingungen und Prozesse diese Kräfte natürlich nicht wahrnehmbar bzw. erfahrbar sind. Hegel sieht in der Erfindung von Kraftträgern wie den späteren Elektronen zur Erklärung von Dispositionen, die sich nur mittelbar in Wirkungen und besonderen Bedingungen zeigen, o=enbar eine metaphysische Hypostasierung und Verdinglichung. Seine Kritik ist daher selbst eine Art bedingter Reflex und folgt Newtons Motto »hypotheses non fingo«, das er ja oben schon unterstützt hatte. Das ist von seinem phänomenologischen und damit am Ende doch noch em-
Physik der totalen Individualität 361 pirismusa;nen Ansatz her zwar verständlich. Aber es zeigt zugleich, dass Hegel selbst möglicherweise die Logik der Setzung dispositioneller Eigenschaften und dann auch von theoretischen Entitäten in analogischen Modellen nicht genau genug von deren ontischen Hypostasierungen unterscheiden kann. Diese Kritik gilt allerdings in noch weit höherem Maße für allen ontischen Kausalismus und seine Hypostasierung unbekannter dispositioneller Kräfte. Im Fall der chemischen Dispositionen als den bedingten Reaktionstendenzen macht Hegel den Fehler gerade nicht, sie mit hypostasierten statt wirklich erfahrbaren Kräften zu identifizieren. Hegels Problem hängt daher wohl eher mit der falschen Vorstellung zusammen, die ›eigentliche Elektrizität‹ bestehe nur in den aktualen Phänomenen der Entladungen mit Lichtblitz und elektrischem Schlag. Unklar ist, ob er selbst dieser falschen Vorstellung anhängt. Immerhin ist sowohl das Verständnis von dispositionellen Eigenschaften als auch von theoretischen Modellen atomarer Dinge und Kräfte logisch keineswegs einfach zu verstehen und von Hypostasierungen spekulativer Metaphysik daher auch nicht leicht zu unterscheiden. Aber vielleicht will Hegel ja doch nur sagen, dass elektrische Kräfte nicht anders als chemische Reaktionsdispositionen zwar ›latent‹ vorhanden, aber in der Latenz natürlich aus begri=lichen Gründen nicht direkt, sondern nur über die sich manifestierenden Prozessformen wahrnehmbar sind, so dass also das »Chemische erst im chemischen Prozesse wahrnehmbar ist«. Das gilt nicht anders auch für die elektrischen Kräfte. Hegels Kritik würde nach diesem Lesevorschlag nur die Unterstellung okkulter Kräfte abwehren. Aber um solche okkulten Kräfte geht es Berzelius gar nicht. Wenn sich Hegel daher gegen ein rein hypothetisches Glauben stellen möchte, dann ist, anders als er meint, das Programm der Entwicklung eines artikulierten Wissens über Kräfte und Dispositionen, wie es Berzelius verfolgt, gar nicht betro=en. Berzelius aber erwidert auf den ersten Fall der Möglichkeit der Verschiedenheit der elektrischen und chemischen Bestimmung des Körpers: la permanence de la combinaison ne devait pas être soumise a l’influence de l’électricité, d. h. zwei Eigenschaften eines Körpers müssen, weil sie verschieden sind, in gar keiner Beziehung aufeinander stehen – die spezifische Schwere des Metalls nicht mit dessen 278 k
362 278 k Zweite Abteilung: Physik 335 Oxydation, der metallische Glanz, Farbe ebenso nicht mit dessen Oxydation, Neutralisation usf. (335) Jetzt scheint aber auf einmal Berzelius, nicht Hegel, darauf zu bestehen, dass die elektrischen und chemischen Kräfte völlig verschiedenartig seien. Er sagt nämlich, die (latente) Permanenz der Kombination elektrischer Kräfte und chemischer Dispositionen dürfe nicht einfach unter den Einfluss der Elektrizität subsumiert werden. Hegels Analyse von Wesen und Erscheinung erlaubt aber durchaus, dass zwei ganz unterschiedliche Erscheinungstypen wie die der chemischen und der elektrischen Phänomene durch eine Klasse zugrundeliegender besonderer Sachen (wie später die der Elektronen) erklärbar sind. Das ist ja auch gerade das, was wir zur gemeinsamen Erklärung ›elektrochemischer‹ Phänomene brauchen. Es können daher, so scheint Hegel gegen Berzelius durchaus noch richtig zu sagen, zwei unterschiedliche »Eigenschaften eines Körpers« oder Prozesstyps auf eine Wesenseigenschaft bzw. die entsprechenden Unterschiede zurückführbar oder reduzierbar sein. Damit würde sich Hegel gegen eine dogmatische Ablehnung aller reduktiven Erklärungen stellen und nur fordern, dass Reduzierbarkeitsaussagen konkret begründet oder bewiesen werden müssen. Man kann und darf sie nicht ›einfach so‹ als möglich behaupten. So hängen z. B. Änderungen des spezifischen Gewichts ebenso wie ggf. eine Änderung der Farbe oder des Aussehens mit der Oxidation eines Metalls zusammen und werden beide durch sie erklärt. Hegel bemerkt wohl die Ambivalenz seiner ›Argumentation‹ gegen Berzelius selbst nicht – und dass er ihn eher unterstützen als angreifen müsste. Nur dann könnten wir den Vorwurf und Verdacht gegen Hegel, den die obigen Formulierungen nahegelegt haben, wieder zurücknehmen. Im Gegenteil aber ist es die trivialste Erfahrung, daß die Eigenschaften der Körper dem Einflusse der Tätigkeit und Veränderung anderer Eigenschaften wesentlich unterworfen sind, es ist die trockne Abstraktion des Verstandes, bei Verschiedenheit von Eigenschaften, die sogar schon demselben Körper angehören, vollkommene Trennung und Selbständigkeit derselben zu fordern. (335 f.) Hegel betont hier zwar die logisch-begri=liche Grundtatsache ganz explizit, dass viele Eigenschaften von Körpern und Sto=en sich nur unter gewissen relationalen Bedingungen zeigen. Schon daher wäre
336 Physik der totalen Individualität 363 es falsch, aus der Verschiedenheit von qualitativen, sinnlich erfahrbaren »Eigenschaften, die sogar schon demselben Körper angehören«, auf eine »vollkommene Trennung und Selbständigkeit derselben« zu schließen. Doch das tut Berzelius gar nicht! – Den andern Fall, daß die Elektrizität doch die Gewalt habe, die starken chemischen Verbindungen zu lösen, ob diese gleich in der gewöhnlichen Elektrizität nicht wahrnehmbar sei, erwidert Berzelius damit: le rétablissement de la polarité électrique devrait détruire même la plus forte combinaison chimique; und bejaht dies mit dem speziellen Beispiel, daß eine Voltaische Säule (hier eine elektrische Batterie genannt) von nur 8 oder 10 Paaren Silber- und Zinkplatten von der Größe eines 5 Franken-Stücks fähig sei, die Pottasche durch Hülfe des Quecksilbers aufzulösen, d. h. ihr Radikal in einem Amalgam zu erhalten. (336) Es ist bei Hegel nicht immer leicht zu verstehen, was er selbst sagt und was er bloß erwähnt oder zitiert. Hier geht es um die Kraft der Elektrizität, »die starken chemischen Verbindungen zu lösen«. Es ist zunächst Berzelius, nicht Hegel, der von »der gewöhnlichen Elektrizität« einfachster Art, also der Elektrostatik geriebenen Harzes spricht. Berzelius sagt nun aber auch, dass das rétablissement de la polarité électrique sogar die größte chemische Bindung auflösen oder zerstören könne. Dabei nennt er das Beispiel einer elektrischen Batterie »von nur 8 oder 10 Paaren Silber- und Zinkplatten von der Größe eines 5 Franken-Stücks«. Sie reiche aus, Pottasche mit Hilfe von Quecksilber aufzulösen. Hegel scheint nicht an der Sache zu zweifeln, sondern interessiert sich nur für die kommentierende ›Erklärung‹. Diese aber versteht er am Ende falsch. – Die Schwierigkeit hatte die gewöhnliche Elektrizität, welche jene Gewalt nicht zeige, im Unterschiede von der Aktion einer galvanischen Säule, gemacht. Nun wird für die gewöhnliche Elektrizität die Aktion einer solchen Säule substituiert, mit der einfachen Wendung, daß sie eine batterie électrique genannt wird, wie vorhin der Name der Theorie für sie, appareil électromoteur, angeführt wurde. Aber jene Wendung ist allzu durchsichtig und der Beweis zu leicht genommen, indem zum Behufe der Auflösung der Schwierigkeit, welche der Identifizierung der Elektrizität und des Chemismus im Wege stand, geradezu hier wieder vorausgesetzt wird, daß die gal- 278 k 278 k
364 Zweite Abteilung: Physik 336 vanische Säule nur ein elektrischer Apparat und ihre Tätigkeit nur Elektrizitäts-Erregung sei. (336) Nach Hegel mache sich Berzelius fälschlicherweise ein Problem daraus, dass »die gewöhnliche Elektrizität« nicht so stark sei, wie wenn man eine galvanische oder voltaische Säule zum Einsatz bringt, wobei es für uns ganz gleichgültig ist, ob man von einer batterie électrique oder einem appareil électromoteur spricht. Es ist ganz unklar, was Hegel an der Rede von einem elektrischen Apparat zur Erzeugung von Elektrizität moniert. Berzelius hat ja ganz recht, dass Volta und seine Batterien es allererst möglich machen, die elektrischen Kräfte nach Spannung (Volt) und Stromstärke (Ampère) quantitativ zu bestimmen – und dadurch dann auch die Stärke einer chemischen Bindung, die elektrolytisch aufgehoben wird. § 331 2) Feuerprozeß 278 f . Die im vorigen Prozesse nur an sich in der di=erenten Bestimmtheit der in Beziehung gebrachten Metalle seiende Tätigkeit für sich als existierend gesetzt, ist das Feuer, wodurch das an sich Verbrennliche (wie Schwefel) – die dritte Art der Körperlichkeit – befeuert, überhaupt das in noch gleichgültiger, abgestumpfter Di=erenz (wie in Neutralität) Befindliche zu der chemischen Entgegensetzung der Säure und des (kaustischen) Kalischen begeistet sind, – nicht sowohl einer eignen Art von reeller Körperlichkeit, indem sie nicht für sich existieren können, als nur des Gesetztseins der körperlichen Momente dritter Form. (336) Was sollen wir nun aber mit dem geradezu archaischen Rückgang zum Feuerprozess anfangen? Hegel taucht hier wieder in die Antike mit ihren vier Elementen ab und betrachtet das Feuer und »die dritte Art der Körperlichkeit«, das Brennbare, jetzt mit dem Schwefel des Paracelsus von Hohenheim (den er sozusagen ähnlich wie Kepler als seinen Landsmann promoviert). Der höchst allgemeine Kommentar zu etwas, das sich in »gleichgültiger, abgestumpfter Di=erenz (wie in Neutralität)« befinde, ist für uns heute ebenso befremdlich wie die Rede von der Begeistung »der chemischen Entgegensetzung der Säure und des (kaustischen) Kalischen«, also einer ätzenden alka-
337 Physik der totalen Individualität 365 lischen Flüssigkeit. Die Begeistung meint aber wieder nur die fest zuzuschreibenden Reaktions- bzw. Neutralisationsdispositionen von sauren und alkalischen Flüssigkeiten. Unklar ist auch die idiosynkratische Rede von einem ›Gesetztsein der körperlichen Momente dritter Form‹. Manches am Text klingt so, als spräche er von einem flüssigen oder meinetwegen auch gasförmigen Aggregatzustand. Anderes passt nicht dazu. § 332 3) Neutralisation, Wasserprozeß Das so Di=erente ist seinem Andern schlechthin entgegengesetzt, und dies ist seine Qualität, so daß es wesentlich nur ist in seiner Beziehung auf dies Andere, seine Körperlichkeit in selbständiger getrennter Existenz daher nur ein gewaltsamer Zustand, und es in seiner Einseitigkeit an ihm selbst der Prozeß (wenn auch nur mit der Luft, an der sich Säure und kaustisches Kali abstumpfen, d. i. zur formellen Neutralität reduzieren) ist, sich mit dem Negativen seiner identisch zu setzen. Das Produkt ist das konkrete Neutrale, Salz, – der vierte, und zwar als realer Körper. (337) Hegel könnte hier das Salzkristall zum Paradigma des Erdigen, des vierten antiken Elements, des ›realen Körpers‹ genommen haben. Sicher ist diese Lesart aber nicht. Alle Bestimmungen beginnen bei groben, allgemeinen Unterscheidungen – wie dem Feuer, dem Wasser, der Luft und der Erde, mit dem Feuer bzw. der Wärme als Prozessform besonders auch der Umformung fester Sto=e in flüssige oder gasförmige. Alles Bestimmen ist ein Unterscheiden. Das »Di=erente ist seinem Andern schlechthin entgegengesetzt, und dies ist seine Qualität«. Omnis determinatio est negatio. – In der Rede von einem ›gewaltsamen Zustand‹ der Bestimmtheit bzw. des Form- und Sto=erhalts von Körpern und chemischen Sto=en verweist Hegel wohl auf die inneren Kräfte, die dabei sozusagen latent und unbemerkt am Werk sind und die sich gerade darin zeigen, welche Energie man aufwenden muss, um sie aufzuheben. 279
366 Zweite Abteilung: Physik 337 § 333 4) Der Prozeß in seiner Totalität 279 279 f . k Diese neutralen Körper, wieder in Beziehung zueinander tretend, bilden den vollständig realen chemischen Prozeß, da er zu seinen Seiten solche reale Körper hat. Zu ihrer Vermittlung bedürfen sie des Wassers, als des abstrakten Mediums der Neutralität. Aber beide als neutral für sich sind in keiner Di=erenz gegeneinander. Es tritt hier die Partikularisation der allgemeinen Neutralität und damit ebenso die Besonderung der Di=erenzen der chemisch-begeisteten Körper gegeneinander ein, – die sogenannte Wahlverwandtschaft, – Bildung anderer besonderer Neutralitäten durch Trennung vorhandener. (337) Wieder spricht Hegel von einem »chemisch-begeisteten Körper« im Sinne seiner Reaktionsdisposition und davon, dass diese ein Normalfallprozess der Wahlverwandtschaft in einer Art Streben nach ›Neutralisation‹ ist. In diesem Sinn sagt Hegel, dass die ›neutralen‹ Körper bzw. Sto=e die Produkte einer chemischen Reaktion sind. Wenn man sie mit anderen »in Beziehung zueinander« treten lässt, können dann wieder weitere chemische Prozesse stattfinden. Dabei sind viele Reaktionen wie z. B. die Neutralisierung von Säure und alkalischer Base nur in wässriger Lösung möglich. Der allzu hochtrabende Ausdruck »abstraktes Medium der Neutralität« steht wohl nur für das Wasser als Lösungsmittel. Der wichtigste Schritt zur Vereinfachung der Partikularitäten in den Wahlverwandtschaften ist durch das von Richter und Guyton Morveau gefundene Gesetz geschehen, daß neutrale Verbindungen keine Veränderung in Ansehung des Zustandes der Sättigung erleiden, wenn sie durch die Auflösung vermischt werden und die Säuren ihre Basen gegeneinander vertauschen. Es hängt damit die Skale der Quantitäten von Säuren und Alkalien zusammen, nach welcher jede einzelne Säure für ihre Sättigung zu jedem Alkalischen ein besonderes Verhältnis hat; und wenn nun für eine Säure in einem bestimmten Quantum die Reihe der Alkalien nach den Quantitäten, in denen sie dasselbe Quantum jener Säure sättigen, aufgestellt ist, so behalten für jede andere Säure die Alkalien untereinander dasselbe Verhältnis zu deren Sättigung als zur ersten,
337 f. Physik der totalen Individualität 367 und nur die quantitative Einheit der Säuren, mit der sie sich mit jener konstanten Reihe verbinden, ist verschieden. Auf gleiche Weise haben die Säuren ein konstantes Verhältnis unter sich gegen jedes verschiedene Kalische. (337 f.) Die früheste chemische Nomenklatur, welche die chemische Zusammensetzung eines Sto=es anzeigt, findet Hegel in den Texten des Chemikers (und Ballonfahrers) Louis Bernard Guyton de Morveau, der auch schon frühe Einsichten in die Ordnung von Säuren und Basen entwickelt, die später die Skala der pH-Werte (pondus oder potentia hydrogenii) begründet. Hegel zitiert hier das Ergebnis, dass pH-neutrale Lösungen sozusagen nichts ändern, so dass man, allgemeiner, über die sich ergebenden Relationen der Äquivalenzen von Säuren und Basen die genannte allgemeine »Skale der Quantitäten von Säuren und Alkalien« definieren kann. Außerdem verweist er auf Jeremias Benjamin Richters Stöchiometrie (1792–93). Er kennt also dessen zentralen Satz der äquivalenten Proportionen: Elemente bzw. chemische Sto=e reagieren chemisch miteinander in einem festen Verhältnis der Massen – wobei die Beobachtung der ganzzahligen Vielfachheiten (ich erspare mir die wissenschaftshistorischen Details) noch wichtiger sind. Claude Louis Berthollet und John Dalton kennen (über Ernst Gottfried Fischer) Richters Werk – so dass Daltons bzw. Prousts Gesetz der multiplen Proportionen klarerweise auf die Debatte um Richters ›Äquivalentmassen‹ zurückgeht, die für Daltons Atomtheorie absolut zentral wird. Es setzt sich dann aber zunächst nicht Daltons Nomenklatur, sondern die des Berzelius durch. Richters Forschungs- und Denkrahmen erscheint dagegen als noch ›paracelsisch‹, also nur erst experimentell-phänomenologisch. Er geht daher den von heute und im Rückblick nur scheinbar ›einfachen‹ Schritt Daltons gerade nicht – wobei noch W. Ostwald spekuliert, dass dafür Kant verantwortlich sei, bei dem Richter studiert hatte. Hegels Überlegungen scheinen ebenfalls auf diesem Stand zu verharren. Übrigens ist die Wahlverwandtschaft selbst nur abstrakte Beziehung der Säure auf die Base. Der chemische überhaupt und insbesondere der neutrale Körper ist zugleich konkreter physischer Körper von bestimmter spezifischer Schwere, Kohäsion, Temperatur usf. Diese eigentlich physischen Eigenschaften und deren Veränderungen im Prozesse (§ 328) treten in Verhältnis zu den chemi- 280 k
368 Zweite Abteilung: Physik 338 schen Momenten desselben, erschweren, hindern oder erleichtern, modifizieren deren Wirksamkeit. Berthollet in seinem berühmten Werke Statique chimique hat, indem er die Reihen der Verwandtschaft vollkommen anerkennt, die Umstände zusammengestellt und untersucht, welche in die Resultate der chemischen Aktion eine Veränderung bringen, Resultate, die häufig nur nach der einseitigen Bedingung der Wahlverwandtschaft bestimmt werden. Er sagt: »Die Oberflächlichkeit, welche die Wissenschaft durch diese Erklärungen erhält, sieht man vornehmlich für Fortschritte an.« (338) Hegels Kommentare zu den Grundprinzipien der damaligen Chemie sind ganz o=enbar aphoristisch verkürzt, häufig sogar metonymisch, nur pars pro toto formuliert, keineswegs systematisch ausformuliert. Wenn Hegel hier sagt, die Wahlverwandtschaft sei »selbst nur abstrakte Beziehung der Säure auf die Base«, meint er wohl nicht etwa, dass alle chemischen Prozesse auf die besonders von J. B. Richter untersuchten Reaktionen von Säuren und Basen reduzierbar seien, sondern dass gerade diese Untersuchungen Richter zu seinem absolut grundlegenden Gesetz der Stöchiometrie geführt haben. Dabei zitiert Hegel aus Berthollets Werk Statique chimique o=enbar absichtlich falsch. Dieser schreibt: »Sobald man die allgemeinen Eigenschaften anerkannt hatte, auf welchen alle Wirkungen der chemischen Tätigkeit beruhen, eilte man, die Bedingungen der Verwandtschaft, die für alle Erklärungen auszureichen schienen, als sichere und bestimmte Gesetze festzustellen; und wechselweise leitete man von diesen Gesetzen alle Erklärungen ab: in der Ausdehnung, welche die Wissenschaft hiedurch erlangte, sah man vorzüglich ihren Fortschritt.«39 Hegel fasst das ›Ergebnis‹ polemisch so zusammen: »Die Oberflächlichkeit, welche die Wissenschaft durch diese Erklärungen erhält, sieht man vornehmlich für Fortschritte an.« Für uns Leser stellt sich damit die Frage, worauf denn die Kritik an der Anwendung und Ausweitung der eben als riesiger Fortschritt hochgelobten Einsichten und Gesetze Guitons und Richters hinauslaufen. 39 Claude Louis Berthollet’s Versuch einer chemischen Statik, das ist einer Theorie der chemischen Naturkräfte. Übersetzt von Georg Wilhelm Bartoldy und mit Erläuterungen begleitet von Ernst Gottfried Fischer. Berlin 1811. Bd. I. S. 11. Zit. nach Phil. Bibl. 33, S. 487 u. 489.
Physik der totalen Individualität 369 Hegel scheint einerseits wie Dalton, Berzelius und Berthollet eine allgemeinere Erklärung der stöchiometrischen Konstanz, also von ›Daltons‹ Gesetz der multiplen Proportionen (1808), einzufordern. Zugleich verlangt er, dass man die Zusammenhänge der Phänomene der Elektrochemie theoretisch besser zu verstehen habe. Er kritisiert damit o=enbar eine gewisse complacency, die er in der Haltung von Berzelius zu sehen meint. Denn diese erscheint ihm so, als hielte dieser den genauen Zusammenhang für nicht weiter erklärbar. Dabei betont dieser nur die Schwierigkeit der Fragestellung. Von heute her gesehen liefert Daltons neue Atomtheorie den Ausweg. Hegel kommentiert die allgemeine Lage aus der Sicht Berthollets und gegen Berzelius. Von Berthollet übernimmt er die These, dass manche chemischen Reaktionen, bei denen wir eine andere Reaktionsrichtung erwarten würden, durch ›äußere‹ physikalische Einflüsse mitbewirkt seien, wie Masse, »Kohäsion, Temperatur usf. Diese eigentlich physischen Eigenschaften« sollen, nach Berthollet, die prinzipiellen ›A;nitäten‹ chemischer Elemente »erschweren, hindern oder erleichtern«. Sie modifizieren angeblich »deren Wirksamkeit«. Es scheint so, als unterstütze Hegel in seiner Abhängigkeit von Berthollet (also in der Tradition Richters und Fischers, nicht Prousts, Berzelius’ und Daltons) gerade die ›alte‹ Schule und distanziere sich fälschlicherweise von den moderneren, molekular- und atomtheoretischen Erklärungen der chemischen Reaktionen. Während man für die Zeit der Seinslogik, die 1812 erschien, noch Verständnis haben kann, dass Hegel sich gegen die von ihm für metaphysisch gehaltenen und noch nicht im Detail entwickelten atomoder korpuskulartheoretischen Erklärungen von Berzelius bis Dalton stellt, gilt das für die letzte Auflage der Enzyklopädie 1830 so nicht mehr. Hegels Kritik an Berzelius stand schon damals in zu großer Abhängigkeit von Berthollets eher oberflächennahem und traditionell-phänomenalen Ansatz und unterschied nicht deutlich genug zwischen einer erklärenden Modellierung chemischer Reaktionen durch atomare bzw. molekulare Prozesse und einer metaphysischen Hypostasierung okkulter Entitäten.
370 Zweite Abteilung: Physik 339 β) Scheidung 280 f . § 334 In der Auflösung des Neutralen beginnt der Rückgang zu den besondern chemischen bis zu den indi=erenten Körpern durch eine Reihe einerseits eigentümlicher Prozesse, andererseits aber ist überhaupt jede solche Scheidung selbst untrennbar mit einer Vereinigung verknüpft, und ebenso enthalten die Prozesse, welche als dem Gange der Vereinigung angehörig angegeben worden, unmittelbar zugleich das andre Moment der Scheidung. Für die eigentümliche Stelle, welche jede besondre Form des Prozesses einnimmt, und damit für das Spezifische unter den Produkten, sind die Prozesse von konkreten Agentien und ebenso in den konkreten Produkten zu betrachten. Abstrakte Prozesse, wo die Agentien abstrakt sind (z. B. bloßes Wasser in Wirkung auf Metall, oder vollends Gase usf.), enthalten an sich wohl die Totalität des Prozesses, aber stellen seine Momente nicht in explizierter Weise dar. (339) Wir dürfen nicht erwarten, dass Hegel irgendeine neue Einsicht oder Erklärung zu den chemischen und elektrischen Prozessen beiträgt. Dennoch müssen wir uns auch mit seinen logischen und philosophischen Kommentaren nicht einfach abfinden. Hegels indi=erente Körper scheinen die basalen chemischen Elemente zu sein – die dann den verschiedenen Atomen (wie im System Mendelejews und Lothar Meyers) zugeordnet werden. In verschiedenen chemischen Prozessen bilden sich, wie wir heute kanonisch wissen und sagen, nicht nur verschiedene Sto=e, sondern diesen korrespondieren unterschiedliche Moleküle. Es scheiden sich Sto=e oder Moleküle aus, die dann »untrennbar mit einer Vereinigung verknüpft« sind. Dabei sind die »Prozesse von konkreten Agentien« zu betrachten. Das ist alles nur erst abstrakte Beschreibung der art- und sto=typischen chemischen Prozesse. Was es dabei heißen soll, dass die Agentien selbst »abstrakt sind (z. B. bloßes Wasser in Wirkung auf Metall, oder vollends Gase usf.)«, ist aufgrund von Hegels ebenso eigenwilliger wie ambiger Diktion nicht ganz klar. Wahrscheinlich meint er nur die Rolle von reinen Sto=arten in chemischen Prozessen. Für diese Lesart spricht die Rede von der »Totalität des Prozesses«, an
339 Physik der totalen Individualität 371 dem aber nur die Ausgangs- und Endprodukte »in explizierter Weise« dargestellt werden. In der empirischen Chemie ist es hauptsächlich um die Partikularität der Sto=e und Produkte zu tun, welche nach oberflächlichen abstrakten Bestimmungen zusammengestellt werden, so daß damit in ihre Partikularität keine Ordnung kommt. (339) Hegel sucht o=enbar eine systematische Ordnung der Sto=arten der empirischen Chemie – aber ohne sich konsequent auf den dafür nötigen Weg der Atomtheorie Daltons und der Elektrochemie von Berzelius zu begeben, der u. a. über Helmholtz zu Mendelejews und Meyers Periodensystem führt. Daher stochert er in seiner Abhängigkeit von Berthollet noch im Nebel herum und merkt noch nicht einmal, dass es zwei Formen oberflächlicher Bestimmungen gibt. Es sind das die allzu abstrakten, rein ›theoretischen‹, und die den Phänomenen allzu nahen ›empirischen‹ Bestimmungen. In jener Zusammenstellung erscheinen Metalle, Sauersto=, Wassersto= usf., (ehmals Erden, nun) Metalloide, Schwefel, Phosphor als einfache chemische Körper nebeneinander auf gleicher Linie. (339) Was Hegel gegen die Ordnung der elementaren Sto=e vorbringen will, ist nicht klar. Bei Berzelius sind, wie heute auch noch, »Metalle, Sauersto=, Wassersto= usf.« ebenso wie »Schwefel, Phosphor als einfache chemische Körper nebeneinander auf gleicher Linie« gesetzt – und das völlig zu Recht. Hegel scheint hier nicht folgen zu können. Sogleich muß die so große physikalische Verschiedenheit dieser Körper gegen solches Koordinieren Abneigung erwecken; ebenso verschieden aber zeigt sich auch ihr chemischer Ursprung, der Prozeß, aus dem sie hervorgehen. Allein gleich chaotisch werden abstraktere und reellere Prozesse auf gleiche Stufe gesetzt. (339) Es ist zwar richtig, dass die chemischen Elemente physikalisch ganz verschiedene Eigenschaften haben. Ursto=e sind sie in dem Sinn, dass sie sich nicht wie chemische Verbindungen bzw. Moleküle elektro-chemisch teilen lassen. Ihnen korrespondieren daher im Modell unteilbare Atome. Dass Hegel das System der chemischen Elemente und die inneren Formen der Moleküle nicht kennen kann, muss bei uns Nachsicht finden. Was er aber hätte wissen können und müssen, ist dieses: Gerade die chemischen Prozesse zeigen ein System der von Berzeli- 281 k 281 k 281 k
372 281 k Zweite Abteilung: Physik 339 f. us auch notationell als Ursto=e ausgewiesenen chemischen Sto=e. In Lavoisiers Liste waren nur manche der Sto=e solche Urelemente gewesen, andere erwiesen sich als chemische Verbindungen. Dass die (phänomenologisch-reale, also materiale) Definition des Begri=s des chemischen Sto=es im System der verschiedenen Elemente eines relationalen Systems von Scheidungsprozessen und den zugehörigen Wahlverwandtschaften bzw. Verbindungen besteht, wie Hegel hier bei geeigneter Lektüre sagt, ist richtig. Vor der Ordnung Mendelejews mochte dieses System als noch chaotisch erscheinen. Das ist eine zeitbedingte Tatsache. Hegels noch ganz allgemeine Forderung nach einer guten Ordnung tri=t sich daher sachlich mit der Aufgabe, das Periodensystem der Moleküle zu entwerfen – was er aber so noch nicht wissen kann, da ihm unser Begri= des Moleküls als Wesen der Erscheinung chemischer Elemente noch fehlt. Indem Hegel aber das gesamte Such-Konzept der Atome und Moleküle Daltons und der Elemente des Berzelius rundherum als ›metaphysisch‹ okkult ablehnt (oder vermutet), kann er am Ende doch nicht (mehr) auf der Höhe der zeitgenössischen Chemie mitdiskutieren. Wenn hierein wissenschaftliche Form kommen soll, so ist jedes Produkt nach der Stufe des konkreten, vollständig entwickelten Prozesses zu bestimmen, aus der es wesentlich hervorgeht und die ihm seine eigentümliche Bedeutung gibt; und hiefür ist ebenso wesentlich, die Stufen der Abstraktion oder Realität des Prozesses zu unterscheiden. (339 f.) Hegels Wunsch nach einer anderen, den Phänomenen näheren wissenschaftlichen Form der Ordnung chemischer Substanzen ist also methodisch ebenso verständlich und richtig, wie er partiell dann doch allzu theoriefeindlich ist. Der Fall zeigt auf interessante Weise, dass eine allzu großzügige Metaphysikkritik in der Gefahr steht, modellierende Artikulationssysteme in Bausch und Bogen als angeblich transzendent abzulehnen. Damit aber gefährdet man möglicherweise die Entwicklung der Begri=e. Wenn man, Hegels Ansatz gemäß, »jedes Produkt nach der Stufe des konkreten, vollständig entwickelten Prozesses zu bestimmen« hätte, käme entweder gerade die theoretisch-begri=liche Ordnung heraus, die er hier als metaphysisch bekämpft, oder gar keine gute Ordnung. Hegels Verbalkritik ist damit noch nicht einmal auf der
340 Physik der totalen Individualität 373 Höhe seiner eigenen grundsätzlichen Einsichten zum Verhältnis zwischen einem System von theoretisch und damit begri=lich bestimmten wesentlichen Ur-Sachen bzw. Gründen und einem System di=erentiell bestimmter Erscheinungen. Er versichert nur, es gäbe eine andere Ordnung, aus der die Sto=e wesentlich hervorgehen sollen. Dabei hätte Hegel recht, »die Stufen der Abstraktion oder Realität des Prozesses zu unterscheiden«, wenn es denn nur darum ginge, über beobachtbare Prozessformen und äquivalente Rollen abstrakte Gegenstände, Formen oder Quantitäten auf der empirischen Ebene der Erscheinungen zu bestimmen. Allerdings ist eine solche bloß erst ›aristotelische‹ Methodologie logischer Abstraktionen auf der Basis einer Phänomenologie viel zu schwach für eine begri=lich befriedigende Darstellung der elektrochemischen Prozesse. Das gilt am Ende erst recht für die Prozesse und Kräfte der Kernphysik. Hier sehen wir, dass und warum es nichts Praktischeres gibt als eine gute, die Phänomene allererst als Folgen objektiver Prozesse darstellenden Theorie. Ohne die entsprechende Arbeit am Begri=, an passend konstruierten Modellen, lässt sich Wissen nicht symbolisch artikulieren und lehren. Es ist daher in jedem Fall vorschnell, die Modellkonstruktionen als bloße metaphysische Bilder zu verwerfen. Andererseits ist zuzugestehen, dass sie keine rein unmittelbaren Abbildungen von Welt sind. Jede unmittelbare Abbild- oder Korrespondenztheorie ist naive Metaphysik und verkennt das Ideale und Analogische in allen unseren Modellen und Theorien. Animalische und vegetabilische Substanzen gehören ohnehin einer ganz andern Ordnung an; ihre Natur kann so wenig aus dem chemischen Prozesse verstanden werden, daß sie vielmehr darin zerstört und nur der Weg ihres Todes erfaßt wird. (340) Die Schwierigkeit, der sich Hegel konfrontiert sieht, besteht darin, dass das ›krude‹ Bild wirklich atomarer, also unteilbarer Korpuskeln als kleinster Bausteine der chemischen Elemente oder Ursto=e für eine Erklärung chemischer Reaktionen nicht funktionieren kann. In diesem systematischen Punkt behält er recht. Denn man braucht für die Elektrochemie zumindest eine gewisse Trennbarkeit von Atomkern und Elektronenhülle. Es gibt keine ewigen unteilbaren Atome; und selbst wenn es sie gäbe, könnten sie uns für die Erklärung der Elektrochemie nicht helfen. Das neuere Modell, das nur den Namen 281 k
374 281 k Zweite Abteilung: Physik »Atomtheorie« behält, gab es damals aber noch nicht in befriedigender Form. Es fehlten noch die zentralen Konzepte der Elektronen und Ionen. Organische ›Substanzen‹ – nicht die Sto=e der später so genannten organischen Chemie – gehören dann schon in einen ganz anderen Seins- und Wissensbereich. Zwar finden auch im Körper eines Organismus wesentlich chemische Prozesse statt. Hegel schreibt sogar in einer gleich folgenden Passage ganz richtig: »Der chemische Prozeß ist [. . . ] im allgemeinen das Leben«. Aber wir sehen an dieser Formulierung nur einmal mehr, dass Hegel mit der Reihung von Subjekt und Prädikat sehr frei, ja ganz idiosynkratisch umgeht. Denn er hätte nach meinem und unserem Sprachverständnis schreiben müssen: »Das Leben ist im allgemeinen chemischer Prozess«. Eben das will er nämlich ganz augenscheinlich sagen. Dennoch können die Lebensprozesse nicht allein als chemische Prozesse voll verstanden werden. Organismen steuern die Prozesse nämlich, solange sie leben, auf eine Weise, wie das in rein chemischen Prozessen nicht geschieht. Es liegt zwar nahe zu sagen, dass sich die Lebensprozesse doch einmal aus den chemischen entwickelt haben müssen, so dass sie am Ende ›nichts anderes‹ als komplexe chemische Prozesse seien. Geschichtlich ist das in einem gewissen Sinn sogar richtig. Man verwechselt damit aber die Rede- und die Sach-Ebene. Man geht dabei vom Allgemeinen der sich reproduzierenden oder experimentell reproduzierbaren Prozessformen zu historischen Einzelereignissen über. Diese könnten als solche einzigartig sein. Mit dem Leben entstehen jedenfalls völlig neue Seins- und Prozessformen. Das zu leugnen ist einfach sinnlos. Daher kann Hegel auch sagen, dass reine Prozesse der Physik und Chemie gerade auch in Experimenten mit Organismen das Leben ›zerstören‹. In der Chemie werde daher »nur der Weg ihres Todes erfaßt«. Denn rein physikalisch und chemisch betrachtet unterscheiden sich der Leib eines noch lebenden Lebewesens und der Leichnam unmittelbar nach Eintritt des Todes sozusagen überhaupt nicht. Diese Substanzen sollten jedoch am meisten dienen, der Metaphysik, welche in der Chemie wie in der Physik herrschend ist, nämlich den Gedanken oder vielmehr wüsten Vorstellungen von Unveränderlichkeit der Sto=e unter allen Umständen, wie den Kategorien von
340 Physik der totalen Individualität 375 der Zusammensetzung und dem Bestehen der Körper aus solchen Sto=en, entgegenzuwirken. (340) Es sind besondere Substanzen, welche lebende Körper produzieren und die notwendig sind, um autopoietisch die chemischen Prozesse im Körper und den Sto=wechsel zu steuern und zu erhalten. Nicht nur Blut, sondern z. B. auch Enzyme und Hormone und das ganze Immunsystem sind für das Weiterleben essentiell. Sie sind für die Nachhaltigkeit der chemischen Prozesse im Körper wesentlich. Diese Grundtatsachen des (animalischen) Lebens sollten, meint Hegel, uns davon überzeugen, die mechanistische Metaphysik sich bewegender atomarer Korpuskel, »welche in der Chemie wie in der Physik herrschend ist«, zu überwinden. Damit nennt er erstmals den eigentlichen Gegner seiner Polemik auch gegen Berzelius (und Dalton), »nämlich den Gedanken oder vielmehr [die] wüsten Vorstellungen von Unveränderlichkeit der Sto=e unter allen Umständen«. Solche Atome und Ursto=e gibt es in der Tat in der realen Welt nicht, so wenig wie die Massenpunkte der Mechanik. Als Momente idealer Darstellungsmodelle setzen sie immer noch eine passende Projektion auf die Welt voraus. Auch im Fall der neuen Atomtheorien sind nur die Instanziierungen der Prozesse real. Nur sie existieren an und für sich. Rein räumliche oder gar rein mechanische Vorstellungen von einer »Zusammensetzung und dem Bestehen der Körper aus solchen Sto=en« sind falsch. Dennoch streut Hegels Kritik, die im Prinzip völlig berechtigt ist, im Detail wie ein Schrotgewehr oder eine Streubüchse. Sie tri=t die theoretisch und experimentell weiterführenden Atommodelle ebenso wie die naiveren Korpuskulartheorien. Damit richtet sie sich, wie wir am Beispiel des Berzelius gesehen haben, nicht nur gegen die logisch naive und sachlich völlig falsche Metaphysik einer physikalistischen Abbildtheorie, sondern leider auch undi=erenziert gegen die begri<ich-theoretische Methode der Physik in ihren analogischen Modellierungen generischer Prozesse. Andererseits sind Hegels Argumente gegen einen naiven Atomismus ›mechanischer‹ Korpuskelbewegungen gar nicht auf die Tatsachen organische Prozesse angewiesen. Schon die elektrochemischen Prozesse selbst verlangen in ihrer ›atomaren‹ Erklärung eine theoretische Aufspaltung der Atome in Kern und Elektronenhülle, so
376 281 k 281 f . k Zweite Abteilung: Physik 340 dass ein Atom gar kein unteilbares Individuum oder atomon mehr ist. Die später hinzukommende Spaltung der Atomkerne ist dann von ganz anderem Typ. Alle diese Teilungen des Atoms sind wiederum von ganz anderem Typ als z. B. das Halbieren eines Quaders oder anderen Festkörpers. Von allgemeinster und bleibender Bedeutung ist also trotz allen Mängeln Hegels Einsicht in die analogische Metaphorik aller Theorien, auch noch der neueren Atomtheorien, wie sie bis in den Teilchenzoo der Physik der Gegenwart zu beachten ist. In der sachbezogenen Physik bedarf es daher immer einer dialektischen Vernunft, zunächst als empraktische Urteilskraft in ihren Anwendungen. Deren Formen sind logisch-philosophisch explizit und damit bewusst zu machen, um sachliche und metaphysische Fehlschlüsse zu verhindern. Wir sehen überhaupt zugegeben, daß die chemischen Sto=e in der Vereinigung die Eigenschaften verlieren, die sie in der Trennung zeigen, und doch die Vorstellung gelten, daß sie ohne die Eigenschaften dieselben Dinge seien, welche sie mit denselben sind, sowie daß sie als Dinge mit diesen Eigenschaften nicht erst Produkte des Prozesses seien. (340) Dass die chemisch elementareren Sto=e in chemischen Verbindungen viele ihrer Eigenschaften verlieren, ist klar. Es scheint jetzt Hegel zu sein, der ein nicht berechtigtes Problem aufmacht, indem er es als bedenklich darstellt, dass die in den chemischen Verbindungen vorkommenden Elemente an und für sich, also ihrer Art nach, identisch sind mit den nicht gebundenen reinen chemischen Ur-Sto=en oder Atomen, obwohl sie sich in der Bindung physikalisch und gerade auch chemisch anders verhalten als im freien Vorkommen. Die Gleichheiten bestehen hier aber zunächst einfach in der Trennbarkeit der Moleküle, der Scheidung der chemischen Verbindungen, nicht in den gleichen Eigenschaften. Der noch indi=erente Körper, das Metall, hat seine a;rmative Bestimmung so auf physische Weise, daß seine Eigenschaften als unmittelbare an ihm erscheinen. Aber die weiter bestimmten Körper können nicht so vorausgesetzt werden, daß dann gesehen werde, wie sie sich im Prozesse verhalten, sondern sie haben ihre erste, wesentliche Bestimmung allein nach ihrer Stelle im chemischen Prozesse. (340)
340 f. Physik der totalen Individualität 377 Leider wissen wir nicht, was bei Hegel ein indi=erenter Körper genau sein soll. Mir scheint, er polemisiert immer noch gegen eine Vorstellung, die wir seit Anaximanders Apeiron kennen, nämlich, dass alles aus einem einzigen indefiniten Ursto=, also aus basaler Materie, bestehen soll. Hegel nennt Metalle dann wohl nur als Beispiel, um darauf aufmerksam zu machen, dass wir in der Chemie und ihren Prozessen der Teilung und Zusammensetzung realiter bei di=erenten Basissto=en landen. Hegel sagt weiterhin, solche Körper oder Sto=e hätten physikalische Eigenschaften, die sich mehr oder weniger unmittelbar zeigen. Und er betont, dass alle chemischen Sto=e dadurch bestimmt sind, wie sie sich »im Prozesse«, also in allen chemischen Prozessen, an denen sie beteiligt sind, verhalten. Dennoch scheint er irgendwie doch nicht anerkennen zu wollen, dass Eisen, Gold oder Silber chemische Ursto=e oder Elemente sind – was ja, ich wiederhole den Punkt, zunächst nur heißt, dass sie nicht elektrochemisch ›zerlegbar‹ bzw. ›teilbar‹ sind, sondern, wie wir heute wissen, höchstens kernphysikalisch. Ein weiteres ist die empirische, ganz spezielle Partikularität nach dem Verhalten der Körper zu allen andern besondern Körpern; für diese Kenntnis muß jeder dieselbe Litanei des Verhaltens zu allen Agentien durchlaufen. – (340) Eine einfachere Basis-Ordnung als die »Litanei« des Berzelius als Frühform des späteren Periodensystems Mendelejews ist in der Chemie nicht zu erreichen. Man muss dazu in der Tat das »Verhalten der Körper zu allen andern besondern Körpern« untersuchen und immer »dieselbe Litanei des Verhaltens zu allen Agentien durchlaufen«. Eigentlich müsste das Wasser auf Hegels Mühle eines holistischen Begri=s an sich sein, in dem die Relationen die generischen Gegenstände definieren. Ganz so klar sieht Hegel die Dinge aber leider wohl doch noch nicht. Am auffallendsten ist es in dieser Rücksicht, die vier chemischen Elemente (Sauersto= usf.) in gleicher Linie mit Gold, Silber usf., Schwefel usf. als Sto=e aufgeführt zu sehen, als ob sie eine solche selbständige Existenz wie Gold, Schwefel usf. hätten oder der Sauersto= eine solche Existenz wie der Kohlensto= hat. (340 f.) 282 k 282 k
378 282 k 282 k Zweite Abteilung: Physik 341 Dass weder die vier ›chemischen Elemente‹ der uralten Tradition (Feuer, Wasser, Luft und Erde) noch deren neuere Ersetzungsversuche (z. B. durch Sauersto=, Wassersto=, Schwefel und Sticksto=) irgend taugen, ist Hegel auch noch nicht so ganz klar, wie das in seiner Zeit schon der Fall gewesen sein müsste. Hegels chemisches Grundwissen verbleibt trotz der eigenen Lektüre von wichtigen Werken des frühen 19. Jahrhunderts partiell im Kanon des ausgehenden 18. Jahrhunderts stecken. Seine falsche, noch nicht einmal zur eigenen, durchaus modernen Methodologie passende Verwunderung und Ablehnung der ›Litanei‹ der Elementarsto=e, in welcher in der Tat Sauersto= als Element auf »gleicher Linie mit Gold, Silber usf., Schwefel usf. als Sto=e aufgeführt zu sehen« ist, lässt sich (nur) so erklären. Hegel will augenscheinlich nicht wahrhaben, dass Sauersto= und Wassersto= »eine solche selbständige Existenz wie Gold, Schwefel usf. hätten oder der Sauersto= eine solche Existenz wie der Kohlensto= hat«. Das zeigt in der Tat, dass eine ›Rettung‹ von Hegel als Laientheoretiker der Chemie an vorderster Reflexionsfront ho=nungslos ist. Sie wird hier daher auch keineswegs unternommen, trotz aller Bemühungen um eine charitable Lesart. Aus ihrer Stelle im Prozesse ergibt sich ihre Unterordnung und Abstraktion, durch welche sie von Metallen, Salzen der Gattung nach ganz verschieden sind und keineswegs in gleiche Linie mit solchen konkreten Körpern gehören; diese Stelle ist § 328 auseinandergesetzt. (341) Es gibt natürlich große Unterschiede zwischen den chemischen Elementen. An der abstrakten Mitte, welche in sich gebrochen ist (vgl. § 204 Anm.), zu der daher zwei Elemente gehören, – Wasser und Luft, – welche als Mittel preisgegeben wird, nehmen sich die realen Extreme des Schlusses die Existenz ihrer ursprünglichen, nur erst an sich seienden Di=erenz. Dies Moment der Di=erenz, so für sich zum Dasein gebracht, macht das chemische Element als vollkommen abstraktes Moment aus; statt Grundsto=e, substantielle Grundlagen zu sein, wie man sich beim Ausdrucke ›Element‹ zunächst vorstellt, sind jene Materien vielmehr die extremsten Spitzen der Di=erenz. (341) Der Rückverweis auf den § 204 Anm. ist nicht recht nachvollziehbar. Dort geht es zwar um die Mitte von Mitteln in einer Teleologie
341 Physik der totalen Individualität 379 von Zweckbestimmungen, doch hier ist anderes relevant. Wasser und Luft sind nur Elemente in der antiken Vorwissenschaft. Dass sie »als Mittel« in der neueren Chemie »preisgegeben« werden, ist in jeder Hinsicht richtig, zumal angesichts der notorischen Ambiguität zwischen Luft als gasförmiger Mischung von Sto=en und als Aggregatzustand beliebiger Sto=e unter entsprechender Hitze oder Wärme. (Hegel operiert hier wohl allzu schematisch mit seinen ›Zusammenschlüssen‹ E -B-A, E -A-B und B-E -A des Einzelnen E, Besonderen B und Allgemeinen A.) Es ist ganz richtig, die chemischen Elementarsto=e als »die extremsten Spitzen der Di=erenz« anzusehen – nämlich der chemischen Scheide-Kunst. Möglicherweise konnte Hegel den richtigen Gedanken dennoch nicht ausreichend festhalten, dass chemische Elemente gerade dadurch definiert sind, dass sie sich nicht (elektro-)chemisch in Bestandteile teilen, trennen oder ›scheiden‹ lassen. Hegel will anscheinend auch nicht zugeben, dass chemische Reaktionen zu Materialien führen können, die sich ›physikalisch‹, also auf der Ebene der Sto=e und Körper, ganz anders verhalten als die Ausgangssto=e, obwohl die Ursto=e (und damit die ›Atome‹) erhalten bleiben. Er betrachtet damit die chemische Sto=umwandlung insgesamt nur qualitativ. Jetzt rächt sich sogar noch die Polemik gegen die ›Poren‹. Es ist hiebei, wie überhaupt, der chemische Prozeß in seiner vollständigen Totalität zu nehmen. Besondere Teile, formelle und abstrakte Prozesse zu isolieren, führt auf die abstrakte Vorstellung vom chemischen Prozesse überhaupt als bloß der Einwirkung eines Sto=es auf einen andern, wobei das viele Andere, das sich begibt (wie auch allenthalben abstrakte Neutralisierung, Wassererzeugung, und abstrakte Scheidung, Gasentwicklung), als fast Nebensache oder zufällige Folge oder wenigstens nur äußerlich verbunden erscheint, nicht als wesentliches Moment im Verhältnisse des Ganzen betrachtet wird. (341) Während nichts dagegen zu sagen ist, dass chemische Prozesse in ihrer »vollständigen Totalität zu nehmen« sind, zieht Hegel aus der Relationalität der Definition der Sto=e möglicherweise falsche Schlüsse. Es ist ganz richtig, dabei besondere Teile und »Prozesse zu isolieren«. Eben das führt zu der Einsicht, dass es in der Tat eine »Einwirkung eines Sto=es auf einen anderen« gibt. Hegel selbst kann 282 k
380 282 k Zweite Abteilung: Physik 341 f. hier aber den Blick nicht auf das Wesentliche lenken, sondern verläuft sich im vielem, was sich auch begibt. In jedem Fall liegt der Fehler am Ende darin, dass er Berthollet und nicht Berzelius als den empirisch und methodisch zukunftsweisenden Fachwissenschaftler der Chemie ansieht. Eine vollständige Auseinandersetzung des chemischen Prozesses in seiner Totalität erforderte aber näher, daß er als realer Schluß zugleich als die Dreiheit von innigst ineinander greifenden Schlüssen expliziert würde, – Schlüsse, die nicht nur eine Verbindung überhaupt von ihren Terminis, sondern als Tätigkeiten Negationen von deren Bestimmungen sind (vgl. § 198) und die in Einem Prozesse verknüpfte Vereinung und Scheidung in ihrem Zusammenhange darzustellen hätten. (341 f.) Hegel überschätzt außerdem wohl die Leistung seiner schematischen Schlussfiguren. Er meint, eine vollständige Darlegung der chemischen Prozesse müsse irgendwie mit den Figuren E -B-A, BE -A und E -A-B hantieren. Das heißt zwar nur, dass man empirischinduktiv und abduktiv die di=erentiell bedingten Inferenzformen begründet, die dann ihrerseits begri=liche Normalfallinferenzen ermöglichen – so aber, dass es eine Stufung gibt zwischen generischidealen Schlüssen und besonderen Anwendungen auch im Falle ›akzidenteller‹ Privationen. Nur das ist die »Dreiheit von innigst ineinander greifenden Schlüssen«. Was Hegel nicht bemerkt, ist, dass die Sachwissenschaftler diese Methode gerade in der Chemie praktisch weit besser handhaben als er selbst. Denn es ist ein abduktives Schließen auf die beste Erklärung, wenn Berzelius und Dalton annehmen, dass in chemischen Reaktionen nicht nur keine Änderung der Gesamtmasse, sondern auch keine Änderung der in den Reaktionsprodukten vorhandenen (Menge von) Elementen stattfindet – und Modelle entwerfen für die Erklärung der im Grunde aus der Stöchiometrie Richters schon bekannten ganzzahligen Vielfachheiten in den chemischen Verbindungen. Hegels anti-atomistisches Dogma verhindert, dass er das anerkennen konnte. Dabei rennt er o=ene Türen ein, wenn er – zu Recht – betont, dass im materialbegri=lichen Schließen bzw. in den Reaktionsgleichungen des Berzelius »nicht nur eine Verbindung überhaupt von ihren Terminis, sondern als Tätigkeiten Negationen von deren Bestimmungen sind« und dass diese die »in Einem Prozes-
342 Physik der totalen Individualität 381 se verknüpfte Vereinung und Scheidung in ihrem Zusammenhange darzustellen hätten«. Genau das leisten die Ansätze von Berzelius und Dalton. Soweit Hegel die metaphysische Hypostasierung der alten Korpuskulartheorie angreift, behält er bis heute recht, nicht aber in seiner zu schnellen und zu allgemeinen Kritik an der neuen Atom- und Molekulartheorie der Elektrochemie insgesamt. Denn diese lässt sich methodologisch als darstellende und erklärende Theorie begreifen und als beste derartige Erklärung abduktiv rechtfertigen. Andererseits ist und bleibt die Unterstellung falsch, eine rein räumliche Konfiguration atomarer Substanzen könne als ausreichende ›Ursache‹ für ›Wirkungen‹ aufgefasst werden. Die reine Mechanik von Defaultpunktbewegungen liefert nie eine volle Beschreibung oder Erklärung der Welt, auch nicht zusammen mit der neuen Atomtheorie. Es folgt ein extrem dichter Text zum Übergang von der Chemie zur Biologie. § 335 Der chemische Prozeß ist zwar im allgemeinen das Leben; der individuelle Körper wird ebenso in seiner Unmittelbarkeit aufgehoben als hervorgebracht, somit bleibt der Begri= nicht mehr innere Notwendigkeit, sondern kommt zur Erscheinung. (342) Schon in der Logik hatte Hegel anerkannt, dass Lebensprozesse im Allgemeinen chemische Prozesse sind. Dabei wird »der individuelle Körper« des Lebewesens »ebenso in seiner Unmittelbarkeit aufgehoben als hervorgebracht«. Der Sto=wechselprozess wird ja vom Wesen insgesamt mitgesteuert. Dabei wird die Energie freigesetzt und eingesetzt, die der Körper für seine mechanischen Bewegungen braucht. Diese wirken ihrerseits auf die chemischen Prozesse zurück. Es wäre abwegig, das Zukunftsweisende und Wahre der Einsicht nicht anzuerkennen. Leider hat Hegels Ausdrucksweise, nicht nur die überzogene Polemik gegen die molekulartheoretische Chemie, verhindert, dass man das erkannte. Schon die kryptische Formel, dass »der Begri= nicht mehr innere Notwendigkeit« bleibt, sondern »zur Erscheinung« kommt, besagt am Ende sogar, dass nur die chemischen Prozesse im lebenden Körper es ermöglichen, dass ein Einzelwesen den Begri=, also seine Artform, 282 f .
382 283 283 k Zweite Abteilung: Physik 342 selbsttätig realisiert bzw. instanziiert. Nur so kann der lebende Körper im Ganzen die Bewegungen ausführen, die für seine Autopoiesis, den Lebenserhalt und die Lebensführung seiner Art gemäß notwendig sind. Es ist aber durch die Unmittelbarkeit der Körperlichkeiten, die in den chemischen Prozeß eingehen, daß er mit der Trennung überhaupt behaftet ist; dadurch erscheinen seine Momente als äußerliche Bedingungen, das sich Scheidende zerfällt in gegeneinander gleichgültige Produkte, das Feuer und die Begeistung erlischt im Neutralen und facht sich in diesem nicht von selbst wieder an; der Anfang und das Ende des Prozesses sind voneinander verschieden; – dies macht seine Endlichkeit aus, welche ihn vom Leben abhält und unterscheidet. (342) Wieder ist Hegels Ausdrucksform allzu unklar, als dass man sie hätte kanonisieren bzw. in eine Standardform verwandeln können. Aller Jargon stammt daher, dass man eine Redeform nachahmt, die nicht taugt. – Unmittelbar verarbeiten chemische Prozesse die Nahrung in der Verdauung oder einen Teil des Sauersto=s aus der Luft. Man kann dabei in gewissem Sinn den lebenden Gesamt-Körper von seinen Teilen und Teilprozessen trennen. Daher erscheinen die Teile »als äußerliche Bedingungen« – obwohl meine Verdauung nicht weniger Teil meines Lebens ist als das Atmen und das durch dieses aufrecht erhaltene Schlagen des Herzens. Hegel spricht dabei noch wie Heraklit vom Feuer in den Blutadern und davon, dass die chemischen Reaktionen dispositioneller ›Begeistung‹ erlöschen würden, wenn der Körper nicht durch seine Bewegungen dafür sorgen würde, dass die chemischen (bzw. biotischen) Prozesse immer weiterlaufen bzw. ggf. neu anfangen können. Alle rein chemischen Prozesse würden im Körper in der Tat nach kürzester Zeit stoppen, wenn der Leib sie nicht selbst durch Bewegungen erhalten könnte. Das macht sogar die basale Endlichkeit des Leiblichen bzw. aller organischen Prozesse auf chemischer Grundlage aus. Die nötige Kontinuität der lebenserhaltenden Bewegungen macht den wesentlichen Unterschied zwischen dem lebenden Leib und dem bloßen Körper als Leichnam aus. Chemische Erscheinungen, z. B. daß im Prozesse ein Oxyd auf einen niedrigern Grad der Oxydation, auf dem es sich mit der ein-
343 Physik der totalen Individualität 383 wirkenden Säure verbinden kann, herabgesetzt und ein Teil dagegen stärker oxydiert wird, haben die Chemie veranlaßt, die Bestimmung der Zweckmäßigkeit bei der Erklärung anzuwenden, eines anfänglichen Selbstbestimmens des Begri=s aus sich in seiner Realisation, so daß diese nicht allein durch die äußerlich vorhandenen Bedingungen determiniert ist. (342 f.) Wer es war, der damals in den Phänomenen des Chemischen selbst schon teleologische Prozesse der geschilderten Art hat sehen wollen, weiß ich nicht. Es geht uns auch nicht weiter an. Hegel verhält sich zu dieser Ansicht mit vollem Recht distanziert, auch wenn er sie hier noch nicht geradeaus als falsch bzw. irreführend ablehnt und sich auch im Folgenden weit unklarer ausdrückt, als das extrem wichtige und schwierige Thema es verlangen würde. § 336 Es ist aber der chemische Prozeß selbst dies, jene unmittelbaren Voraussetzungen, die Grundlage seiner Äußerlichkeit und Endlichkeit, als negierte zu setzen, die Eigenschaften der Körper, die als Resultate einer besondern Stufe des Prozesses erscheinen, auf einer andern zu verändern und jene Bedingungen zu Produkten herabzusetzen. Was in ihm so im allgemeinen gesetzt wird, ist die Relativität der unmittelbaren Substanzen und Eigenschaften. (343) Der Satz klingt so, als könnte ein chemischer Prozess selbst die Voraussetzungen seines Anfangs herstellen. Das wäre schierer Unsinn. Es passt auch nicht zur obigen Betonung des Unterschieds der Ausgangs- und Endprodukte chemischer Prozesse – samt ihrer Endlichkeit ohne Zufuhr neuer Sto=e aus der Umgebung. Die Passage ist zumindest schlecht formuliert. Das gleichgültig-bestehende Körperliche ist dadurch nur als Moment der Individualität gesetzt, und der Begri= in der ihm entsprechenden Realität; die in Einem, aus der Besonderung der unterschiedenen Körperlichkeiten sich hervorbringende konkrete Einheit mit sich, welche die Tätigkeit ist, diese ihre einseitige Form der Beziehung auf sich zu negieren, sich in die Momente des Begri=s zu dirimieren und zu besondern und ebenso in jene Einheit zurückzuführen, – so der unendliche, sich selbst anfachende und unterhaltende Prozeß, – der Organismus. (343) 283 283
384 Zweite Abteilung: Physik Es sind hier die Worte und Gedanken wieder ›falsch‹ gereiht. Es geht um den Übergang zum Organismus, dessen Lebensprozesse in einer Skizze im Kontrast zu den chemischen bestimmt werden sollen. Die Form eines Lebensprozesses besteht darin, dass ein lebender Gesamtkörper sich selbst erhält, indem er seine rein körperlichen – physikalischen und chemischen – Prozesse am Laufen hält. Hegels Rede vom Negieren ist ein allzu abstrakter Ausdruck für ein tätiges Unterscheiden. Dass sich der Leib ›in Momente des Begri=s dirimiert‹, bedeutet nämlich, dass ein autopoietisches System von physikochemischen Teilprozessen auf der Basis von Leibbewegungen so abläuft, dass der Körper die vorgesehenen Formen seiner Art im Wachsen und Vergehen durchläuft. Hegel geht es nach meinem Lektürevorschlag um die Einsicht, dass jedes Selbst bzw. jede Identität und jedes Individuum, auch jedes mögliche Atom, logisch bzw. strukturell schon hochgradig komplex ist. Es gibt gerade hier keine punktförmigen Seelen. Erst recht komplex sind Selbsterhalt und Selbstbeziehungen. Dabei ist nichts so schwer, wie eine Autopoiesis, einen selbstgesteuerten Selbst- und Arterhalt von lebenden Wesen zu verstehen – zumal nichts in der Welt auch so komplex ist. Das Wort »unendlich« ist außerhalb der Mathematik nie wörtlich zu lesen, Völlig richtig ist es, dass man einen Organismus oder ein Lebewesen nur als einen Prozess und nie einfach als Körper (res extensa) verstehen kann. Jedes Einzelwesen führt den Artprozess einfach fort. Man kann schon daher einen Organismus nie einfach als momentanen Körper begreifen. Ein bloß momentaner lebender Körper wäre eine reine Abstraktion. Er bestünde nur aus momentanen Körperteilen, wobei wir von allen inneren und äußeren Prozessen absehen würden. Alle lebenden Wesen setzten das Leben so fort, wie es ihnen durch ihre Herkunft von anderen Lebewesen ›vererbt‹ wird. Eine völlige Abstraktion von Zeit, Geschichte und Entwicklung eines Lebewesens ist schon logisch naiv.
Dritte Abteilung der Naturphilosophie. Organische Physik Die zentralen Punkte, die Hegel in seiner Analyse hervorhebt, sind diese: Alle individuellen Körper sind selbst ein Prozess mit Anfang und Ende. Das Leben jedes Lebewesens ist immer nur Fortsetzung eines gesamten Lebensprozesses. Nach allem, was wir wissen, ist der Lebensprozess, im Ganzen gesehen, einmalig und an die Erde gebunden. Aus der allgemeinen Einsicht in die Prozesshaftigkeit aller Körper und besonders der lebenden Körper von Organismen und Lebewesen ergibt sich über die Erbfolge fast von selbst eine gewisse Einheit allen irdischen Lebens, wenn man nicht an eine multiple Urzeugung aus dem Schlamm wie noch Aristoteles oder aus der Chemie der Sto=e wie noch Kant glaubt. Man darf zwar gern von Außerirdischen träumen, aber mit Wissen und Wissenschaft hat das so wenig zu tun wie praktisch die gesamte Science-Fiction-Literatur, von Lukians ironischer Reise zum Mond bis zu den Geschichten über den Golem oder Frankenstein – oder der wunderbar märchenhaften Suche nach Außerirdischen mit Hilfe von gemalten Menschen auf einer Raumkapsel. Von anderem Leben als dem auf dem Lebensbaum der Erde wissen wir nichts. Die Idee dieses Baums des Lebens mit seinen Verzweigungen dann auch in Gattungen und Arten von Tieren hat Charles Darwin von seinem Großvater Erasmus Darwin sozusagen geerbt. Er hat sie ›nur‹ durch empirische Beobachtungen von Züchtungen und den Varianten des Aussehens und der Ethologie von isolierten SubArten bestätigt. Geschichten über Außerirdische als möglicherweise wahr zu glauben, ist jedenfalls so wenig sinnvoll, wie an die ebenfalls von uns selbst entworfenen Sagen über Engel, Götter und Halbgötter zu glauben. Dabei kann man niemandem verbieten, nach nicht verlorenen Stecknadeln in Heuhaufen zu suchen – und dabei irgendwelche Zufallsfunde zu machen. Von heute her ist es aber nur erst unsere
386 Dritte Abteilung: Organische Physik Phantasie, für die es ›möglicherweise‹ Leben außerhalb des einen und einzigen irdischen Lebensbaumes gibt. Der Dichterforscher Erasmus Darwin besingt nur dieses irdische Leben und Hegel stimmt zu. Aber schon rein formal gibt es nur eine einzige Welt, da das Wort »Welt« alles Walten zusammenfasst und nicht etwa mit der Erde unter dem Himmel zu identifizieren ist. Allerdings ist in dieser einen Welt die Erde und das Leben auf ihr nach unserem Wissen als ganz und gar einzigartig anzuerkennen. Jeder Zweifel an diesem Allgemeinwissen und an der entsprechenden robusten No-nonsense-Haltung zur Einzigartigkeit irdischen Lebens stützt sich auf kein Wissen, sondern nur erst auf selbsterfundene Geschichten. Der ›Glaube‹ an Außerirdische verlässt daher die Ebene reiner Fiktion gar nicht, so wenig wie jeder Glaube an Götter, Gott und Engel. Freilich hat der naive ›Glaube‹ eines Gläubigen ebenso wie der eines Erich von Däniken, es könnten höhere Wesen vom Himmel auf die Erde kommen, durchaus praktische Folgen. Man denke als Beispiel an die Erwartung göttlicher Wesen der damaligen Azteken, die nach alten Mythen vom Osten in ihr Land kommen sollten. Derartige Folgen sind von der Art, wie sie jeder Roman haben kann, wenn man sich an den von ihm geschilderten ›Möglichkeiten‹ im handelnden Tun orientiert. Allerdings können wir nicht erwarten, dass nicht ausreichend gebildete Menschen dies verstehen. Es ist nämlich nicht einfach, zu unterscheiden zwischen dem – zugegebenermaßen spekulativen, methodologischen und topographischen – Allgemeinwissen der Darwins und Hegels auf der einen Seite, einem metaphysischen Glauben an die Herstellbarkeit von Leben in der Retorte, an eine mehrfache Schöpfung mehrerer erdähnlicher Welten oder an irgendeine andere Art der Existenz von ›Außerirdischen‹, auch irgendwelcher Götter, auf der anderen Seite. Unglücklicherweise kann nicht einmal die mit Charles Darwin verbundene Evolutionstheorie dessen wahre Einsichten festhalten. Diese richten sich nämlich ›nur‹ gegen einen überschwänglichen Lamarckismus (bis hin zu Lyssenko). Man meint stattdessen, aus Darwins ›Theorie‹ ergäbe sich eine Bestätigung der ›kausalen Geschlossenheit‹ der Welt. Man merkt nicht, wie man eben damit zu schwanken beginnt zwischen der Einsicht in die Einzigartigkeit des Lebensbaums und der Vorstellung von einer möglichen multiplen Urzeugung in
Dritte Abteilung: Organische Physik 387 vielen Welten oder Gestirnen der Welt, an die gerade auch noch Kant geglaubt hat. Ein solcher Glaube ist natürlich nicht rein formallogisch ausgeschlossen, sondern nur materialbegri=lich auf der Basis unseres Allgemeinwissens extrem unwahrscheinlich. Das wusste schon Hegel, noch bevor man das relativ junge Alter des Kosmos nach einem errechneten relativen Beginn mit Namen »Urknall« bestimmen konnte. Rein formallogisch ist die ›Existenz‹ beliebiger Götter und Engel in vorgestellten möglichen Welten ›möglich‹. Es hängt eben alle Vernunft am freien, aber nach Möglichkeit wissensbasierten Urteil darüber, an welchen Möglichkeiten wir unsere Haltungen zur Welt orientieren können, dürfen oder sollen, soweit wir selbstbewusst und vernünftig urteilen wollen. Dabei entscheidet weder allein der Mehrheitskonsens der Leute noch bloß die eigene ehrliche Intuition, was wir als vernünftig zählen wollen. Hier gibt es nur ein freies, nach Möglichkeit gewissenhaftes Urteilen, samt der immer möglichen, daher unendlichen Reflexion und Revision der Urteile, ihrer Formulierungen oder auch der zugehörigen Haltungen zur Welt. Wer hier zu nachsichtig ist mit seinen angelernten Intuitionen, begreift die sinnkritisch zentralen Urteile und Unterscheidungen offenbar noch nicht richtig. § 337 Die reelle Totalität des Körpers, als der unendliche Prozeß, daß die Individualität sich zur Besonderheit oder Endlichkeit bestimmt und dieselbe ebenso negiert und in sich zurückkehrt, im Ende des Prozesses sich zum Anfange wiederherstellt, ist damit eine Erhebung in die erste Idealität der Natur, so daß sie aber eine erfüllte, und wesentlich, als sich auf sich beziehende negative Einheit, selbstische und subjektive geworden ist. Die Idee ist hiemit zur Existenz gekommen, zunächst zur unmittelbaren, zum Leben. Dieses ist A. als Gestalt, das allgemeine Bild des Lebens, der geologische Organismus; B. als besondere, formelle Subjektivität, der vegetabilische; C. als einzelne konkrete Subjektivität, der animalische Organismus. Die Idee hat Wahrheit und Wirklichkeit nur, insofern sie an ihr als subjektive ist (§ 215); das Leben als nur unmittelbare Idee ist hiemit 284
388 Dritte Abteilung: Organische Physik 344 f. außer sich, Nicht-Leben, nur der Leichnam des Lebensprozesses, der Organismus als Totalität der als unlebendig existierenden, mechanischen und physikalischen Natur. Unterschieden davon beginnt die subjektive Lebendigkeit, das Lebendige in der vegetabilischen Natur; das Individuum, aber noch als außersichseiend in seine Glieder, die selbst Individuen sind, zerfallend. Erst der animalische Organismus ist in solche Unterschiede der Gestaltung entwickelt, die wesentlich nur als seine Glieder existieren, wodurch er als Subjekt ist. Die Lebendigkeit als natürliche zerfällt zwar in die unbestimmte Vielheit von Lebendigen, die aber an ihnen selbst subjektive Organismen sind, und es ist nur in der Idee, daß sie Ein Leben, Ein organisches System desselben sind. (344 f.) Es ist unbezweifelbar wahr, dass das Gesamtleben auf der Erde als das natürliche Leben »in die unbestimmte Vielheit von Lebendigen« zerfällt, »die aber an ihnen selbst subjektive Organismen sind«. Insgesamt gibt es nur eine einzige reale Gesamtform irdischen Lebens, ein organisches System des Lebens auf der Erde, an dem wir Menschen teilnehmen, ob wir es in unserer subjektiven bzw. provinziellen Sicht wissen wollen oder nicht. Die »reelle Totalität« jedes Körpers ist der ganze Prozess seiner Entstehung, zeitlichen Individualität, Besonderheit der Art und Endlichkeit. Das sollte nun wirklich klar sein. Im Fall von Lebewesen enden die relevanten chemischen Prozesse während des Lebens nicht. Bevor die Lebewesen als einzelne verenden oder sterben, wurden ggf. Anfänge neuen Lebens durch Vererbung wiederherstellt. Schon die klimatischen und geologischen Prozesse auf der Erde bilden Kreisläufe – freilich nur für die Epoche, in der es die Erde in dieser Form gibt. Sie ist, wie alles, entstanden und wird vergehen. Hegel nennt nun alle diese irdischen Prozesse »die erste Idealität der Natur« und betont ihre formal »sich auf sich beziehende negative Einheit«. In gewissem Sinn ist die Erde eine Art Supersubjekt. Sie bringt alle irdischen Erscheinungen und dabei insbesondere das irdische Leben hervor. Klar ist dabei, dass sie das nicht ›intentional‹ tut. Intentionalität haben nur Menschen. Die Erde hat keine Absichten. Es gibt noch nicht einmal eine Teleologie im Gesamtgeschehen der irdischen Prozesse – wohl aber im Leben von (animalischen) Lebewesen.
Dritte Abteilung: Organische Physik 389 Dass die Erde selbstisch geworden ist, heißt also nur, dass es prozessuale Relationen gibt, in der sich gewisse Zustände erhalten, die für das später auf der Erde entstandene, also zur Existenz gekommene Leben hinreichende und notwendige Bedingungen sind. Hegel hätte vielleicht besser nicht von einem geologischen Organismus gesprochen, auch wenn Anhänger der sogenannten GaiaHypothese gerade auch heute gerne so zu reden scheinen und die Rede von der Biosphäre semantisch und sachlich gar nicht weit abliegt. Es handelt sich um Metaphern für das, was eben gesagt wurde. Echtes Leben gibt es erst im vegetabilischen Leben z. B. der Pflanzen. Konkrete Subjektivität gibt es erst im animalischen Organismus eines sich aufgrund seiner Sinne schon relativ frei bewegenden Lebewesens. Historisch hat alles »Lebendige in der vegetabilischen Natur« begonnen, die grob gesagt von den Einzellern bis zu den Pflanzen reicht. Ohne Flora keine Fauna. Tiere leben aber schon als Individuen – so dass sie über ihre durch die Sinne selbstgesteuerten Bewegungen nicht nur im Innern (wie schon bei den ortsfesten Pflanzen), sondern im Raum anderer Dinge ihr Leben im Vollzug als Einzelsubjekte selbst mitformen. Die Idee des Lebens als realisierter Begri= des Lebens existiert immer nur im lokalen Einzelleben. Die unmittelbaren physikochemischen Prozessformen auch ›in‹ den lebenden Körper sind dabei sozusagen noch ›äußere‹ Teilprozesse – da man dabei vom Lebensprozess insgesamt noch abstrahiert, gerade so, wie wenn man Leib und Leichnam identifiziert. Dass Hegels materialbegri=liche Analyse der uns bekannten (nicht fiktiven) Grundtatsachen des Lebens mit dem Ort des Lebens, der Erde, und damit der konkreten ›geologischen Natur‹ beginnt, sollte uns jetzt nicht mehr wundern. Denn Objektivität entsteht nur durch Invarianten faktischen Wissens, nicht aus reinen Vorstellungen, also bloßen Wort- und Satzmengen wie in Texten und Büchern samt Bilderund Symbolfolgen. Die allgemeine Physik der bewegenden Kräfte und die Chemie der selbstlaufenden Prozesse in der Welt sind aber noch viel zu abstrakt, um auch nur das Phänomen des Lebens auf der Erde oder gar des geistigen Lebens und ›rationalen‹ Tuns angemessen darstellen oder gar erklären zu können. Heute träumt man zwar schon von einer mögli-
390 Dritte Abteilung: Organische Physik 345 chen Autopoiesis von sich selbst reproduzierenden und reparierenden Robotern mit künstlicher Intelligenz, weit über die von uns etablierten automatischen Verfahren hinaus. Aber dieser Traum kopiert nur erst formal, was wir aus dem Leben von Tieren und Menschen kennen – wie schon in den Geschichten vom Golem oder von Frankenstein.40 A. 285 285 Die geologische Natur § 338 Der erste Organismus, schon insofern er zunächst als unmittelbarer oder an sich seiender bestimmt ist, existiert nicht als Lebendiges; das Leben ist als Subjekt und Prozeß wesentlich sich mit sich vermittelnde Tätigkeit. (345) Hegel wendet die Rede von einem Organismus metonymisch auf die Erde an, meint damit aber nur deren Gesamtorganisation. Es wird dabei explizit dementiert, dass die Erde lebt, außer im Sinn von Walt Disneys »Die Wüste lebt« – nämlich, weil es Leben auf und in ihr gibt. Völlig richtige Kernsätze sind: Leben ist Subjekt und Prozess. Leben ist ein autopoietischer Prozess. Hegels Ausdruck dafür ist »sich mit sich vermittelnde Tätigkeit«. Leben gibt es also nur im konkreten Lebensprozess der Einzelsubjekte, vermittelt durch deren autopoietische Tätigkeiten und ihre ›ererbte‹ Gesamtform. Vom subjektiven Leben aus betrachtet, ist das erste Moment der Besonderung, sich zu seiner Voraussetzung zu machen, sich so die Weise der Unmittelbarkeit zu geben und in ihr seine Bedingung und äußeres Bestehen gegenüberzustellen. (345) Subjektives Leben ist autopoietisch in dem Sinn, dass der lebendige Körper für die fortgesetzten Voraussetzungen der basalen Lebensprozesse sorgt. Damit kann man das äußere Gesamt-Sein des leiblichen Körpers von den inneren Prozessen unterscheiden, die aber als bloß 40 Der Bereich des nur erst formal Möglichen ist viel zu weit. Wenn wir konkret darüber nachdenken, mit welchen Roboterwesen wirklich zu rechnen ist, landen wir entweder bei von uns hergestellten Maschinen oder bei Fabelwesen einer Science-Fiction, die nicht zufällig sehr schnell unseren Bildern von den alten Persern und Römern oder von sprechenden Tieren ähneln.
345 Die geologische Natur 391 chemische bzw. physikalische Reaktionen selbst bloß äußerliche sind, wenn wir von ihrer Rolle im Selbststeuerungsprozess des Lebens insgesamt absehen (wäre das möglich). Hegel wiederholt hier also die Floskel, mit der er die Autopoiesis des Lebens in den durch den lebenden Körper mitgesteuerten physikochemischen Prozessen zu artikulieren versucht: Ex ovo sorgt das Lebewesen durch eine arttypische Besonderung von Selbstbewegungen im Kontext äußerer Einwirkungen (z. B. von Wasser auf pflanzliche Samen) dafür, dass es selbst zum Teil der Voraussetzung seines weiteren Seins und Lebens wird. Damit reagiert es nicht einfach physikochemisch unmittelbar auf innere und äußere Gegebenheiten, sondern macht diese in gewisser Weise beide zu einer ihm selbst sozusagen auch immer bloß äußeren Umgebung – bei gleichzeitiger Aneignung oder Er-Innerung. Die Erinnerung der Naturidee in sich zur subjektiven und noch mehr zur geistigen Lebendigkeit ist das Urteil in sich und in jene prozeßlose Unmittelbarkeit. (345) Erinnerung ist hier ein Innerlich-Machen. Die Naturidee ist sich realisierende Form, ein Von-selbst-Wachsen. Im Tier wird es volles subjektives animalisches Leben. Menschen haben das Vermögen, ein geistiges, personales Leben zu führen. Hegels ominöser Satz, Leben sei »Urteil in sich und in jene prozeßlose Unmittelbarkeit«, meint hier nur erst die unterscheidende Tätigkeit, welche für die Aufrechterhaltung der Lebensprozesse sorgt. Prozesslos unmittelbar ist nur der Bezug auf einen Körper im Moment oder als Moment im Prozess. »Erinnerung der Naturidee in sich« ist also der realisierte Begri= im arttypischen Leben. Das Tier landet sozusagen beim subjektivsensitiven, der Mensch bei einem personal-geistigen Leben. Der Ausdruck »Urteil in sich und in jene prozeßlose Unmittelbarkeit« meint den Unterschied zwischen dem Lebensprozess des Lebewesens im gegenwärtigen Vollzug und dem bloß momentanen Körperzustand unter Absehung vom Prozess. Zugleich enthalten ist die Beziehung der lebendigen Aktualisierung zu einer allgemeinen Lebensform. Das übliche ›materialistische‹ Bild von der Seite besagt, dass dabei ein fest in den Genen verdrahtetes arttypisches Programm ablaufe. Das Bild ist nicht wahr. Es fängt nur einen Teil ein. Das ist beim Leben gerade so wie beim geistigen Leben: Der schematische 285
392 285 285 Dritte Abteilung: Organische Physik 345 Verstand der rechnenden Ratio macht nur einen Teil des Geistes aus. Das angeborene Schema des Verhaltens des Lebewesens macht ebenfalls immer nur einen Teil des realen Verhaltens aus. Gerade auch der äußere Zufall – und damit eine Statistik in einer Population – ist eine nicht zu unterschätzende Macht. Diese von der subjektiven Totalität sich vorausgesetzte, unmittelbare Totalität ist nur die Gestalt des Organismus, – der Erdkörper als das allgemeine System der individuellen Körper. (345) Leider ist Hegels Sprache allzu selten unmittelbar verständlich. Hier sagt er aber klar und richtig, dass die Voraussetzungen dafür, dass auf der Erde ganz o=enbar Leben entstehen konnte, selbst nicht die Form subjektiven Lebens hatten. Vor der Entstehung von Leben hatte die Erde, wie Hegel sich auszudrücken beliebt, nur die Gestalt des Organismus. Gemeint ist, dass sich aus dem Erdkörper als allgemeinem System der individuellen Körper einmal Leben und damit Subjektivität (bzw. ›Bewusstsein‹ im Sinne Thomas Nagels oder David Chalmers’) ›entwickelt‹ hat. Das ›schwierige‹ Problem der Entstehung des Bewusstseins, von einem noch sehr beschränkten Gewahrsein schon der Organismen über die schon selbstgesteuerten Aufmerksamkeiten der Tiere bis zum Wissen und Erkennen der Menschen, löst sich, wie alle derartigen ›Probleme‹, in der Tat nur dadurch auf, dass man sie als große und ganz o=enbar geschichtlich gewordene Tatsachen schlicht anerkennt. Aus geschichtlichen Rekonstruktionen von Entwicklungsstufen ex post, die allerlei einmalige Zufälle und Kontingenzen enthalten können, erhält man keineswegs eine causa e;ciens im Sinne einer Instanziierung eines wiederholbaren oder sich wiederholenden Prozessverlaufs, also in der Form von zureichenden kausalen Bedingungen, genau so wenig wie eine göttliche Vorsehung. § 339 Die Glieder dieses nur an sich seienden Organismus enthalten daher nicht den Lebens-Prozeß in sich selbst und machen ein äußerliches System aus, dessen Gebilde die Entfaltung einer zum Grunde liegenden Idee darstellen, dessen Bildungsprozeß aber ein vergangener ist. – (345) Die einzelnen Lebewesen auf der Erde hängen in ihrem Leben
345 f. Die geologische Natur 393 und Überleben von geologischen und klimatischen, damit partiell auch geographischen Bedingungen ab – und von ihrer Herkunft. Nur gewisse Teile des Lebensprozesses sind ja von ihnen selbst, und diese nur durch Bewegungen, steuerbar. Wer dieses Wissen »naturalistisch« nennen will, mag das tun. Der relevante Unterschied zu einem metaphysischen Naturalismus oder Materialismus liegt darin, dass Letzterer an einen durchgängigen Kausalnexus nach Art eine Billardballmechanik glaubt, genauer, an eine unmittelbare Abbildtheorie der Wahrheit unserer physikalischen Modelle. Hegels Rede von der »Entfaltung einer zum Grunde liegenden Idee« meint hier schlicht die Realisierung des Begri=s des Lebens, wie wir ihn von heute her kennen, als zeitlich begrenzter Erhalt der Artform in ihren einzelnen Instanziierungen. Und er sagt, dass sich die jeweilige Artform in der vergangenen Geschichte der Erde ausgebildet und ausdi=erenziert hat. Die Mächte dieses Prozesses, welche die Natur jenseits der Erde als Selbständigkeiten zurückläßt, sind der Zusammenhang und die Stellung der Erde im Sonnensystem, ihr solarisches, lunarisches und kometarisches Leben, die Neigung ihrer Achse auf die Bahn und die magnetische Achse. Zu diesen Achsen und deren Polarisation steht in näherer Beziehung die Verteilung des Meeres und des Landes, dessen zusammenhängende Ausbreitung im Norden, die Teilung und zugespitzte Verengerung der Teile gegen Süden, die weitere Absonderung in eine alte und in eine neue Welt und die fernere Verteilung von jener in die durch ihren physikalischen, organischen und anthropologischen Charakter untereinander und gegen die neue Welt verschiedenen Weltteile, an welche sich ein noch jüngerer und unreifer anschließt; – die Gebirgszüge usf. (345 f.) Hegel erweitert die Entstehungsgeschichte des Lebens verständlicherweise auf die Entstehung von Sonne und Planetensystem. Das tun ja schon die altbabylonischen und daher auch die jüdischen Schöpfungsgeschichten. Diese haben nur noch partiell eine mythische Form, während die altgriechische Abfolge der ›Herrschaft‹ irdischen Lebens (Zeus) nach der Epoche der Erdenzeit (Kronos/Chronos) und nach der Herrschaft des Himmels (Uranos) noch anthropomorpher und damit wenigstens im Ausdruck ›primitiver‹ geblieben war. 285 f .
394 Dritte Abteilung: Organische Physik 346 Die Metapher von einem ›solarischen, lunarischen und kometarischen Leben‹ können oder gar sollten wir gleich wieder vergessen; gemeint sind nur die sich stabil reproduzierenden Bewegungsformen der genannten himmlischen Objekte. Für die Erdkunde ist freilich die Neigung der Achse der Erde relevant, samt der Verteilung des Meeres und des Landes, der Gebirgszüge etc. Wieder ist klar, dass Hegel alle sachlichen Besonderheiten und Einzelheiten den Sachwissenschaften überlässt. Dennoch lehnen sich manche seiner Kommentare etwas weit in die Sachaussagen der Fächer hinein. 286 286 § 340 Die physikalische Organisierung beginnt als unmittelbar nicht mit der einfachen, eingehüllten Form des Keimes, sondern mit einem Ausgang, der in einen gedoppelten zerfallen ist, in das konkrete granitische Prinzip, den die Dreiheit der Momente in sich schon entwickelt darstellenden Gebirgskern, und in das Kalkige, den zur Neutralität reduzierten Unterschied. (346) Man kann Hegels Rede von der »einfachen, eingehüllten Form des Keimes« auf den Gedanken eines Urkeims bei Erasmus Darwin beziehen. Vorgelagert sind Betrachtungen eines früheren Anfangs. Hegel spricht metonymisch von einem granitischen Prinzip und meint damit wohl die feste Erdkruste. Die Kalkschichten sind zwar schon das Ergebnis von früherem Leben, was Hegel aber wohl noch nicht weiß. Immerhin muss es den Ursto=, das Kalzium, zuvor schon gegeben haben. Die Herausbildung der Momente des erstern Prinzips zu Gestaltungen hat einen Stufengang, in welchem die weitern Gebilde teils Übergänge sind, in denen das granitische Prinzip die Grundlage, nur als in sich ungleiche und unförmliche, bleibt; teils ein Auseinandertreten seiner Momente in bestimmtere Di=erenz und in abstraktere mineralische Momente, die Metalle und die oryktognostischen Gegenstände überhaupt, bis die Entwicklung sich in mechanischen Lagerungen und immanenter Gestaltung entbehrenden Aufschwemmungen verliert. Hiemit geht die Fortbildung des andern, des neutralen Prinzips, teils als schwächere Umbildung zur Seite, teils greifen dann beide Prinzipien in konkreszierenden Bildungen bis zur äußern Vermischung ineinander ein. (346)
347 Die geologische Natur 395 Hegels Kommentar zur Gestaltung der Erdoberfläche liefert nichts Neues. Wir können aber sagen, dass die allgemeine Tatsache nicht selbstverständlich ist, dass sich auf der Erde praktisch alle chemischen Sto=e, Metalle, Mineralien etc. finden lassen. Die Geologie ist damit eine Art chemische Realwissenschaft zusammen mit einer Rekonstruktion geologischer Erdgeschichte. – Die allzu abstrakte Formulierung in der Rede von einem neutralen Prinzip übergehe ich ebenso wie den bloß schönen Gedanken, dass die Erde an sich der noch tote Kristall des Lebens sei. § 341 Dieser Kristall des Lebens, der totliegende Organismus der Erde, der seinen Begri= im siderischen Zusammenhang außer sich, seinen eigentümlichen Prozeß aber als eine vorausgesetzte Vergangenheit hat, ist das unmittelbare Subjekt des meteorologischen Prozesses, durch welchen es als die an sich seiende Totalität des Lebens, nicht mehr nur zur individuellen Gestaltung (s. § 287), sondern zur Lebendigkeit befruchtet wird. – (347) Natürlich steht die Erde ihrem Begri= nach, also in ihrem Sein an (und für) sich, schon im siderischen, also kosmischen Zusammenhang. Aber sie hat eine eigentümliche Vergangenheit. Sie ist das »unmittelbare Subjekt des meteorologischen Prozesses« bzw. des Klimas. Dabei bildet sie eine »Totalität des Lebens« u. a. der Pflanzen und Tiere. Land und insbesondere das Meer, so als reale Möglichkeit des Lebens, schlägt unendlich auf jedem Punkte in punktuelle und vorübergehende Lebendigkeit aus; – Flechten, Infusorien, unermeßliche Mengen phosphoreszierender Lebenspunkte im Meere. (347) Die Ausdrucksform ist schrecklich. Hegel sagt hier aber nur, dass es auf dem Land und im Wasser eine heute leider längst nicht mehr ›unermessliche‹ Vielfalt an Lebensformen gibt. Die Generatio aequivoca ist aber, als jenen objektiven Organismus außer ihr habend, eben dies, auf solches punktuelle, nicht sich in sich zur bestimmten Gliederung entwickelnde, noch sich selbst reproduzierende (ex ovo) Organisieren beschränkt zu sein. (347) Die Erde ist Gesamtort lebendiger Natur. Dabei gibt es allerlei Äquivokationen, z. B. in der Rede von einer natürlichen Entwicklung 286 286 286 f .
396 Dritte Abteilung: Organische Physik 347 oder Evolution. Zwar gibt es die ›natürliche‹ Selbst-Entwicklung der je aktualen Einzelwesen aus dem (befruchteten) Ei; aber die Ausdifferenzierungen von Gattungen, Spezies und Artformen des Lebens sind von ganz anderer Art. 287 § 342 Diese Trennung des allgemeinen, sich äußerlichen Organismus und dieser nur punktuellen, vorübergehenden Subjektivität hebt sich vermöge der an sich seienden Identität ihres Begri=s zur Existenz dieser Identität, zum belebten Organismus, der an ihr selbst sich gliedernden Subjektivität auf, welche den nur an sich seienden Organismus, die physische allgemeine und individuelle Natur, von sich ausschließt und ihr gegenübertritt, aber zugleich an diesen Mächten die Bedingung ihrer Existenz, die Erregung wie das Material ihres Prozesses, hat. (347) Hegel konnte sich noch nicht auf eine kanonische Sprache stützen, um die Unterscheidung »des allgemeinen, sich äußerlichen Organismus« des Lebens der Gattungen und Arten und der »nur punktuellen, vorübergehenden Subjektivität« der einzelnen Exemplare so zu artikulieren, dass man ihn hätte verstehen können. B. 287 Die vegetabilische Natur § 343 Die Subjektivität, nach welcher das Organische als Einzelnes ist, entwickelt sich in einen objektiven Organismus, die Gestalt, als einen sich in Teile, die voneinander unterschieden sind, gliedernden Leib. In der Pflanze, der nur erst unmittelbaren subjektiven Lebendigkeit, ist der objektive Organismus und die Subjektivität desselben noch unmittelbar identisch, wodurch der Prozeß der Gliederung und der Selbsterhaltung des vegetabilischen Subjekts ein Außersichkommen und Zerfallen in mehrere Individuen ist, für welche das Eine ganze Individuum mehr nur der Boden als subjektive Einheit von Gliedern ist; der Teil, die Knospe, Zweig usf. ist auch die ganze Pflanze. Ferner ist deswegen die Di=erenz der organischen Teile nur
348 f. Die vegetabilische Natur 397 eine oberflächliche Metamorphose, und der eine kann leicht in die Funktion des andern übergehen. (348) Hegel interessiert sich, wie gesagt, nicht für Details, etwa für das Leben von Bakterien, sondern wie schon Aristoteles nur für Pflanzen, Tiere und Menschen. Hier erinnert er daran, dass Pflanzen keine Individuen sind und nur eine bedingte Sensitivität haben. Sie haben noch keine Subjektivität der eigenen relativen Ortsbestimmungen wie ein sich bewegendes Tier. Das meint der dunkle Satz, ihre Subjektivität sei »noch unmittelbar identisch«: Teile vieler Pflanzen wachsen einfach weiter, wenn die Bedingungen gut sind; nur ein Teil der Fortpflanzung läuft hier über Samen und Befruchtung. § 344 Der Prozeß der Gestaltung und der Reproduktion des einzelnen Individuums fällt auf diese Weise mit dem Gattungsprozesse zusammen und ist ein perennierendes Produzieren neuer Individuen. (348) Die ›Identität‹, von der Hegel so obskur spricht, ist die der Einzelund Gattungsprozesse zunächst des pflanzlichen, erst später dann auch des animalischen Lebens. Die selbstische Allgemeinheit, das subjektive Eins der Individualität trennt sich nicht von der reellen Besonderung, sondern ist in sie nur versenkt. Die Pflanze, als gegen ihren an sich seienden Organismus (§ 342) noch nicht für sich seiende Subjektivität, determiniert weder aus sich sich ihren Ort, hat keine Bewegung vom Platze, noch ist sie für sich gegen die physikalische Besonderung und Individualisierung desselben, hat daher keine sich unterbrechende Intussuszeption, sondern eine kontinuierlich strömende Ernährung und verhält sich nicht zu individualisiertem Unorganischen, sondern zu den allgemeinen Elementen. Animalischer Wärme und des Gefühls ist sie noch weniger fähig, da sie nicht der Prozeß ist, ihre Glieder, die mehr nur Teile und selbst Individuen sind, zur negativen, einfachen Einheit zurückzuführen. (348 f.) 288 288
398 Dritte Abteilung: Organische Physik 349 Wir haben diese Beobachtungen der Besonderheiten pflanzlichen Lebens im Wesentlichen schon erwähnt.41 Eine enaktive Selbstwahrnehmung von besonderen Teilen des Ganzen, auf deren Grundlage ein Wesen sein Verhalten ändert, gibt es in ausgeprägter Form erst im animalischen Leben. 288 288 k 288 § 345 Als Organisches gliedert sich aber die Pflanze wesentlich auch in eine Unterschiedenheit von abstrakten (Zellen, Fasern und dergleichen) und von konkretern Gebilden, die jedoch in ihrer ursprünglichen Homogeneität bleiben. Die Gestalt der Pflanze, als aus der Individualität noch nicht zur Subjektivität befreit, bleibt auch den geometrischen Formen und kristallinischer Regelmäßigkeit nahe, wie die Produkte ihres Prozesses den chemischen noch näher stehen. (349) Sprachlich würde man das heute anders und genauer sagen. Für das verfolgte Thema spielt das keine Rolle. Goethes Metamorphose der Pflanzen hat den Anfang eines vernünftigen Gedankens über die Natur der Pflanze gemacht, indem sie die Vorstellung aus der Bemühung um bloße Einzelnheiten zum Erkennen der Einheit des Lebens gerissen hat. Die Identität der Organe ist in der Kategorie der Metamorphose überwiegend; die bestimmte Di=erenz und die eigentümliche Funktion der Glieder, wodurch der Lebensprozeß gesetzt ist, ist aber die andere notwendige Seite zu jener substantiellen Einheit. (349) An Goethes Metamorphose der Pflanzen interessiert Hegel nicht die Biologie, sondern die Einsicht in die Einheit des Lebens. Die Physiologie der Pflanze erscheint notwendig als dunkler als die des tierischen Körpers, weil sie einfacher ist, die Assimilation wenige Vermittlungen durchgeht und die Veränderung als unmittelbare Infektion geschieht. – (349) Im Grunde hat Hegel recht, dass die Physiologie der Pflanzen in ihrem Sein sogar schwerer zu ›erklären‹ ist als die der Tiere, gerade 41 Heute ist eine Intus-Suszeption übrigens eine Darmeinstülpung. Hegel meint dagegen die Aufnahme eines inneren Reizes, also eine Art interne Selbstwahrnehmung, wie es sie bei Pflanzen wohl nur erst rudimentär gibt.
349 f. Die vegetabilische Natur 399 »weil sie einfacher ist«. Die Frage ist nämlich, wie es die Pflanzen als ganze ›bewerkstelligen‹, dass ihr Sto=wechsel einige Zeit lang aufrecht erhalten bleibt. Wie also ›benutzen‹ oder ›steuern‹ Pflanzen z. B. den physikalischen Kapillare=ekt und die Photosynthese? Hegel sagt dazu nur, dass die basalen Lebensprozesse der Pflanzen »als unmittelbare Infektion« nicht sehr viel weiter zerlegbar seien. Diese sei also als eine Art große Tatsache nur holistisch in ihrer Gesamttypik zu beschreiben. Wie in allem natürlichen und geistigen Lebensprozeß ist die Hauptsache in der Assimilation, wie in der Sekretion, die substantielle Veränderung, d. i. die unmittelbare Verwandlung eines äußern oder besondern Sto=s überhaupt in einen anderen; es tritt ein Punkt ein, wo die Verfolgung der Vermittlung, es sei in chemischer oder in Weise mechanischer Allmählichkeit, abgebrochen und unmöglich wird. Dieser Punkt ist allenthalben und durchdringend, und die Nicht-Kenntnis oder vielmehr das Nichtanerkennen dieser einfachen Identifizierung sowie der einfachen Diremtion ist es, was eine Physiologie des Lebendigen unmöglich macht. – (349 f.) Es ist in der Tat erstaunlich, wie die Pflanze die »Assimilation« scha=t und dabei nicht nur ein rein passives, ›totes‹ Objekt physikochemischer Reaktionen ist. Hegel spricht im oben von mir schon erläuterten Sinn von einer ›substantiellen Veränderung, einer unmittelbaren Verwandlung eines äußeren oder besonderen Sto=s überhaupt in einen anderen‹. Damit betont er eben das, was ich schon gesagt hatte: Es tritt immer »ein Punkt ein, wo die Verfolgung der Vermittlung, es sei in chemischer oder in Weise mechanischer Allmählichkeit, abgebrochen und unmöglich wird«. Das heißt, der Lebensprozess würde stoppen, wenn die Gesamtpflanze nicht in der Lage wäre, ihn wenigstens ein wenig, aber entscheidend selbst mitzusteuern – so dass das Leben in an sich gedeihlichen Umgebungen erhalten bleibt. Eine Physiologie des Lebendigen ist nicht in dem Sinn möglich, dass man diese Tatsache einfach physikochemisch oder dann auch genetisch über die Doppelhelix, wie man heute meint, ganz wegerklären könnte. Denn dann könnte man ›im Prinzip‹ neues Leben aus rein toter Materie bauen – was übrigens etwas ganz Anderes ist, als organische Teile umzugestalten. Hielte man das für möglich, würde man schon gar nicht mehr an die Evolutionslehre der Biologie in 288 f .
400 289 289 Dritte Abteilung: Organische Physik 350 der Tradition der Darwins und damit Hegels, sondern an mehrere mögliche Urzeugungen glauben. Interessante Aufschlüsse über die Physiologie der Pflanze gewährt das Werk meines Kollegen, des Herrn Prof. C. H. Schultz (Die Natur der lebendigen Pflanze, oder die Pfl. und das Pflanzenreich, 2 Bde.), das ich um so mehr hier anzuführen habe, als einige der in den folgenden Paragraphen angegebenen speziellen Grundzüge über den Lebensprozeß der Pflanze daraus geschöpft sind. (350) Hier nennt Hegel die Quelle seines Wissens bzw. seiner allgemeinen Urteile über die Seinsform Pflanze. § 346 Der Prozeß, welcher die Lebendigkeit ist, muß ebensosehr, als er Einer ist, in die Dreiheit der Prozesse sich auseinandertun (§ 217– 220). a) Der Gestaltungsprozeß, der innere Prozeß der Beziehung der Pflanze auf sich selbst, ist nach der einfachen Natur des Vegetativen selbst sogleich Beziehung auf Äußeres und Entäußerung. Einerseits ist er der substantielle, die unmittelbare Verwandlung teils der Ernährungszuflüsse in die spezifische Natur der Pflanzenart, teils der innerlich umgebildeten Flüssigkeit (des Lebenssaftes) in Gebilde. Andererseits als Vermittlung mit sich selbst α) beginnt der Prozeß mit der zugleich nach außen gerichteten Diremtion in Wurzel und Blatt und der innern abstrakten des allgemeinen Zellgewebes in die Holzfaser und in die Lebensgefäße, deren jene gleichfalls nach außen sich beziehen, diese den innern Kreislauf enthalten. Die hierin sich mit sich selbst vermittelnde Erhaltung ist β) Wachstum als Produktion neuer Bildungen, Diremtion in die abstrakte Beziehung auf sich selbst, in die Verhärtung des Holzes (bis zur Versteinerung im Tabascher u. dergl.) und der andern Teile, und in die Rinde (das dauernde Blatt). γ) Das Zusammennehmen der Selbsterhaltung in die Einheit ist nicht ein Zusammenschließen des Individuums mit sich selbst, sondern die Produktion eines neuen Pflanzenindividuums, der Knospe. (350) Eine der Hauptgründe dafür, dass man Hegels sogenanntes System für völlig obskur hält, liegt in einem multiplen Einsatz seiner sogenannten Schlussfiguren E -B-A, B-E -A und E -A-B, zusammen mit der Identifizierung einer Gattung und ihrer Artformen mit dem Begri=
Die vegetabilische Natur 401 an sich. Denn Begri=e hängen immer auch mit ihrer artikulationstechnischen Repräsentation durch Zeichen, Worte und Sprechhandlungen so zusammen, dass die Leute meinen, Begri=e seien wie reine Fiktionen von uns willkürlich gemacht. Man verwechselt damit aber die Gesamtverfassung oder Konstitution von Begri=en mit einer Konstruktion mancher ihrer Repräsentationen, nämlich von Worten. Hier tritt die Schwierigkeit besonders klar auf. Denn unter Rückgri= auf die Kommentare der §§ 217–220 der ›Kleinen Logik‹ der Enzyklopädie zu Begri= und Idee des Lebens will Hegel von uns, dass man in jedem einheitlichen Prozess wie dem des Lebendigseins (der ›Lebendigkeit‹) eines Einzelwesens »die Dreiheit der Prozesse« auseinanderzulegen hat. Dabei versucht Hegel mit dem Auftakt »man mag denken« sogar, diesen Zusammenhang dem Leser als Frage zuzuschreiben, um sich so selbst die Erlaubnis zu geben, auf die Frage zu antworten. Im § 217 erklärt Hegel dazu sinngemäß: Der nie nur momentan lebende Körper oder Leib ist ein prozessualer Schluss oder Zusammenschluss von Systemen und Zusammenschlüssen von Prozessen. Das Lebendige ist dabei als ein gerade auch zeitlich ausgedehntes Ganzes aufzufassen, das die Prozesse tätig mitsteuert. Nur daher hängt es nicht ganz von bloß äußerlichen Prozessen der körperinternen Physikochemie und von den Ereignissen in seiner unmittelbaren Umgebung ab. Es kommen dabei noch diverse biotische Prozesse und damit interessante Formen von Symbiosen im Körperinneren hinzu. Die subjektive Einheit des Lebendigen, von welcher Hegel spricht, ist einerseits der raumzeitlich lokale Körper. Dieser ist andererseits nur Moment in einem weit umfänglicheren Lebensprozess. Er ist wesentlich durch seine Gesamtvergangenheit bestimmt und geprägt. Es geht Hegel hier also um eine begri=liche Analyse des »Selbst« oder »auto« in der Rede von einer Selbstbeziehung oder Autopoiesis – bis hin zur Autonomie oder Selbstbestimmung der personalen Individuen. Zumeist redet man viel zu schnell über reflexive Selbstbeziehungen. Man gibt sich mit vagen Intuitionen dazu zufrieden, was eine Autopoiesis des Lebens oder eine Selbstbestimmung konkret sein kann oder soll. Das heißt, man beruhigt sich am Ende mit bloßen Worten. Gerade das tut Hegel keineswegs, obwohl man eben dies von
402 Dritte Abteilung: Organische Physik ihm glaubt. Es gibt daher einen sehr guten Grund, Hegel mit Geduld und Nachsicht zuzuhören.42 Die drei Prozesse der §§ 218–220 sind nun diese: Der Selbsterhalt des Einzelwesens besteht darin, dass es seine innerleiblichen physikochemischen Prozesse zumindest ein wenig steuern kann (§ 218). Es gibt also insbesondere eine gewisse reaktive Kontrolle besonderer, also typischer, privativer Mängel. Das geschieht so, dass wie im »Urteil des Begri=s« (§ 219) besondere, aber artgemäße Reaktionen auf unterschiedene Umstände des Lebens stattfinden. Die nötigen physikochemischen und biotischen Prozesse werden damit im guten Fall eine gewisse Zeit lang artgemäß fortgesetzt. Die Vererbung und damit die Erhaltung der Gattung (also der Spezies) ist dann der Überschritt ins Allgemeine. Hegels logische Phänomenologie des Einzellebens mit arttypischen, aber selbständigen Schemata der Abwehr besonderer Gefahren und einer allgemeinen Vererbung ebensolcher arttypischer Verhaltensweisen ist verständlicherweise bloß erst deskriptiv. Es werden große, generische Tatsachen allgemein konstatiert. Deren Erklärung durch Vererbungslehre und Gene bzw. deren Kopien sind sachwissenschaftlich ›genauer‹ auszuführen. Das ändert aber am begri=slogischen Gesamtbild gar nichts. In der gerade kommentierten wichtigen und schwierigen Passage hebt Hegel also die inneren Prozesse der Beziehungen der Pflanze auf sich selbst hervor: Die Aufnahme von Wasser oder auch Nitrat in der Osmose und die lichtbedingte Photosynthese als Reaktion mit dem Kohlendioxid aus der Luft sind zugleich Beziehungen »auf 42 Die sogenannte Teleosemantik (Ruth Millikan, Wolfgang Detel, Matthias Vogel) steht der Sache nach Hegels Ansatz durchaus nahe, nicht anders als die Lehre von einer Autopoiesis bei Maturana und Varela und der sogenannte Konstruktivismus bei Ernst von Glasersfeld und Heinz von Förster bzw. die sogenannte Systemtheorie. Allerdings befriedigt man sich dabei allzu schnell mit metaphorischen Reden über biologische Funktionen, einen Selbsterhalt auch von Systemen wie bei Niklas Luhmann und ein reentry wie bei George Spencer Brown. In strikter Kritik an jedem vermeintlich ›objektiven‹ oder ›wissenschaftlichen‹ Blick auf die Welt rein von der Seite entwickelt Hegel nicht einfach in Ablehnung, sondern auf der Grundlage von Kants transzendentaler Präsuppositionsanalyse eine logische Topographie der Welt des Wissens und der Wahrheit.
351 Die vegetabilische Natur 403 Äußeres und Entäußerung«. Die Entäußerung besteht im Wachsen des Pflanzenkörpers, z. B. der Wurzeln und Blätter. Hegel nennt das Zellgewebe, die Holzfasern und die Lebensgefäße, die für den Erhalt des inneren Kreislaufs der wachsenden Pflanze wichtige Funktionen übernehmen. Die Fortpflanzung als Selbsterhaltung der Art (bei Hegel: Gattung) ist der dritte Punkt – und wird pars pro toto als Bildung der Knospe benannt. Hegel geht es nicht um eine sachwissenschaftliche Erklärung der einzelnen, besonderen und allgemeinen Prozesse, sondern ›nur‹ um eine Artikulation der allgemeinen Formen, wobei er mit Recht die übliche (rein metaphorische) Reduktion auf bloß statisch-relationale Strukturen vermeidet. Was aber sagt der Ausdruck »Diremtion in die abstrakte Beziehung auf sich selbst«? Inwiefern ist »die Verhärtung des Holzes« ein Beispiel? Gemeint ist wohl nur, dass der wachsende Pflanzenkörper, nicht anders als der Tierkörper etwa im Skelett, physikalisch relativ haltbare Körperteile bildet. § 347 b) Der Gestaltungsprozeß ist unmittelbar mit dem zweiten, dem nach außen sich spezifizierenden Prozesse verknüpft. Der Same keimt nur von außen erregt, und die Diremtion des Gestaltens in Wurzel und Blatt ist selbst Diremtion in die Richtung nach Erde und Wasser, und in die nach Licht und Luft, in die Einsaugung des Wassers und in die durch Blatt und Rinde wie durch Licht und Luft vermittelte Assimilation desselben. (351) Hegel unterscheidet den ›inneren‹ Gestaltungsprozess von dem mit ihm unmittelbar verknüpften sich spezifizierenden Prozess: Samen keimen, wie erwähnt, nur im Feuchten, zunächst ohne etwas selbst dazu zu tun. Die »Diremtion« in Wurzel und Blatt ist dann aber schon eine Art tätiges Gestalten, nicht anders als das ›Programm‹ der Entwicklung des Embryos. Hegel betont daher, dass der Embryo sozusagen Instanz im Vollzug des Programms ist, dessen ›eigentliches‹ Subjekt die Art oder ›Gattung‹, also das Eidos, Genos oder der Begri= ist. Die Diremtion der ›Blätter‹ »in die Richtung nach Erde und Wasser« hat z. B. zur Folge, dass ein Teil zu einem wirklichen Blatt und 290
404 290 Dritte Abteilung: Organische Physik 351 dann vielleicht zu einem Stengel oder Stamm, ein anderer Teil zu einer Wurzel wird. Positiver Phototropismus ist der Ausdruck dafür, dass sich ein Pflanzenteil dem Licht zubewegt, negativer, dass er sich vom Licht weg etwa als Wurzel in die Erde bewegt. Heute kennt man die Vermittlung durch die DNA. Dieser Fortschritt des Wissens birgt zugleich die Gefahr einer Hypostasierung oder Verdinglichung der Gene, früher schon der Samen oder Keime, wenn man diese nämlich als fest verdrahtetes Programmschema versteht und nicht als bloßes Rahmenschema, das sich je nach Umständen verschieden ausprägen kann. Man abstrahiert damit von der Gattungsgeschichte und suggeriert, es ließe sich ein Samen im Prinzip technisch herstellen. Kants Rede von einem Newton des Grashalms meint eben dieses – und Hegel stimmt Kant völlig zu, dass es nie einen Newton des Grashalms geben werde. Er versucht nun aber über Kant hinaus, Gründe zu nennen, warum wir nicht damit rechnen sollten, dass es ein entsprechendes Wissen je geben wird. Dazu weist er, leider noch allzu implizit und auf schwer verständliche Weise, auf die riesige Di=erenz zwischen einer e;zienzkausalen Erklärung im Rahmen einer Theorie zur Darstellung von Normalfallprozessen wie in Newtons Dynamik auf der einen Seite, einer holistisch-genetischen ›Erklärung‹ der Gegenwart durch das Gesamt aller Vergangenheiten auf der anderen Seite hin. So wie Spinozas Substanz nur ein anderer spekulativer Ausdruck für die ganze Welt ist, ist ›die Ursache‹ der Evolution des Lebens die ganze Geschichte der Welt. Das ist keine ›These‹, sondern ganz o=enbar so. Die Rückkehr-in-sich, in welcher die Assimilation sich beschließt, hat das Selbst nicht in innerer subjektiver Allgemeinheit gegen die Äußerlichkeit, nicht ein Selbstgefühl zum Resultate. (351) Wieder interessiert sich Hegel nicht für Einzelheiten in den Selbstbezüglichkeiten des Lebendigen im Lebensprozess, sondern nur für die allgemeine »Rückkehr-in-sich, in welcher die Assimilation sich beschließt«. Das wiederum heißt nicht etwa, dass hier jemand einen Beschluss oder gar Entschluss fasste. Das wäre eine geradezu irrsinnige Lesart. Es deutet vielmehr auf den Zusammenschluss eines Außen und Innen im Sto=wechsel und Wachstumsprozess hin. Das Selbst (oder Subjekt) ist nach Hegel (wie bei Fichte) schon rein logisch kein momentaner ›Gegenstand‹, der rein punktuell ir-
351 Die vegetabilische Natur 405 gendetwas tun könnte. Jedes Selbst ist holistisch als Seinsprozess zu begreifen. Wie im Fall der Pflanze besteht der Prozess immer aus gegenwärtigen Teilphasen, die wie jeder Prozess zeitlich ausgedehnt sind. Eine Pflanze hat nach allem, was wir wissen, keine (Selbst-)Gefühle oder Empfindungen – es sei denn, wir weiten diese Ausdrücke metaphorisch aus, da es ja durchaus enaktive Reaktionen von Pflanzen auf gewisse unmittelbare Umweltsignale gibt, wie wir sie z. B. bei fleischfressenden Pflanzen sehen können, aber auch an den Reaktionen von Sonnenblumen auf den Stand der Sonne. Die Pflanze wird vielmehr von dem Licht, als ihrem ihr äußerlichen Selbst, hinausgerissen, rankt demselben entgegen, sich zur Vielheit von Individuen verzweigend. In sich nimmt sie sich aus ihm die spezifische Befeurung und Bekräftigung, die Gewürzhaftigkeit, Geistigkeit des Geruchs, des Geschmacks, Glanz und Tiefe der Farbe, Gedrungenheit und Kräftigkeit der Gestalt. (351) Wie der Same im Wasser zunächst rein mechanisch aufquillt, werden Pflanzen durch Licht in eine photosynthetische Reaktion »hinausgerissen«, wie Hegel das Passive des Prozesses überdeutlich dramatisiert. Dass das (Sonnen-)Licht das äußerliche Selbst der Pflanze ist, besagt daher nur, dass wir am pflanzlichen Lebensprozess den äußeren Input, wie Licht, Luft, Wasser und Erde – was man natürlich schon in der Antike weiß – vom inneren Prozess als Seinsweise der Pflanze vom Samen bis zum Verwelken unterscheiden können und müssen. Dabei ranken sich Pflanzen dem Licht entgegen. Wie Pilze können sich Pflanzen in eine Vielheit von Proto-Individuen verzweigen. Hegels profane Poesie in der Darstellung von Geschmack, Gestalt und Farbe der Pflanzen samt der dispositionellen ›Geistigkeit‹ des Geruchs können wir übergehen. Sie nennt hier ohnehin nur die besonderen Beziehungen, die wir zur Pflanze haben, und überlässt alle ihre objektiveren Ursachen und Funktionen, etwa in ihren Wirkungen auf Tiere, der evolutionären Naturgeschichte und einer meinetwegen als »funktional« bezeichneten proto-ethologischen biologischen Botanik, also den Sachwissenschaften. 290
406 290 290 290 290 Dritte Abteilung: Organische Physik 351 § 348 c) Die Pflanze gebiert aber auch ihr Licht aus sich als ihr eignes Selbst, in der Blüte, in welcher zunächst die neutrale, grüne Farbe zu einer spezifischen bestimmt wird. (351) Dass die Pflanze ihre Farbe ›selbst‹ bildet oder ›gebiert‹, ist zunächst ebenso poetisch wie wahr, freilich nur erst auf der Ebene phänomenologischer Beschreibung, nicht schon der Erklärung, wie sie das je konkret anstellt. Der Gattungsprozeß, als das Verhältnis des individuellen Selbst zum Selbst, hemmt als Rückkehr in sich das Wachstum als das für sich ungemessene Hinaussprossen von Knospe zu Knospe. (351) Man kann im Blick auf das, was Hegel durchaus passend ›Gattungsprozess‹ nennt, den Lebenszyklus einer Pflanze auffassen. Er führt im Blick auf die Fortpflanzung von Knospe zu Knospe oder von einem Samen zur weiteren Produktion von Samen. Die Pflanze bringt es aber nicht zum Verhältnis der Individuen als solcher, sondern nur zu einem Unterschiede, dessen Seiten nicht zugleich an ihnen die ganzen Individuen sind, nicht die ganze Individualität determinieren, der hiemit auch zu mehr nicht als zu einem Beginn und Andeutung des Gattungsprozesses kommt. (351) Pflanzen sind im Allgemeinen keine Individuen, sondern zumeist so teilbar, dass beide Teile wenigstens im Prinzip weiterleben können. Der Keim ist hier für das eine und dasselbe Individuum anzusehen, dessen Lebendigkeit diesen Prozeß durchläuft und durch Rückkehr in sich ebenso sich erhalten hat, als zur Reife eines Samens gediehen ist; dieser Verlauf ist aber im ganzen ein Überfluß, da der Gestaltungs- und der Assimilationsprozeß schon selbst Reproduktion, Produktion neuer Individuen ist. (351) In gewissem Sinn ist es eine Art ›Überfluss‹, also ›Luxus‹ oder besser eine besondere Optimierungstechnik für die Verbreitung von Pflanzenarten, wenn diese sich nicht nur durch Ableger verbreiten, sondern wie z. B. Pilze und Erdbeeren auch durch eigene ›Keime‹, und dazu Samen herstellen, die durch Wasser oder Luft leicht transportierbar sind. Damit beginnt sozusagen eine Aufteilung in Generationen der Fortpflanzung, wie sie für die Entwicklung der Tierwelt grundlegend wird. Es kommt dabei auch noch die Zweigeschlechtlichkeit der Befruchtung hinzu, welche schon die Pflanzen sozusagen enak-
352 Die vegetabilische Natur 407 tiv (d. h. zufällig) ›erfunden‹ haben. Diese macht die Nachkommen sozusagen robuster – gerade auch gegen Kopierfehler der DNA, wie wir heute sagen können. Die sich ergebende ›Rückkehr-in-sich‹ des Samens oder Keims haben wir oben schon am völlig äquivalenten Beispiel der Knospe erläutert. § 349 Was aber im Begri=e gesetzt worden, ist, daß der Prozeß die mit sich selbst zusammengegangene Individualität darstellt und die Teile, die zunächst als Individuen sind, auch als der Vermittlung angehörige und in ihr vorübergehende Momente, somit die unmittelbare Einzelnheit und das Außereinander des vegetabilischen Lebens als aufgehoben zeigt. (352) Ich halte diese Schilderung eines langsamen Übergangs von der vegetativen zur sensitiven und animalischen Seins- und Lebensform für nachgerade modern. Sie ist zwar allgemein, aber präsentiert lange vor Charles Darwin einen genialen Entwurf der Ausgestaltung der Ideen von Erasmus Darwin. Außer dem ahnungsvollen Leser Friedrich Nietzsche in seinen späteren Jahren hat bisher kaum jemand den Denkzusammenhang der Darwins und Hegels erkannt – was nicht zuletzt auf die generelle Fehllektüre von Hegels Wörtern »Begri=« und »Idee« zurückzuführen ist. Denn Hegels Begri= ist komplexe Verbindung einer Art-Unterscheidung mit generischer Normalfallinferenz qua erlaubter Erwartung auf der subjektiven Seite, allgemein der Sache zugeschriebenen Dispositionen auf der objektiven Seite. Es handelt sich also nicht um rein konventionelle Definitionen von Wörtern für beliebige Klassifikationen, sondern um Versprachlichungen allgemeiner Erfahrungen im Umgang mit Artformen. Die generische Artform an sich ist der jeweilige abstrakte Begri= als Reflexionsgegenstand. Hegels Wort »Idee« verweist auf seine Manifestationen, auf die Instanziierungen der Form. Man muss Hegels Formulierung nicht mögen, die von einem Prozess spricht, der »die mit sich selbst zusammengegangene Individualität darstellt«. Sachlich ist sie ganz und gar richtig: Ein Lebewesen ist durch sein Leben definiert. Das ›erklärt‹ freilich nichts ›kausal‹, sondern stellt eine biologische Grundtatsache dar, macht sie expli- 291
408 291 Dritte Abteilung: Organische Physik zit – und gehört damit zugleich zur Grundlage unserer gesamten biologischen Semantik. Alle Einzelwesen und Individuen sind von der Gattung oder Spezies und ihrem Erhalt her gesehen nur »vorübergehende Momente« und nicht eigentlich wichtig. Manche meinen, Hegel belasse es wie der Biologismus bei dieser Beobachtung und bewerte wie dieser sogar das einzelne Leben als unwichtiges Moment, so dass im biologistischen Rassismus in seinen verschiedenen Ausprägungen ein Volk am Ende höher bewertet wird als das jeweils einzelne personale Individuum. Das schiere Gegenteil ist der Fall: Hegels Argumentation richtet sich gerade gegen diesen Biologismus. In dem jetzt anstehenden Übergang geht es aber nur erst um eine Analyse der Form animalischer Individualität und Subjektivität. Dies Moment der negativen Bestimmung begründet den Übergang in den wahrhaften Organismus, worin die äußere Gestaltung mit dem Begri=e übereinstimmt, daß die Teile wesentlich Glieder und die Subjektivität als die durchdringende Eine des Ganzen existiert. (352) Hegel spricht von einem »wahrhaften Organismus«, in dem »die äußere Gestaltung« des Lebens des Individuums im guten Fall mit dem Begri=, also der Artform, übereinstimmt. Im animalischen Fall repräsentiert jedes ›gute‹ individuelle Leben das Leben der Artform. Im animalischen Individuum sind die Körperteile wesentlich Glieder. Die Subjektivität durchdringt als sinnliche Empfindung und partiell sensuell bedingte Selbststeuerung das Ganze des Lebewesens, das so als sensitives Wesen existiert. C. 291 352 Der tierische Organismus § 350 Die organische Individualität existiert als Subjektivität, insofern die eigene Äußerlichkeit der Gestalt zu Gliedern idealisiert ist, der Organismus in seinem Prozesse nach außen die selbstische Einheit in sich erhält. Dies ist die animalische Natur, welche in der Wirklichkeit und Äußerlichkeit der unmittelbaren Einzelnheit ebenso dagegen
352 Der tierische Organismus 409 in sich reflektiertes Selbst der Einzelnheit, in sich seiende subjektive Allgemeinheit (§ 163) ist. (352) Der abstrakte Ausdruck »organische Individualität« steht für die Seinsform lebender Individuen und damit der ›höheren‹ Tiere. Diese haben als sensitive Wesen in ihrer jeweils auf ihren lebenden Körper (Leib) zentrierten Seinsweise Subjektivität. Das heißt erstens, dass sie je für sich je hier und jetzt existieren. Es heißt zweitens, dass ihre eigene Körperlichkeit gegliedert ist. Die von den einzelnen Gliedern ausgeführten Teiltätigkeiten heißen Funktionen, wenn sie etwas Bestimmtes für den Erhalt des Ganzen zunächst der einzelnen Instanziierung der Artform durch ein je aktual lebendes Individuum beitragen. Von ganz anderer Art sind Funktionen, die etwas für den Erhalt des Ganzen der Artform durch die aktual lebenden Individuen beitragen. Die ersten Funktionen betre=en nur den Lebenszyklus der Einzelwesen, die zweiten den Prozess der Gattung, wie sich Hegel ausdrückt. Wenn man sie nicht trennt, mystifiziert man ein teleonomisches ›Wollen‹ der Gene (oder gar von ›Memen‹) gerade im modernen metaphysischen Biologismus von Richard Dawkins bis Daniel Dennett, wie er höchst populär ist in einer Art akademischen Mittelschicht. Hegels ebenso dichte (also zu kurze) wie schwierige Rede, dass für das individuelle Vollzugssubjekt hier und jetzt die »Äußerlichkeit der Gestalt zu Gliedern idealisiert ist«, bedeutet, dass nicht nur wir in unserem Reden, sondern der animalische Gesamtorganismus »in seinem Prozesse« selbst eigene Körperteile partiell als dem Gesamtwesen äußerlich behandeln kann. Das beginnt bei der Körperpflege und endet bei Aktionen wie z. B. von Stabschrecken oder Eidechsen, die Teile ihrer Extremitäten bei Gefahr selbst fallen lassen können. Über genuin menschliche Selbsttechniken und Formungen des Leibes ist hier noch nicht zu sprechen. Hegel interessiert sich nur erst für die animalische Form der Autopoiesis, also dafür, wie ein (höheres) Tier als lebender Körper mit ›funktional‹ wichtigen Gliedern, die nicht nur faktische Teile sind, »die selbstische Einheit in sich erhält«. Dass dies geschieht, ist eine Grundtatsache. Wir können sie unter den Titel »animalische Natur« setzen. Und wir können sie ganz allgemein und abstrakt so charakterisieren: Im je unmittelbaren Lebensvollzug des Einzelwesens hier
410 Dritte Abteilung: Organische Physik 352 und jetzt ist das sensitiv in sich reflektierte Selbst des Individuums die Aktualisierung seiner Artform. Diese setzen wir (auch verbal) als schematische Reaktionsdispositionen in das Wesen. Dabei können wir vermittelnde Körperteile als funktionale Glieder in der Realisierung des arttypischen Lebensprozesses ausmachen. Wissenschaftlicher und metaphysischer Aberglaube wäre es, sich das Zusammenwirken der Glieder rein mechanisch vorzustellen – und das Gehirn dabei als die zentrale CPU in Analogie zur reinen Rechenmaschine eines Roboters.43 Der Ausdruck »in sich seiende subjektive Allgemeinheit« meint also die vom Gesamtorganismus getragene subjektiv zunächst sensitiv durch innere Empfindungen vermittelte Realisierung der Artform. Das animalische ›Proto-Bewusstsein‹ besteht in den (eigenen bzw. unseren) Unterscheidungen von vigilantem Wachen und (ggf. komatösem) Schlafen, sinnlichem Gewahrsein im Unterschied zu unbemerktem Geschehen und einer tätig auf etwas gerichteten Aufmerksamkeit etwa im Unterschied zu einer ungerichteten ›Muße‹. Vor jeder ›Erklärung‹ von Bewusstsein steht eine Phänomenologie o=enbarer Unterschiede und deren Artikulation. Das animalische (Selbst-)Gewahrsein als Teil animalischer Subjektivität ist nur erst Proto-Bewusstseins. Sie ist wie unsere Eigenerfahrung eines begri=lich entwickelten (Selbst-)Bewusstseins nicht etwa e;zienzkausal zu erklären, sondern schlicht als große Tatsache anzuerkennen. Wir stehen in der Gegenwart immer am Ende der geschichtlichgenealogischen Entwicklung von Kosmos, Erde, Leben und schließlich des menschlichen Wissens und vernünftigen Denkens, also des Geistes, des Personseins. 291 § 351 Das Tier hat zufällige Selbstbewegung, weil seine Subjektivität, wie das Licht die der Schwere entrissene Idealität, eine freie Zeit ist, die, als der reellen Äußerlichkeit entnommen, sich nach innerem Zufall aus sich selbst zum Orte bestimmt. (352) Hegels »weil« ist ambig. Tiere haben nicht etwa deswegen das 43 Schon die Tatsache, dass ein Hahn über ein Jahr lang ohne Kopf überleben kann, zeigt, wie irreführend es ist zu meinen, dass das Gehirn alle Lebensprozesse steuert.
Der tierische Organismus 411 Vermögen, sich auf der Erde in einem gewissen Radius oder Bewegungsraum ›willkürfrei‹ und ›zufällig‹ zu bewegen, weil sie sensitive Subjekte sind; sondern Tiere haben eine gewisse sensitive, protobewusste Subjektivität, weil sie sich in einem gewissen Bereich frei bewegen können (und müssen): Das Subjektive eines partiellen Gewahrseins seines eigenen Ortes relativ zu anderen Körpern ist notwendige Bedingung eines sich frei bewegenden Tieres. Zunächst ist interessant, dass Hegel hier von einem ›inneren Zufall‹ spricht, der eine zunächst gar nicht teleologisch zielgerichtete akzidentelle Selbst-Bewegung bestimmt. Dabei ist sich das animalische Wesen in seinem Körper selbst Zentrum – mit allem Äußeren an anderen Orten als Umwelt. Damit ist das animalische Lebewesen anders als die Pflanze wenigstens partiell »der reellen Äußerlichkeit entnommen«. Was soll uns nun aber die Analogie zum Licht zeigen, das der Schwere entrissen sei? In welchem Sinn soll das subjektive animalische Leben »Idealität, eine freie Zeit« sein? Wie sind die Tiere »der reellen Äußerlichkeit entnommen«? Zunächst sagt Hegel dazu, dass ein Tier dem festen Ort der Pflanze entrissen und damit sozusagen entwurzelt ist – was aber gleich auch positiv zu werten ist. Die Rede von der Idealität meint wohl, dass die arttypisch reproduzierbaren allgemeinen Formen der freien Bewegungen des Tieres jeweils vom Subjekt hier und jetzt auf besondere Weise aktualisiert werden können und müssen. Die Analogie zum Licht bezöge sich dann wohl auf die Isotropie, also die Richtungsund Ortsunabhängigkeit seiner Ausbreitung, nachdem es von einer Quelle ausgesendet ist, aber mit je besonderer Wirkung auf materielle Dinge hier und jetzt. Damit verbunden ist, daß das Tier Stimme hat, indem seine Subjektivität als wirkliche Idealität (Seele) die Herrschaft der abstrakten Idealität von Zeit und Raum ist und seine Selbstbewegung als ein freies Erzittern in sich selbst darstellt; – es hat animalische Wärme, als fortdauernden Auflösungsprozeß der Kohäsion und des selbständigen Bestehens der Teile in der fortdauernden Erhaltung der Gestalt; – ferner unterbrochene Intussuszeption, als sich individualisierendes Verhalten zu einer individuellen unorganischen Natur, – vornehmlich aber Gefühl, als die in der Bestimmtheit sich 291 f .
412 Dritte Abteilung: Organische Physik 352 f. unmittelbar allgemeine, einfach bei sich bleibende und erhaltende Individualität; die existierende Idealität des Bestimmtseins. (352 f.) Hegels Satz, dass das Tier Stimme habe, ist nicht so zu lesen, dass alle, sondern nur so, dass manche Tiere mit akustischen Signalen überhaupt operieren, dabei aber nur einige auch soziale Kommunikation betreiben. Man denke als Beispiele etwa an das Warnen von Klapperschlangen, die Selbstorientierung der Fledermäuse oder die Kommunikation von Walen oder Primaten. Die wirkliche Idealität des Tiers ist seine Artform, seine Seele. Diese hat gerade wegen ihrer Seinsweise als sich reproduzierende Form eine gewisse Herrschaft über Zeit und Raum, also das jeweilige Hier und Jetzt. Raum und Zeit sind gegenüber dem Hier und Jetzt allgemeine Formen und gehören daher zur Sphäre abstrakter Idealität. Der Rest ist eine Liste wichtiger Aspekte tierischen Lebens, so z. B. die partielle Steuerung oder gar Selbsterzeugung einer konstanten Körpertemperatur, Hegels »animalische Wärme«, die aber, anders als er hier suggeriert, nicht (nur) aus einem mechanischen Erzittern in sich selbst stammt, sondern (auch) aus einem chemischen Verbrennungsprozess. Die Rede von einer unterbrochenen Intus-Suszeption meint wieder die je vereinzelten und doch zentralen Selbststeuerungen durch innere Perzeptionen oder einfach durch Empfindungen. Der fortdauernde »Auflösungsprozeß der Kohäsion und des selbständigen Bestehens der Teile in der fortdauernden Erhaltung der Gestalt« verweist auf die Notwendigkeit des Sto=wechsels, damit der Nahrungssuche. Das sich individualisierende »Verhalten zu einer individuellen unorganischen Natur« meint die Aktualisierung artgemäßer Verhaltensweisen in typischen, aber je vereinzelt und damit besonders ausgeprägten Reaktionen des Lebewesens insgesamt auf seine Umwelt, aber auch auf Einzelnes in seiner eigenen körperlichen Innenwelt. Dabei betont Hegel erst jetzt die Bedeutung von Empfindung und Gefühl. Das Gefühl erläutert er als jeweils konkrete Aktualisierung arttypischer Spürungen, die bei ihm abstrakt kommentiert sind als instanziierte (damit in Hegels Sinn »existierende«) Formen der »Idealität des Bestimmtseins« in der unmittelbar immer bloß allgemeinen Individualität des Einzellebewesens im Vollzug hier und jetzt.
353 Der tierische Organismus 413 § 352 Der tierische Organismus ist als lebendige Allgemeinheit der Begri=, welcher sich durch seine drei Bestimmungen als Schlüsse verläuft, deren jeder an sich dieselbe Totalität der substantiellen Einheit und zugleich nach der Formbestimmung das Übergehen in die andern ist, so daß aus diesem Prozesse sich die Totalität als existierend resultiert; nur als dieses sich Reproduzierende, nicht als Seiendes, ist und erhält sich das Lebendige; es ist nur, indem es sich zu dem macht, was es ist; es ist vorausgehender Zweck, der selbst nur das Resultat ist. – (353) Wieder liegt es an Hegels merkwürdigen drei Schlüssen, dass wir Probleme haben, den Text zu verstehen. Dabei geht es um den Zusammenhang oder Zusammenschluss der allgemeinen Schemata A eines typischen Art- oder Gattungsverhaltens unter besonderen Umständen B mit den einzelnen ›realen‹ bzw. ›empirischen‹ Instanziierungen eines Individuums E je hier und jetzt. In diesem Sinn gibt es Tierarten nur als »lebendige Allgemeinheit« im Sein der Exemplare E . Zwar ist in deren Tun vieles akzidentell, aber die Form des Tuns bleibt artbestimmt. Damit begreifen wir, in welchem Sinn an sich das Leben der einzelnen Exemplare E und der Art A »dieselbe Totalität« sind, trotz aller Besonderungen B etwa von jungen und älteren, weiblichen oder männlichen, starken, großen oder schwächeren und kleineren Exemplaren. Die ›substantielle Einheit‹, von der Hegel abstrakt spricht, meint eben dieses. Im ›teleologischen‹, also zielorientierten Verhalten der Nahrungssuche oder Brutpflege »ist und erhält sich das Lebendige« und es zeigen sich reproduzierbare Schemata. Dabei bestimmt die Artform das Verhalten, nicht etwa eine besondere Repräsentation des jeweils verfolgten Zieles z. B. im ›Kopf‹ des Tieres. Daher ist das generischkollektive Artwesen und nicht eigentlich das Individuum das wahre Agens in einem teleologischen Tun. Das individuelle Subjekt mag dabei von einem inneren Trieb geleitet sein. – Dabei lebt das Einzelwesen sein artgemäßes Leben selbst »nur, indem es sich zu dem macht, was es ist« – nämlich der Art nach. Daher sagt Hegel ganz richtig, dass diese Lebensführung auf der allgemeinen Ebene der Art »vorausgehender Zweck« ist, der aber selbst wiederum »nur das Resultat« des artgemäßen Verhaltens ist. ›Billiger‹ als über diese 292
414 292 Dritte Abteilung: Organische Physik 353 Struktur ist das zielorientierte Verhalten von Tieren nicht zu haben bzw. zu begreifen. Das immer nur partiell explizit zweckbestimmte Handeln von Menschen ruht ganz auf ihr auf. Der Organismus ist daher zu betrachten a) als die individuelle Idee, die in ihrem Prozesse sich nur auf sich selbst bezieht und innerhalb ihrer selbst sich mit sich zusammenschließt, – die Gestalt; b) als Idee, die sich zu ihrem Andern, ihrer unorganischen Natur, verhält und sie ideell in sich setzt, – die Assimilation; c) die Idee, als sich zum Andern, das selbst lebendiges Individuum ist, und damit im Andern zu sich selbst verhaltend, – Gattungsprozeß. (353) Der Organismus oder lebende Körper im Lebensprozess ist individuelle Idee im Sinn der aktualen Realisierung des Begri=s qua Artform. Im Lebensvollzug bezieht sich dabei das animalische Lebewesen in allem »nur auf sich selbst«. Der Zusammenschluss der Idee mit sich selbst ist dabei nichts anderes als der artbestimmte Lebensprozess in seiner je aktualen Instanziierung einer rudimentären ›Selbst-Bestimmung‹ in der Entwicklung des Einzelwesens und im Lebenserhalt. Hegels Rede von der Gestalt (des sich entwickelnden Körpers) übersetzt hier gerade ein Moment des griechischen Wortes »idea«. Die Assimilation der Dinge aus der Umgebung nennt Hegel »Idee, die sich zu ihrem Andern, ihrer unorganischen Natur, verhält und sie ideell in sich setzt«. Gemeint ist die Autopoiesis des Sto=wechsels und des Wachsens. Am Ende steht der Gattungsprozess der Fortpflanzung als Form, in der sich zwei lebende Individuen der Art »im Andern zu sich selbst« verhalten müssen, wie Hegel durchaus passend und schön formuliert. a. Die Gestalt 292 § 353 Gestalt ist das animalische Subjekt als ein Ganzes nur in Beziehung auf sich selbst. Es stellt an ihm den Begri= in seinen entwickelten und in ihm existierenden Bestimmungen dar. Diese sind, obgleich in sich als in der Subjektivität konkret, α) als dessen einfache Elemente. (354) Der Beginn des Abschnitts erläutert nur, wie Hegel die Idee als Gestalt verstanden wissen will. Sie soll »das animalische Subjekt als ein
354 Der tierische Organismus 415 Ganzes nur in Beziehung auf sich selbst« sein. Sie ist also als sein gesamtkörperliches Sein unter Absehung von Beziehungen auf Sachen der äußeren Umwelt zu lesen. Die Art (der Begri= ) zeigt sich so in der existierenden Gestalt des einzelnen Körpers und seiner Entwicklung. Das animalische Subjekt ist daher 1) sein einfaches, allgemeines Insichsein in seiner Äußerlichkeit, wodurch die wirkliche Bestimmtheit unmittelbar als Besonderheit in das Allgemeine aufgenommen und dieses in ihr ungetrennte Identität des Subjekts mit sich selbst ist, – Sensibilität; – 2) Besonderheit als Reizbarkeit von außen und aus dem aufnehmenden Subjekte kommende Rückwirkung dagegen nach außen, – Irritabilität; – 3) die Einheit dieser Momente, die negative Rückkehr zu sich selbst aus dem Verhältnisse der Äußerlichkeit und dadurch Erzeugung und Setzen seiner als eines Einzelnen, – Reproduktion; die Realität und Grundlage der erstern Momente. (354) Das animalische Subjekt ist der (je präsentische) Lebensprozess. Zu ihm gehört 292 f . 1. die Sensibilität als Gesamt aller inneren Spürungen im Zusammenhang von Selbstkontrollen und Selbststeuerungen des lebenden Körpers, wie sie in ihrer Allgemeinheit oder an sich erst einmal durch artbestimmte, aber je aktualisierte Empfindungen vermittelt sind. 2. Die Irritabilität als besondere Reizbarkeit von außen als Gesamt aller Reaktionsdispositionen, also aller Perzeption. 3. Ihre Einheit in der Reproduktion des Lebensprozesses zunächst des Einzelwesens, also noch nicht qua Gattungsprozess – zum Beispiel im Sto=wechsel und damit auch der Nahrungssuche und Nahrungsaufnahme. § 354 Diese drei Momente des Begri=s sind β) nicht nur an sich konkrete Elemente, sondern haben ihre Realität in drei Systemen, dem Nerven-, Blut- und Verdauungssystem, deren jedes als Totalität sich nach denselben Begri=sbestimmungen in sich unterscheidet. (354) Es ist immer wieder daran zu erinnern, dass die drei Momente des Begri=s des animalischen Lebens das Allgemeine der Artform, das Einzelne der lebenden Individuen und das Besondere in einem an 293
416 293 Dritte Abteilung: Organische Physik und für sich glückenden, scheiternden oder partiell privativen Leben sind. Es geht also um die innere Sensitivität, äußere Perzeption und aktiv-reaktive Reproduktion des Lebens. Diese zeigen sich zunächst als allgemeine Unterscheidbarkeiten an sich phänomenologisch und damit grob, abstrakt und holistisch. Konkret müssen sie natürlich körperlich, also physiologisch, leiblich, realisiert bzw. vermittelt sein. Die körperlichen Lebensprozesse existieren nur in der Form physikochemischer Abläufe ›gemäß den Naturgesetzen‹. Hegels Naturphilosophie ist damit in der Tat und ganz o=enkundig eine dialektische Verweltlichung des Personseins der Menschen und damit des Geistes. Die Analyse ist dennoch antimaterialistisch, also antiphysikalistisch, antideterministisch und insofern zumindest partiell ›antinaturalistisch‹, indem sie alle diese Ismen, also den mechanischen Materialismus, atomtheoretischen Physikalismus und jetzt auch den Biologismus als metaphysischen Aberglauben aufdeckt und auflöst. Sein radikaler Antireduktionismus stützt sich im Allgemeinen auf eine Phänomenologie des Wissens und eine logische Kritik an naiven Lesarten einer causa e;ciens, im Besonderen aber auf eine Erdung des Lebens, der Subjektivität und des Geistes, wie ich mich ausdrücken möchte. Perzeptionen und Empfindungen samt allen körperinternen Selbststeuerungen sind dabei, wie das schon Descartes anerkennt, durch das Nervensystem, also neuronal, damit wesentlich auch durch die Gehirnphysiologie vermittelt. Diese Totalitäten des Nervensystems sind nach denselben »Begri=sbestimmungen in sich« zu unterscheiden – d. h. nur: als Gesamtsystem. Etwas irritierend ist, dass Hegel an die zweite Stelle der zu erwartenden Wahrnehmungsphysiologie das Blutsystem setzt. Wie das Atem- und Verdauungssystem gehört es aber eher nur zur Sphäre der Reproduktion der chemischen Lebensprozesse. Hegel geht wohl nicht immer ausreichend geordnet vor: Es gibt, wie er selbst sagt, noch viele Probleme einer begri=lichen Gesamtordnung der Grundphänomene der Welt. 1) Das System der Sensibilität bestimmt sich so αα) zu dem Extreme der abstrakten Beziehung ihrer selbst auf sich selbst, die hiemit ein Übergehen in die Unmittelbarkeit, in das unorganische Sein und in Empfindungslosigkeit, aber nicht ein darein Übergegangensein
354 f. Der tierische Organismus 417 ist, – Knochensystem, das gegen das Innere zu Umhüllung, nach außen der feste Halt des Innern gegen das Äußere ist; ββ) zu dem Moment der Irritabilität, dem Systeme des Gehirns und dessen weiterem Auseinandergehen in den Nerven, die ebenso nach innen Nerven der Empfindung, nach außen des Bewegens sind; γγ) zu dem der Reproduktion angehörenden System, dem sympathetischen Nerven mit den Ganglien, worein nur dumpfes, unbestimmtes und willenloses Selbstgefühl fällt. (354 f.) Hegels Grundunterscheidungen sind manchmal fast zu allgemein formuliert: Das »System der Sensibilität« ist verantwortlich für die abstrakten, also allgemeinen Beziehungen des lebenden Körpers auf sich selbst. Unklar bleibt das etwas abrupte »Übergehen in die Unmittelbarkeit, in das unorganische Sein und in Empfindungslosigkeit«. Gemeint ist das Skelett (bei manchen Tieren auch Exoskelett), also das »Knochensystem«, das mehr oder weniger zufällig hier eingeordnet wird. Dessen Funktionen müssen aber natürlich genannt werden: Es liefert einen Halt für den Körper und seine Außenhaut, eine Umhüllung für das Gehirn und dient dem Schutz von dessen Verlängerung im Rückenmark, auch für die Nervenstränge. Die Haut ist nicht nur wichtiges Organ, sondern definiert sozusagen die vom Lebewesen selbst produzierte Unterscheidung des Inneren des Körpers und seiner Prozesse gegen alles Äußere – mit nur wenigen kontrollierten Einund Ausgängen. Im System der Irritabilität fokussiert Hegel etwas zu einseitig auf das neuronale System, dessen Erforschung Aufgabe der Neurologie als wissenschaftlicher Disziplin ist. Er klammert hier die Wahrnehmungsphysiologie ebenso aus wie die ethologischen Reaktionstypiken. Und er setzt Empfindungen zusammen mit holistischen Gesamt-Stimmungen (wie unsere in diesen Dingen immer noch relativ unbedarfte Sprache auch) allzu direkt mit dem Fühlen und Gefühl in eins. Dabei müssen wir das äußere Fühlen taktiler Haptik erst noch angemessen auf das innere Empfinden und besonders auf das Gefühl als empfindungsbedingtes Urteilen übertragen, um die Metapher in der üblichen Rede vom Fühlen richtig zu verstehen. Gefühle sind wie Wahrnehmungen propositional vermittelt und dadurch auf Möglichkeiten gerichtet. Sie unterscheiden sich dadurch wesentlich von reinen Empfindungen, bloß automatischen Reaktionen und nicht gerichteten Stimmungen.
418 293 f . Dritte Abteilung: Organische Physik 355 Den Kommentar zu dem »sympathetischen Nerven mit den Ganglien, worein nur dumpfes, unbestimmtes und willenloses Selbstgefühl fällt«, können wir übergehen. Er ist von der Art, wie wenn man ironisch sagt, dass jemand nur erst mit dem Knochenmark denkt. 2) Die Irritabilität ist ebensosehr Reizbarkeit durch Anderes und Rückwirkung der Selbsterhaltung dagegen als umgekehrt aktives Selbsterhalten und darin sich Anderem Preisgeben. Ihr System ist αα) abstrakte (sensible) Irritabilität, die einfache Veränderung der Rezeptivität in Reaktivität, – Muskel überhaupt; welcher an dem Knochengerüste den äußerlichen Halt (unmittelbare Beziehung auf sich für seine Entzweiung) gewinnend, sich zum Streck- und Beugemuskel zunächst di=erentiiert und dann ferner zum eigentümlichen Systeme der Extremitäten ausbildet. ββ) Die Irritabilität für sich und di=erent gegen Andere sich konkret auf sich beziehend und sich in sich haltend, ist die Aktivität in sich, Pulsieren, lebendige Selbstbewegung, deren Materielles nur eine Flüssigkeit, das lebendige Blut, – und die nur Kreislauf sein kann, welcher zunächst zur Besonderheit, von der er herkommt, spezifiziert, an ihm selbst ein gedoppelter und hierin zugleich nach außen gerichteter ist, – als Lungen- und Pfortadersystem, in deren jenem das Blut sich in sich selbst, in diesem anderen gegen Anderes befeuert. γγ) Das Pulsieren als irritable sich mit sich zusammenschließende Totalität ist der von ihrem Mittelpunkte, dem Herzen, aus in der Di=erenz der Arterien und Venen in sich zurückkehrende Kreislauf, der ebenso immanenter Prozeß als ein allgemeines Preisgeben an die Reproduktion der übrigen Glieder, daß sie aus dem Blute sich ihre Nahrung nehmen, ist. 3) Das Verdauungssystem ist als Drüsensystem mit Haut und Zellgewebe die unmittelbare, vegetative, in dem eigentlichen Systeme der Eingeweide aber die vermittelnde Reproduktion. (355) Über eine Änderung der Reihenfolge der Sätze wird der Text manchmal besser verstehbar. Das Verdauungssystem gehört zusammen mit der Atmung und dem Blutkreislauf zur Erzeugung und zum Transport der für alle Bewegungen durch Muskeln nötigen Energien, also zum Reproduktionssystem. Der Ausdruck »Irritabilität« passt nicht recht. Er steht wohl noch in der empiristischen Tradition der druckmechanischen Impressionen oder Eindrücke, obwohl Hegel eben diese mechanischen Vorstellungen gerade aufheben will. Der Ausdruck
Der tierische Organismus 419 »Reizbarkeit durch Anderes und Rückwirkung der Selbsterhaltung« spricht immerhin Dispositionen nach Art von enaktiven Perzeptionen an. Interessant ist, dass zu den bloß instinktiven und damit schematisch-reaktiven Antrieben artbedingter Irritation oder enaktiver Perzeption bei Hegel ein »aktives Selbsterhalten« hinzukommt, das in dialektischer Weise sofort mit einem »darin sich Anderem Preisgeben« verbunden wird. Was soll uns diese dichte Katachrese aber inhaltlich sagen? Die Frage ist in jedem Verstehensversuch ganz offenbar zu stellen. Hegels eigene Erläuterung verbleibt zunächst auf der abstrakt-allgemeinen Ebene der Rede über die »(sensible) Irritabilität, die einfache Veränderung der Rezeptivität in Reaktivität«, um dann sozusagen plötzlich zur Endbewegung überzugehen, bewirkt durch die Kontraktion von Muskeln. (Es gibt zwar sogenannte Streckmuskeln, aber diese selbst wirken nur durch Kontraktion. Muskeln werden also nur von anderen Muskeln gedehnt.) Das System der Muskeln ist in der Tat zentral für alle Eigenbewegungen des Lebewesens. Die jetzt wieder fast zu vielen und zu konkreten Worte zum Halt mancher Muskeln am Skelett können wir dabei ebenso übergehen wie den abstrakten Kommentar im Ausdruck »unmittelbare Beziehung auf sich für seine Entzweiung« und zum »eigentümlichen Systeme der Extremitäten« der Tiere, wie den ›Bewegungsapparat‹. Die Irritabilität ist also ein insgesamt im Körper konkret implementiertes System von Reaktionsdispositionen und Aktionspotentialen (›Vermögen‹, ›Potenzen‹, auch ›Fähigkeiten‹). Sie zeigt sich in einem artbedingten und umgebungsbedingten Verhalten des Einzelwesens mit den Kontraktionen der Muskeln als Motor für alle weiteren Bewegungen. Im konkreten Vollzug ist die Irritabilität jeweils ›di=erent gegen andere‹ Gegenstände (Lebewesen, Dinge, Sachen) und bezieht »sich konkret auf sich«. Ihre ›natürliche‹ Entwicklung und ihr ›natürlicher‹ Selbsterhalt sind schon der allgemeinen Form nach keineswegs ›selbstverständlich‹. Es bedarf dazu einer physikochemisch bzw. physiologisch vermittelten innerkörperlichen, beim Menschen ›leiblichen‹ »Aktivität in sich«. Hegel spricht allgemein von einem Pulsieren als ›lebendiger Selbstbewegung‹ – und geht dann unvermittelt zum besonderen Fall des Blutkreislaufes über. Dieser ist keineswegs das einzig ›Materielle‹,
420 Dritte Abteilung: Organische Physik das im lebenden Körper oder Leib ›pulsiert‹. Grundsätzlich war ja das Nervensystem durchaus schon bekannt. Aber sei’s drum; wir können den Kreislauf des Blutes pars pro toto nehmen. Die Besonderheiten, die Hegel nennt, wie das »Lungen- und Pfortadersystem«, sind für unsere Betrachtung bestenfalls von marginaler Bedeutung. Dass das Blut alle Muskeln und damit alle willkürliche und unwillkürliche Bewegung von Körperteilen befeuert, ahnt man spätestens seit der Zeit Heraklits, auch wenn die konkreten Prozesse des Transports von Sauersto= und der Verbrennung in den Zellen erst im späteren 19. Jahrhundert erkannt werden. Hegels o=enbare Fehleinschätzung von Funktion und Bedeutung des Blutkreislaufes ist daher zeitbedingt und entsprechend mit Nachsicht zu betrachten. Nur für das Pulsieren des Blutes ist das Herz zentraler Motor als Muskel, keineswegs Mittelpunkt der Irritabilität. Für die Reproduktion aller Glieder ist die Rolle des Herzens freilich zentral, da diese, das wusste man in dieser Allgemeinheit schon, »aus dem Blute sich ihre Nahrung nehmen«. Es war aber damals noch nicht lange her, dass man die Kühlung des Blutes durch das Gehirn als dessen einzige Funktion angesehen hatte – da man ja das Gehirn selbst nicht eigentlich spürt und die empfindungsmäßig im Kopf lokalisierten Schmerzen die örtliche Stelle ihrer wahren Ursachen keineswegs genau angeben. Hegel meint, dass das Denken Kopfschmerzen machen könne – und verwechselt dabei sozusagen die Konzentration der Verfertigung der Gedanken im stillen Reden, beim Sprechen oder dann auch beim Schreiben mit dem Denken selbst. 294 § 355 γ) Aber für die Gestalt vereinigen sich die Unterschiede der Elemente und deren Systeme ebensowohl zu allgemeiner konkreter Durchdringung, so daß jedes Gebilde der Gestalt sie an ihm verknüpft enthält, als sie selbst sich 1) in die Centra von den drei Systemen abteilt (insectum), Kopf, Brust und Unterleib, wozu die Extremitäten zur mechanischen Bewegung und Ergreifung das Moment der sich nach außen unterschieden setzenden Einzelnheit ausmachen. 2) Die Gestalt unterscheidet sich nach der abstrakten Di=erenz in die zwei Richtungen nach innen und nach außen. Jeder [Gestalt] ist aus jedem der Systeme die eine nach innen, die andere nach außen
356 Der tierische Organismus 421 gehende Seite zugeteilt, wovon diese als die di=erente an ihr selbst diese Di=erenz durch die symmetrische Zweiheit ihrer Organe und Glieder darstellt (Bichats vie organique et animale). (356) Die Realgestalt (idea) des lebenden Lebewesens verändert sich zwar, aber nicht wie ein Leichnam durch bloße physikochemische Einwirkung von außen, wobei Hegel die bakteriologischen Prozesse in ihrer positiven Bedeutung für das Leben selbst und ihre Kontrolle durch das Immunsystem auch in Abwehr von Viren und Pilzen noch gar nicht im Detail kennt. An der allgemeinen Körpergestalt der Tiere unterscheidet Hegel drei Systeme, Kopf, Brust und Unterleib – und die »Extremitäten zur mechanischen Bewegung und Ergreifung« der Nahrung. Dabei gibt es unterschiedliche äußere und innere Gestaltungen. Details interessieren die Zoologie, nicht die Naturphilosophie. In der momentanen Gesamtgestalt des schon oder noch lebenden Wesens manifestieren sich »Elemente« und laufende prozessuale »Systeme« in Anpassung an feste Formen und Zufälle des Ganzen der Umwelt und Welt so, dass wir kaum sinnvoll erwarten können, eine solche Gesamtgestalt ohne ihre Entstehungsgeschichte herstellen zu können. Ironischerweise verachtet der Glaube an die Herstellbarkeit des Lebens die lange Empirie oder besser ›Erfahrung‹, welche das Leben selbst in allen seinen Vollzugsformen für seine Entwicklung brauchte. Das Gleiche gilt für den Glauben, dass sich komplexes Leben plötzlich in der Natur bilden könne. Dem steht der Aberglaube nicht nach, dass es personale Intelligenz ohne massive Abhängigkeit von der weltweiten, insgesamt also trotz aller Regionalitäten im Wesentlichen einheitlichen, Kulturgeschichte des Wissens, der Sprache, Praxisformen und Institutionen, also des Geistes, geben könne. In jedem Leben eines Lebewesens steckt sozusagen schon die Gesamtgeschichte des Kosmos, des Sonnensystems, der Entwicklung der Erde und der Entstehung irdischen Lebens. Hegels holistische Analyse zeigt hier ihre wahre metaphysik- und szientismuskritische Kraft. Denn das Problem des materialistischen, genauer: atomistischmechanischen und eben daher prädeterministischen Naturalismus liegt in seiner Ausklammerung erstens von Kontingenzen, zweitens der realgeschichtlichen Prozesse und damit drittens in seinem statischen, bloß relationalen, mathematisierten Weltbild. Dieses Weltbild
422 294 295 Dritte Abteilung: Organische Physik 356 scheitert an der Tatsache der Zeit – was man als Einsicht schon dem Parmenides, Zenon und Platon zuschreiben kann, wenn man ihre von Heraklit belehrte Kritik am Pythagoreismus versteht. Dazu sind allerdings ihre Überlegungen zum Verhältnis von Episteme und Doxa, Theorie und Empirie, ›Ewigkeit‹ und Zeit gegen den Strich der üblichen metaphysischen, genauer neuplatonischen Interpretationen zu lesen.44 Hegels Einsicht in die absolute Realität der Gegenwart ist eine der wichtigsten Spätfolgen. 3) Das Ganze als zum selbständigen Individuum vollendete Gestalt ist in dieser sich auf sich beziehenden Allgemeinheit zugleich an ihr besondert zum Geschlechts-Verhältnisse, zu einem Verhältnisse mit einem andern Individuum nach außen gekehrt. Die Gestalt weist an ihr, indem sie beschlossen in sich ist, auf ihre beiden Richtungen nach außen hin. (356) Im Fall zweigeschlechtlicher Fortpflanzung sind für den ›Gattungsprozess‹ die Körper-Gestalt und die dispositionelle Gestaltung des Lebens ausgerichtet auf die Begattung mit einem anderen Individuum. § 356 Sie [die Gestalt, PS] ist als lebendig wesentlich Prozeß, und zwar ist sie als solche der abstrakte, der Gestaltungsprozeß innerhalb ihrer selbst, in welchem der Organismus seine eigenen Glieder zu seiner unorganischen Natur, zu Mitteln macht, aus sich zehrt und sich, d. i. eben diese Totalität der Gegliederung, selbst produziert, so daß jedes Glied wechselseitig Zweck und Mittel, aus den andern und gegen sie sich erhält; – der Prozeß, der das einfache unmittelbare Selbstgefühl zum Resultate hat. (356) Jetzt erst unterscheidet Hegel den abstrakt-allgemeinen, arttypischen Gestaltungsprozess des Lebewesens innerhalb seiner selbst von äußeren Einflüssen. Der Organismus als ganzer macht »seine eigenen Glieder zu [. . . ] Mitteln« und produziert sich so selbst, autopoietisch, wie man heute dazu sagt. Alle Glieder sind dann »wechselseitig Zweck und Mittel«. Das Herz als Pumpmuskel versorgt z. B. die Glieder (genauer: alle anderen Muskeln) mit Blut und damit mit 44 Vgl. dazu z. B. Pirmin Stekeler-Weithofer, Philosophiegeschichte, Berlin: de Gruyter 2006.
357 Der tierische Organismus 423 Sauersto= und Kohlensto=, verbraucht diese aber auch selbst, während die Lunge das Blut mit Sauersto= anreichert und die Verdauung mit ›Nährsto=en‹, damit also auch mit Kohlensto=. Allerdings springt Hegel jetzt etwas schnell von diesem Prozess zum Selbstgefühl. Denn dieses ist nicht einfach Resultat oder Folge des beschriebenen Sto=wechselprozesses, sondern gehört zu dessen holistischen Bedingungen zunächst qua Selbstempfindung in der animalischen Selbstkontrolle. Schon in der Phänomenologie erkennt Hegel dabei das Begehren und seine Befriedigung oder Frustration als Selbstbezug und skizziert, wie es jedem entwickelten Selbstbewusstsein zugrunde liegt, sodass man auch das Leibliche des eigenen Lebens nicht einfach als sklavischen ›Diener‹ der Seele oder res cogitans, des rein ›geistigen Herrn‹, missverstehen darf. b. Die Assimilation § 357 Das Selbstgefühl der Einzelnheit ist aber ebenso unmittelbar ausschließend und gegen eine unorganische Natur als gegen seine äußerliche Bedingung und Material sich spannend. Indem α) die tierische Organisation in dieser äußerlichen Beziehung unmittelbar in sich reflektiert ist, so ist dies ideelle Verhalten der theoretische Prozeß, die Sensibilität als äußerer Prozeß, und zwar als bestimmtes Gefühl, welches sich in die Vielsinnigkeit der unorganischen Natur unterscheidet. (357) Assimilation ist einfach Sto=wechsel. – Im Selbstgefühl unterscheidet das Lebewesen sich von allem anderen. Organische und unorganische Umwelt werden ihm zur äußerlichen Bedingung und zum Material. Das Bild von der Spannung nennt wieder nur triebförmige Dispositionen der Annäherung (Attraktion) oder Abwendung (in Repulsion oder Flucht). Hervorzuheben ist dabei die Aussage, dass die »tierische Organisation in dieser äußerlichen Beziehung unmittelbar in sich reflektiert ist«. Denn sie bestätigt das, was ich die ganze Zeit zur animalischen Selbstkontrolle gesagt habe. Diese spricht Hegel als ideelles Verhalten an und ordnet alle kognitiven Formen des Lebensvollzugs einem theoretischen Prozess zu. 295
424 Dritte Abteilung: Organische Physik Die Sensibilität wird bei Hegel dabei ganz passend als äußerer Prozess des Weltkontakts aufgefasst. Durch Sachen oder Objekte bestimmte Gefühle gibt es allerdings nur vermittels enaktiver Perzeptionen oder, beim Menschen, begri=lich bestimmter Apperzeptionen. Bloß statische innere Empfindungen wie Unwohlsein oder rein diffuse Schmerzempfindungen sind noch nicht gerichtet. Hegel zählt die Wahrnehmungsphysiologie dennoch zur Sensitivität, nicht zur Irritabilität. Diese sprachlich-begri=liche Ordnung ist wohl noch ein Erbe des Empirismus. Wie bei Kant beginnt in dieser Tradition alles mit der Sensitivität des inneren Empfindens. Diese soll dann auch insgesamt den äußeren Weltbezug bestimmen. Dabei ist sie längst schon mit Reaktionsformen relativ fest verbunden. Es sind daher auch die äußeren Sinne, welche die von Hegel angesprochene Vielsinnigkeit bestimmt, mit der Tiere Sachen in der äußeren Natur unterscheiden, wobei dann bei Menschen fünf oder sechs Sinne auszumachen sind, wenn man nämlich die Propriozeption der inneren Leibempfindungen von dem nach außen gerichteten ›Ertasten‹ unterscheidet, wobei wir diese als »Sinnesempfindungen« ansprechen, als fänden wir Daten im Inneren. Den privativen Fall, in dem wir uns über die äußere ›Ursache‹ eines ›Gefühls‹ oder besser die Art oder Existenzweise des ›perzipierten‹ Gegenstand täuschen, nehmen wir manchmal zum Anlass, die normalerweise sach- und gegenstandsbestimmten Gefühle, wie ich es ausdrücken möchte, zu inneren Findungen zu machen und von ihren normalen Bezugsgegenständen abzulösen. In voller Ablösung aber sind sie weder bestimmt noch bestimmbar, so dass die übliche Vorstellung, es gäbe äußere Ursachen für bestimmte innere Impressionen oder Empfindungen auf typische Weise inkohärent wird. 295 f . § 358 Die Sinne und die theoretischen Prozesse sind daher 1) der Sinn der mechanischen Sphäre, – der Schwere, der Kohäsion und ihrer Veränderung, der Wärme, – das Gefühl als solches; 2) die Sinne des Gegensatzes, der besonderten Luftigkeit und der gleichfalls realisierten Neutralität des konkreten Wassers und der Gegensätze der Auflösung der konkreten Neutralität, – Geruch und Geschmack. 3) Der Sinn der Idealität ist ebenfalls ein gedoppelter, insofern in
357 Der tierische Organismus 425 ihr als abstrakter Beziehung auf sich die Besonderung, die ihr nicht fehlen kann, in zwei gleichgültige Bestimmungen auseinanderfällt; αα) der Sinn der Idealität als Manifestation des Äußerlichen für Äußerliches, – des Lichtes überhaupt und näher des in der konkreten Äußerlichkeit bestimmt werdenden Lichtes, der Farbe; und ββ) der Sinn der Manifestation der Innerlichkeit, die sich als solche in ihrer Äußerung kundgibt, – des Tones; – Gesicht und Gehör. (357) Hegel unterscheidet hier nur die fünf menschlichen Sinne. Er beginnt explizit mit dem Fühlen an sich, das er auch sprachhistorisch ganz richtig mit dem Prototyp des haptischen bzw. taktilen Tastgefühls identifiziert. Dabei sind die Finger bevorzugtes Tastinstrument. Hegel zählt aber gleich auch das Prüfen der Wärme (ggf. auch mit den Fingern) dazu, obwohl man das Wärmegefühl eigens unterscheiden könnte. Dann kämen wir beim Menschen aber auf sechs Sinne, auch wenn andere Tiere, wie z. B. Schlangen, weit bessere Wärmedetektoren haben. Es folgen der Geruch als sinnliche Unterscheidung gewisser wichtiger Sto=e in der Luft oder in flüssiger Form durch den Nahsinn des Geschmacks. Sehen und Hören sind wesentlich ein Formenerkennen. Nicht nur, weil sie Fernsinne sind – das ist auch der Geruch oder eben bei manchen Tieren die Wärmedetektion –, sondern wegen ihrer Form- oder Gestaltbezogenheit sind sie die Sinne »der Idealität«. Die ›äußere‹ Formwahrnehmung qua Fernsinn ist vermittelt durch das Licht. Freilich lassen sich viele Formgestalten nicht nur sehen, sondern auch ertasten. Die sich ergebenden enaktiv synästhetischen Perzeptionen mit automatisierten Erwartungen zur Art und taktilen Gestalt der gesehenen Dinge werden von Hegel hier nicht eigens kommentiert, sind aber als äußerst wichtig zu ergänzen. Damit verstehen wir jetzt vielleicht das ›Ideale‹ bzw. ›Subjektive‹ in der visuellen »Manifestation des Äußerlichen« für Tier und Mensch etwas besser. Dabei spielen übrigens Farben für Menschen eine eigentümlich untergeordnete Rolle, da es, anders als bei bestimmten Tieren, für sie kaum feste Verbindungen zu enaktiven Reaktionen gibt. Dass Töne zur »Manifestation der Innerlichkeit« gehören, gilt nur für Lebewesen, die akustische Signale produzieren. Das Gehör dient sonst primär der Detektion von Bewegungen. Es ist hier die Art angegeben, wie die Dreiheit der Begri=smomente in eine Fünfheit der Zahl nach übergeht; der allgemeinere 296 k
426 Dritte Abteilung: Organische Physik 357 f. Grund, daß dieser Übergang hier stattfindet, ist, daß der tierische Organismus die Reduktion der außereinander gefallenen unorganischen Natur in die unendliche Einheit der Subjektivität, aber in dieser zugleich ihre entwickelte Totalität ist, deren Momente, weil sie noch natürliche Subjektivität ist, besonders existieren. (357 f.) Es ist eine Art Hobby Hegels, die »Dreiheit der Begri=smomente in eine Fünfheit« der (äußeren) Sinne übergehen zu lassen. Wir könnten gnädig über das Spiel hinwegsehen, zumal, wie gesagt, die Zahl Sechs ohnehin passender wäre. Wer unbedingt will, kann dann das Sehen und Hören zu den auf Allgemeines ausgerichteten Sinnen (A) rechnen, das Riechen und die Wärmedetektion zu den auf Besonderes fokussierenden Sinnen (B) und das Tastgefühl und den Geschmack als ›Ertasten‹ von Salz und Zucker zu den auf Einzelnes bezogenen Nahsinnen des Einzelwesens (E ). Die »unendliche Einheit der Subjektivität« meint dann nur das Viele, das ein animalisches Subjekt an ›Information‹ sozusagen umsetzt, um sein Verhalten zu steuern. Es liegt ganz nahe, diese Einheit als Ganzheit oder entwickelte Totalität anzusprechen und an ihr Teilmomente zu unterscheiden. 296 § 359 β). Der reelle Prozeß oder das praktische Verhältnis zu der unorganischen Natur beginnt mit der Diremtion in sich selbst, dem Gefühle der Äußerlichkeit als der Negation des Subjekts, welches zugleich die positive Beziehung auf sich selbst und deren Gewißheit gegen diese seine Negation ist, – mit dem Gefühl des Mangels und dem Trieb, ihn aufzuheben, an welchem die Bedingung eines Erregtwerdens von außen und die darin gesetzte Negation des Subjekts in der Weise eines Objekts, gegen das jenes gespannt ist, erscheint. (358) Hegel spricht von einer »unorganischen Natur«, obwohl die Nahrung von Tieren immer schon ›organisch‹ ist – also die Flora voraussetzt. »Diremtion« ist sein Ausdruck für eine enaktive Unterscheidung, also ein sich an gewissen typischen Unterschieden orientierendes Verhalten. »Diremtion in sich selbst« und das Gefühl »der Äußerlichkeit als der Negation des Subjekts« sind dann Nennungen der tätigen Unterscheidung, was zur guten Artform des Lebewesens sozusagen passt, was nicht. Das Passende ist anzueignen, wenn es
358 Der tierische Organismus 427 nicht schon angeeignet ist. Das Privative und Widerständige ist zu vermeiden. Zur einen Seite gehören die ›positiven Beziehungen auf sich selbst‹, zur anderen deren Negation, verbunden »mit dem Gefühl des Mangels und dem Trieb, ihn aufzuheben«. Jetzt passt Hegels Rede von der »Bedingung eines Erregtwerdens von außen« doch wieder zu meiner (Um-)Deutung der Irritation als enaktiver Perzeption, auch die Rede von der Spannung eines Begehrens oder Triebs der Repulsion. Man denke an Fälle der Flucht oder eines (Gegen-)Angri=s. Nur ein Lebendiges fühlt Mangel; denn nur es ist in der Natur der Begri=, der die Einheit seiner selbst und seines bestimmten Entgegengesetzten ist. (358) Schon in der Begri=slogik hatte Hegel betont, dass es das ›Vorrecht‹ des Lebendigen ist, einen Mangel oder einen Schmerz zu empfinden. Nur animalische Lebewesen spüren, dass etwas der Instanziierung der guten oder gesunden Artform entgegensteht. Wo eine Schranke ist, ist sie eine Negation nur für ein Drittes, für eine äußerliche Vergleichung. Mangel aber ist sie, insofern in Einem ebenso das Darüberhinaussein vorhanden, der Widerspruch als solcher immanent und in ihm gesetzt ist. Ein solches, das den Widerspruch seiner selbst in sich zu haben und zu ertragen fähig ist, ist das Subjekt; dies macht seine Unendlichkeit aus. – (358) Die Rede von einer »Schranke« verweist auf eine Binnensicht im Unterschied zu einer drittpersonalen Perspektive, die meine oder unsere Sicht ›entschränken‹ mag, wie Hegel hier extrem kurz erläutert. Eine Schranke ist sozusagen eine unterscheidende Linie, die man – von außen betrachtet – nicht überschritten hat, nicht überschreiten kann oder im normativen Fall nicht überschreiten soll. Interessant ist, dass Hegel die perspektivische Logik der Rede von einer Schranke, also die Unterscheidung zwischen Binnensicht und Außensicht, schon in der Seinslogik analysiert, auch wenn kaum jemand Sinn und Bedeutung dieser Analyse bisher ausreichend begri=en hat. Was für eine Gruppe von Wesen eine unüberwindbare Schranke sein kann, kann für andere eine bloße Grenze sein. So sind z. B. die Fähigkeiten von Tieren, so etwas wie Sprache zu gebrauchen, auf die enaktive Verwendung von Signalen beschränkt und, wie wir sagen, entsprechend begrenzt. Die Praxis der Repräsentation von Sachen und des 296 k 296 k
428 296 k Dritte Abteilung: Organische Physik 358 Aussagens von etwas über etwas gibt es in der Tierwelt insgesamt nicht. Wer das nicht anerkennt, versteht auch den allgemeineren Unterschied zwischen Schranke und Grenze nicht, da die geschilderte Grenzziehung nur von unseren Fähigkeiten her möglich ist, also den relevanten Unterschied schon präsupponiert. Ein Mangel ist nun aber eine Schranke, die zu überwinden ist. Hegels Formulierung klingt nur ungewohnt, weil wir normalerweise über die Bedeutung der Perspektive, für wen etwas eine Schranke oder ein Mangel ist, also als Schranke oder Mangel (von uns her) gelten kann bzw. angesehen werden soll, nicht ausreichend nachdenken. Der immanente Widerspruch eines (gefühlten) Mangels besteht schlicht in der Di=erenz von Ist- und Sollzustand. Das führt begri=lich zur Frage, wie und ›von wem‹ das Sollen und die Befriedigungs- oder Erfüllungsbedingungen gesetzt sind. Im Fall eines gefühlten Mangels oder eines Schmerzes ist das klarerweise eine subjektimmanente Angelegenheit, so wie im Fall von Befriedigungsempfindungen. Man denke auch an das Ende oder Ausbleiben eines Gefühls des Unbefriedigtseins. Daher ist es prima facie bzw. normalerweise ›unmöglich‹, von einem Subjekt, das ein Schmerzbenehmen zeigt oder gar sagt, dass es Schmerzen habe, zu sagen, dass es ›eigentlich‹ keine Schmerzen habe. Es kann bestenfalls sein, dass ein Sprecher nicht weiß, was das Wort »Schmerz« bedeutet – oder dass man annimmt, jemand simuliere Schmerzen. Aber schon ein animalisches Wesen kann den Widerspruch eines gespürten Mangels ertragen und unter Umständen partiell selbsttätig (sozusagen mit dem Glück des Tüchtigen oder scheinbar ›zufällig‹) überwinden. Personale Subjekte können sogar im Prinzip unbegrenzt viele Unerfülltheiten auf beliebigen Reflexionsebenen ›aufheben‹. Das macht ihre noch ganz anders geartete Unendlichkeit aus, wie sie über die Ebene der animalischen Spürungen weit hinausgeht. Auch wenn von endlicher Vernunft gesprochen wird, so beweist sie, daß sie unendlich ist, eben darin, indem sie sich als endlich bestimmt; denn die Negation ist Endlichkeit, Mangel nur für das, welches das Aufgehobensein derselben, die unendliche Beziehung auf sich selbst, ist. (Vergl. § 60 Anm.) – (358) Kants Rede davon, dass unsere Vernunft endlich sei, verwechselt Hegel zufolge die Begrenztheit der lehr- und lernbaren Schemata
358 Der tierische Organismus 429 des Verstandes oder des bloß erst enaktiven bzw. empraktischen Benehmens mit den potentiell unendlichen Reflexionen und konstruktiven Setzungen der Vernunft. Diese sind aufgrund ihrer Form unbeschränkt. Allerdings besteht die Unendlichkeit der Vernunft gerade darin, sich selbst in jeder konkreten Anwendung als endlich zu wissen und entsprechend zu bestimmen. Damit weiß ich, dass ich die möglichen weiteren Reflexionen jeweils an einer bestimmten Stelle abbreche, wenn ich urteile und handle. Ein Mangel ist diese Endlichkeit nur im Blick auf die von uns selbst bestimmte mögliche, aber nicht immer relevante Fortsetzung der Reflexion. Es wäre daher falsch, das Unendliche nicht als bloße Form zu erkennen. Man kann nicht einfach im Blick von einem bloß verbal ausgemalten Ideal her jede reale ›Anwendung‹ als Mangel ausgeben. Diese logische Einsicht der Seinslogik ist von ungeheurer Bedeutung. Die Gedankenlosigkeit bleibt bei der Abstraktion der Schranke stehen und faßt im Leben, wo der Begri= selbst in die Existenz tritt, ihn ebenfalls nicht auf; sie hält sich an die Bestimmungen der Vorstellung, wie Trieb, Instinkt, Bedürfnis usf., ohne zu fragen, was denn diese Bestimmungen selbst in sich sind; die Analyse ihrer Vorstellung wird ergeben, daß sie Negationen sind, gesetzt als in der A;rmation des Subjekts selbst enthalten. (358) Es ist schlicht falsch, in der realen Welt nur das Unvollkommene, die Mängel und Privationen, im Leben das Leiden zu sehen oder, genauer gesagt, sehen zu wollen. Man versteht dann weder das Gute der normalen Artform noch den Überschuss in allen von uns entworfenen Idealen einer fortgesetzten Perfektion. Eine solche kommt in fast allen unserer formalen Begri=e an sich vor, keineswegs nur in den Idealen der Ethik und Ästhetik. Andererseits sind oder werden alle idealen Begri=e an sich, wie die Formen der Geometrie, an das real Mögliche bzw. an die jeweilige Idee angepasst. Wenn man das nicht begreift, begreift man weder Sprache und Wissen noch das Leben. Denn nur das Tote ist völlig leidfrei. Und nur der Geist- und Vernunftlose kann die Widersprüche des ›zerrissenen Bewusstseins‹ nicht aushalten. Er will, dass alle zerrissenen Strümpfe schon geflickt sind, also alle dialektischen Spannungen aus den Schemata der Begri=e an 296 k
430 296 f . k Dritte Abteilung: Organische Physik 359 sich schon aufgehoben sind, da er sich wie der Verstand nur auf das schematische Regelfolgen versteht. Im einzelnen Leben tritt der Begri= in die Existenz dadurch, dass das Eidos der Lebensform aktualisiert wird. Es ist Verbindung des Allgemeinen der Art mit besonderen Formausprägungen im Einzelleben. Im geistigen Leben der Person wird sich der Begri= sozusagen seiner selbst bewusst. Hegel richtet sich hier gegen die Ideologie des großen Jammers über das Leid der Welt, nicht gegen jede Kritik an unnötigem von Menschen verursachtem Leid. In der genannten Ideologie schwatzt man »von Trieb, Instinkt, Bedürfnis usf., ohne zu fragen, was denn diese Bestimmungen selbst in sich sind«. Hegel betont: Leid und Schmerz sind ›notwendige‹ privative Begleitungen des größten Wunders, der unendlichen Subjektivität des sensitiven und geistigen Lebens. Das ist hier durch Wiederholung gebührend hervorzuheben: »die Analyse ihrer Vorstellung wird ergeben, daß sie Negationen sind, gesetzt als in der A;rmation des Subjekts selbst enthalten«. Daß für den Organismus die Bestimmung von Erregtwerden durch äußerliche Potenzen an die Stelle des Einwirkens äußerlicher Ursachen gekommen ist, ist ein wichtiger Schritt in der wahrhaften Vorstellung desselben. (359) Im radikalen Unterschied zu einer rein mechanischen Druckwirkung im wörtlichen Sinn einer Impression führen enaktive Perzeptionen zunächst nur erst zu einer Art Erregungspotential, das zum Teil vom Lebewesen selbst verstärkt, abgeschwächt oder gehemmt werden kann. Hegel wird allerdings gleich gegen diese vage und quantitative Metapher als ›unphilosophisch‹ polemisieren, wenn sie wörtlich gelesen wird. Die Fernsinne des Sehens, Hörens und Riechens (bei manchen Tieren, wie gesagt, die Wahrnehmung thermischer Di=erenzen) schaffen einen gewissen Freiheitsspielraum für das Subjekt, das z. B. eine Jagd beginnen, fortsetzen oder aufgeben kann oder sich vor einem möglichen Jäger in eine sicherere Gegend wegbewegen kann. Es ist, sagt Hegel hier, ganz falsch, diese Re-Aktionen als reine Einwirkungen deuten, die sozusagen durch das Auge und die Nerven über das Gehirn zu fest vorprogrammierten Reaktionen führen – auch wenn es solche Default-Schematismen gibt.
359 Der tierische Organismus 431 Es beginnt darin der Idealismus, daß überhaupt nichts eine positive Beziehung zum Lebendigen haben kann, deren Möglichkeit dieses nicht an und für sich selbst, d. h. die nicht durch den Begri= bestimmt, somit dem Subjekte schlechthin immanent wäre. (359) Hegels sogenannter »Idealismus« ist nur Titel für die ganz und gar objektive Einsicht, dass alles Lebendige eine subjektive Art der Unterscheidung zwischen dem Seinigen und dem Anderen hat, also zwischen sich als jeweils präsentischem Subjekt und allen Objekten. Bei toten Dingen unterscheiden wir zwar auch zwischen dem Gegenstand insgesamt und dem gegenwärtigen Gegenstand in seinen präsentischen Relationen zu anderen Gegenständen. Da diese Relationen aber nicht, wie bei Tieren, epistemisch und orektisch (also durch ein Begehren) gerichtet sind, sind tote Dinge keine Subjekte. Die gerichteten Relationen und Prozesse eines Subjekts wiederum sind ihrer Form nach durch den Begri=, die Artform allgemein, bestimmt. Diese wird im einzelnen Lebewesen auf je besondere Weise instanziiert. Dabei spielt das Einzelwesen in seinem rein akzidentellen Tun zwar eine Rolle, aber natürlich nur im Rahmen seiner Möglichkeiten. Die Artform bestimmt damit immer nur Spielräume. Was Hegel »positive Beziehung« nennt, zeigt sich verhaltensmäßig in dem, was das Lebewesen als zu ihm gehörig von anderem unterscheidet. Hegels »Idealismus« erkennt und anerkennt damit die Objektivität und sogar das Absolute der Subjektivitäten des Lebendigen, insbesondere bei Tier und Mensch, also beim animalischen und personalen Individuum. Mit einem Idealismus, dem die Welt bloße Vorstellung ist, hat das überhaupt nichts zu tun, wohl aber mit Kants transzendentalphilosophischer Einsicht, dass alle Objektivitätsansprüche eine transsubjektive allgemeine Verfassung haben – und dabei sprachlich-begri=lich konstituiert sind. Jede unmittelbare Korrespondenztheorie der Wahrheit verkennt oder missachtet die Rolle generisch-allgemeinen Vorher-Wissens und analogisch-theoretischer Modellierung von Bewegungs- und Prozessformen. Sie ist daher schon im Blick auf alles Sinnverstehen und alle Objektivität nicht weniger naiv und metaphysisch als eine empiristische Epistemologie, welche nur erst enaktive Perzeption von Tieren im Blick hat. 297 k
432 297 k Dritte Abteilung: Organische Physik 359 Aber so unphilosophisch wie irgendein wissenschaftliches Gebraue von Reflexionsbestimmungen ist die Einführung solcher formellen und materiellen Verhältnisse in der Erregungstheorie, als lange für philosophisch gegolten haben; z. B. der ganz abstrakte Gegensatz von Rezeptivität und Wirkungsvermögen, die als Faktoren in umgekehrtem Verhältnisse der Größe miteinander stehen sollen, wodurch aller in dem Organismus zu fassende Unterschied in den Formalismus bloß quantitativer Verschiedenheit, Erhöhung und Verminderung, Stärkung und Schwächung, d. h. in die höchstmögliche Begri<osigkeit gefallen ist. (359) Es gibt viel pseudowissenschaftliches Gerede über Reflexionsbestimmungen und Selbstbeziehungen von Tieren, die ›unphilosophisch‹, d. h. logisch-begri=lich unbedarft sind. Man konstruiert zum Beispiel sogenannte Erregungstheorien. Dabei heben schon die Ausdrücke »Sensibilität« und »Irritabilität«, hier übersetzt in »enaktive Perzeption« und verstanden als di=erentiell bedingtes Verhaltenspotential, den »Gegensatz von Rezeptivität und Wirkungsvermögen« auf. In jedem Fall ist es falsch, dieses Vermögen als neuronal vermittelte Wirkmechanik darzustellen, wie das noch in der Tradition sowohl von Hobbes als auch Descartes geschieht. Man spricht dann metaphorisch von »Faktoren in umgekehrtem Verhältnisse der Größe« – ohne die Metapher zu bemerken. Die scheinbar quantitative Redeform erzeugt die genannte Pseudowissenschaftlichkeit und suggeriert bloß Objektivität. Man übersieht insbesondere den dabei in Anspruch genommenen spekulativen Blick von der Seite. Das Problem zeigt sich auch daran, dass man kein konkretes Maß für diese angeblichen Quantitäten angeben kann. Sie werden daher nur metaphysisch hypostasiert. Das erklärt Hegels scharfe Polemik gegen die Vorstellung ›quantitativer Verschiedenheit, Erhöhung und Verminderung, Stärkung und Schwächung‹ von Reaktionsdispositionen. Ihre höchstmögliche Begri=slosigkeit findet sich in allen rein ontischen Dispositionstheorien. Sie erweisen sich als Varianten einer in Wahrheit rein tautologischen Vis-dormitiva-Erklärung empirisch beobachteter Phänomene durch okkulte Kräfte – die zugleich in eine spekulative Metaphysik eines ›atomistischen‹ bzw. rein mechanisch-
359 Der tierische Organismus 433 geometrischen und damit schon pythagoreistischen Weltbildes kippen. Eine Theorie der Medizin, die auf diese dürren Verstandesbestimmungen gebaut ist, ist mit einem halben Dutzend Sätze vollendet, und es ist kein Wunder, wenn sie eine schnelle Ausbreitung und viele Anhänger fand. (359) Hegel begleitet die Veranschaulichung der Folgen dieser Pseudowissenschaft in den schon damals zu findenden teils ganzheitlichhomöopathischen, teils die Wirkungen einzelner Sto=e maßlos überschätzenden Moden ärztlicher Praxis durch einen Kommentar zu ihrer philosophischen Ursache: Die Veranlassung zu dieser Verwirrung lag in dem Grundirrtum, daß, nachdem das Absolute als die absolute Indi=erenz des Subjektiven und Objektiven bestimmt worden war, alle Bestimmung nun nur ein quantitativer Unterschied sein sollte. (359) Die ›Naturphilosophen‹, zu denen sich Hegel selbst zählt und unter denen er Schelling immer einen hohen Rang zugesteht, hatten »das Absolute als die absolute Indi=erenz des Subjektiven und Objektiven« bestimmt, also das Wahre als das Ganze im Sein oder Vollzug. Daher haben sie auch eine ›spekulative‹, d. h. ›holistische‹, Betrachtung der je relevanten Totalität von generischen Relationen und Prozessen in Gattungen und damit in Begri=en im Sinne von Gegenstandsbereichen gefordert. Das Wort ›Idealismus‹ wurde positiv besetzt durch die Einsicht, dass die Idee des Lebens als ein Sein oder Vollzug, nicht nur als Gegenstand der Reflexion auf Formtypen, zu denken ist. Hegel radikalisiert dabei einen Gedanken Fichtes, indem er den subjektiven Vollzug und damit das zeitliche Sein als das Absolute erkennt, so aber, dass es von bloß endlichen Aspekten und Vergegenständlichungen zu unterscheiden ist. Außerdem ist alle Objektivität durch Transformation perspektivischer Zugänge und damit durch praktische Äquivalenzurteile als Basis einer Abstraktion von bloß erst lokal und subjektiv erfahrenen Erscheinungen ›desselben‹ konstituiert. Prägnanter lässt sich der nachhaltig haltbare Inhalt der Transzendentalphilosophie Kants nicht fassen. Die Gefahr liegt dann aber allzu nahe, alle objektiven Bestimmungen als quantitative Unterschiede begreifen zu wollen. Man unterscheidet dann nicht mehr zwischen verschiedenen Formen gegenstands- und prädikats- 297 k 297 k
434 297 k Dritte Abteilung: Organische Physik 359 bestimmender Abstraktionen, sondern meint, alles Objektive führe zu quantitativen Mengen- und Zahlbestimmungen oder sei, genauer gesagt, nur durch diese vermittelt. Die absolute Form, der Begri= und die Lebendigkeit hat vielmehr allein die qualitative, sich an sich selbst aufhebende Di=erenz, die Dialektik der absoluten Entgegensetzung, zu ihrer Seele. Insofern diese wahrhafte unendliche Negativität nicht erkannt ist, kann man meinen, die absolute Identität des Lebens, wie bei Spinoza die Attribute und Modi in einem äußern Verstand vorkommen, nicht festhalten zu können, ohne den Unterschied zu einem bloß Äußerlichen der Reflexion zu machen; womit es dem Leben an dem springenden Punkt der Selbstheit, dem Prinzipe der Selbstbewegung, Diremtion seiner selbst in sich überhaupt fehlt. (359) Die absolute Form des Lebens ist die Form, wie sie sich im Vollzug zeigt. Sie ist an sich der Begri= des Lebens der jeweiligen Art. Ihre hinreichend guten, auch prototypischen, sogar idealtypischen, nicht nur stereotypen Realisierungen in konkreten Gestaltungen je hier und jetzt bilden insgesamt ihre Idee. Dies ist im Sinn Hegels die Realisierung des Begri=s, hier also der Artform. Wir sprechen also über das reale Sein der Gattung oder Art in den Individuen. Das der Art nach gute Leben ist in seinen Variationen nur soweit bestimmt, wie es vom sicher schlechten, kranken, oder dann natürlich auch vom Tod unterschieden ist. Das Lebewesen als Ganzes hebt dabei den immer wieder drohenden Kollaps des wesentlich durch chemische Prozesse vermittelten Lebensprozesses durch bestimmte Eigenbewegungen auf. Die Artform dieses Tuns heißt traditionell Seele – wie bei Aristoteles erläutert. Ich lese Hegels Rede von der ›wahrhaft unendlichen Negativität‹ als Versuch, diesen tiefen Gedanken auszudrücken. Seine Auseinandersetzung mit Spinoza bestätigt meinen Lesevorschlag, erst recht aber die Betonung des springenden Punktes der Selbstheit, des Prinzips der Selbstbewegung und der Selbstkontrolle in der »Diremtion seiner selbst in sich«, also der zum Teil gespürten Unterscheidung zwischen Ist- und Sollzustand des Leibes. Die Seele wird nun aber seit alters immer auch als okkulte Lebenskraft vorgestellt. Die sich gegen diese ›metaphysischen‹ Vorstellungen richtende Verleiblichung des Geistes durch eine überinterpretierte
360 Der tierische Organismus 435 (Gehirn-)Physiologie und die Naturalisierung der Seele im physikalistischen Materialismus gehen schon im Blick auf das Leben zu weit, erst recht wenn man für das gute und gesunde Leben nur quantitative Verhältnisse oder rein momentane Relationen zwischen den Teilen des Körpers verantwortlich machen möchte. Für völlig unphilosophisch und roh-sinnlich ist ferner das Verfahren zu halten, welches an die Stelle von Begri=sbestimmungen geradezu gar den Kohlensto= und Sticksto=, Sauer- und Wassersto= setzte und den vorhin intensiven Unterschied nun näher zu dem Mehr oder Weniger des einen und des andern Sto=es, das wirksame und positive Verhältnis der äußern Reize aber als ein Zusetzen eines mangelnden Sto=es bestimmte. In einer Asthenie z. B., – einem Nervenfieber, habe im Organismus der Sticksto= die Oberhand, weil das Gehirn und der Nerv überhaupt der potenzierte Sticksto= sei, indem die chemische Analyse denselben als Hauptbestandteil dieser organischen Gebilde zeigt; die Hinzusetzung des Kohlensto=s sei hiemit indiziert, um das Gleichgewicht dieser Sto=e, die Gesundheit, wiederherzustellen. Die Mittel, welche sich gegen Nervenfieber empirischerweise wirksam gezeigt haben, werden aus eben diesem Grunde als auf die Seite des Kohlensto=s gehörig angesehen und ein solches oberflächliches Zusammenstellen und Meinen für Konstruktion und Beweisen ausgegeben. – (359 f.) Zwar hilft Sauersto= bei Atemnot, aber einfach ›mehr‹ Sauersto=, Kohlensto= oder Sticksto= hilft gar nicht. Es war damals reines Gerede, dass »das Gehirn und der Nerv überhaupt der potenzierte Sticksto= sei«. Das Rohe besteht darin, daß das äußere caput mortuum, der tote Sto=, in dem die Chemie ein erstorbenes Leben zum zweitenmal getötet hat, für das Wesen eines lebendigen Organs, ja für seinen Begri= genommen wird. (360) Die blumige Polemik sollte jetzt verständlich sein. Die Unkenntnis und Mißachtung des Begri=s begründet überhaupt den bequemen Formalismus, sinnliche Materialien wie die chemischen Sto=e, ferner Verhältnisse, die der Sphäre der unorganischen Natur angehören, wie die Nord- und Süd-Polarität des Magnetismus oder auch den Unterschied des Magnetismus selbst und der Elektrizität, statt der Begri=sbestimmungen zu gebrauchen 297 f . k 298 k 298 k
436 Dritte Abteilung: Organische Physik 360 und das natürliche Universum auf die Weise zu begreifen und zu entwickeln, daß auf seine Sphären und Unterschiede ein aus solchem Material fertig gemachtes Schema äußerlich angeheftet wird. Es ist hierüber eine große Mannigfaltigkeit von Formen möglich, da es beliebig bleibt, die Bestimmungen, wie sie in der chemischen Sphäre z. B. erscheinen, Sauersto=, Wassersto= usf. für das Schema anzunehmen und sie auf Magnetismus, Mechanismus, Vegetation, Animalität usf. überzutragen oder aber den Magnetismus, die Elektrizität, das Männliche und Weibliche, Kontraktion und Expansion usf. zu nehmen, überhaupt zu Gegensätzen jeder andern Sphäre zu greifen und sie dann in den übrigen zu verwenden. (360) Unkenntnis und Missachtung des Begri=s liegen vor, wenn man die Verfassung unserer Rede über Gegenstände auf der Grundlage von gemeinsamen Unterscheidungen und den Übergang zur Rede über idealabstrakte Unterschiede nicht angemessen versteht – samt der Anwendung von kanonisch gesetztem Allgemeinwissen auf Einzelnes und Besonderes. Das Problem besteht z. B. darin, chemischen Sto=en unmittelbar lebensfördernde Kräfte ohne Beachtung der Umstände zuzuschreiben. Es gibt auch Tendenzen der Überschätzung der damals erst ›neuerdings‹ erkannten Kräfte des Magnetismus und der Elektrizität – wie man an den Elektrisierapparaten in der Medizin sehen kann. Ihre Wirkung zu testen ist in Ordnung, nicht aber, eine solche ohne Test als bewährt zu behaupten. 298 298 § 360 Das Bedürfnis ist ein bestimmtes und seine Bestimmtheit ein Moment seines allgemeinen Begri=s, obschon auf unendlich mannigfaltige Weise partikularisiert. Der Trieb ist die Tätigkeit, den Mangel solcher Bestimmtheit, d. i. ihre Form, zunächst nur ein Subjektives zu sein, aufzuheben. (361) Bedürfnisse sind durch Bedingungen ihre Befriedigungen bestimmt. Diese lassen sich auf ›unendlich‹ viele Weisen erfüllen. Triebe führen z. B. als Folge eines gespürten Mangels zu bestimmten Formen suchender »Tätigkeit, den Mangel [. . . ] aufzuheben«. Indem der Inhalt der Bestimmtheit ursprünglich ist, in der Tätigkeit sich erhält und durch sie nur ausgeführt wird, ist er Zweck (§ 204), und der Trieb als nur im Lebendigen ist Instinkt. Jener
361 Der tierische Organismus 437 formelle Mangel ist die innere Erregung, deren dem Inhalte nach spezifische Bestimmtheit zugleich als eine Beziehung des Tieres auf die besondern Individualisierungen der Natursphären erscheint. (361) Der »Inhalt der Bestimmtheit« ist real je durch den gespürten Mangel oder das Begehren im Trieb gegenwärtig. Er leitet die Tätigkeit normalerweise bis zur Befriedigung direkt oder indirekt an. Als Inhalt ist er durch eine Unterscheidung und damit als Spielraum bestimmt: Was zu ihm gehört, ist nur dadurch bestimmt, was von ihm alles als das Andere ausgeschlossen ist. Der Inhalt ist di=erentielle Bedingung für eine typische Inferenz im Reden oder Tun. Das Tun selbst wiederum ist schon artgemäß zielgerichtet. Spricht man bei Tieren von einem Zweck ihres Tuns, meint man diese Zielgerichtetheit. Man nennt diese besondere Form der Triebverfolgung – teils rein analogisch, teils unmittelbar verdinglichend – Instinkt, als wäre sie von der Art eines Kuhstachels. Das Geheimnisvolle, das die Schwierigkeit, den Instinkt zu fassen, ausmachen soll, liegt allein darin, daß der Zweck nur als der innere Begri= aufgefaßt werden kann, daher bloß verständige Erklärungen und Verhältnisse sich dem Instinkte bald als unangemessen zeigen. Die gründliche Bestimmung, welche Aristoteles vom Lebendigen gefaßt hat, daß es als nach dem Zwecke wirkend zu betrachten sei, ist in neuern Zeiten beinahe verloren gewesen, bis Kant in der innern Zweckmäßigkeit, daß das Lebendige als Selbstzweck zu betrachten sei, auf seine Weise diesen Begri= wieder erweckte. (361) Der Begri= des Instinkts ist nicht leicht voll zu erfassen. Das liegt daran, dass wir hier den sogenannten Zweck nur als das ›innere‹ Ziel des Verhaltens selbst begreifen müssen. Aristoteles kommt dieser Analyse der Teleologie animalischen Lebens schon sehr nahe. Er identifiziert auch auf fast perfekte Weise die Seele des Tieres mit der aktualisierten Vollzugsform seines artgemäßen Lebens. Kant hat immerhin schon von innerer Zweckmäßigkeit gesprochen, aber die Spannung nicht gelöst, in welcher diese zu seiner Lehre steht, dass alles Geschehen der Erscheinungswelt dem Gesetz der zureichenden Ursache unterworfen sein soll. Außerdem unterscheidet Kant nicht ausreichend zwischen einem lebensforminternen Telos etwa im Benehmen von Tieren und einem expliziten Zweck wie im menschlichen Handeln. Damit bleibt auch seine spätere Erlaubnis, 298 f . k
438 299 k 299 k Dritte Abteilung: Organische Physik 361 bei Tieren und sogar im Blick auf die kosmische Geschichte und die menschliche Weltgeschichte im metaphorischen Modus eines Als-ob von impliziten Zwecken zu reden, noch völlig unbefriedigend. Dass Lebewesen als Selbstzweck zu betrachten seien, ist eine großartige Einsicht, steht aber bei Kant ebenfalls nur erst unerläutert da. Hegel sieht, dass sich hier alles daran zu messen hat, wie man mit dem Problem umgeht, was das Wort »selbst« jeweils bedeutet. Dazu ist entscheidend, wie das Für-sich-Sein und das Für-Anderes-Sein der Redegegenstände und der Bezugssachen, damit auch ihr logisch Inneres und ihre Äußerlichkeiten, ihre Identität bestimmt sind. Hegel ist daher, anders als Kant und erst recht anders als alle formalen Logiker, der große Analytiker der Begri=e des Selbst, des Gegenstandes, des Individuums und des Ich. Was vornehmlich die Schwierigkeit hierüber macht, ist, daß die Zweckbeziehung gewöhnlich als äußere vorgestellt wird und die Meinung obwaltet, als ob der Zweck nur auf bewußte Weise existiere. Der Instinkt ist die auf bewußtlose Weise wirkende Zwecktätigkeit. (361) Die Schwierigkeit des Verständnisses des teleologischen Verhaltens von Tieren besteht, wie schon angedeutet, darin, dass im gewöhnlichen Gebrauch des Wortes »Zweck« eine bewusste bzw. mehr oder weniger explizite Repräsentation seiner Erfüllungsbedingungen unterstellt wird. Außerhalb von Märchen können Tiere nicht leise mit sich redend an solche Möglichkeiten denken. Die Rede von einem Instinkt als artgemäßes Verhalten, angeleitet durch innere Triebe, löst das Problem bei angemessenem Verständnis so: Es gibt ohne Zweifel eine artgemäße Tätigkeit von Tieren, die auf bewusstlose oder besser nur erst proto-bewusste Weise eines sensitiven Gewahrseins mit perzeptiver Aufmerksamkeit in guten Fällen häufig genug zielführend wirkt. Das Bild vom Instinkt als innerem Kuhstachel ist also wie jede andere Rede von Motiven oder Bewegursachen in entsprechend vernünftiger Weise und d. h. nicht wörtlich zu lesen. § 361 Insofern das Bedürfnis ein Zusammenhang mit dem allgemeinen Mechanismus und den abstrakten Mächten der Natur ist, ist der Instinkt nur als innere, nicht einmal sympathetische Erregung (wie im Schlafen und Wachen, den klimatischen und andern Wanderun-
362 Der tierische Organismus 439 gen usf.). Aber als Verhältnis des Tiers zu seiner unorganischen, vereinzelten Natur ist er überhaupt bestimmt, und nach weiterer Partikularität ist nur ein beschränkter Umkreis der allgemeinen unorganischen Natur der seinige. Der Instinkt ist gegen sie ein praktisches Verhalten, innere Erregung mit dem Scheine einer äußerlichen Erregung verbunden, und seine Tätigkeit teils formelle, teils reelle Assimilation der unorganischen Natur. (361 f.) Durst, Hunger oder Atemnot als gespürte Bedürfnisse stehen klar im Zusammenhang mit dem Erhalt des Kreislaufes der für das Weiterleben des Lebewesens notwendigen physikochemischen Prozesse im Körper – auf der Basis dessen, was die unmittelbare Umwelt an Ressourcen bietet. Der Instinkt ist dabei in gewissem Sinn eine innere Erregung, wie schon beschrieben. Der Ausdruck »sympathetisch« ist veraltet und steht für die feste Abfolge von Schlafen und Wachen, den jahreszeitlich und klimatisch bedingten Vogelzug oder die Wanderungen von Herden usf. Der Instinkt ist, wie gesagt, durch das Ziel der Aufhebung eines (gespürten) Mangels bestimmt, antwortet aber nur durch ein unmittelbar praktisches Suchverhalten, das sogar zu einem Suchtverhalten werden kann. Manchmal zeigt sich uns die innere Erregung auch an einer äußeren Erregtheit, also im unruhigen Verhalten selbst. § 362 Insofern er [der Instinkt, PS] auf formelle Assimilation geht, bildet er seine Bestimmung in die Äußerlichkeiten ein, gibt ihnen als dem Material eine äußere dem Zwecke gemäße Form und läßt die Objektivität dieser Dinge bestehen (wie im Bauen von Nestern und andern Lagerstätten). Aber reeller Prozeß ist er, insofern er die unorganischen Dinge vereinzelt oder sich zu den bereits vereinzelten verhält und sie mit Verzehrung derselben, Vernichtung ihrer eigentümlichen Qualitäten, assimiliert; – der Prozeß mit der Luft (Atem- und Hautprozeß), mit dem Wasser (Durst) und mit der individualisierten Erde, nämlich besondern Gebilden derselben (Hunger). (362) In formeller Assimilation eignet sich ein Lebewesen etwas äußerlich an »wie im Bauen von Nestern«. In reeller Assimilation wird etwas ›verzehrt‹ oder anderweitig im Sto=wechsel innerlich angeeig- 299
440 299 f . 300 300 Dritte Abteilung: Organische Physik 362 net, wie die Luft beim Atmen, auch durch die Haut, das Wasser und die Nahrung. Das Leben, das Subjekt dieser Momente der Totalität, spannt sich in sich als Begri= und in die Momente als ihm äußerliche Realität und ist der fortdauernde Konflikt, in welchem es diese Äußerlichkeit überwindet. (362) Das Lebewesen als Ganzes im Lebensvollzug, nicht der bloß momentane Körper, ist das individuelle Subjekt der realen Tätigkeit. Deren allgemeine Form ist durch Gattung und Art im Unterschied zu anderen Formen bestimmt. Der »fortdauernde Konflikt«, der zu überwinden ist, liegt an der Endlichkeit des Selbstlaufs der physikochemischen Prozesse im Innern des Körpers. Er ist in tätiger Auseinandersetzung mit der Umwelt durch Zufuhr von ›Materie‹ (oder doch besser: Nährsto=en als ›Material‹) immer wieder neu zu lösen. Darüber hinaus gibt es ein inneres Tun, dessen partielle Selbststeuerung man nicht so leicht bemerkt, wie z. B. die Darmtätigkeit. Sie lässt sich durch äußere Bewegung anregen und ist durch gewisse Sto=e beeinflussbar. Katzen wie Löwen fressen z. B. gelegentlich Gras. Weil das Tier, das sich hier als unmittelbar Einzelnes verhält, dies nur im Einzelnen nach allen Bestimmungen der Einzelnheit (dieses Orts, dieser Zeit usf.) vermag, ist diese Realisierung seiner seinem Begri=e nicht angemessen, und es geht aus der Befriedigung fortdauernd in den Zustand des Bedürfnisses zurück. (362) Dass das einzelne Tun des einzelnen Tieres »seinem Begri=e nicht angemessen« sei, meint nur, dass es immer auch von Umwelt und ›Zufall‹ abhängt, ob die Suchtätigkeit zur Erfüllung des Bedürfnisses führt. § 363 Die mechanische Bemächtigung des äußern Objekts ist der Anfang; die Assimilation selbst ist das Umschlagen der Äußerlichkeit in die selbstische Einheit; da das Tier Subjekt, einfache Negativität, ist, kann diese Assimilation weder mechanischer noch chemischer Natur sein, da in diesen Prozessen sowohl die Sto=e als die Bedingungen und die Tätigkeit äußerliche gegeneinander bleiben und der lebendigen absoluten Einheit entbehren. (362 f.) Hegels Kommentar hebt nur die allgemeine Form der Bemächti-
Der tierische Organismus 441 gung äußerer Objekte und der Assimilation hervor. Aneignung scha=t »selbstische Einheit« in den weiteren Beziehungen eines Lebewesens zu dem Seinigen. – Dass das Tier Subjekt ist, besteht in der schon geschilderten ›einfachen Negativität‹. Gemeint ist die enaktive, also bloß erst tätige, aber schon gerichtete Unterscheidung des Seinigen und des anderen. Die Assimilation insgesamt ist kein rein mechanisch-chemischer Prozess, der ohne die ›lebendige absolute Einheit‹ des Lebensvollzugs des Lebewesens als Ganzes (samt seiner Herkunft und Vorgeschichte) überhaupt real ›funktionieren‹ könnte. Zwar gibt es langdauernde physikochemische Prozesse, von einem Waldbrand bis zu den Reaktionen in der Sonne. Aber schon der rudimentärste Sto=wechsel eines Organismus ist wegen dessen Eigenleistung von ganz anderem Typ als die prozessualen Relationen und relationalen Prozesse der Physik und Chemie. Für diese gibt es, wie wir sagen, keinen Unterschied zwischen entsprechenden Prozessen in lebenden Körpern und Prozessen außerhalb von Organismen. Das bedeutet, dass wir hier methodisch nicht unterscheiden dürfen, ohne schon die Physik und die Chemie in Richtung Biologie zu verlassen. Die methodische Ausgrenzung der Biologie aus der Chemie und Physik und ihr eigentümliches Methodenpotpourri orientieren sich an den besonderen Phänomenen des Lebens, die als Tatsachen vorausgesetzt sind. Es hilft daher keineswegs weiter, die Biologie verbal unter den Titel »Physik« zu stellen. Man hat dann nur das Wort wieder rein konventionell auf das Wissen über die ganze Natur ausgeweitet. Das Beispiel zeigt noch einmal, warum es naiv ist, Begri=e als willkürlich definierte Klassifikationen samt zugehöriger Benennungen anzusehen. Und doch liegt es an dieser falschen Ansicht, dass man Hegels Reden vom Begri= als Einheit von Sach- und Redebereich bis heute nicht versteht. Das gilt z. B. für den Begri= der reinen Quantitäten oder Zahlen in der Seinslogik, den Begri= des Staats und des Rechts in der Rechtsphilosophie oder für die Begri=e der physikochemischen Prozesse und dann auch des animalischen Lebens hier in der Naturphilosophie. Die Besonderheit der Biologie liegt also keineswegs nur an unserer rein organisatorischen Einteilung der Disziplinen. Die Forschungsmethodik und Begri=slogik der Darstellungen und Erklärungen der Dinge in den Themen- und Gegenstandsbereichen der Physik und Chemie reichen für die Biologie nicht aus, sondern
442 Dritte Abteilung: Organische Physik 363 sind, wie auch für die Medizin, nur notwendige Voraussetzungen. Daran zweifeln kann nur, wer nicht zwischen hinreichenden und notwendigen Bedingungen unterscheidet und damit den elementarsten und zugleich häufigsten Fehler im logischen Denken begeht. 300 § 364 Die Assimilation ist erstlich, weil das Lebendige die allgemeine Macht seiner äußerlichen, ihm entgegengesetzten Natur ist, das unmittelbare Zusammengehen des inwendig Aufgenommenen mit der Animalität; eine Infektion mit dieser und einfache Verwandlung (§ 345 Anm., 346). Zweitens als Vermittlung ist die Assimilation Verdauung ; – Entgegensetzung des Subjekts gegen das Äußere, und nach dem weitern Unterschiede als Prozeß des animalischen Wassers (des Magen- und pankreatischen Safts, animalischer Lymphe überhaupt) und des animalischen Feuers (der Galle, in welcher das Insichgekehrtsein des Organismus von seiner Konzentration aus, die es in der Milz hat, zum Fürsichsein und zur tätigen Verzehrung bestimmt ist); – Prozesse, die ebenso aber partikularisierte Infektionen sind. (363) Ein animalisches Lebewesen als Ganzes ›hat‹ und ›ist‹ eine gewisse allgemeine Macht über seine Bewegung in der (natürlichen) Welt und sogar über manches Geschehen im Körperinneren. Hegels Formulierungen dazu sind freilich nur erste Kanonisierungsvorschläge für allgemeine Formen, die fast allesamt nicht aufgegri=en worden sind. Das gilt z. B. für »das unmittelbare Zusammengehen des inwendig Aufgenommenen mit der Animalität« oder für die Rede von einer »Infektion«. Mit ihnen will er die »Assimilation« der Aneignung von Umwelt im Sto=wechsel erläutern. Die zeitgenössischen Veranschaulichungen durch Details über das animalische Wasser »des Magen- und pankreatischen Safts, animalischer Lymphe überhaupt« sind dabei gar nicht im Einzelnen relevant. Man kann auch das animalische Feuer »der Galle, in welcher das Insichgekehrtsein des Organismus von seiner Konzentration aus, die es in der Milz hat, zum Fürsichsein und zur tätigen Verzehrung bestimmt ist«, übergehen – wenn man nur bedenkt, dass es, wie besonders auch im Fall der Peristaltik des Magens und Darmes, Beispiele für den ›eigenen‹ Beitrag des Lebewesens zur Aufrechterhaltung des Lebens-
Der tierische Organismus 443 prozesses sind: Diese bestehen, das ist ein zentraler Punkt, praktisch immer nur in Bewegungen, die von Muskeln getätigt werden. Es ist eben daher die übliche Rede davon, dass ›der Körper selbst‹ z. B. Hormone und Enzyme bilde oder dass Magen und Darm die Nahrung ›verdauen‹, auf genau die gleiche Weise eine holistischgenerische Redeform, wie wenn wir sagen, dass unser Geist denkt. Ungeduldige Leser übersehen, dass Hegel immer auch erläutert, was das jeweils bedeutet – und machen ihn in ihrer Ungeduld oder mangels eigenen Mitdenkens zu einem naiven Metaphysiker. Magen und Darm können nichts Anderes tun, als sich zu bewegen. Das allein reicht keineswegs aus, um Nahrung zu verdauen. Andererseits sind es nur diese Bewegungen, mit denen das Lebewesen selbst auf die ansonsten von selbst ablaufenden chemischen und biotischen Prozesse während der Verdauung Einfluss nehmen kann. Es bedarf eines geeigneten Verständnisses unserer Ausdrucksformen und dabei besonders des Wortes »selbst«. Nicht anders steht es mit dem logischen Aberglauben, das Hirn könne rein für sich denken. Diese einwandfreien Analyseleistungen Hegels sind bis heute noch nicht als kanonisches Wissen erkannt. Der bloß scheinbar mystische, in Wahrheit nur holistische Satz, dass ich als Seele empfinde und als Geist denke, ist dennoch schon weit wissenschaftlicher als die nur vermeintlich genaueren Ausdrucksformen heutiger ›Neurophilosophie‹. Das wissenschaftliche Grundproblem jeder Neurophysiologie und Neuropsychologie besteht nach wie vor in einer strengen Abgrenzung wissenschaftlicher Allgemeinaussagen und Vermutungen von einer bloßen spekulativen Metaphysik des Gehirns als bloß erst verbaler Umformung einer klassischen Metaphysik des Geistes. Wie schon die Ersetzung des Wortes »Gott« durch »Natur« bei Hobbes und Spinoza hilft die bloße Ersetzung von »Geist« durch »Gehirn« oder von »Seele« durch »Leib« nicht wirklich weiter. Da Hegel eben das als einer unter wenigen Philosophen und Wissenschaftlern sieht, bleibt seine Philosophie der Natur und des Geistes für eine wirklich aufgeklärte Neurowissenschaft, kognitive Physiologie und kognitive Psychologie, damit natürlich auch für jede Philosophie des Geistes, weit relevanter, als die üblichen Theorien der Kognition das auch nur ahnen.
444 300 f . 301 301 k Dritte Abteilung: Organische Physik 363 § 365 Dieses Einlassen mit dem Äußern, die Erregung und der Prozeß selbst, hat aber gegen die Allgemeinheit und einfache Beziehung des Lebendigen auf sich gleichfalls die Bestimmung der Äußerlichkeit; dies Einlassen selbst macht also eigentlich das Objekt und das Negative gegen die Subjektivität des Organismus aus, das er zu überwinden und zu verdauen hat. (363) Hegel Sprache ist jedoch allzu blumig, auch wenn es wahr ist, dass sich Lebewesen auf die äußere Umgebung einlassen müssen, da sie nur begrenzte Ressourcen zur Aufrechterhaltung ihres Lebensprozesses schon ›inkorporiert‹ haben – und auch dann noch ihr Leben und ihr Seiniges, wie ich mich ausdrücken möchte, gegen äußere Gefährdungen schützen müssen. Alle Aktualisierungen allgemeiner Schemata der Artform, auch die »einfache Beziehung des Lebendigen auf sich« im eigenen Verhalten sind dem Lebewesen selbst als Ganzes immer auch ein äußeres Geschehen. Sie werden ggf. wenigstens partiell tätig verändert – so wie die Verdauung nicht nur chemischer Prozess ist, gerade wegen der Bewegungen von Magen und Darm. Diese Verkehrung der Ansicht ist das Prinzip der Reflexion des Organismus in sich; die Rückkehr in sich ist die Negation seiner nach außen gerichteten Tätigkeit. Sie hat die doppelte Bestimmung, daß er seine mit der Äußerlichkeit des Objekts in Konflikt gesetzte Tätigkeit von sich einerseits exzerniert, andererseits, als unmittelbar identisch mit dieser Tätigkeit für sich geworden, in diesem Mittel sich reproduziert hat. Der nach außen gehende Prozeß wird so in den ersten formellen der einfachen Reproduktion aus sich selbst, in das Zusammenschließen seiner mit sich, verwandelt. (363 f.) Eine gewisse Selbststeuerung und »Reflexion des Organismus in sich« des animalischen Wesens in Re-Aktion auf gespürte ›Probleme‹ lässt sich auf keine Weise bezweifeln. Viele sind so, dass wir sie gar nicht bemerken, etwa dann, wenn in der Verdauung Unzuträgliches sozusagen schnell durchgeschleust wird. Von analoger Art ist der Appetit auf wichtige Nährsto=e. Das Hauptmoment in der Verdauung ist die unmittelbare Wirkung des Lebens, als der Macht über sein unorganisches Objekt, das es sich nur insofern als seinen erregenden Reiz voraussetzt, als
364 Der tierische Organismus 445 es an sich identisch mit ihm, aber zugleich dessen Idealität und Fürsichsein ist. (364) Details des Sto=wechsels sind für die Betrachtung der Grundform des Lebenserhalts nicht relevant. Zur Form aber gehört die unmittelbare Wirkung in den (biologischen und) chemischen Reaktionen des Lebensprozesses und die relative Macht des Gesamtlebewesens, das auf diesen Prozess zumindest partiell Einfluss nimmt, und zwar nicht nur durch aktive Aufnahme von Nahrung, Flüssigkeit und Luft bzw. Sauersto=. Hegels dichte Formulierung sagt, dass für den Organismus als tätiges Subjekt die nötigen Sto=e nur insofern Objekte sind, als sie einen »erregenden Reiz« aktualisieren. Die schwierige Rede von dieser ›Voraussetzung‹ der eigenen Re-Aktion besagt natürlich, dass nicht das Objekt, sondern der von ihm ›verursachte‹ oder besser: mit einer solchen ›Ursache‹ vom Organismus artgemäß verbundene Reiz die Aktion ermöglicht und mitsteuert. Hier von einem ›Verursachen‹ zu reden, wäre schon viel zu viel gesagt. Dispositive Tendenzen oder Neigungen sind noch längst keine zureichenden Ursachen für die Aktionen bzw. Bewegungen des Gesamtorganismus. Daher sollte man hier auch mit dem Wort »Reaktion« ganz vorsichtig umgehen. Denn ›an sich‹ sind Reize ›nur‹ Momente des organischen Lebens. Die sie manchmal veranlassenden inneren oder äußeren Objekte, Ereignisse oder Prozesse sind dabei selbst nur Momente. Das zeigt sich phänomenologisch daran, dass es die Empfindungen auch schon mal ohne die Objekte gibt, so wie einen Phantomschmerz in einem nicht mehr vorhandenen Körperteil. Es ist unmöglich, das nicht anzuerkennen. In diesem Sinn ist die Ablehnung des hegelschen Idealismus des Lebens nicht sinnvoll möglich. Denn er ist identisch mit der Einsicht in die Absolutheit des subjektiven Vollzugs des Lebens je hier und jetzt. Das nicht anzuerkennen, ist nicht ohne einen inneren Widerspruch schon auf der Ebene des Verstandes möglich. Die kurze Phrase zu »Idealität und Fürsichsein« besagt eben dieses. Diese Wirkung ist Infektion und unmittelbare Verwandlung; ihr entspricht die in der Exposition der Zwecktätigkeit aufgezeigte unmittelbare Bemächtigung des Objekts (§ 208). – (364) Hegels Wort »Infektion« ist, wie gesagt, in diesem Gebrauch veraltet. Es steht hier nur als Titel für einen vom Organismus selbst 301 k
446 301 k 301 k 301 f . k Dritte Abteilung: Organische Physik 364 mitgesteuerten zielgerichteten Suchprozess, der mit einer Art Befriedigung endet. Hegels Rede von einer unmittelbaren Bemächtigung des Objekts betont etwas zu stark das Aktive der Organismen und Lebewesen, die ja als solche keine chemischen oder biologischen Prozesse in ihrem Innern ›machen‹, sondern nur ermöglichen und ggf. befördern können. Spallanzanis und anderer Versuche und die neuere Physiologie haben diese Unmittelbarkeit, mit der das Lebendige als allgemeines, ohne weitere Vermittlung, durch seine bloße Berührung und durch Aufnehmen des Nahrungsmittels in seine Wärme und Sphäre überhaupt, sich in dasselbe kontinuiert, auch empirisch erwiesen und dem Begri=e gemäß aufgezeigt, – gegen die Vorstellung eines bloß mechanischen, erdichteten Aus- und Absonderns schon fertiger, brauchbarer Teile, sowie eines chemischen Prozesses. (364) Nicht nur E. T. A. Ho=mann, auch Hegel war von den damals schon nicht mehr ganz neuen Erkenntnissen Lazzaro Spallanzanis zur Physiologie und Biologie höchst beeindruckt. – Interessant ist die Betonung der Unmittelbarkeit der biologisch-chemischen Prozesse der Verdauung von Nahrung »durch seine bloße Berührung« mit dem Speichel und den ›Säften‹ des Magens und Darmes. Denn sie bestätigt meine Lesart. Das gilt auch für die Kritik an der »Vorstellung eines bloß mechanischen, erdichteten Aus- und Absonderns schon fertiger, brauchbarer Teile«. So etwas gibt es in der Tat nicht. Bei der Atmung spielen freilich auch physikalische Trennungen eine gewisse Rolle. Hegel geht es hier also um eine genaue Betrachtung und um die Anerkennung der Besonderheit der biotischen und chemischen Prozesse der Verdauung und des Sto=wechsels insgesamt. Die Untersuchungen der vermittelnden Aktionen aber haben bestimmtere Momente dieser Verwandlung (wie sich z. B. bei vegetabilischen Sto=en eine Reihe von Gärungen darstellt) nicht ergeben. (364) Der Bericht zu den ›Gärungen‹ ist sachlich nur insofern richtig, als Pilze, anders als Bakterien, für das animalische Leben keine entscheidende positive Rolle spielen. Daher ist der Einsatz von Fungiziden als Medikamenten ganz anders zu behandeln und zu bewerten als der antibakterieller Antibiotika. Für uns sind diese Details aber nicht weiter wichtig. Es ist im Gegenteil z. B. gezeigt worden, daß schon vom Magen
364 f. Der tierische Organismus 447 aus vieles in die Masse der Säfte übergeht, ohne die übrigen Stufen der Vermittlung durchzugehen zu haben, daß der pankreatische Saft weiter nichts als Speichel ist und die Pankreas wohl entbehrt werden könne, usf. Das letzte Produkt, der Chylus, den der Brustgang aufnimmt und ins Blut ergießt, ist dieselbe Lymphe, welche von jedem einzelnen Eingeweide und Organe exzerniert, von der Haut und dem lymphatischen Systeme im unmittelbaren Prozesse der Verwandlung allenthalben gewonnen wird und die allenthalben schon bereitet ist. Die niedrigen Tierorganisationen, die ohnehin nichts als eine zum häutigen Punkte oder Röhrchen – einem einfachen Darmkanal – geronnene Lymphe sind, gehen nicht über diese unmittelbare Verwandlung hinaus. (364) Die partielle Unkenntnis der Bedeutung der Pankreas (Bauchspeicheldrüse) ist zeitbedingt und für unsere Sache irrelevant. Der vermittelte Verdauungs-Prozeß, in den höhern Tierorganisationen, ist in Rücksicht auf sein eigentümliches Produkt ein ebensolcher Überfluß, als bei Pflanzen ihre durch sogenannte GeschlechtsDi=erenz vermittelte Samen-Erzeugung. – Die Faeces zeigen, besonders bei Kindern, bei denen die Vermehrung der Materie doch am meisten hervorsticht, häufig den größten Teil der Nahrungsmittel unverändert, vornehmlich mit tierischen Sto=en, der Galle, Phosphor und dergleichen vermischt, und als die Hauptwirkung des Organismus, diese seine eigenen Produktionen zu überwinden und wegzuscha=en. – (364 f.) Wie weit der Verdauungsprozess eine Art luxuriösen Überschuss an nicht absolut Notwendigem leistet, so wie die schon angesprochene durch eine »Geschlechts-Di=erenz vermittelte Samen-Erzeugung« bei Pflanzen, interessiert im Detail nicht weiter, auch wenn die Ursache dafür, dass scheinbar nur wenig an der aufgenommenen Nahrung verwertet wird, wohl gerade in der Grobsteuerung der Reaktionen auf nicht Verwertbares oder Unzuträgliches liegt. Auch die Rollen von »Galle, Phosphor und dergleichen« werden nur zeitbedingt geschildert. Der Schluß des Organismus ist darum nicht der Schluß der äußern Zweckmäßigkeit, weil er nicht dabei stehen bleibt, seine Tätigkeit und Form gegen das äußere Objekt zu richten, sondern diesen 302 k 302 k
448 302 k Dritte Abteilung: Organische Physik 365 Prozeß, der wegen seiner Äußerlichkeit auf dem Sprunge steht, mechanisch und chemisch zu werden, selbst zum Objekt macht. (365) Uns heutige Leser irritiert die Rede von einem Schluss des Organismus. Man denkt, Hegel meine, dieser würde irgendwie ›begri=lich schließen‹. Es geht aber gerade im Gegenteil um Folgendes: Ein nur erst teleologisches, zielförderndes Verhalten eines Organismus oder Tieres kann und muss nicht schon den Zweck qua Inhalt oder Typ repräsentativ wie im stillen Sprechen oder Denken vorwegnehmen. Es ist sogar umgekehrt. Ohne teleologisches, zielförderndes Verhalten, ohne animalische Befriedigungen und Unbefriedigtheitsgefühle gibt es keine menschlichen Zwecke, aber auch nicht ohne ihre symbolischen Repräsentationen und ohne Urteile über richtige Erfüllungen. Wie aber ist der enaktiv-praktische ›Schluss‹ der Autopoiesis eines Lebewesens zu begreifen? Zunächst ist dazu die äußere Zielgerichtetheit des Bewegungsverhaltens des Tieres von der Zielgerichtetheit innerer Prozesse im Körper oder Leib zu unterscheiden. Dies Verhalten ist als die zweite Prämisse im allgemeinen Schlusse der Zwecktätigkeit exponiert worden (§ 209). – (365) Wie das teleologische Verhalten von Tieren ohne explizite Repräsentationen von Inhalten als den Erfüllungsbedingungen zu verstehen ist, hat Hegel im § 209 der ›kleinen‹ Begri=slogik kurz zusammengefasst, auf den er hier verweist. Dort spricht er berühmterweise, aber ebenso metaphorisch wie ironisch, von einer List der Vernunft auch bei Lebewesen, die weder Verstand noch Vernunft haben, da sie keine Möglichkeiten repräsentierende Sprache besitzen. Diese List der Vernunft besteht im Fall eines Organismus und erst recht im entwickelten animalischen Leben darin, dass das Lebewesen physikalische, chemische und, wie wir heute unbedingt hinzufügen müssen, auch biotische bzw. bakteriologische Normalprozesse, die von selbst ablaufen, sozusagen in seinen Dienst nimmt, gerade auch im Sto=wechsel. Das geschieht im Vollzug von Verhaltensformen, wobei das Einzelwesen E nur subjektives Agens des Vollzugs ist in der besonderen Aktualisierung B der ihm vorgegebenen allgemeinen Form A. Diese Form A aber entstammt der Entwicklung von Gattung, Art und Artform. In diesem Sinn ist das Allgemeine A die vermittelnde Mitte des tätigen Zusammenschlusses von E und B im konkreten Tun B von E . Die ›Artform‹ A ist also sozusagen für die ›Zweckmäßigkeit‹ (oder
365 Der tierische Organismus 449 besser: für das an sich Zielführende) der Tätigkeit B etwa eines Tieres ›verantwortlich‹, nicht E , also nicht das bloße einzelne Wesen für sich. Denn es bedarf der Vermittlung durch einen artbedingten Instinkt, Trieb und dann auch durch ein arttypisches Spüren von Mangel oder Befriedigung, ohne Vorwegnahme des Ziels durch E hier und jetzt. Damit kann Hegel weit mehr und Genaueres zur wirklichen Teleologie in der lebendigen Natur der Flora und Fauna sagen als Kant. Es wird so auch klar, dass das Zweckdenken von uns Menschen die animalische Teleologie voraussetzt. Ohne sie wäre es gar nicht möglich. Das ist eine ganz gegenläufige Einsicht zur üblichen Auffassung, nach welcher wir bei Tieren anthropomorph so reden, als ob sie Ziele oder gar schon bestimmbare Zwecke verfolgten, in bloßer anthropomorpher Analogie dazu, was wir als Personen im geplanten Handeln tun. Der Organismus ist ein Zusammengehen seiner mit sich selbst in seinem äußern Prozeß; er nimmt und gewinnt aus ihm nichts als den Chylus, jene seine allgemeine Animalisation, und ist so als fürsichseiender lebendiger Begri= ebensosehr disjunktive Tätigkeit, welche diesen Prozeß von sich wegscha=t, von seinem Zorne gegen das Objekt, dieser einseitigen Subjektivität abstrahiert und dadurch das für sich wird, was er an sich ist, – subjektive, nicht neutrale, Identität seines Begri=s und seiner Realität, – so das Ende und Produkt seiner Tätigkeit als das findet, was er schon von Anfang und ursprünglich ist. (365) Hegels traditionelle Rede über die Rolle von Lymphe oder Chylus übergehe ich hier. Sie trägt nichts Wesentliches zur allgemeinen Sache bei. Diese aber besteht, ich wiederhole dies, darin, dass ein Lebewesen L »fürsichseiender lebendiger Begri=« ist, was übersetzt heißt, dass es sich auf sich selbst als Einzelwesen in seiner Aktualisierung der artbestimmten Lebensform sowohl teleologisch als auch autopoietisch in der beschriebenen Form bezieht. Sein Fürsichsein besteht aus allen prozessualen Relationen R zwischen Teilen oder Momenten a, b, c von L, die alle ganz L vertreten können. Die blumige Rede von einer ›disjunktiven Tätigkeit‹ des Lebewesens und von »seinem Zorne gegen das Objekt« meint nur seine enaktive Unterscheidung zwischen Zuträglichem und Unzuträglichem. Nur indem ein Lebewesen L so für sich wird, was es seiner Art A nach an 302 k
450 302 k 302 Dritte Abteilung: Organische Physik 365 sich ist, aktualisiert es die Lebensform von A und ›überwindet‹ so die ›bloße‹ Subjektivität seiner nur erst vereinzelten Realität. Pindars ›Werden, was man der Art nach ist‹, beginnt damit schon beim Lebewesen und führt im geistigen Leben zum Motto, durch Lernen eine Person an und für sich zu werden, wie ich sie der Art nach immer schon an sich bin.45 Hiedurch ist die Befriedigung vernünftig ; der in die äußere Di=erenz gehende Prozeß schlägt in den Prozeß des Organismus mit sich selbst um, und das Resultat ist nicht die bloße Hervorbringung eines Mittels, sondern des Zwecks, Zusammenschließen mit sich. (365) Als empfindende Selbstkontrolle von Erfüllungen, wie sie ein gutes Leben der Art bestimmen, sind Befriedigungen als Gefühle sozusagen intrinsisch vernünftig. Freilich geht es hier nur erst um eine ProtoVernunft der autopoietischen Realisierung der Artform im Leben des Lebewesens. § 366 Durch den Prozeß mit der äußern Natur gibt das Tier der Gewißheit seiner selbst, seinem subjektiven Begri=, die Wahrheit, Objektivität, als einzelnes Individuum. Diese Produktion seiner ist so Selbsterhaltung oder Reproduktion, aber ferner an sich ist die Subjektivität, Produkt geworden, zugleich als unmittelbare aufgehoben; der Begri=, so mit sich selbst zusammengegangen, ist bestimmt als konkretes Allgemeines, Gattung, die in Verhältnis und Prozeß mit der Einzelnheit der Subjektivität tritt. (365 f.) Hegel spricht hier nicht von einer immateriellen Seele, die sich irgendwie in die Niederungen der realen Auseinandersetzung mit der Welt begibt. Diese Lesart wäre ganz unsinnig. Allerdings drückt er den Prozess der Manifestation der Artform im Leben des Individuums leicht verquer aus. Die Autopoiesis, die bei Hegel sinngleich Produktion seiner selbst heißt, »ist so Selbsterhaltung oder Reproduktion«. Reproduziert wird die Form der (Selbst-)Entwicklung des Lebens nach den Rahmenbedingungen der Art. Im einzelnen Vollzug hat oder ist das Lebewesen (an sich, aber 45 Ich beziehe mich dabei auf Pindars berühmten Spruch in der zweiten Pythischen Ode: »Werde durch Lernen, der du bist«.
366 Der tierische Organismus 451 auch für sich) Subjektivität. Als lebender Körper oder Leib ist es gewordenes Produkt. Der Begri= als Artform geht »so mit sich selbst« zusammen, nämlich in L »als konkretes Allgemeines«. Hegel selbst spricht von Gattung, genos, nicht von Art und Artform bzw. Begri=, eidos – aber ohne nur eine Menge von einzelnen Gegenständen (Elementen, Exemplaren) zu meinen. Vielmehr benutzt er das Wort hier im Kontext des Gattungsprozesses der Zeugung und Erzeugung von Nachkommen mit Arterhalt – im Unterschied zum Selbsterhalt bzw. zur Selbstentwicklung von Einzellebewesen. c. Gattungs-Prozeß § 367 Die Gattung ist in ansichseiender einfacher Einheit mit der Einzelnheit des Subjekts, dessen konkrete Substanz sie ist. (366) An sich besteht die Art qua nachhaltig bleibende Gattung aus den Exemplaren. In deren individuellem Lebensvollzug allein manifestiert sich die Artform der Gattung. Hier ist »Gattung« also nicht Oberbegri= zu »Art«. Aber das Allgemeine ist Urteil, um aus dieser seiner Diremtion an ihm selbst für sich seiende Einheit zu werden, um als subjektive Allgemeinheit sich in Existenz zu setzen. (366) Das generisch Allgemeine des genos ist eine sich von anderen Artformen im Leben unterscheidende Vollzugsform der Entwicklung des Einzellebens und der Reproduktion der Art oder Gattung. Bei Hegel steht dafür idiosynkratisch »Urteil«. Dieser Prozeß ihres sich mit sich selbst Zusammenschließens enthält wie die Negation der nur innerlichen Allgemeinheit der Gattung, so die Negation der nur unmittelbaren Einzelnheit, in welcher das Lebendige als noch natürliches ist; die im vorhergehenden Prozesse (vorherg. §) aufgezeigte Negation derselben ist nur die erste, nur die unmittelbare. (366) Die Rede vom nur erst Innerlichen der (je ererbten) Artform ist zunächst logische Metapher. Man muss ganz vorsichtig sein und darf diese nicht mit der Hardware der DNA oder den Genen als einem verdinglichten ›Innen‹ identifizieren, auch wenn diese in der Tat wesentliche Vermittlungen der Schemata des Verhaltens der Lebewesen 303 303 303
452 303 Dritte Abteilung: Organische Physik 366 darstellen. Hegel besteht mit Recht darauf, dass diese Schemata nur erst den allgemeinen Rahmen der generischen Formen des Verhaltens der Einzelwesen determinieren – mit erheblichen Freiheitsspielräumen in den immer auch partiell akzidentellen Aktualisierungen. Es ist also die »Allgemeinheit der Gattung« angemessen zu begreifen im Unterschied zur »nur unmittelbaren Einzelheit« ihrer Instanziierungen. Dass dabei »das Lebendige als noch natürliches ist«, ist ein etwas unglücklicher Gebrauch der Wörter »noch« und »natürlich«. Denn das Lebewesen ist und bleibt immer etwas Natürliches, auch der Mensch als geistiges Individuum. Anders gesagt, Hegels impliziter Übergang zur Person oder sein Vorblick auf die Person geht hier etwas zu schnell vor, und er geht ohne die nötige Ankündigung vonstatten. In diesem Prozesse der Gattung geht das nur Lebendige nur unter, denn es tritt als solches nicht über die Natürlichkeit hinaus. Die Momente des Prozesses der Gattung aber, da sie das noch nicht subjektive Allgemeine, noch nicht Ein Subjekt, zur Grundlage haben, fallen auseinander und existieren als mehrere besondere Prozesse, welche in Weisen des Todes des Lebendigen ausgehen. (366) Der Prozess der Gattung des animalischen Lebens ist generell so, dass die Individuen nur eine bestimmte Zeit ihr Leben erhalten, es aber ggf. an Nachkommen weitergeben können. Das ist eine materialbegri=liche Wahrheit für animalische Individuen, Arten und den Gattungsprozess der Vererbung von Leben und Artform. Maulesel oder Liger als Kreuzung von Löwe und Tiger bilden dabei z. B. keine sich reproduzierende Art. α) Die Gattung und die Arten 303 § 368 In ihrer ansichseienden Allgemeinheit besondert sich die Gattung zunächst in Arten überhaupt. Die unterschiedenen Gebilde und Ordnungen der Tiere haben den allgemeinen, durch den Begri= bestimmten Typus des Tiers zum Grunde liegen, welchen die Natur teils in den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung von der einfachsten Organisation an bis zu der vollendetsten, in welcher sie Werkzeug des Geistes ist, teils unter den verschiedenen Umständen und Bedingungen der elementarischen Natur darstellt. (367)
367 Der tierische Organismus 453 Jetzt unterscheidet auch Hegel Gattungen und Arten als Ordnungen von Lebewesen bzw. Tieren. Statt über die Artformen spricht er über Gebilde und Typen. Und er spricht von verschiedenen Stufen der Entwicklung »von der einfachsten Organisation an bis zu der vollendetsten«. Dabei sind alle Tiere unmittelbar zu Gott. Diese ›plurale‹ Haltung stellt sich zunächst aber nur verbal gegen die Vorstellung von einer Hierarchie der Tierarten und gegen eine Fortschrittsgeschichte der Entwicklung irdischen Lebens. Sie ist darin modern. Sie betrachtet die Welt rein von der Seite her, also sub specie aeternitatis, eben damit aus dem ›Blick‹ eines Gottes, und ist eben daher nur erst archaisch. Im Verhalten und im Werten machen wir immer schon Unterschiede etwa zwischen Insekten, Reptilien, Vögeln und Säugetieren. Hegels halbreligiöses Bild von der Entwicklung der Tierwelt als einem »Werkzeug des Geistes« passt uns heute nicht mehr. Wir sind dafür zu modern, denken also zu archaisch. Dabei ist das Bild o=enbar nicht wörtlich gemeint. Für Hegel ist ebenso klar wie später ho=entlich für die Leser von Charles Darwin, dass es für die Entwicklung von Pflanze, Tier und Mensch kein göttliches Design gibt, sondern in der Tat viel von einem kontingenten Zufall abhängt. Und es gibt zielgerichtetes Verhalten, also eine reale Teleologie, nur im Leben von Einzelwesen, nicht auf der allgemeinen Ebene der Entstehung von Arten und ihren Lebensformen, auch wenn es gerade die Art ist, die das Teleologische im Verhalten der Einzelwesen zunächst bestimmt. Man verdinglicht diese Einsicht in metaphysischer Weise, wenn man sie als reine Mechanik der Steuerung des Verhaltens durch Gene darstellt. Zur Einzelnheit fortgebildet, ist die Art des Tieres sich an und durch sich selbst von den andern unterscheidend und durch die Negation derselben für sich. So in feindlichem Verhalten andere zur unorganischen Natur herabsetzend, ist der gewaltsame Tod das natürliche Schicksal der Individuen. (367) Dass der »Tod das natürliche Schicksal der Individuen« ist, ist Grundtatsache. Hegels scheinbare ›Begründung‹ durch das Wort »so«, das hier nur eine Art und Weise meint, also weder einen Grund noch eine Ursache ausdrückt, zeigt nur einmal mehr, dass seine Ausdrucksformen immer auch etwas unbeholfen sind: Es sind wichtige Fehllektüren nicht ausreichend deutlich ausgeschlossen. D. h., Hegel 303
454 304 k 304 k 304 Dritte Abteilung: Organische Physik 367 f. erwartet zu viel an Vorwissen, Umsicht und Nachsicht von seinen Lesern. Dass er, wie auch ich, viel voraussetzt, liegt aber auch an der Sache. Das ist kaum vermeidbar, zumal noch längere Texte erst recht dazu führen, dass man den Überblick verliert. Es ist in der Zoologie, wie in den Naturwissenschaften überhaupt, mehr darum zu tun gewesen, für das subjektive Erkennen sichere und einfache Merkmale der Klassen, Ordnungen usf. aufzufinden. (367 f.) Zunächst war gerade die Zoologie wesentlich Taxonomie. Sie fokussierte sozusagen auf brauchbare Bestimmungsbücher. Dazu nennt sie unmittelbar unterscheidende Merkmale, zusammen mit Verhaltenstypiken. Erst seitdem man diesen Zweck sogenannter künstlicher Systeme bei der Erkenntnis der Tiere mehr aus den Augen gesetzt hat, hat sich eine größere Ansicht erö=net, welche auf die objektive Natur der Gebilde selbst geht; unter den empirischen Wissenschaften ist schwerlich eine, welche in neuern Zeiten so große Erweiterungen, nicht vorzugsweise in der Masse von Beobachtungen, denn daran hat es in keiner Wissenschaft gefehlt, sondern nach der Seite erlangt hat, daß ihr Material sich gegen den Begri= hingearbeitet hat, als die Zoologie durch ihre Hülfswissenschaft, die vergleichende Anatomie. (368) Die Objektivierungen der Darstellungen und Erklärungen der Biologie verlangen eine systematische Abstraktion von unseren unmittelbar subjektiven oder interessierten Zugängen zu Pflanzen und Tieren. Nur so kommen wir ihrer objektiven Natur näher. Dabei lobt Hegel die enormen Leistungen der Botanik und Zoologie von Linné bis Bu=on und Cuvier, um es kurz so zu sagen. Wie die sinnige Naturbetrachtung (der französischen Naturforscher vornehmlich) die Einteilung der Pflanzen in Monokotyledonen und Dikotyledonen, ebenso hat sie den schlagenden Unterschied aufgenommen, den in der Tierwelt die Abwesenheit oder das Dasein der Rückenwirbel macht; die Grundeinteilung der Tiere ist auf diese Weise zu derjenigen im wesentlichen zurückgeführt worden, welche schon Aristoteles gesehen hat. – (368) Schon die Unterscheidung der einkeimblättrigen Pflanzen und dann z. B. die Ordnung der Wirbeltiere im Unterschied zu den wirbellosen Tieren bzw. der Säugetiere waren wichtige Leistungen der
368 Der tierische Organismus 455 Botanik und Zoologie. Sie schließen insgesamt zwar an Theophrast und Aristoteles an, führen dann aber weit über deren Wissen hinaus. Näher ist alsdann teils an den einzelnen Gebilden der Habitus, als ein die Konstruktion aller Teile bestimmender Zusammenhang, zur Hauptsache gemacht worden, so daß der große Stifter der vergleichenden Anatomie, Cuvier, sich rühmen konnte, aus einem einzelnen Knochen die wesentliche Natur des ganzen Tieres erkennen zu können. Teils ist der allgemeine Typus des Tiers durch die verschiedenen, noch so unvollkommen und disparat erscheinenden Gebilde verfolgt und in der kaum beginnenden Andeutung, so wie in der Vermischung der Organe und Funktionen, ihre Bedeutung erkannt und eben dadurch über und aus der Besonderheit in seine Allgemeinheit erhoben worden. – (368) Als besonders interessant für die später in eine Evolutionstheorie eingebettete Entwicklungsbiologie wertet Hegel Cuviers Einsichten in den Zusammenhang von Anatomie und Verhaltensbiologie. Diese wird zur Ethologie als Verbindung von Habitus und Habitat (Umwelt) der Lebewesen. Eine Hauptseite dieser Betrachtung ist die Erkenntnis, wie die Natur diesen Organismus an das besondere Element, in das sie ihn wirft, an Klima, Kreis der Ernährung, überhaupt an die Welt, in der er aufgeht (die auch eine einzelne Pflanzen- oder andere Tiergattung sein kann), anbildet und anschmiegt. Aber für die spezielle Bestimmung ist ein richtiger Instinkt darauf gefallen, die Unterscheidungsbestimmungen auch aus den Zähnen, Klauen und dergleichen, – aus den Wa=en zu nehmen, denn sie sind es, wodurch das Tier selbst sich gegen die andern als ein Fürsichseiendes setzt und erhält, d. i. sich selbst unterscheidet. (368) Details interessieren nicht, wohl aber Hegels allgemeine Begeisterung für den Fortschritt der biologischen Wissenschaften. In ihnen gelingt es damals schon überzeugend, aufgrund von naturwissenschaftlichem Allgemeinwissen aus »Zähnen, Klauen und dergleichen« die Größe und andere Aspekte der Gesamtgestalt ausgestorbener Tiere, sogar Teile ihres Verhaltens zu rekonstruieren. Hegel betont, dass Fresswerkzeuge und Wa=en ganz typisch zum objektiven Fürsichsein der Tiere gehören. Außerdem interessiert er sich für Angepasstheiten »an Klima, Kreis der Ernährung, überhaupt an die Welt«. 304 k 304 k
456 304 k 305 k Dritte Abteilung: Organische Physik 368 Die Unmittelbarkeit der Idee des Lebens ist es, daß der Begri= nicht als solcher im Leben existiert, sein Dasein daher sich den vielfachen Bedingungen und Umständen der äußern Natur unterwirft und in den ärmlichsten Formen erscheinen kann; die Fruchtbarkeit der Erde läßt Leben allenthalben und auf alle Weisen ausschlagen. (368) Die Unmittelbarkeit der Idee des Lebens besteht im je aktualen Vollzug. Dieser ist abhängig von »vielfachen Bedingungen und Umständen«. Der Begri= qua Artform zeigt sich dagegen zunächst je nur exemplarisch. Die Tierwelt kann fast noch weniger als die andern Sphären der Natur ein in sich unabhängiges vernünftiges System von Organisation darstellen, an den Formen, die durch den Begri= bestimmt wären, festhalten und sie gegen die Unvollkommenheit und Vermischung der Bedingungen vor Vermengung, Verkümmerung und Übergängen bewahren. – Diese Schwäche des Begri=s in der Natur überhaupt unterwirft nicht nur die Bildung der Individuen äußerlichen Zufälligkeiten – das entwickelte Tier (und der Mensch am meisten) ist Monstrositäten ausgesetzt –, sondern auch die Gattungen ganz den Veränderungen des äußern allgemeinen Naturlebens, dessen Wechsel das Tier mit durchlebt (vergl. Anm. § 392) und damit nur ein Wechsel von Gesundheit und Krankheit ist. Die Umgebung der äußerlichen Zufälligkeit enthält fast nur Fremdartiges; sie übt eine fortdauernde Gewaltsamkeit und Drohung von Gefahren auf sein Gefühl aus, das ein unsicheres, angstvolles, unglückliches ist. (368 f.) Die Tierwelt hängt in gewissen Hinsichten weniger, in anderen mehr als die Pflanzenwelt von Bedingungen der Umwelt ab – da die Pflanzen die Lebensgrundlage der Tiere ausmachen. Hegels ominöse Rede von der »Schwäche des Begri=s in der Natur überhaupt« meint die Abhängigkeit des Überlebens der Art von einem hinreichend langen Überleben hinreichend vieler Individuen. Das Leben der Individuen und Arten hängt damit massiv ab von äußerlichen Zufälligkeiten. Menschen haben ihre Leben dagegen schon weit mehr in eigener Hand. Erstaunlicherweise hat man den Text bis heute nicht genau genug gelesen, sondern sich nur an der dunklen Formulierung aufgehalten und allerlei herumgerätselt. Allerdings gibt es aus logischen Gründen gerade im Fall der ent-
369 f. Der tierische Organismus 457 wickelteren Tiere und Menschen die meisten Möglichkeiten von privativen Fehlbildungen, früher: »Monstrositäten«. Es ist diese Zufälligkeit, das Prekäre der Gefährdung des Lebens etwa durch Mangel an Wasser oder Nahrung, besonders aber durch Krankheiten, welche bei Menschen zu einer depressiven Gesamthaltung zur Welt führen kann, nach der ›alles‹ Leben »ein unsicheres, angstvolles, unglückliches ist«. Diese Anklage von Welt und Leben ist ebenso verständlich wie grundfalsch. Sie verwechselt das Allgemeine mit dem Besonderen und Einzelnen. In ihrem spekulativen Überschwang ist sie schlechte Metaphysik. Schlechte Metaphysik aber ist immer auch Anleitung zum Unglücklichsein. β) Das Geschlechts-Verhältnis § 369 Diese erste Diremtion der Gattung in Arten und die Fortbestimmung derselben zum unmittelbaren ausschließenden Fürsichsein der Einzelnheit ist nur ein negatives und feindliches Verhalten gegen andere. Aber die Gattung ist ebenso wesentlich a;rmative Beziehung der Einzelnheit auf sich in ihr, so daß sie, indem sie, ausschließend, ein Individuum gegen ein anderes Individuum ist, in dieses Andere sich kontinuiert und sich selbst in diesem Andern empfindet. Dies Verhältnis ist Prozeß, der mit dem Bedürfnisse beginnt, indem das Individuum als Einzelnes der immanenten Gattung nicht angemessen und zugleich deren identische Beziehung auf sich in Einer Einheit ist; es hat so das Gefühl dieses Mangels. Die Gattung in ihm ist daher als Spannung gegen die Unangemessenheit ihrer einzelnen Wirklichkeit der Trieb, im Andern seiner Gattung sein Selbstgefühl zu erlangen, sich durch die Einung mit ihm zu integrieren und durch diese Vermittlung die Gattung mit sich zusammenzuschließen und zur Existenz zu bringen, – die Begattung. (369 f.) Die ›höheren‹ Tiere vermehren sich (nur) zweigeschlechtlich. Zunächst scheint es so, als mache Hegel etwas zu viel aus dieser Tatsache. Ihm geht es aber nur darum, dass Tiere an sich ein »negatives und feindliches Verhalten gegen andere« zeigen – mit Ausnahme der Begattung und Brutpflege, die bei manchen Tieren auf eine längere oder gar dauernde monogame Partnerschaft ausgedehnt ist. 305
458 Dritte Abteilung: Organische Physik 370 Damit beginnt die interessante Möglichkeit, dass ein Partner »sich selbst in diesem Andern empfindet«. Es geht also um eine Art Proto-Form der Liebe. Bei Tier und Mensch beginnt dieses Verhältnis mit einem triebbedingten Gefühl und Bedürfnis. Hegels häufig allzu schnelle Wendungen ins Allgemeine und das ambige »so« sind dabei manchmal etwas lästig. Denn dass »das Individuum als Einzelnes der immanenten Gattung nicht angemessen« sein soll, klingt wie eine merkwürdige Ursache für eine zweigeschlechtliche Lebensform, was aber weder faktisch so ist noch von Hegel so gesagt wird. Richtig ist nur, dass der artbestimmte Trieb in den Einzelwesen dem Erhalt der ›Gattung‹ (also der Art) ›dient‹ – was sich freilich immer erst post hoc zeigt, da es schon falsch wäre, der Entstehung des Triebs ein teleologisches Design zuzusprechen. Unter der entsprechenden Provision muss man Hegels Formulierung zur Begattung nicht mehr ablehnen, nach welcher ein animalisches Lebewesen im »Andern seiner Gattung sein Selbstgefühl zu erlangen« und »die Gattung mit sich zusammenzuschließen und zur Existenz zu bringen« strebe, obwohl kein Tier dabei an Nachwuchs ›denkt‹ – freilich auch viele Menschen nicht. 305 306 § 370 Das Produkt ist die negative Identität der di=erenten Einzelnheiten, als gewordene Gattung ein geschlechtsloses Leben. (370) Was der Satz sagt, ist zwar unklar, aber es liegt nahe, dass er nur ausdrückt, dass das Produkt einfach das Kind ist. Dieses führt als solches bis zur Geschlechtsreife in der Tat der Grundform nach ein geschlechtsloses Leben und hat daher im Deutschen das sächliche Genus des Neutrums. Aber nach der natürlichen Seite ist es nur an sich diese Gattung, verschieden von den Einzelnen, deren Di=erenz in ihm untergegangen ist, jedoch selbst ein unmittelbar Einzelnes, welches die Bestimmung hat, sich zu derselben natürlichen Individualität, der gleichen Di=erenz und Vergänglichkeit zu entwickeln. (370) Die Nachkommen haben normalerweise dennoch ein natürliches Geschlecht und vertreten daher nur an sich die ganze Gattung, die als solche, generisch gesprochen, weder männlich noch weiblich ist. Das gilt z. B. grammatisch für die Rede über ›die Katze‹ oder ›den
370 Der tierische Organismus 459 Menschen‹. Urbanes Sprachverstehen weiß das seit der eurasischen Antike. Rurales Verstehen meint dagegen, es würden immer nur über Einzelgegenstände konkrete Geschichten erzählt, deren natürliches Geschlecht oder willkürliches Gender daher immer explizit zu machen sei. Dieser Prozeß der Fortpflanzung geht in die schlechte Unendlichkeit des Progresses aus. Die Gattung erhält sich nur durch den Untergang der Individuen, die im Prozesse der Begattung ihre Bestimmung erfüllt, und insofern sie keine höhere haben, damit dem Tode zugehen. (370) Die schlichte Unendlichkeit des Progresses der Geschlechterfolgen ist ein Und-so-weiter, das als solches natürlich realiter nie unendlich ist, zumal sich das »so« auch relativ schnell ändert. Das ist schon die einfache Antwort auf die Kinderfrage, was früher war, das Hühnerei oder die Henne: In diesem Regress zurück in die Vergangenheit landen wir relativ schnell bei Wesen, die noch keine Hühner sind. Das ist dasselbe, wie wenn wir sagen, dass die Eier noch keine Hühnereier sind. Analoges gilt für den Progress in die Zukunft. Es gibt hier immer das Niemandsland indefiniter Übergänge in der Entstehung neuer Arten. Hegels Logik zeichnet sich gerade durch die Einsicht aus, dass wir in diesen und praktisch allen ähnlichen Fällen innerweltlicher Unterscheidungen immer auch die Grenzbereiche zu beachten haben, so dass die Artgrenzen selbst epochal sind, wir also in der Rede von Gattungen und Arten immer auch schon gewisse begrenzte Zeiträume präsupponieren – ganz nach Art unserer Lebenszeit in der Rede über uns als lebende Individuen. Es ist daher nur eine Erinnerung an eine allbekannte Tatsache, dass sich Gattungen und Arten länger erhalten als ihre Individuen. Pflanzen und Tiere haben artgemäß keine höhere ›Bestimmung‹, als Nachkommen zu produzieren und die Art zu erhalten. Daher ist ihr Tod vom Arterhalt her gesehen kein Problem, wenn die Generationenfolge gesichert ist. Das heißt aber keineswegs, dass die Arten per se (etwa ›vor Gott‹?) einen höheren Wert oder ein höheres Recht auf Existenz hätten als ihre Individuen oder dass es nur um den Erhalt von Genen ginge. Auf der Rede- und Denkebene einer je hinreichend langen Zeit verliert jede Zweckverfolgung und zuvor schon jede Zielverfolgung 306
460 Dritte Abteilung: Organische Physik 370 f. des Selbst- und Arterhalts ihren Sinn. In the long run we are all dead (John Maynard Keynes). γ) Die Krankheit des Individuums 306 306 306 § 371 In den zwei betrachteten Verhältnissen geht der Prozeß der Selbstvermittlung der Gattung mit sich durch ihre Diremtion in Individuen und das Aufheben ihres Unterschiedes. Aber indem sie ferner (§ 357) die Gestalt äußerer Allgemeinheit, der unorganischen Natur gegen das Individuum annimmt, bringt sie auf abstrakte negative Weise sich an ihm zur Existenz. Der einzelne Organismus kann in jenem Verhältnisse der Äußerlichkeit seines Daseins seiner Gattung ebensowohl auch nicht entsprechend sein, als in ihr sich in sich zurückkehrend erhalten (§ 366). – (370 f.) Die Aufrechterhaltung eines artgerechten Lebens durch das Lebewesen in seiner konkreten Umgebung ist, wie gesagt, immer prekär. Mangel an Wasser oder Nahrung, bei Fischen Mangel an Sauersto= im Wasser sind ein Problem, der Erhalt der Gesundheit im Sinne eines (dem Alter gemäßen) störungsfreien Funktionierens der für die Aufrechterhaltung des Lebens oder auch nur für Bewegungen und Perzeptionen nötigen Organe ein anderes. Er befindet sich im Zustande der Krankheit, insofern eines seiner Systeme oder Organe, im Konflikt mit der unorganischen Potenz erregt, sich für sich festsetzt und in seiner besondern Tätigkeit gegen die Tätigkeit des Ganzen beharrt, dessen Flüssigkeit und durch alle Momente hindurchgehender Prozeß hiemit gehemmt ist. (371) Hegels Bestimmung von Krankheit über einen Konflikt zwischen Organen passt auf eine Krankheit wie Krebs, aber nicht auf bakterielle Infektionen oder Viruskrankheiten. Hier ist fast alles, was Hegel sagt, veraltet, was aber insgesamt nicht relevant ist. § 372 Die eigentümliche Erscheinung der Krankheit ist daher, daß die Identität des ganzen organischen Prozesses sich als sukzessiver Verlauf der Lebensbewegung durch seine unterschiedenen Momente, die Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion, d. i. als Fieber darstellt,
371 Der tierische Organismus 461 welches aber als Verlauf der Totalität gegen die vereinzelte Tätigkeit ebensosehr der Versuch und Beginn der Heilung ist. (371) Weder sind Auto-Immun-Reaktionen im Allgemeinen noch Fieber damals in ihrer Herkunft und ihrer Bedeutung voll verstanden. Sie erscheinen zumeist selbst als Krankheit statt als körpereigene Abwehr – freilich so, dass zu hohes Fieber tödlich wird. Immerhin weiß man schon, dass Fieber »Versuch und Beginn der Heilung« ist. § 373 Das Heilmittel erregt den Organismus dazu, die besondere Erregung, in der die formelle Tätigkeit des Ganzen fixiert ist, aufzuheben und die Flüssigkeit des besondern Organs oder Systems in das Ganze herzustellen. Dies bewirkt das Mittel dadurch, daß es ein Reiz, aber ein schwer zu Assimilierendes und zu Überwindendes ist, und daß damit dem Organismus ein Äußerliches dargeboten wird, gegen welches er seine Kraft aufzubieten genötigt ist. Gegen ein Äußerliches sich richtend, tritt er aus der mit ihm identisch gewordenen Beschränktheit, in welcher er befangen war und gegen welche er nicht reagieren kann, insofern es ihm nicht als Objekt ist. (371) Auch wie chemische Medikamente wirken, war noch nicht genau bekannt, weder im Allgemeinen noch im Besonderen. Manche wirken wie die Placebos der Homöopathie ganzheitlich – als self-fulfilling prophecy wie auch beim uralten Handauflegen. Andere stärken ›wirklich chemisch‹ oder biotisch die Immunabwehr, hemmen Entzündungen etc. Hegels Erklärung, dass manche Reize die Abwehrkräfte stärken, passt nur für manche Verfahren der Stärkung des Immunsystems, nicht für alle Heilverfahren. Hier erzeugt Hegel selbst zu hohe Erwartungen an die Leistungskraft seiner Formulierungen von Allgemeinerfahrungen auf phänomenologischer Grundlage. Der Hauptgesichtspunkt, unter welchem die Arzneimittel betrachtet werden müssen, ist, daß sie ein Unverdauliches sind. Aber die Bestimmung von Unverdaulichkeit ist relativ, jedoch nicht in dem unbestimmten Sinne, daß dasjenige nur leicht verdaulich heißt, was schwächere Konstitutionen vertragen können; dergleichen ist für die kräftigere Individualität vielmehr unverdaulich. Die immanente Relativität des Begri=es, welche im Leben ihre Wirklichkeit hat, ist qualitativer Natur und besteht, in quantitativer Rücksicht ausgedrückt, 307 307 f .
462 Dritte Abteilung: Organische Physik insofern sie hier gilt, – in einer um so höheren Homogeneität, je selbständiger in sich die Entgegengesetzten sind. Für die niedrigern, zu keiner Di=erenz in sich gekommenen animalischen Gebilde ist nur das individualitätslose Neutrale, das Wasser, wie für die Pflanze, das Verdauliche; für Kinder ist das Verdauliche teils die ganz homogene animalische Lymphe, die Muttermilch, ein schon Verdautes oder vielmehr nur in Animalität unmittelbar und überhaupt Umgewandeltes und in ihr selbst weiter nicht Di=erentiiertes; – teils von di=erenten Substanzen solche, die noch am wenigsten zur Individualität gereift sind. Substanzen dieser Art sind hingegen unverdaulich für die erstarkten Naturen. Diesen sind dagegen tierische Substanzen als das Individualisierte oder die vom Lichte zu einem kräftigern Selbst gezeitigten und deswegen geistig genannten vegetabilischen Säfte ein Verdaulicheres als z. B. die noch bloß in der neutralen Farbe und dem eigentümlichen Chemismus näher stehenden vegetabilischen Produktionen. Durch ihre intensivere Selbstigkeit machen jene Substanzen einen um so stärkern Gegensatz; aber eben dadurch sind sie homogenere Reize. – Die Arzneimittel sind insofern negative Reize, Gifte; ein Erregendes und zugleich Unverdauliches wird dem in der Krankheit sich entfremdeten Organismus als ein ihm äußerliches Fremdes dargeboten, gegen welches er sich zusammennehmen und in Prozeß treten muß, durch den er zum Selbstgefühl und seiner Subjektivität wieder gelange. – So ein leerer Formalismus der Brownianismus war, wenn er das ganze System der Medizin sein sollte, und wenn die Bestimmung der Krankheiten auf Sthenie und Asthenie und etwa noch auf direkte und indirekte Asthenie, und die Wirksamkeit der Mittel auf Stärken und Schwächen, und wenn diese Unterschiede ferner auf Kohlen- und Sticksto= mit Sauer- und Wassersto= oder magnetisches, elektrisches und chemisches Moment und dergleichen ihn naturphilosophisch machen sollende Formeln reduziert wurden, so hat er doch wohl mit dazu beigetragen, die Ansicht des bloß Partikulären und Spezifischen sowohl der Krankheiten als der Mittel zu erweitern und in beiden vielmehr das Allgemeine als das Wesentliche zu erkennen. Durch seinen Gegensatz gegen die vorherige, im ganzen mehr asthenisierende Methode hat sich auch gezeigt, daß der Organismus gegen die entgegengesetzteste Behandlungsart nicht auf eine so entgegengesetzte, sondern häufig
374 Der tierische Organismus 463 auf eine wenigstens in den Endresultaten gleiche und daher allgemeine Weise reagiert, und daß seine einfache Identität mit sich als die substantielle und wahrhaft wirksame Tätigkeit gegen eine partikuläre Befangenheit einzelner seiner Systeme in spezifischen Reizen sich beweist. – So allgemein und daher im Vergleich mit den so mannigfachen Krankheitserscheinungen ungenügend die im § und in der Anm. vorgetragenen Bestimmungen sind, so sehr ist es nur die feste Grundlage des Begri=s, welche sowohl durch das Besondere hindurchzuführen als vollends das, was der in die Äußerlichkeiten des Spezifischen versenkten Gewohnheit als extravagant und bizarr, sowohl in Krankheitserscheinungen als in Heilweisen, vorkommt, verständlich zu machen vermag. (372 f.) Man kann oder sollte die ganze Passage im Grunde vergessen. Es ist alles zeitbedingt und für uns irrelevant. § 374 In der Krankheit ist das Tier mit einer unorganischen Potenz verwickelt und in einem seiner besondern Systeme oder Organe gegen die Einheit seiner Lebendigkeit festgehalten. (374) Wir hatten schon gesehen, dass der Bereich dessen, was bei Hegel hier ›unorganisch‹ heißt, keineswegs nur den Bereich toter Körper, mechanischer Bewegungen und chemischer Sto=e und Prozesse umfasst, sondern z. B. auch biotische Prozesse im Körper. Schwere Krankheiten bringen die ›Einheit der Lebendigkeit‹ des lebenden Körpers in Gefahr. Das Lebewesen stirbt, indem diese Einheit sozusagen abreißt, die lebenswichtigen chemischen und mechanischen Prozesse stoppen. Man kann sie dann nicht mehr neu starten. Es gibt keine Auferweckung von den Toten. Sein Organismus ist als Dasein von einer quantitativen Stärke, und zwar seine Entzweiung zu überwinden, aber ebensowohl ihr zu unterliegen und darin eine Weise seines Todes zu haben, fähig. (374) Die Rede von einer quantitativen Stärke des Lebens ist bestenfalls metaphorisch, erst recht von einer Entzweiung des Organismus. Überhaupt hebt die Überwindung und das Vorübergehen einzelner Unangemessenheit die allgemeine Unangemessenheit nicht auf, welche das Individuum darin hat, daß seine Idee die unmittelbare ist, als Tier innerhalb der Natur steht und dessen Subjektivität nur an 308 308 308 f .
464 Dritte Abteilung: Organische Physik 374 sich der Begri=, aber nicht für sich selbst ist. Die innere Allgemeinheit bleibt daher gegen die natürliche Einzelnheit des Lebendigen die negative Macht, von welcher es Gewalt leidet und untergeht, weil sein Dasein als solches nicht selbst diese Allgemeinheit in sich hat, somit nicht deren entsprechende Realität ist. (374) Wie in allen Übergängen zu einem neuen Thema sind auch hier Hegels Formulierungen allzu dicht und kaum unmittelbar zu verstehen. – Dass alle animalischen Lebewesen nach relativ kurzer Zeit sterben müssen, ist eine ganz allgemeine Grundtatsache. Es ist sogar nur ein besonderer Fall dafür, dass alle einzelnen Dinge in hinreichend langer Zeit vergehen. Im Fall des animalischen Lebens hängt die Endlichkeit aber auch mit ihrer Vereinzelung als Individuen und der Form der (bi-)sexuellen Fortpflanzung über Ei und Samen zusammen. In der Pflanzenwelt existiert das Prinzip der Unteilbarkeit der Einzelwesen nur erst rudimentär, etwa in der Form der Ungeteiltheit von Bäumen. Bei Tieren aber gibt es eine klare Trennung des Lebens der Individuen vom Leben der Art oder Gattung, ganz anders als etwa bei Pilzen. Die Form des Seins im je aktualen Vollzug, hier des Lebens animalischer Individuen, spricht Hegel unter dem Titel »Idee« an. Dieses Leben ist je unmittelbar, also präsentisch und damit temporal. Als Individuen stehen Tiere innerhalb der Natur des Entstehens und Vergehens von allem und jedem. Ihre Subjektivität als tätige Selbstunterscheidung von ihrer Umwelt ist nur an sich allgemeine Form, über die wir zeitallgemein reden und die es als Artform weit nachhaltiger in der realen Welt gibt als das je für sich existierende Individuum. Diese Form qua Objekt unseres Weltbezugs und unserer Reflexion ist der Begri= des animalischen Subjektseins. Kein Tier ist »für sich selbst« überzeitlicher Begri= oder nachhaltige Form. Wer unbedingt will, kann dazu sagen, dass es Subjekte nur empirisch gibt. Diese Redeform, also das Wort »empirisch«, wäre aber schon in ihrem impliziten Bezug auf unsere Erfahrungen und in ihrer Ausklammerung des eigenen Subjekt-Seins im Unterschied zum bloßen Objekt-Sein ganz unpassend. Hegel spricht daher lieber von Realität. Die »innere Allgemeinheit«, von der Hegel hier scheinbar dunkel spricht, ist also gerade das, was ich die Artform nenne, die vom In-
374 f. Der tierische Organismus 465 dividuum auf je besondere Weise aktualisiert wird. Wenn man das Verhältnis zwischen Umwelt, Artform und je aktual lebendem Individuum als Exemplar der Art in relationaler Sprache darstellen will, muss man wohl sagen, dass für die natürliche Einzelheit des Lebewesens hier und jetzt in seinem Vollzugsversuch, seine Artform zu realisieren, alles Äußere, sogar die Prozesse in seinem eigenen Körperinnern, als eine »negative Macht« erscheinen, »von welcher es Gewalt leidet und untergeht«. Denn kein Lebewesen hat die Macht, auf unbeschränkte Dauer die für es notwendigen physikochemischen Prozesse im Körperinnern aufrecht zu erhalten. Das ist zunächst freilich nur erst eine allgemeine, phänomenologisch aufzeigbare Artikulation einer Grundtatsache des Seins und Lebens. Eine weitere ›Begründung‹ gibt es hier nicht, so wenig wie für 2 + 2 = 4, nur Kommentare zu einigen Zusatzaspekten, wie wir sie in den Sachwissenschaften der Biologie und Physiologie zum Alterungsprozess diverser Organismen finden. Hegels Kommentar bleibt abstrakt-allgemein: Kein (je reales oder aktuales) Dasein hat die Zeitallgemeinheit des Begri=s oder der Art ›vollständig‹ in sich, zumal auch diese Zeitallgemeinheit selbst (wie bei Gattungen und Arten) in der einzigen Realität, ›die es wirklich gibt‹, also in der raumzeitlichen Welt aller endlichen Sachen, die manche ›empirisch‹ nennen, nur je epochal existiert. δ) Der Tod des Individuums aus sich selbst § 375 Die Allgemeinheit, nach welcher das Tier als einzelnes eine endliche Existenz ist, zeigt sich an ihm als die abstrakte Macht in dem Ausgang des selbst abstrakten, innerhalb seiner vorgehenden Prozesses (§ 356). Seine Unangemessenheit zur Allgemeinheit ist seine ursprüngliche Krankheit und [der] angeborne Keim des Todes. (374 f.) Es ist ›nur‹ eine generische Allgemeinheit, welche als Artform das Leben eines Tiers der Art prägt. Das Streben nach individuellem Weiterleben ist eine Form, die sich im Vollzug zwar zeigt, aber eben auf endliche Weise. In genau diesem Sinn ist »das Tier als einzelnes eine endliche Existenz«. Im Leben zeigt sich sozusagen der ›Widerstreit‹ zwischen der Artform, die das Individuum als Exemplar der Art selbsttätig auf je 309
466 309 309 Dritte Abteilung: Organische Physik 375 besondere Weisen zu instanziieren sucht, und der Macht der umgebenden Welt, nicht nur der physikochemischen Prozesse, sondern auch aller anderer Organismen und Lebewesen im Körper oder außerhalb des Körpers des Lebewesens. Hegel spricht von einer abstrakten Macht im Sinne ihrer generischen Allgemeinheit. Der Ausdruck »Unangemessenheit zur Allgemeinheit« jedes Individuums ist selbst leicht unangemessen. Gemeint ist aber nur, dass Individuen ihr Leben als Artformprozess oder Vollzugsform nur eine begrenzte Zeit aufrechterhalten können. In diesem Sinn ist alles Leben Sein zum Tode, wenn man so reden will. Mit der Geburt beginnt die ursprüngliche Krankheit zum Tode. Der Keim des Todes ist also angeboren. Das Aufheben dieser Unangemessenheit ist selbst das Vollstrecken dieses Schicksals. Das Individuum hebt sie auf, indem es der Allgemeinheit seine Einzelnheit einbildet, aber hiemit, insofern sie abstrakt und unmittelbar ist, nur eine abstrakte Objektivität erreicht, worin seine Tätigkeit sich abgestumpft [hat], verknöchert und das Leben zur prozeßlosen Gewohnheit geworden ist, so daß es sich so aus sich selbst tötet. (375) Eine ›Aufhebung‹ des Widerstreits zwischen subjektivem Streben nach Selbsterhalt der Individuen und der objektiven Umwelt besteht immer nur darin, dass das Objektive, der Tod, jeweils gewinnt. Darin besteht die Vollstreckung des Schicksals allen individuellen Lebens. Auf die blumige Darstellung des Alterungsprozesses in der Rede von einer Verknöcherung und Abstumpfung der Sinne (und des Geistes) unter Verlust des Elans des Lebens und des relativ freien Umgangs mit Formen gehe ich nicht weiter ein. Ich hebe nur die leise Ironie hervor in der Beobachtung, dass ältere Individuen auf die Ebene bloß schematischer Reproduktionen angelernter Gewohnheit und damit auf die Ebene des Verhaltens von Kindern zurückgeworfen werden. § 376 Aber diese erreichte Identität mit dem Allgemeinen ist das Aufheben des formellen Gegensatzes, der unmittelbaren Einzelnheit und der Allgemeinheit der Individualität, und dies [ist] nur die eine, und zwar die abstrakte Seite, der Tod des Natürlichen. (375) Im Übergang zur geistigen Seinsweise von uns Menschen als per-
375 Der tierische Organismus 467 sonalen Individuen wird Hegels Sprache noch dichter. Durch die Manier, das vorab kommentierte neue Thema, hier den Geist, erst am Ende der Passage zu nennen, wird sie schier unlesbar. Eine ›reale‹ Aufhebung ›des formellen Gegensatzes, der unmittelbaren Einzelheit und der Allgemeinheit der Individualität‹ gibt es nicht. Der ›Tod des Natürlichen‹ und damit die Endlichkeit des Lebens des Individuums ist anzuerkennen. Die Subjektivität ist aber in der Idee des Lebens der Begri=, sie ist so an sich das absolute Insichsein der Wirklichkeit und die konkrete Allgemeinheit; durch das aufgezeigte Aufheben der Unmittelbarkeit ihrer Realität ist sie mit sich selbst zusammengegangen; das letzte Außersichsein der Natur ist aufgehoben, und der in ihr nur an sich seiende Begri= ist damit für sich geworden. – (375) Die Subjektivität ist Form des zwar endlichen, aber in der jeweiligen Gegenwart absoluten Subjektseins. Beim Menschen wird die Idee als realisierte Form des Lebens sich selbst zum Begri=: Im Vollzug bin ich eine mich selbst bewusst und selbstbewusst realisierende konkrete Allgemeinheit. Dies geschieht durch die schon aufgezeigte Aufhebung der unmittelbaren Realität der Subjektivität. Wir werden aber erst in der Philosophie des Geistes sehen, wie diese Aufhebung konkret zu begreifen ist. Es geht um die (Selbst-)Verwandlung des Subjekts in ein personales und damit geistiges Individuum, kurz: in eine Person. Im selbstbewusst denkenden Handeln verwandelt sich ein Verhalten, das sich unbewusst und häufig instinktförmig an der Artform orientiert, in ein sich wissendes Leben. Das geistige Subjekt wird so (partiell) für sich, was es an sich ist, nämlich Person. Eben das meint die Rede davon, dass das geistige Individuum mit sich selbst zusammengegangen ist. Wieder geht es nicht um eine frei von allem Leib schwebende Seele. Das »letzte Außersichsein der Natur« meint keine körperfreie Geistseele, in welcher der in der Natur »nur an sich seiende Begri=« auf irgendeine mystische Weise »für sich geworden« sei. Der Satz ist viel einfacher so zu verstehen: Nur personale Menschen kommen in die Lage, die Vollzugsformen ihres Lebens zu vergegenständlichen und damit zum Thema zu machen. Damit gibt es diese nicht mehr nur enaktiv an sich oder implizit oder empraktisch in einer erworbenen Gewohnheit, sondern wir können sie explizit repräsentieren, objektivieren 309
468 309 Dritte Abteilung: Organische Physik 375 und uns urteilend und handelnd zu unseren Selbstdarstellungen verhalten. In dieser Form und nur in dieser besteht menschliche Freiheit. Die Natur ist damit in ihre Wahrheit übergegangen, in die Subjektivität des Begri=s, deren Objektivität selbst die aufgehobene Unmittelbarkeit der Einzelnheit, die konkrete Allgemeinheit ist, so daß der Begri= gesetzt ist, welcher die ihm entsprechende Realität, den Begri= zu seinem Dasein hat, – der Geist. (375) Die nichthandelnde Natur in ihrer höchsten Entwicklung ist das subjektive Leben der Tiere mit ihrem durch die Artform ermöglichten zielgerichteten Verhalten in relativ freien Selbstbewegungen. Im geistigen Leben der Menschen ist dieses sozusagen in seine »Wahrheit übergegangen«. Das heißt erstens, dass es ein Wissen über die Natur und sich selbst nur bei menschlichen Personen gibt. Es heißt zweitens, dass die ganze Welt nicht nur die geist- und handlungsfreie Natur umfasst, sondern auch die geistigen Subjekte, die wir Menschen selbst sind. Daher heißt es drittens, dass bloße Naturwissenschaft das Geistige ausklammert, also von ihm nichts weiß, nichts wissen will und nichts wissen kann. Damit weiß sie aber, viertens, auch nicht genug von sich selbst als Form und Institution, sondern wird nur erst empraktisch, damit noch nicht voll selbstbewusst im beschränkten Fokus auf Objekte in Welt und Natur betrieben. Sie bleibt daher, fünftens, subjektblind, Hegel sagt manchmal sogar »bewusstlos« und »geistlos«. Das wahre Ganze des Wissens verlangt daher, sechstens, neben einer methodisch und logisch selbstbewussten Naturwissenschaft eine ebenfalls methodisch und logisch selbstbewusste Geisteswissenschaft. Das Organon dieser Logik und Methodologie aber ist, siebtens, eine formenreflexive und begri=sanalytische Philosophie in sinnkritischer Entwicklung der Ansätze einer dialektikē technē bei Platon und einer prima philosophia bei Aristoteles, die als formale Grundlage allen theoretischen Wissens unter den Titel einer Metaphysik gestellt wurde. Deren Projekt und Sprache hat man später ganz o=enbar nicht mehr voll angemessen verstanden – so dass man meinte, es ginge um Gegenstände einer Art Hinterwelt. Geist haben Menschen als Personen. Der generische Geist als allgemeines Thema philosophischer Reflexion betri=t alle wichtigen Grundformen personalen, also geistigen Lebens. Im Vollzug ist Geist die Subjektivität des Begri=s, also das bewuss-
Der tierische Organismus 469 te Erfassen von Arten und Formen, vergegenständlicht vorzugsweise durch Worte, also Sprache. Die Objektivität des Geistes ist insofern »selbst die aufgehobene Unmittelbarkeit der Einzelheit« des eigenen Seins, als wir auf unsere eigenen Instanziierungen von Formen explizit reflektieren. Die eigene Manifestation begri=lichen Formenwissens ist daher die konkrete Allgemeinheit, die man ist, die ich bin und die wir sind. In diesem Sinn sind wir – oder aktualisieren wir – ein geistiges Dasein, das uns als Artform personalen Lebens gegeben und als Begri= (eidos) gesetzt ist. Die dem Begri= der Person oder eines geistigen Lebens entsprechende Realität ist das Leben verständiger und vernünftiger, in diesem Sinn geistiger Individuen, die dem Begri= des Geistes allererst sein Dasein verscha=en. Insofern sind wir die Idee des Geistes.

Dritter Teil: Philosophie des Geistes Enz. §§ 377–577
Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes 311 311 § 377 Die Erkenntnis des Geistes ist die konkreteste, darum höchste und schwerste. (379) Als Instanziierung von Selbstwissen ist eine reflektierte Erkenntnis von Verstand und Vernunft, Bewusstsein und Geist in der Tat das Schwerste. Implizit kommentiert der Satz wohl auch das Scheitern einer Selbstbewusstseinsphilosophie, wie sie zunächst von Descartes bis Kant und Fichte führt und dann weiter etwa bis zu Dieter Henrich. Denn unmittelbar ist Bewusstsein nur erst animalisches Gewahrsein von etwas Präsentischem. Hegel erkennt insbesondere, dass Selbstbewusstsein über ein Selbstgewahrsein wie im Begehren oder einer Befriedigung nicht hinauskommt. Für Hegels Denken bildet Fichtes Wissenschaftslehre zwar einen zentralen Ausgangspunkt, so dass er sich ganz bewusst neben Fichte hat begraben lassen. Die Enge des Blicks Fichtes bloß vom generischen Subjekt her wie schon in Kants Transzendentalphilosophie ist aber gerade zu überwinden, wobei besonders die Geschichte der Natur und des Geistes und ganz besonders die Perspektivenvielfalt und Mehrstimmigkeit vieler Personen angemessen zu berücksichtigen sind. Erkenne dich selbst, dies absolute Gebot hat weder an sich noch da, wo es geschichtlich als ausgesprochen vorkommt, die Bedeutung nur einer Selbsterkenntnis nach den partikulären Fähigkeiten, Charakter, Neigungen und Schwächen des Individuums, sondern die Bedeutung der Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich, – des Wesens selbst als Geistes. (379) Das übliche Verständnis des Wahlspruchs der weisen Priester von Delphi, sich selbst zu erkennen, liest diesen so, dass jeder eine Art Selbsterforschung betreiben solle. Das reduziert das Thema auf das konkrete Leben und Handeln, auf »Fähigkeiten, Charakter, Neigungen und Schwächen des Individuums«. Da wir das Pathos in der Rede vom »Wesen« oder dem »Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich« nicht mehr mögen, sollten wir sie sinngemäß übersetzen – wobei ich dann auch die Wörter »Person« bzw. »personal« und
379 Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes 473 »Form« benutze, um die notorisch fehlgedeuteten Wörter »Geist« bzw. »geistig«, »das Ich« und »Begri=«, so gut es geht, zu ersetzen. Es ist klar, dass alle Übersetzungen Urteile über Inhaltsgleichheiten enthalten. Urteilsfreie Übersetzungen gibt es nicht, wohl aber ängstliche, unfreie. Letztere sehen wir in allen bloßen Paraphrasierungen und in allen schematischen, damit nur erst verständigen Rohübersetzungen. Mit bloßen Anwendungen eines internationalen Übersetzungskanons, welcher in den Wörterbüchern und Grammatiken der Sprachen der Welt und inzwischen schon in der Form automatischer Übersetzungen auf großartige Weise entwickelt ist, kommen wir leider nie weit genug. Thema der Philosophie des Geistes ist das Ganze des Personseins. Instanziiert wird der Geist im personalen Subjekt und im kommunikativen und kooperativen Verhalten und Handeln der Menschen. Das Ganze der Geschichte und Gegenwart gemeinsamen personalen Lebens auf der Erde ist der implizite, transzendentale, also empraktisch vorausgesetzte Rahmen. Das sieht man sofort, wenn man den Unterschied zwischen natürlichem Wachstum und geistiger Bildung beachtet. Thema ist also die wirkliche Seinsweise des Geistigen nicht bloß als subjektive Seele, also als mens oder mind, sondern als geschichtlich vermittelte Möglichkeitsbedingung, an begri=lichem Wissen, seiner Anwendung im ›empirischen‹ Erkennen und seiner Entwicklung ebenso teilzunehmen wie an den Formen des gemeinsamen personalen Lebens und Handelns. Ebensowenig hat die Philosophie des Geistes die Bedeutung der sogenannten Menschenkenntnis, welche von andern Menschen gleichfalls die Besonderheiten, Leidenschaften, Schwächen, diese sogenannten Falten des menschlichen Herzens zu erforschen bemüht ist, – eine Kenntnis, die teils nur unter Voraussetzung der Erkenntnis des Allgemeinen, des Menschen und damit wesentlich des Geistes Sinn hat, teils sich mit den zufälligen, unbedeutenden, unwahren Existenzen des Geistigen beschäftigt, aber zum Substantiellen, dem Geiste selbst, nicht dringt. (379) Hegels Satz zur Menschenkenntnis versteht sich eigentlich von selbst: Sie gehört in die psychologische Ratgeberliteratur von Kleinstadtbuchhandlungen. Sie ist dort so wichtig wie die Predigt in der 311
474 Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes Kirche. Uns interessiert sie hier aber nur wegen der Aspektdi=erenz von Ö=entlichkeitsarbeit zur philosophischen Behandlung von Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein. Bei Pascal und Kant finden sich noch Aussagen dazu, dass wir einerseits alle »Falten des menschlichen Herzens zu erforschen bemüht« sein sollten, andererseits damit nie zu Rande kommen, da nur ein Gott als »Herzenskündiger« (Kant) alle diese Falten aufblättern könne. Noch Schopenhauer, der Philosoph des Biedermeier, bläst in dieses Horn und verstärkt sogar den latent naturalistischen Misston bei Hume und Kant, der nach Darwin noch lauter wird: Hinter dem Schleier der Maja der Erscheinungen oder Vorstellungen soll in Wahrheit immer der brutale egoistische Wille eines Kampfes ums Dasein lauern. Schopenhauers Empfehlung eines Rückzugs in die Ästhetik bloßer Betrachtung und in ein intuitives Mitleiden passt leider allzu gut zur kontemplativen Haltung eines intellektuellen Bürgertums des 19. Jahrhunderts, das die Augen vor den aufziehenden Bürgerkriegen durchaus verschließt und die volle Person damit gerade nicht als homo politicus versteht. Hegel betont dagegen, dass jede wahre Menschenkenntnis ein philosophisch reflektiertes Wissen über die allgemeine Verfassung personalen Menschseins implizit voraussetzt und sich eine bloß erst narrative Redeform zumeist nur mit relativ unbedeutenden Typiken des Verhaltens beschäftigt und die wesentlichen Grundformen gar nicht explizit genug zu artikulieren in der Lage ist. Unwahrheiten entstehen hier dadurch, dass man im Fokus auf Einzelnes und Besonderes das Allgemeine aus dem Blick nimmt. Vor lauter Bäumen übersieht man den Wald, das ›Substantielle‹, also das Nachhaltige des Ganzen der natürlichen und geistigen Welt. Die Kritiker an Hegels Holismus sind alle Liebhaber eines leider nur abstrakten Atomismus, egal, ob sie an Sinnesdaten glauben46 oder an eine metaphysisch fehlgedeutete Atomistik. 46 Für sogenannte Sinnesdaten sind grundsätzlich keine Gleichungen zwischen ›ihren‹ Repräsentanten und ›ihren‹ Präsentationen definierbar, so dass ›sie‹ keinen sortalen Gegenstandsbereich bilden, auf dem ein »es gibt« für ›sie‹ bestimmt wäre – insofern ›gibt‹ es ›sie‹ nicht. Der nur scheinbar anaphorische Ausdruck »sie« ist also bezugsleer.
379 f. Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes 475 § 378 Der Pneumatologie oder sogenannten rationellen Psychologie als abstrakter Verstandesmetaphysik ist bereits in der Einleitung Erwähnung geschehen. (379) Schon in der Einleitung zur Enzyklopädie hatte Hegel auf den Grundmangel einer rein rationalen Seelenlehre hingewiesen. Sie ist nur erst abstrakte »Verstandesmetaphysik« in hypostasierender Fehldeutung unserer formalen Reflexionen auf das Ich und Selbst als vorgestelltem substantiellen Seelenpunkt. Die empirische Psychologie hat den konkreten Geist zu ihrem Gegenstande und wurde, seitdem nach dem Wiederaufleben der Wissenschaften die Beobachtung und Erfahrung zur vornehmlichen Grundlage der Erkenntnis des Konkreten geworden, auf dieselbe Weise getrieben, so daß teils jenes Metaphysische außerhalb dieser empirischen Wissenschaft gehalten wurde und zu keiner konkreten Bestimmung und Gehalt in sich kam, teils die empirische Wissenschaft sich an die gewöhnliche Verstandesmetaphysik von Kräften, verschiedenen Tätigkeiten usf. hielt und die spekulative Betrachtung daraus verbannte. – (379 f.) Hier beginnt Hegel eine spekulative, also topische, Reflexion auf die Psychologie und lobt dabei die empirische Psychologie des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts dafür, dass sie sich den konkreten subjektiven Geist zu ihrem Gegenstand gemacht habe. Er nennt aber auch gleich ein Problem. Das »Wiederaufleben der Wissenschaften« schon im 17. Jahrhundert hat »die Beobachtung und Erfahrung zur vornehmlichen Grundlage der Erkenntnis des Konkreten« werden lassen. Gerade für die Psychologie entstehe daraus eine Gefahr, die man im 20. Jahrhundert unter den Titel eines »Theorie-Defizits« gebracht hat. Gemeint ist der bloß narrative, erzählende bzw. statistische, also zählende, Zugang zu den psychologischen Phänomenen. Dabei wird zwar das »Metaphysische« einer teils religiös-theologischen, teils formal reflektierenden monadischen Seelenpunktlehre aus der empirischen Erforschung psychisch bedingten Verhaltens herausgehalten. Aber gerade im Wunsch, das so erfolgreiche Vorgehen der physikalischen Mechanik zu kopieren, fällt man zurück in eine »gewöhnliche Verstandesmetaphysik« mit ihrer Hypostasierung diverser psychischer Kräfte und Entitäten. 311 311 f .
476 312 312 Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes 380 Der Ausschluss jeder ›spekulativen Betrachtung‹ des geistigen Seins in seinem Gesamtrahmen aus der Psychologie in ihren diversen und doch in notwendiger Einheit zusammenhängenden Themen hat sich als keine gute Idee erwiesen – was z. B. auch Wilhelm Wundt und William James je auf ihre Weise im Prinzip bemerken. Die Bücher des Aristoteles über die Seele mit seinen Abhandlungen über besondere Seiten und Zustände derselben sind deswegen noch immer das vorzüglichste oder einzige Werk von spekulativem Interesse über diesen Gegenstand. Der wesentliche Zweck einer Philosophie des Geistes kann nur der sein, den Begri= in die Erkenntnis des Geistes wieder einzuführen, damit auch den Sinn jener aristotelischen Bücher wieder aufzuschließen. (380) Das innige Verhältnis der Überlegungen Hegels zu denen des Aristoteles wurde in der Einführung schon dargestellt. Hegels Grundhaltung zu einer in ihrer Überheblichkeit provinziellen Gegenwart vermeintlicher wissenschaftlicher Aufklärung findet im 20. Jahrhundert etwa bei Martin Heidegger eine entsprechende Nachfolge – wobei Edmund Hussel in seinem Spätwerk seinem Schüler Heidegger mehr folgt, als unmittelbar sichtbar gemacht ist. Wir können aus der Geschichte der Philosophie und Wissenschaften, übrigens auch der Religionen und Theologien, mehr lernen, als man im Forschen, Denken und den (Fehl-)Urteilen ›auf eigene Faust‹ (Hans-Georg Gadamer) üblicherweise meint. Hegel findet gerade für unser Thema dafür einen Beweis in den Büchern des Aristoteles über die Seele. Diese seien noch nicht übertro=en und in ihrer Bedeutung allererst zu rekonstruieren. Dabei sieht sich Hegel sogar weitgehend nur als Vermittler, nicht als Autor der zentralen Einsichten. So bescheiden ist Hegel sonst nicht; und doch ist gerade dieser Punkt extrem wichtig für die Einschätzung seiner philosophischen Psychologie. § 379 Das Selbstgefühl von der lebendigen Einheit des Geistes setzt sich von selbst gegen die Zersplitterung desselben in die verschiedenen, gegeneinander selbständig vorgestellten Vermögen, Kräfte oder, was auf dasselbe hinauskommt, ebenso vorgestellten Tätigkeiten. (380) Interessanterweise verbindet Hegel nun den haltbaren Sinn der rationalen Seelenlehre mit den Ansätzen der empirischen Psychologie:
380 Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes 477 Denn im Selbstgefühl finden wir unmittelbar eine holistische Einheit, die in den Erklärungen des Verhaltens durch diverse seelische Kräfte zu ›zersplittern‹ droht. Noch mehr aber führen die Gegensätze, die sich sogleich darbieten, von der Freiheit des Geistes und von dem Determiniertwerden desselben, ferner von der freien Wirksamkeit der Seele im Unterschiede von der ihr äußerlichen Leiblichkeit, und wieder der innige Zusammenhang beider, auf das Bedürfnis, hier zu begreifen. (380) Das philosophische Grundproblem des 18. Jahrhunderts, das Hume und Kant in Fortsetzung der Reflexionen von Descartes bis Leibniz je auf ihre Weise lösen wollten, betri=t die Antinomie zwischen der Freiheit des Geistes im Denken und Handeln und einem scheinbaren kausalen Determinismus, nach welchem alles Geschehen und alle Körperbewegungen in der Welt als notwendige Folge einer zureichenden Ursache erscheinen. Descartes stellt sich, wie schon der Platonismus im Dialog Alkibiades und die christliche Philosophie, eine frei auf den Leib wirkende punktförmige Seele vor. Diese Seele stellt er als res cogitans in einen Gegensatz zur äußerlichen Leiblichkeit des lebenden Körpers. Dieser Leib wiederum wird als res extensa wie bei den Tieren als organisierter Mechanismus dargestellt, gesteuert vom Gehirn über das Nervensystem. Das Bedürfnis, das Verhältnis von Seele und Leib, Geist und Natur zu begreifen, ist seither unabweisbar. Was Hegel dazu geleistet hat, scheint aber bis heute nicht bekannt zu sein. Insbesondere haben die Erscheinungen des animalischen Magnetismus in neuern Zeiten auch in der Erfahrung die substantielle Einheit der Seele und die Macht ihrer Idealität zur Anschauung gebracht, wodurch alle die festen Verstandesunterschiede in Verwirrung gesetzt [werden] und eine spekulative Betrachtung für die Auflösung der Widersprüche unmittelbarer als notwendig gezeigt wird. (380) Die Experimente mit toten Fröschen, deren Gliedmaßen man durch elektrischen Strom in Bewegung setzen konnte, bestätigen in gewisser Weise die cartesische Vorstellung von einem innerleiblichen Mechanismus über neuronale Vernetzungen und Wirkungen. Zugleich bildet der Organismus aber eine Einheit, die man als substantielle oder nachhaltige Form des Selbsterhalts auffassen kann und muss. Bei Tieren geschieht das über eine auf Befriedigungen 312 312
478 Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes ausgerichtete, also begierdegesteuerte Selbstbewegung. Die sensitive Seele von Tier und Mensch hat in der Tat eben diese Form. Hegel hat das schon in der Phänomenologie des Geistes beim Übergang vom Bewusstsein (gerade auch als Gewahrsein von Zuhandenem) zum Selbstbewusstsein und zur Selbstbestimmung gehemmter Begierde im zweckorientierten Handeln klargemacht. Der Kampf der Seele als Herrscherin gegen den Leib als bloß erst begierde- und gefühlsgeleiteter Knecht verwandelt sich so in die Dialektik zwischen einer zunächst nur schematischen (Selbst-)Erziehung und autonomer Kontrolle von Inhalten und Geltungen. Hegel spricht in Bezug auf die Seele für uns noch dunkel von der »Macht ihrer Idealität«. Es handelt sich um die ›Wirksamkeit‹ der Lebensform des Genus und Eidos, also der Gattung und Art im endlichen Leben des einzelnen Wesens. Dieses Leben ist immer absolut subjektiv im Vollzug, bei Personen aber nach Form und Inhalt längst schon transsubjektiv bestimmt, zunächst über die festen schematischen Di=erenzierungen und Inferenzen des Verstandes. Diese reichen aber nicht aus, um die praktischen Formen der Vernunft voll begreifbar zu machen. Auch die Darstellungsformen der causa e;ciens, experimentell geprüft in technischen Verfahren, reichen noch nicht einmal dafür aus, die animalische Teleologie zu verstehen, geschweige denn das bewusst zweckorientierte und denk- bzw. planabhängige Handeln von personalen Subjekten. 312 f . § 380 Die konkrete Natur des Geistes bringt für die Betrachtung die eigentümliche Schwierigkeit mit sich, daß die besondern Stufen und Bestimmungen der Entwicklung seines Begri=s nicht zugleich als besondere Existenzen zurück und seinen tiefern Gestaltungen gegenüber bleiben, wie dies in der äußern Natur der Fall ist, wo die Materie und Bewegung ihre freie Existenz als Sonnensystem hat, die Bestimmungen der Sinne auch rückwärts als Eigenschaften der Körper und noch freier als Elemente existieren usf. Die Bestimmungen und Stufen des Geistes dagegen sind wesentlich nur als Momente, Zustände, Bestimmungen an den höhern Entwicklungsstufen. Es geschieht dadurch, daß an einer niedrigern, abstraktern Bestimmung das Höhere sich schon empirisch vorhanden zeigt, wie z. B. in
Begri= des Geistes 381 479 der Empfindung alles höhere Geistige als Inhalt oder Bestimmtheit. Oberflächlicherweise kann daher in der Empfindung, welche nur eine abstrakte Form ist, jener Inhalt, das Religiöse, Sittliche usf., wesentlich seine Stelle und sogar Wurzel zu haben und seine Bestimmungen als besondere Arten der Empfindung zu betrachten notwendig scheinen. Aber zugleich wird es, indem niedrigere Stufen betrachtet werden, nötig, um sie nach ihrer empirischen Existenz bemerklich zu machen, an höhere zu erinnern, an welchen sie nur als Formen vorhanden sind, und auf diese Weise einen Inhalt zu antizipieren, der erst später in der Entwicklung sich darbietet (z. B. beim natürlichen Erwachen das Bewußtsein, bei der Verrücktheit den Verstand usf.). (381) Die These, es gäbe eigentlich keine Teleologie in der Natur, steht schon im Fall der Tiere zumindest zunächst im Widerspruch zu den real bekannten Phänomenen z. B. ihrer umsichtigen Sorge für den Nachwuchs. Kants Vorstellung, nur geistige Individuen könnten in Wahrheit Ziele verfolgen, steht in der Gefahr einer cartesischen Hypostasierung der denkenden Seele. Daher ist es notwendig zu zeigen, wie sich animalisches Leben und denkendes Handeln zueinander verhalten. A. Begri= des Geistes Der Begri= des Geistes ist die allgemeine Form des Geistigen. Zentral für alles Geistige ist der Begri=. Der Begri= im Allgemeinen ist das sich entwickelnde System der Begri=e im Sinne von sprachlich explizit gemachten Formen oder Strukturen. Logik ist das Wissen vom Begri= als Begri=. Bloß erst formale Logik ist Wissen von manchen logischen Schemata wie zum Beispiel den Verfahren der Definition komplexer Prädikate in sortalen Gegenstandsbereichen G . Das sind relationale Bereiche mit basalen Beziehungen R des ›Andersseins‹47 und einer Bestimmung der Identität der Gegenstände durch Relationen R des ›Für-sich-Sein‹ zwischen verschiedenen Präsentationen 47 D. h. aus a R b folgt a , b wie z. B. im Fall von a < b.
480 Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes und Repräsentationen des Gleichen.48 Die semantischen Schemata der ›Wahrheitsbedingungen‹ für Junktoren wie »und« und »nicht« und Quantoren wie »für einige g aus G « oder »für alle g aus G « gehören daher in allererster Linie nur zu einer Technik der Sprachverdichtung: So genannte analytische Folgerungen ergeben sich durch bloße Anwendungen der Schemata der Verdichtung von Inhalten in formalen Definitionen von Prädikaten in G . Sie haben daher die Form der Rückverwandlung einer Kurzschrift in Langschrift, wie im Fall »x ist ein Junggeselle« in »x ist ein nicht verheirateter Mann«. Frege, Russell und die so genannte Analytische Philosophie haben dabei anders als Hegel die Voraussetzungen der begri=lichen Konstitution der immer beschränkten sortalen und immer nur erst relationalen Gegenstandsbereiche gar nicht oder viel zu wenig bedacht. Kant nennt das materiale Moment in den weltbezogenen Bereichsoder Begri=sbestimmungen, also den Definitionen kanonischer Modelle und generischer Theorien, leider »empirisch«. Das hat den großen Nachteil einer systematischen Kontamination von bloß einzelnen Perzeptionen mit allgemeinen Erfahrungen. Alles allgemeine Wissen über Normalprozesse in der handlungsfreien Natur ist zwar material, also erfahrungsgesättigt, aber keineswegs unmittelbarer Inhalt von Beobachtungen oder gar bloßer Perzeptionen. Während das alte Wort »empeiria« dasselbe bedeutet wie »Erfahrung« oder »experience«, bedeutet das Wort »empirisch« besonders seit Humes empiristischer Kognitionsmetaphysik, dass die Kenntnis aus eige48 D. h. aus a R b folgt a = b. Jedes »Selbst« bzw. jeder Gebrauch des Wortes »selbst« setzt eine Gleichheit voraus, eine »Negation der Negation« im Sinn der Verneinung des Für-Anderes-Seins. Es gilt ja a = b immer dann, wenn a , b nicht gilt. In einem ›normalen‹ Bereich G gilt a , b wiederum nur dann, wenn es bereichsinterne Prädikate P gibt, für welche P (a), aber nicht P (b) gilt. Nicht nur Laien, auch Logiker wissen zu wenig über diese Form der Verfassung von Begri=en qua Gegenstandsbereichen G . Diese verlangen eine G -spezifische Gleichheit passend zu einem System von basalen G -Relationen bzw. G -Prädikaten. Dabei hat in Bezug auf die Vielfalt möglicher Ich-Identitäten schon Heraklit das Folgende klar erkannt: Ich bin es und ich bin es nicht, wenn ich zweimal in den gleichen Fluss steige. Auch der Fluss ist derselbe und er ist es nicht, da immer anderes Wasser in ihm fließt. Vgl. dazu Heraklit, Fragmente B 12 und B 49a.
Begri= des Geistes 481 ner ›Empfindung‹ (man sagt leider auch: Wahrnehmung) stammt. Alles Empirische ist und bleibt damit bloß subjektiv, alle Erfahrung ist längst transsubjektiv. Da in der vollen apperzeptiven Wahrnehmung einer bestimmten Sache längst schon eine Artbestimmung und damit allgemeines Wissen über die Artform der Sache, also ihren Begri=, enthalten ist, ist Kants Unterscheidung zwischen bloß empirischer Kenntnis a posteriori und nicht bloß verbal oder rein konventionell als formal wahr gesetzten Sätzen und Regeln a priori nicht wirklich sachgerecht. Die Gleichsetzung von enaktiver Perzeption mit empraktischer Wahrnehmung ist sogar der zentrale Fehler jeder Naturalisierung menschlichen Erkennens. Sie hat als Resultat eine Re-Animalisierung des Menschen. Man meint zwar, erst das 20. Jahrhundert habe die Sprachabhängigkeit des Denkens erkannt. Doch erstens findet sich diese Einsicht bei allen großen Philosophen wie Platon, Descartes oder Kant. Zweitens ist zu beachten, dass die Sprache (langage) als materialbegri=liche Struktur, die sich als Invariante aus Übersetzungen der Sprachen (langues) ergibt, im Wesentlichen dasselbe ist wie Hegels generischer Begri= als dem Ganzen aller Begri=e. Drittens erkennt Hegel, wie unter anderen auch Robert Brandom oder John McDowell hervorheben, die Abhängigkeit des entwickelten Wahrnehmens von einem materialen und doch abstrakten, weil zunächst begri=ssprachlich vermittelten, Allgemeinwissen. Der Spracherwerb ist dabei in der Ontogenese der Entwicklung der Person zunächst nur Aneignung einer Gewohnheit, so dass die praktische Beherrschung reproduzierbarer Formen des Verhaltens und Handelns systematisch vor einer expliziten Artikulation der Formen und damit auch vor einem reflektierten Selbstbewusstsein liegt. Damit wird, viertens, klar, dass die Entwicklung allgemeinen Wissens, partiell institutionalisiert in disziplinär gegliederten Wissenschaften, und die Arbeit des Begri=s dasselbe ist, nämlich unsere Arbeit am Begri= und am generischen Wissen. Die formale Gleichheit der Extension von Weltwissen und Selbstwissen ergibt sich dann, fünftens, aus folgender Betrachtung: Indem ich sage oder sagen könnte, dass p, sage ich auch oder kann ich sagen, dass ich sage, dass p – und umgekehrt. So viel an schematischer
482 Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes Reflexion ist als unmittelbar aktualisierbare Möglichkeit immer vorhanden – wenn wir von einer somnambulen Amnesie und analogen Zuständen des Schlafs absehen dürfen. Damit sehen wir aber auch schon, inwiefern wir unseren relationalen Platz virtuell zu allen anderen Personen und unseren Ort in Bezug auf im Prinzip alles in der Welt kennen lernen müssen, um uns in einem anspruchsvollen Sinn selbst zu erkennen. Bloße Introspektion oder subjektive Reflexion führt dabei nicht weiter. Wir sind damit, sechstens, schon auf das von Hegel erkannte Grundproblem von Kants transzendentalem Idealismus gestoßen, das er mit dem Empirismus teilt: Alles inhaltlich ›Innere‹ ist als semantischer Gehalt äußerbarer Trägerhandlungen oder geäußerter Haltungen und Verhaltungen zu begreifen. Inhalte gibt es nicht in einem unmittelbaren Denken. Es gibt keine ›ideas‹ und keine ›Verknüpfungen‹ von solchen ideas im Sinne John Lockes oder David Humes. Es gibt Inhalte nur auf der Basis eines lauten oder leisen, freilich auch schon partiell automatisierten, symbolischen Handelns zusammen mit Beurteilungen von Gleichgültigkeiten. Alles ist dabei schon im Sinne eines gemeinsamen Unterscheidens und Urteilens normativ bestimmt. Es gibt also keine Inhalte, keine Wahrheit und keine Objektivität ohne transsubjektive Normativität. Angelernte ›rationale‹ Schemata des Verstandes im Regelfolgen und Kennen des Begri=s an sich gehören zwar zu den transzendentalen Bedingungen jedes Verstehen und Erkennens, also auch von Wissen und Wahrheit, verlangen aber immer noch freie, ho=entlich erfahrene, Urteilskraft und Charity in einer dialogisch-dialektischen Ermittlung der jeweils immer auch kontextabhängigen Inhalte. Den so genannten Wahrheitsbedingungen von Aussagen liegen, das ist ein siebter Punkt, die Bedingungen guter Inhaltsbestimmung immer voraus. Alle normalen, sachbezogenen Begründungen und Argumentationen, in denen es nicht um bloße Vorschläge einer Neuordnung der Begri=e an sich und (damit) von schon etablierten Institutionen geht, setzen also die relevanten Geltungsbedingungen voraus. Diese lassen sich keineswegs auf e=ektive Begründungsbedingungen reduzieren, schon gar nicht auf Beweisschemata. Sogar noch in der Mathematik transzendieren die von uns gesetzten Wahr-
381 Begri= des Geistes 483 heitsbedingungen deren Kontrollierbarkeit durch Beweis- und Entscheidungsverfahren. Als achten und letzten Punkt dieser Vorbemerkung ist auf die in ganz anderer Weise als in formalen Definitionen dichten, geradezu romantisch-fragmentarischen, genauer stenographisch-aphoristischen Formulierungen Hegels hinzuweisen. Sie gehören zu einer spekulativen Logik, die als Topographie von Gegenstandsbereichen zu verstehen ist. Dazu sind sie auf der Basis der Beherrschung generischer Ausdrucksformen und in ausreichender Kenntnis des sachlichen Kontextes mit einiger Geduld und freier Urteilskraft in eine ho=entlich leichter verstehbare Langschrift zu übersetzen. § 381 Der Geist hat für uns die Natur zu seiner Voraussetzung, deren Wahrheit, und damit deren absolut Erstes er ist. (381) Solange wir nur erst erzählend auf die Entwicklung unserer eigenen Fähigkeiten reflektieren, hat der Geist als je mein eigenes Denkvermögen ontogenetisch oder pädagogisch und dann auch als das Gesamt-Wir personalen Menschseins in der Phylogenese und Geistesgeschichte »die Natur zu seiner Voraussetzung«. Das ist eine der allgemeinsten Grundtatsachen der Welt, die niemand wirklich bezweifelt, selbst wenn man alles verbal bezweifeln kann, denn das Zweifeln ist ein freies Tun. Entsprechende Wörter willkürlich zu produzieren ist sozusagen leicht und billig. Schwierig wird erst die reflektierte Bewertung von Relevanz, Inhalt und Wahrheit. Andererseits ist der Geist als generisches Gemeinschaftssubjekt weltweiten menschlichen Wissens und aller Institutionen, auch aller Technik und Wissenschaft, die Wahrheit der Natur. Das heißt erstens, dass der Begri= der Natur nur zusammen mit dem Begri= des Geistes bestimmt ist. Denn die Welt ist das Ganze von Natur und Geist. Zweitens kann alles Wissen über die Natur selbst erst in den Geisteswissenschaften und der Philosophie reflektiert und selbstbewusst begri=en werden. Die Natur als Gegenstand des Wissens der von uns disziplinär gegliederten und institutionell veranstalteten Naturwissenschaften muss eben daher noch in ihrem realgeschichtlichen, generisch kanonisierten und empirisch angewendeten Status konkret expliziert werden. 313
484 Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes Für uns ist demzufolge nicht etwa die Natur, sondern der Geist das absolut Erste. Das bedeutet aber nur, dass wir in unseren Bezugnahmen auf die Natur in anschauender Wahrnehmung und Erfahrung längst schon begri=lich denken und dabei angelerntes Allgemeinwissen semantisch voraussetzen. Das hat Descartes zwar erahnt, aber wie seine rationalistischen und empiristischen Nachfolger auf ganz irreführende Weise artikuliert. Wir nehmen im Erkennen immer am allgemeinen Geist des Begri=lichen teil. Ich kann nur erkennen, was man erkennen kann. Alles andere bleibt illusionärer Schein bloß erst subjektiver Imagination. Diese Einsicht wird schon bei Heraklit verschärft zum Gedanken, nur (der) Gott (ho theos) könne überhaupt etwas wissen, da alle einzelnen Wissensansprüche fallibel, also bloß eine Art Glauben oder Überzeugtsein seien.49 Sokrates greift das in gewisser Weise auf – so dass auch sein (dialektisches) Daimonion nur in der Form einer gewissenhaften Prüfung des jeweils Bestmöglichen gelegentliche Bedenken gegen Normalurteile und Normalfallschlüsse anmeldet. Diese Prüfungen schließen bloß oberflächliches Urteilen und fahrlässiges Handeln, soweit es geht, negativ aus. Und doch war diese durchaus konservative Lehre schon revolutionär genug. Denn Sokrates wurde allem Anschein nach gerade wegen seines angeblich neuartigen Göttlichen, das wir heute als Urform des Gewissens und eben damit als subjektive Vernunft erkennen, zum Tode verurteilt. Alle anderen Anklagepunkte sind nur rhetorischer Zusatz – oder Kolportage. Gegen die sokratische Form des Selbstwissens kommt nun in der Tat auch kein Gott an. Platon wendet diese Einsicht in seinem logisch tiefsten Dialog, in dem er zunächst den jungen Sokrates und dann den noch jüngeren Aristoteles mit Parmenides sprechen lässt, so um: Kein Gott des perfekten, aber nur objektiven Wissens, also einer nach49 Heraklit, Frgm. B 78: »Die menschliche Seinsart (Ethos) erlaubt im Unterschied zur göttlichen kein wahres Wissen« (freie Übers. PS). Frgm. B 79: »Jeder Mann ist ungebildet im Vergleich zum göttlichen Geist (Daimon), wie das Kind im Vergleich zum Erwachsenen.« (freie Übers. PS). Frgm. B 83: »Der weiseste Mensch erscheint neben Gott wie ein A=e an Weisheit, Schönheit und allem sonst.« (Übers. Bruno Snell). Frgm B 102: »Vor Gott ist alles schön, gut und gerecht.« (Übers. Bruno Snell).
381 Begri= des Geistes 485 haltigen und transsubjektiven Episteme, die von den Einzelheiten der subjektiven Perspektiven gerade abstrahiert, kann (per definitionem) ›wissen‹, wie sich uns als konkreten Subjekten die Welt in der Doxa der realen Überzeugungen darstellt. Die Vorstellung eines Gottes, der alles, auch in unseren Herzen, sieht, wird unmittelbar inkonsistent, gerade weil sie die zeit- und modallogischen Unterscheidungen zwischen abgeschlossener Vergangenheit (Nuel Belnaps settled past) und o=ener Zukunft ebenso wie die zwischen akzidenteller Realität und Notwendigkeit annulliert. Diese Inkonsistenz liegt allen Varianten eines logisch illusionären Determinismus zugrunde.50 Hegel erkennt nun aber im Nachgang zu Platons Erläuterungen des Eidos oder Begri=s, dass das Erkennen oder Wissen des Gottes – oder besser: des Geistes an sich – nur unsere eigene reflexionslogische Idealisierung der schon etablierten begri=lichen Formen unseres Erkennens und Wissens ist. Die Rede von Gott als Geist artikuliert daher bloß erst die ›ewige‹ Form möglicher Perfektionierungen unseres realen Wissens und Erkennens – samt der ›ewigen‹ Möglichkeit von rein subjektiven Irrtümern und Privationen. Daher sind alle skeptizistischen Auslegungen der Gedanken des Heraklit begri=lich verwirrt, von den Sophisten bis hin zu Humes pragmatistischem Solipsismus und Kants Rede von einem unerkennbaren Ding an sich. Skeptiker wie Pyrrho und Sextus Empiricus sind von diesem Verdikt nur insoweit auszunehmen, als sich eine ihrer Kritiklinien wie m. E. schon bei Heraklit, den Eleaten, damit auch Platon und Aristoteles, mit vollem Recht gegen den Pythagoreismus in rein mathematischen und den Dogmatismus in manchen religiösen Weltbildern richtet. In dieser Wahrheit ist die Natur verschwunden, und der Geist hat sich als die zu ihrem Fürsichsein gelangte Idee ergeben, deren Objekt ebensowohl als das Subjekt der Begri= ist. (381) Die gnomische Formulierung hat es in sich, wie man so sagt. Zunächst enthält sie die Einsicht, dass die Natur nur einen Teil der Welt ausmacht, in der wie leben. Alles Naturwissen und alles Erkennen von natürlichem Geschehen setzt, zweitens, die Vollzugsformen des 50 Vgl. dazu noch einmal Belnap, Perlo=, Xu, Facing the Future. Agents and Choices in Our Indeterminist World. 313
486 313 Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes 381 f. Geistes, besonders das unterscheidende und di=erentiell bedingte Schließen, Handeln, Vorhersagen und Erwarten voraus.51 Drittens verschwindet die Natur auch als die mir scheinbar fremde Außenwelt in gewisser Weise in ›meiner‹ Welt. Denn alle meine (bewussten) Relationen zur Welt gehören zu meiner Welt und daher zu mir. So zu reden ist freilich nur eine metalogische Konvention, nicht anders als die, nach welcher alle Eigenschaften B, welche mir zukommen, ›in‹ mir liegen und daher zu meinem Fürsichsein gehören. Dass man alle Relationen von mir zu einem Gegenstand auch als Eigenschaft von mir bzw. in mir auffassen kann, liefert damit eine für sich harmlose, weil trivialisierende Lesart des Solipsismus: Man könnte diesen ›Idealismus‹ jetzt, wie Wittgenstein vielleicht im Tractatus, als rein verbale Form der Bündelung oder Zentrierung von allen meinen Relationen zur Welt im Ich oder in meiner Welt begreifen.52 Die Idee (ergänze: des Geistes) ist der im Vollzug gemeinsamen personalen Lebens realisierte Begri= (des Geistes). Die Idee (des Geistes) besteht also im Ganzen des begri=lichen Denkens aller Personen und damit der Menschheit im Ganzen, freilich unter Berücksichtigung von zeitlichen Epochen und dann auch von Regionen. Der Geist ist dabei nicht nur als Objekt generischer Reflexion auf die personalen Formen des Menschseins zu fassen, sondern auch als (Kollektiv-)Subjekt. Dieses ist in gewissem Sinn die Menschheit im Ganzen, aber auch das generische Wir oder Ich in je meiner subjektiven Teilnahme am objektiven Geist meiner Zeit. Unser Geist ist daher zu identifizieren mit unserem bzw. je meinem Gesamt-Eidos begri=licher Formen in meinem und unserem Vollzug denkender Weltbezugnahme und in meiner und unserer Reflexion. Diese Identität ist absolute Negativität, weil in der Natur der Begri= seine vollkommene äußerliche Objektivität hat, diese seine Entäußerung aber aufgehoben und er in dieser sich identisch mit sich geworden ist. Er ist diese Identität somit zugleich nur als Zurückkommen aus der Natur. (381 f.) Die Identifizierung von mir mit meiner Welt und von uns mit 51 Die Natur ist hier als das globale relationale Gegenüber unserer begri=lich vermittelten Weltbezugnahmen aufzufassen. 52 Vgl. TLP 5.6 – 5.641.
Begri= des Geistes 487 unserer Welt ist absolute Negativität. Das ist so, weil erstens alle Weltbezugnahmen als unsere zu begreifen sind, zugleich aber zweitens die Unterscheidung zwischen eigenem Sein und Umwelt bzw. handlungsfreier Natur aufrecht erhalten bleibt. Im Bemühen um ›Objektivität‹ sehen wir also abstraktiv ab von den besonderen Erscheinungen der Sache B in phänomenalen Relationen zu uns als den wahrnehmenden und schon damit immer auch denkenden Subjekten. Das heißt, wir fokussieren auf die Objekte oder Sachen selbst, indem wir Bezugnahmen auf uns, unser Interesse und unser Handeln abschatten oder möglichst heraushalten. Wir betrachten also z. B. beim Experiment nur den ›natürlichen‹ Ablauf eines physikochemischen Prozesses. Dabei abstrahieren wir von unserer Technik des Experimentalaufbaus, auch von dem von uns hergestellten Beginn des erst danach ›natürlichen‹ Prozesses. Das eben meint die Rede von einer Entäußerung. Es handelt sich, wie man in der Begri=slogik erfährt, um die abstraktive Aufhebung natürlicher Objektivität oder der objektiven Natur in dem Teil unserer Themen und Gegenstände des Wissens, der von allem Geistigen absieht, damit von allen Interventionen durch uns, gerade auch von aller Technik. Andererseits ist der Bereich des Geistes negativ als »Zurückkommen aus der Natur« zu bestimmen. Das ist jetzt logisch zu verstehen, nicht genetisch. Es bezieht sich erst einmal auf die von uns veranstalteten Formungen des Wissens. Gerade auch unsere eigenen Erzählungen über das Entstehen von Wissen gehören zum Wissen über den Geist. Während in den Naturwissenschaften nur die Darstellungsformen, nicht die Sachen, und auch in den evolutionären Geschichten zur Menschwerdung der Menschen nur erst die Erzählungen selbst, nicht ihr Inhalt und Thema, zum Bereich des Geistes gehören, ist das in der Geistesgeschichte schon ganz anders. Hier gehören Darstellungsform und Thema beide zum Reich des Geistes. Nur die handlungsfreie Welt, wie sie unsere Techniken und unser Wissen möglich macht, gehört zu einer geistfreien Natur für sich. Die Unterscheidung ist eigentlich klar. Sie wird dennoch zumeist nicht in ihrer Bedeutung angemessen beachtet.
488 313 313 f . Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes 382 § 382 Das Wesen des Geistes ist deswegen formell die Freiheit, die absolute Negativität des Begri=es als Identität mit sich. (382) Die Natur ist der Teil oder das Moment bzw. der Aspekt der Welt, in dem ein freies und dabei seiner selbst in Form und Vollzug partiell bewusstes Handeln nicht vorkommt. Damit ist schon rein logisch der Geist als Komplementbereich der Welt in seinem Wesen durch eben diese Freiheit formal charakterisiert. Da die Welt insgesamt Natur und Geist, das gesamte Wissen also Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft ist, ergibt sich die Freiheit des Geistes schon aus dieser absoluten, d. h. vollzugsförmigen, performativ tätigen Unterscheidung. Hegel nennt ihr Ergebnis »Negativität«. Gemeint ist der Unterschied in unserer begri=lichen Bestimmung. Die Identität des Begri=s mit sich ist einfach die generisch-allgemeine Form guter gemeinsamer Begri=sverständnisse – samt allem dazu nötigen Erkennen von Formen und inhaltserhaltenden Übersetzungen von Sprachen. Nach dieser formellen Bestimmung kann er von allem Äußerlichen und seiner eigenen Äußerlichkeit, seinem Dasein selbst abstrahieren; er kann die Negation seiner individuellen Unmittelbarkeit, den unendlichen Schmerz ertragen, d. i. in dieser Negativität a;rmativ sich erhalten und identisch für sich sein. Diese Möglichkeit ist seine abstrakte für-sich-seiende Allgemeinheit in sich. (382) Der abstrakt-allgemeine Geist an sich tut natürlich gar nichts. Daher ist der vorliegende stenographische Aphorismus so zu lesen: Als frei denkende und handelnde geistige Wesen können wir, wie historisch gerade die Philosophie der Stoa und dann auch des Christentums gezeigt hat, formal von aller bloßen Natur, ja von der ganzen äußeren ›Welt‹ abstrahieren. Wir können, heißt das, uns denkend als reine Innerlichkeit von allem Äußerlichen unterscheiden. In dieser Unterscheidung oder Negation wird sogar mein Leib zu einem Teil meines Äußeren. Jeder von uns kann so auch im Prinzip »den unendlichen Schmerz ertragen«, der sich aus der Endlichkeit und den akzidentellen und doch unvermeidlichen Privationen des konkreten leiblichen Daseins und der ewig imperfekten Realität der Welt ergibt. Das heißt, wir können uns in einer Art großem ›Trotz-Alledem‹ wie schon in der Antike
382 Begri= des Geistes 489 die Stoa und in der Moderne der Existenzialismus etwa Albert Camus’ von aller Depression und Verzweiflung bzw. von allen besonderen Abhängigkeiten wenigstens der Form nach und im Prinzip distanzieren. Das gerade meint die Rede von der Negativität in der a;rmativen Selbsterhaltung des geistigen Ich sozusagen gegen alle äußere Welt. Diese Möglichkeit einer zunächst bloß erst deklarativen Distanzierung ergibt sich (nur) daraus, dass die Inhalte des Denkens allgemein sind und wir in der Unterscheidung, was wir als das Unsrige anerkennen und was nicht, relativ frei sind, freier jedenfalls, als viele glauben. Das gilt für all das, von dem wir zulassen, dass es uns bewegt, wie wir sagen, im Unterschied zu dem, was wir als für uns ›eigentlich‹ gleichgültig zu bewerten versuchen oder zu bewerten haben. Freilich ist dann immer noch genauer zu sehen, wovon wir uns wirklich distanzieren können und was wirklich zu uns gehört. Hierzu reichen unsere bloß subjektiven Deklarationen und deren bloß erst formale Freiheit nicht aus. § 383 Diese Allgemeinheit ist auch sein Dasein. Als für sich seiend ist das Allgemeine sich besondernd und hierin Identität mit sich. Die Bestimmtheit des Geistes ist daher die Manifestation. (382) In der Allgemeinheit der möglichen Inhalte individuellen Denkens besteht das Dasein oder die Wirklichkeit des Geistes. In den konkreten, im Einzelfall je besonderen Anwendungen der über ihren Ausdruck mit Defaultinferenzen versehenen Unterscheidungen bestehen die Instanziierungen des Begri=s. Im entsprechenden guten, vernünftigen Urteilen, Schließen und Handeln manifestiert sich der Geist oder die Vernunft. Er ist nicht irgend eine Bestimmtheit oder Inhalt, dessen Äußerung oder Äußerlichkeit nur davon unterschiedene Form wäre; so daß er nicht Etwas o=enbart, sondern seine Bestimmtheit und Inhalt ist dieses O=enbaren selbst. (382) Der Geist ist das generische Wir-Subjekt des gemeinsamen und im Blick darauf normativ richtigen begri=lichen Unterscheidens, Redens, Verstehens, Schließens und Handelns. Als geistige Wesen oder Personen nehmen wir an ihm teil. Den Geist selbst wiederum gibt es nur in diesen Teilnahmen. Entsprechendes gilt für alle Institutionen 314 314
490 314 Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes 382 wie z. B. den Staat oder das Recht. Dabei ist der Geist nicht auf bloß beschränkte begri=liche Bestimmtheiten in bloß regionalen Sprachen einzuschränken, sondern es ist immer der Gesamtrahmen aller möglichen Inhalte zu betrachten. Im geistigen Tun o=enbart oder manifestiert sich der ganze Geist der Menschheit, und zwar schon wegen der potentiellen Bezüge zu dem in einer Epoche im Prinzip zugänglichen Allgemeinwissen und den zugehörigen Artikulationstechniken. In diesem Sinn ›o=enbart‹ sich der Geist immer nur selbst – wobei sich ipso facto die Welt in dieser ›O=enbarung‹ zeigt. Dabei gibt es den Geist wie alles andere in der Welt nur als Vollzug von Formen. Dieser verweist auf ein (Wir-)Subjekt, so aber, dass wir über dieses oder über den Geist ›objektförmig‹ so sprechen, als ginge es um ein tätiges Agens. Das Metaphorische der Redeform ist angemessen zu verstehen und daher sinnkritisch zu kommentieren. Ihre bloße Vermeidung ist dagegen nicht hilfreich. Alle Bestimmtheit des Geistes und aller geistige Inhalt ist in diesem Sinn das O=enbaren selbst. Das wiederholt nur noch einmal, dass es die Formen des objektiven und absoluten Geistes empraktisch nur in den Vollzügen des subjektiven Geistes, also unserem je individuellen Handeln gibt. So viel methodologischer Individualismus muss sein – aber auch nicht mehr: Die Inhalte sind nie rein privat, weder von Aussagen noch von Intentionen. Seine Möglichkeit ist daher unmittelbar unendliche, absolute Wirklichkeit. (382) Die Wirklichkeit einer konkreten Sache, sagen wir des Eichhörnchens vor meinem Fenster, ergibt sich aus der Möglichkeit, dass das, was ich da sehe und rascheln höre, in der Tat ein Eichhörnchen sein könnte: Wir bewerten die begri=lich vorgestellte Möglichkeit als bestehend, als Wirklichkeit, welche in der Erscheinung, dem Erfahrenen, zur Existenz kommt, wie sich Hegel auch ausdrückt. Das Wirkliche zeigt sich oder o=enbart sich in der Anschauung und im vernünftigen Urteil als Anwendung des auf die Bezugs-Sache passenden Begri=s. Dieser ist Bestimmung von Gattung oder Art der Sache. Das o=enbar Vernünftige wird so zum Wirklichen: Jeder, der in der Sprache und im Unterscheiden ausreichend gebildet und der Sache nahe genug ist, würde also, das sagt das Urteil, die Objektivität der Begri=sbestimmung bestätigen.
382 Begri= des Geistes 491 Hegel kehrt nun die Richtung der Betrachtung noch einmal um: Die Möglichkeit des vernünftigen Gebrauchs erworbener geistiger Fähigkeiten in der je endlichen Realität oder auch Aktualität hier und jetzt ist ganz unmittelbar die »unendliche, absolute Wirklichkeit« des Geistes. § 384 Das O=enbaren, welches als die abstrakte Idee unmittelbarer Übergang, Werden der Natur ist, ist als O=enbaren des Geistes, der frei ist, Setzen der Natur als seiner Welt; ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der Welt als selbständiger Natur ist. (382) Hegels Rede vom Werden der Natur ist leider ambig. Gemeint ist wohl: Indem sich begri=liche Unterschiede in der Welt und damit artbestimmte Gegenstände phänomenal zeigen, setzt sich der Geist die Dinge der Natur und ihre Relationen gegenüber, so aber, dass sie Teile seiner Welt bleiben.53 Objektivität entsteht aus der realen Möglichkeit eines Perspektivenwechsels, in dem wir von der bloßen Lokalität und Subjektivität äquivalenter Zugänge zu einer und derselben Sache absehen bzw. abstrahieren. Die selbständige Natur der Welt ist das Invariante in diesem Abstraktionsprozess, der immer bei Erscheinungen und damit bei uns startet. Das O=enbaren im Begri=e ist Erscha=en derselben als seines Seins, in welchem er die A;rmation und Wahrheit seiner Freiheit sich gibt. (382) Der Satz bietet schnellen Lesern Anlass dafür, Hegel als anti-aufklärerischen Geistmetaphysiker zu lesen. Ich denke, dass die Anspielung auf die Bibel in der Tat gewollt ist, aber das schiere Gegenteil von dem bedeutet, was man landläufig Hegel zuschreibt: In unserem begri=lichen Unterscheiden o=enbart sich die Natur als gegliedert. In den 53 Natürlich spielt Hegel hier auch damit, den Schöpfungsmythos der Bibel in seinem Sinn ›logisch‹ umzudeuten. Er denkt aber nicht an eine intellektuelle Anschauung im Sinne Kants, nach welcher Gott durch reines Denken (wie in: »es werde Licht!«) eine Welt erscha=t (»und es ward Licht«). Das wird schon dadurch klar, dass die natürliche Welt in der Reflexion als vorausgesetzt begri=en werden muss: Die begri=lichen Setzungen betre=en daher nur unseren gemeinsamen Zugang zur Welt. 314 314
492 314 k Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes 382 befriedigenden Orientierungen, die uns gesetzte und gelernte materialbegri=liche Normalfallfolgerungen ermöglichen, zeigen sich Natur bzw. geistige Welt als gesetzesförmig ausgestaltete und entsprechend darstellbare Systeme sich wiederholender bzw. tätig wiederholbarer Formen. Wer unbedingt will, kann sich daher die Natur, wie sie sich im begri=lichen Zugang uns gemeinsam objektiv zeigt, als vom begri=sverstehenden Geist ›erscha=en‹ vorstellen. Allerdings sind nur die symbolischen Darstellungen der Formen in unseren Repräsentationen von uns gescha=en, nicht die dargestellten Präsentationen. Diese zeigen sich in gegenwärtiger Anschauung. Im zu kommentierenden Satz bezieht sich das Wort »derselben« natürlich auf die Natur, das Wort »seines« auf den Geist. Es geht daher um die ›Erscha=ung‹ einer dem Geist begri=lich zugänglich gemachten Natur. Gerade indem alle A;rmation und Wahrheit einer Aussage über Natur und Welt Deklarationen sind, die von uns frei als gut oder wahr bewertet werden müssen, ist die Freiheit des Denkens, Urteilens und Handelns unmittelbar mit dem abstraktiven Objektivitätsbegri= mitgegeben. Die Übertreibung, nach welcher Begri=e oder Formen als von uns konstruiert erscheinen, rührt daher, dass man nur Repräsentationen in den Blick nimmt und nicht das gesamte Hin und Her des praktischen und theoretischen, tätigen und verbalen Unterscheidens von präsentierten und repräsentierten Formen samt allen inhaltserhaltenden Übersetzungen und relevanzbezogenen Projektionen. Hegel hat anders als der antirealistische Empfindungsempirismus und der ebenfalls antirealistische Begri=skonstruktivismus kein Problem damit, dass die Natur insgesamt in allem geistigen Sein und Wissen vorausgesetzt ist. Nur die Explikation ihrer begri=lichen Gliederung wird vom Geist, also von uns, gesetzt. Das Absolute ist der Geist, dies ist die höchste Definition des Absoluten. – (382) Die mystische Deutung Hegels als ›Geistphilosoph‹ findet hier ihr Futter, übersieht aber drei Dinge. Das Wort »absolut« negiert in erster Linie das Wort »relativ«, insbesondere im Kontext des epistemischen Zugangs zur Welt. Die Aussage »Es ist Milch im Kühlschrank« ist daher nicht absolut wahr, sondern nur relativ zur hinreichenden Erfüllung ihrer Wahrheitsbedingung. Absolut sind dagegen alle per-
382 f. Begri= des Geistes 493 formativen Vollzüge wie z. B. Deklarationen oder Seinsvollzüge. Das Leben selbst ist absolut. Das absolute Wissenssubjekt aber ist in Hegels Betrachtung der Geist. Ich würde zwar nicht so sprechen, aber es ist klar, dass damit das spekulativ-allgemeine Wir-Subjekt allen Wissens angesprochen ist. Gemeint ist also das gemeinsame Personsein im Vollzug, und das Wir ist sogar in einem ideal-generischen Sinn als bloße Möglichkeit von Gemeinsamkeit zu lesen. Diese Identifikation des Geistes mit Gott und des Ich mit dem Wir samt einer Idealisierung des Wissens steckt implizit in der üblichen Rede vom Absoluten. Alles, was real absolut ist, bleibt dennoch das Sein und besonders unser je begrenztes geistiges Leben im ausreichend guten Vollzug. Diese Definition zu finden und ihren Sinn und Inhalt zu begreifen, dies, kann man sagen, war die absolute Tendenz aller Bildung und Philosophie, auf diesen Punkt hat sich alle Religion und Wissenschaft gedrängt; aus diesem Drang allein ist die Weltgeschichte zu begreifen. – (382 f.) Hegel erklärt hier in nicht eben unbescheidener Weise, dass er in der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik eine endgültige Antwort auf die Frage entwickelt hat, wer oder was das Absolute, also Gott, ist, wie die spekulativen Aussagen über das Absolute zu verstehen und welche Erläuterungen als richtig, welche als irreführend zu werten sind. Dabei verbindet er die sinnkritische Seite seiner logischen Analyse mit der Bedeutung der Sache selbst dadurch, dass er die Frage nach dem Absoluten mit der Entwicklung des religiösen und politischen Selbstverständnisses der Person verbindet. Indem nämlich der allgemeine Geist als absolut anerkannt wird, wenn auch zunächst nur erst durch theologische Mythen vermittelt, wird jede Person als frei und heilig und damit im Grundsatz als rechtlich und politisch mit allen anderen Personen gleichgestellt anerkannt. Dem stehen ganz verschiedene Statusrollen und damit unterschiedliche Entitlements oder Vertretungserlaubnisse von Amtsinhabern und Experten nicht im Wege. Das Wort und die Vorstellung des Geistes ist früh gefunden, und der Inhalt der christlichen Religion ist, Gott als Geist zu erkennen zu geben. Dies, was hier der Vorstellung gegeben und was an sich das Wesen ist, in seinem eigenen Elemente, dem Begri=e, zu fassen, ist die Aufgabe der Philosophie, welche so lange nicht wahrhaft 314 k 314 k
494 Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes 383 und immanent gelöst ist, als der Begri= und die Freiheit nicht ihr Gegenstand und ihre Seele ist. (383) Das Problem war nicht, ein Wort für das Absolute zu finden, nämlich Gott (ho theos, deus), und mit den Christen zu sagen, dass Gott Geist (pneuma, spiritus) sei. Das Problem besteht bis heute darin zu verstehen, was das bedeutet. Die entsprechenden gefühligen Vorstellungen, Allegorien und Metaphern in spekulativer Rede über das Ganze der Natur, der Welt oder der Wahrheit des Geistes explizit in ihrem angemessenen Sinn zu erfassen und sinnkritisch zu kommentieren, ist die Aufgabe hochstufiger logisch-philosophischer Reflexion. Diese Aufgabe kann so lange nicht ausreichend als geleistet gelten, wie der Begri= des Begri=s als Basis der Freiheit des Personseins nicht voll durchschaut ist und damit die Bedingungen der Möglichkeit, ein freies, personales Leben zu führen, nicht in ihren wesentlichen Formen auseinandergelegt sind. Die bloße Ablehnung der Rede von Gott aber und die Vermeidung der Rede vom allgemeinen Geist oder von einer absoluten Wahrheit führt nur in den Verzicht auf Reflexion. Als Kampf gegen die große Reflexionstradition der Religionen überhaupt ist sie Teil einer unbewusst-überheblichen Selbst-Animalisierung der Menschen einer nur vermeintlich aufgeklärten Moderne. a. Einteilung 315 § 385 Die Entwicklung des Geistes ist: daß er I. in der Form der Beziehung auf sich selbst ist, innerhalb seiner ihm die ideelle Totalität der Idee [wird], d. i. daß das, was sein Begri= ist, für ihn wird und ihm sein Sein dies ist, bei sich, d. i. frei zu sein, – subjektiver Geist; II. in der Form der Realität als einer von ihm hervorzubringenden und hervorgebrachten Welt [ist], in welcher die Freiheit als vorhandene Notwendigkeit ist, – objektiver Geist;
383 Begri= des Geistes 495 III. in an und für sich seiender und ewig sich hervorbringender Einheit der Objektivität des Geistes und seiner Idealität oder seines Begri=s [ist], der Geist in seiner absoluten Wahrheit, – der absolute Geist. (383) In Hegels Entwicklung des Geistes geht es nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, wie man zunächst erwarten könnte, um eine historische Rekonstruktion oder Erzählung einer geschichtlichen Genese, sondern um transzendentale Stufen notwendiger Bedingungen, ein geistiges Wesen mit personalen Fähigkeiten zu sein. Dabei beginnt Hegel mit dem subjektiven Geist, also den besonderen ›vernünftigen‹ Fähigkeiten eines personalen Individuums, wie sie sich aus der Art des menschlichen Lebens teils in eigenen Erfahrungen natürlich, teils nur durch die Vermittlung von Erziehung, Bildung und Selbstbildung entwickeln. In einem zweiten Schritt fokussiert Hegel auf die holistisch vorausgesetzten Bedingungen dieser Möglichkeiten der Entwicklung der geistigen Fähigkeiten der einzelnen Subjekte und findet sie im informell-freien Zusammenleben familialer Primär-Gemeinschaften, in formell-freien Verträgen ökonomischer Kooperationen der Sphäre der Gesellschaft und dem politisch frei anerkannten Gemeinwesen als deren Rahmen.54 Jetzt können wir Hegels Formeln der Einleitung etwas verständlicher machen: 54 Wie schon Thomas Hobbes in seinem Leviathan rückt auch Max Weber in seinem monumentalen Werk Wirtschaft und Gesellschaft das Individuum in den Fokus der neuen Wissenschaft Soziologie. Unter dem Slogan eines methodologischen Individualismus, wie explizit bei Jon Elster, aber auch schon im (Neu-)Kantianismus, etwa auch in der Rechtsphilosophie Hans Kelsens, werden dabei immer schon voll gebildete Menschen vorausgesetzt. Trotz der Bedenken in Ferdinand Tönnies’ Gemeinschaft und Gesellschaft abstrahiert man davon, dass sich die Formen des Personseins ontogenetisch in ›kommunitarischen‹ Gemeinschaften wie der Familie allererst bilden. Nach Hegel bildet eine noch viel allgemeinere Gemeinsamkeit weltweiter Kulturgeschichte deren Rahmen. Die Vorstellung von einer Gesellschaft als Menge von Leuten, die ihre (sozialen, politischen und ökonomischen) Beziehungen allererst aufbauen müssen, übersieht außerdem, dass der Staat als res publica den notwendigen rechtlich-institutionellen Schutz der informellen und freien Praxisformen und der vertraglichen Regelungen bietet.
496 Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes I. Der subjektive Geist, auf den wir uns zunächst konzentrieren werden, ist je von mir her gesprochen das Gesamt meiner verhaltensförmigen, haltungsartigen oder dann schon durch Denken und Handeln intentional bestimmten Beziehungen auf mich selbst. Aus der Sicht des Vollzugs meines Lebens wird die Welt zu meiner Welt, zur ›ideellen Totalität der Idee‹ als realisiertem Begri=. Das bedeutet: Alle meine Verhältnisse zur Welt sind Selbstverhältnisse. Alle tätigen Selbstverhältnisse sind Bezugnahmen auf die äußere Welt. Mein Denken, Urteilen und Handeln kann (und sollte manchmal) in indefinit vielen Reflexionsschritten oder vergegenständlichenden Stufen von mir selbstbewusst bedacht werden. Dabei bestimmt der Begri= der wahren oder vollen Person, was für mich als personales Subjekt jeweils normativ relevant wird. In meinem Sein oder personalen Leben habe ich dabei sozusagen die Grundform oder Grundnorm zu erfüllen, bei mir zu sein und in diesem Sinn frei zu sein. Mein Fürsichsein oder Fürmichsein besteht in der lebenslangen freien Bildung meiner selbst als Person. II. Der objektive Geist besteht aus den personalen Praxisformen und Institutionen, wie sie mir und uns vorgegeben sind in der geschichtlichen Realität meiner bzw. unserer Epoche als eingeklammerter Zeit in der Weltregion, in der wir leben. Diese bestimmen, was wir als Subjekte je hier und jetzt aufgrund unserer personalen Statusrollen tätig hervorzubringen haben. Sie bilden selbst eine von uns hervorgebrachte ›geistige‹ Welt. Wenn wir diese nicht nur als Gegenstand (z. B. der Geisteswissenschaften), sondern auch als Wir oder generisches Kollektivsubjekt aller aktiven und passiven Teilnehmer an den Praxisformen und Institutionen betrachten, sprechen wir kurz und prägnant vom objektiven Geist. Dieser schließt Familie und Gesellschaft und sogar noch eine durch das Verhältnis der Staaten zueinander vermittelte Weltbürgerschaft ein. Sein ›Tun‹ besteht zunächst in unserem praktischen Anerkennen der Formen und Normen gemeinsamen personalen Lebens. Dazu gehören insbesondere auch die Übernahme und Erfüllung von gegebenen Commitments, also einfach unserer sittlichen Pflichten. Sie bilden die Notwendigkeiten unserer gemeinsamen Freiheit. Erst sekundär nehmen wir aktiv an der ›politischen‹ Entwicklung des institutionellen Normensystems teil. Kants Moralphilosophie tendiert aus Hegels Sicht dazu, die Bedeut-
383 Begri= des Geistes 497 samkeit dieser Stufung zu unterschätzen – mit der Folge, dass die schöne Seele, die heute auch »Gutmensch« heißt, wie der revolutionäre Tugendheld, man denke durchaus an Saint-Just und Robespierre, nur noch aus rein subjektivem moralischem Gefühl heraus handelt. III. Das An-und-für-sich-Sein des absoluten Wir ist analog zu Fichtes reflexiver Selbstvergegenständlichung des Ich zu begreifen. Es besteht in allen Praxisformen unserer mehr oder weniger selbstbewussten Reflexionen auf uns selbst. Wir sind also selbst der Geist in der absoluten Wahrheit seiner Selbstbezugnahme. Diese wird konkret explizit in den Praxisformen der Religion, der Kunst und der Philosophie. Absoluter Geist sind wir weder als Einzelsubjekte noch als bloßes Kollektiv gemeinsamer Teilnahme an den sittlichen Formen und Normen des Gemeinwesens, sondern in gemeinsamer Reflexion auf den objektiven Geist des Personseins. Wir sind absoluter Geist im Vollzug und in potentiell unendlichen spekulativen Reflexion auf uns selbst – in Kunst, Religion und selbstbewusster Philosophie. Das meint die Rede von einer ›ewig sich hervorbringenden Einheit der Objektivität des Geistes und seiner Idealität oder seines Begri=s‹. Dabei kann das Pathos im Wort »ewig« leicht in die Irre führen. Es ist nicht gemeint, dass der Geist in realer Zeit ewig existiert. Außerdem verweist das Wort »Idealität« sowohl auf das Wir-Subjekt, da alles Ideelle subjektiv ist, als auch auf das Formale, da alle Ideale als Schemata zu verstehen sind und alles Formale oder Schematische als solches ideal ist. Es geht hier also um die ›ewige‹ Realisierung des Begri=s des Geistes als Idee eines freien personalen Lebens. Konkretere Ausführungen zum absoluten Geist, die hier nicht in aller Tiefe unser Thema sind, finden sich in Hegels Phänomenologie des Geistes und dann auch in den Vorlesungen zu Kunst und Ästhetik, den Vorlesungen zu einer Philosophie der Religion, der Weltgeschichte und zu einer Geschichte der Philosophie. § 386 Die zwei ersten Teile der Geisteslehre befassen den endlichen Geist. (383) Als (geistige) Subjekte leben wir im Vollzug präsentisch, lokal und sind endlich. Wir leben von unserer Geburt bis zu unserem Tod je 315
498 315 Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes 383 f. in unserer regionalen Gegenwart. Aber auch der objektive Geist, die Kultur eines Volkes oder einer Weltepoche ist endlich. Der Geist ist die unendliche Idee, und die Endlichkeit hat hier die Bedeutung der Unangemessenheit des Begri=s und der Realität mit der Bestimmung, daß sie das Scheinen innerhalb seiner ist, – ein Schein, den an sich der Geist sich als eine Schranke setzt, um durch Aufheben derselben für sich die Freiheit als sein Wesen zu haben und zu wissen, d. i. schlechthin manifestiert zu sein. (383 f.) In welchem Sinn ist nun der absolute Geist unendliche Idee? Und was soll der Disclaimer heißen, dass Endlichkeit hier nur »die Bedeutung der Unangemessenheit des Begri=s und der Realität« habe? Hegel geht ganz o=enbar mit Wörtern wie »ewig« und »unendlich« etwas sorglos um. Eine zeitliche Ewigkeit oder Unendlichkeit interessiert ihn überhaupt nicht, zumal es diese nur in unseren mathematischen Modellbildern gibt. In der realen Welt ist alles endlich. Hegel distanziert sich an manchen Stellen auf geradezu sarkastische Weise von der Meinung, angesichts der ›Unendlichkeit‹ des Weltalls seien wir Menschen in unserem endlichen Leben so unwichtig wie ein Sandkorn in der Sahara. Denn es ist im Umkehrschluss nichts so anmaßend wie die Betrachtung seiner selbst von der Seite. Man meint dann etwa, es habe das Leben nur Sinn, wenn es in seinen großartigen Leistungen auf ewig von anderen Personen erinnert oder wenigstens von einem Gott beurteilt und im guten Fall mit ewiger Seligkeit belohnt wird. Wenn man dieser Art von Denken ihren Gott wegnimmt, kollabiert es schnell in die Depression des Nihilismus, in die Sinnlosigkeit einer vermeintlich entzauberten Welt. Der absolute Geist ist nun aber wie schon Fichtes Ich ein je einzelnes und ein je gemeinsames Subjekt-Objekt in folgendem Sinn: Als Reflexionsgegenstand schreiben wir dem Ideal des Geistes alle Perfektionen des Wissens, Könnens und gemeinsamen Handelns zu und feiern ›ihn‹ (damit aber indirekt auch uns selbst) performativ in Kunst und Religion, selbst dann und gerade dann, wenn in Kunstwerken oder seelsorgerischen Predigten kritisch auf die Di=erenz zwischen Ideal und Realität hingewiesen wird. Diese Di=erenz ist und bleibt ›ewig‹ von der gleichen Art oder Form wie die zwischen geometrischen Formen und empirisch realisierten Gestalten. Die Ideale des Geistes bleiben dennoch Bedingung der Möglichkeit
Begri= des Geistes 499 unseres realen geistigen Seins. Daran ändert auch nichts, wenn Kunst in einem satirischen oder schon sarkastischen Realismus – nach Art der Katharsis der antiken Tragödie – das bloß erst Süßliche eines üblichen Verständnisses von Idealen und Utopien geißelt. Andererseits zeigt die Philosophie und in ihr die dialektische Logik der Formen des Sprechens und Denkens, inwiefern wir im Vollzug der Feier der Ideale des Begri=s des absoluten Geistes selbst absolutes Wir sind. Die Liturgien des absoluten Geistes in Kirchen, Museen, Theatern, Konzertsälen, Bibliotheken, Gerichtsgebäuden, Regierungspalästen, sogar Bahnhöfen, Fußballstadien und im ö=entlichen Raum mit Gemeindefesten, Prozessionen, auch Demonstrationen sind am Ende die einzige Weise, das Wir der Gemeinschaft der Personen manifest zu machen: Während wir in der Kammer privaten Denkens ein Wir und Uns nur individuell repräsentieren, etwa bloß vorstellen, sagen und singen wir im gemeinsamen Gebet, Lied oder dem Skandieren von Slogans wie »Wir sind das Volk« gemeinsam »wir« und machen so das Gemeinsame präsent. In aller Manifestation und allen realen Instanziierungen des Geistes zeigt sich der Geist selbst nur als Erscheinung, in der Wesen und Schein sozusagen verbunden und im Begreifen ebenso auseinanderzuhalten sind wie die Idealform und die Ausführungsmängel eines Kunstwerks oder einer mathematischen Form. Hegels Formeln sind freilich zu dicht, als dass man sie unmittelbar verstehen könnte. Wir als geistige Wesen sind es jeweils selbst, die zum Beispiel im Blick auf ein Kunstwerk wie Mozarts Don Giovanni, einen Staat wie die Schweiz oder eine christliche Kirche jeweils eine Schranke setzen und sagen, dass die begri=lichen Bedingungen einer Oper, Republik oder Religion geradezu perfekt oder wenigstens ausreichend gut erfüllt sind – oder in gewissen Hinsichten eben nicht. Gerade so gehen wir ja auch mit mathematischen Formen in realer Anwendung auf die Welt um. Die Aufhebung des Scheins des Mangels besteht dann darin, auch in nicht perfekten Exemplaren den Prototyp einer idealen Form erkennen zu können, so dass z. B. die attische Demokratie und die römische Republik mit ihren Verfahren der Regierung und Rechtsprechung trotz o=ensichtlicher Mängel auf das Ideal eines Gemeinwesens ebenso hinweisen wie z. B. das seeräuberische England unter Elizabeth I., das
500 315 Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes 384 kriegslüsterne Frankreich unter Louis XIV. oder auch Preußen in und nach napoleonischer Zeit.55 Die verschiedenen Stufen dieser Tätigkeit, auf welchen als dem Scheine zu verweilen und welche zu durchlaufen die Bestimmung des endlichen Geistes ist, sind Stufen seiner Befreiung, in deren absoluten Wahrheit das Vorfinden einer Welt als einer vorausgesetzten, das Erzeugen derselben als eines von ihm Gesetzten und die Befreiung von ihr und in ihr eins und dasselbe sind, – einer Wahrheit, zu deren unendlichen Form der Schein als zum Wissen derselben sich reinigt. (384) Den ›abduktiven‹ Aufstieg von realen Fällen zu den bestmöglich passenden idealen Formen kennen wir als Prozess der Ideation.56 Jede brauchbare, also nicht rein willkürlich erfundene Formalisierung oder Schematisierung hat eine Ideation im Rücken. Der subjektive Geist einer Einzelperson und der objektive eines Volkes einer Epoche verbleiben zwar immer auf endlicher Ebene mit relativen Unvollkommenheiten, die bei Hegel auch als »Schein« tituliert werden. Aber das Selbstbewusstsein ist absolut, soweit es den Zusammenhang des Vorfindens seiner Welt mit den eigenen Setzungen aller unserer Ideale, gerade auch aller idealen Wahrheit zur allgemeinen Orientierung begreift. Das freie Verfahren einer abduktiven Ideation führt uns von prototypischen Beispielen zu Begri=en, gerade so wie in der Geometrie. In den Anwendungen der ›unendlichen‹, also idealen bzw. generisch schematisierten Begri=e verflüssigen wir dann aber die festen Formen des Begri=lichen wieder und steigen über Schritte einer EntIdealisierung mit freier Urteilskraft herab auf die endliche Ebene der realen Instanzen. Das geschieht auch immer dann, wenn wir von einer 55 Die welthistorische Bedeutung der ägyptischen und mesopotamischen Literatur, etwa der Epen Homers, der biblischen Geschichten Abrahams, Jakobs und Josephs oder des Buches Hiob, der griechischen Philosophie und dann auch der Gleichnisse und Paradoxien des sogenannten Neuen Testaments lässt sich ebenfalls nur begreifen, wenn wir von den leicht bemerkbaren Mängeln der Darstellungen absehen und auf wesentliche Formen und jeweils neuartige Inhalte zu achten lernen. 56 Cf. Pirmin Stekeler-Weithofer, Formen der Anschauung, S. 27, 105 und 159.
384 Begri= des Geistes 501 ›absoluten Wahrheit‹ eines ›allwissenden Gottes‹ übergehen zum Realbegri= des Wissens und der Wahrheit, die es nur gibt im Unterschied zu einem bloßen Glauben, einem Schein oder einer Falschheit. Wie der Realbegri= des Kreises seine Mängel hat, so sind auch alle Realbewertungen von Wissensansprüchen fallibel. Das macht sie aber noch lange nicht zu einem bloßen Glauben. Es gibt keine reale Wahrheit, die nicht ein von gewissen Personen bewerteter Wissensanspruch wäre. In einem der berühmten GettierBeispiele, in denen ich eine Scheune sehe, du aber weißt, dass es nur zufällig eine Scheune in einem ansonsten Potemkinschen Dorf ist, weißt nur du, nicht ich, dass ich nicht wissen kann, dass es eine wirkliche Scheune ist. Das Problem der üblichen Diskussion dieser Beispiele ist, dass zwischen dem spekulativen Idealbegri= perfekten Wissens und der vernünftigen (Selbst-)Zuschreibung von Wissen im Unterschied zu einem Rückzug in eine bloße Expression einer Überzeugung je nach Kontext und Situation nicht unterschieden wird. So wie Protagoras und Hume zu sagen belieben, dass es keine wirklichen Kreise in der Welt gibt, werden sie als Empiristen aufgrund der unabweisbaren Tatsache, dass jeder reale Wissensanspruch fallibel ist, also nie alle möglichen Irrtümer ausgeschlossen werden können, zu Wissens- und Wahrheitsskeptikern. Damit wird ihnen alles Wissen zu einem Glauben. Wer aber immer nur »ich glaube« sagt, mit dem ist kaum besser zu kooperieren als mit dem, der zu oft lügt. Außerdem gehen sie damit an den allgemeinen Sprachtechniken der Ideation und Entidealisierung vorbei und damit an dem, was Hegel im Geiste Platons als Begri= und Idee diskutiert. Die Bestimmung der Endlichkeit wird vornehmlich vom Verstande in der Beziehung auf den Geist und die Vernunft fixiert; es gilt dabei nicht nur für eine Sache des Verstandes, sondern auch für eine moralische und religiöse Angelegenheit, den Standpunkt der Endlichkeit als einen letzten festzuhalten, sowie dagegen für eine Vermessenheit des Denkens, ja für eine Verrücktheit desselben, über ihn hinausgehen zu wollen. – (384) Es folgt eine massive Kritik an einem scheinbar bescheidenen oder schwachen Denken, das auf alle Ideale verzichten möchte und sich wie Hume mit dem kleinen Glück pragmatischen Erfolgs zufriedengibt. Der eigentliche Gegner der Passage ist aber Kant in seiner 315 f . k
502 316 k Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes Abwertung der Idee bzw. aller Ideen zu bloß regulativen Vorstellungen der einzelnen Subjekte. Der Verstand ist das Vermögen schematischen Unterscheidens und Schließens. Besonders schön schematisiert ist dieses im Kontext von (semi-)sortalen Gegenstandbereichen nach Art mathematischer Strukturen. Da nun die Rede über den Geist, wie wir gesehen haben, eine holistische, eine generische, eine ideal-unendliche und eine doppelt subjektive Formkomponente im Ich und Wir hat, ist der Geist kein Gegenstand in einem semi-sortalen Bereich von Redegegenständen mit einfachen Relationen zu anderen Gegenständen und anderen Prädikaten. Aber auch die Vernunft als einschränkende, dabei jedoch freie Reflexion auf die Grenzen des schematischen Urteilens macht dem Verstand, also dem schematischen Urteilen, natürlicherweise Probleme. Kants Kritik der reinen Vernunft fokussiert auf die Kritik einer scheinbar überschwänglichen Vernunft, die etwas über holistische, spekulative Sachen, also Totalitäten oder Ganzheiten, zu wissen beansprucht, obwohl unser Erkenntnisvermögen doch, wie Kant uns versichert, nur für endliche Gegenstände der Erscheinungswelt tauge. Dabei hält Hegel an der Einsicht in die Endlichkeit aller realen Sachen, auch allen realen Erkennens fest. Er verwirft aber das falsche, aus dem Empirismus stammende Bild, nach welchem alles Reale und Endliche bloße Erscheinung sei. In einem gewissen Sinn teilt er mit Kant die Einsicht, dass es eine Sache wahren Wissens, wahrer Moral und wahrer Religion ist, uns Bescheidenheit zu lehren; er hält es dennoch für falsch, »den Standpunkt der Endlichkeit als einen letzten festzuhalten«. Kant lässt es so erscheinen, als sei es vermessen, ja verrückt, über ganze Bereiche von endlichen Dingen, Ereignissen und Prozessen etwas zu wissen und dabei über die sich unseren Sinnen in der Anschauung präsentierenden Erscheinungen hinausgehen zu wollen. Wir müssen das aber in spekulativer Reflexion auf das wahre Ganze immer tun. Diese holistischen Denk- und Sprachformen sind nicht etwa als anmaßende Metaphysik zu verwerfen, sondern angemessen zu begreifen. Die Verwechslung spekulativer Reflexion mit einer metaphysischen Betrachtung der Welt von der Seite ist daher immer zu vermeiden. Es ist aber wohl vielmehr die schlechteste der Tugenden eine
384 Begri= des Geistes 503 solche Bescheidenheit des Denkens, welche das Endliche zu einem schlechthin Festen, einem Absoluten macht, und die ungründlichste der Erkenntnisse, in dem, was seinen Grund nicht in sich selbst hat, stehen zu bleiben. Die Bestimmung der Endlichkeit ist längst an ihrem Orte, in der Logik, beleuchtet und erörtert worden; diese ist dann ferner für die weiter bestimmten, aber immer noch einfachen Gedankenformen der Endlichkeit wie die übrige Philosophie für die konkreten Formen derselben nur dies Aufzeigen, daß das Endliche nicht ist, d. i. nicht das Wahre, sondern schlechthin nur ein Übergehen und Übersichhinausgehen ist. – (384) Das rechte Verständnis der Rede vom Endlichen und Unendlichen ist für die Lektüre der Passage entscheidend. Denn der Satz, »daß das Endliche nicht ist, d. i. nicht das Wahre«, wird häufig – etwa auch von Max Horkheimer – so gelesen, als setze sich Hegel über alles einzelne Endliche, auch über einzelne Subjekte, nonchalant hinweg und achte nur auf das Große, Ganze und Allgemeine. Das Gegenteil ist der Fall. Aber das ist nicht einfach zu sehen, wenn man nicht generell festhält, dass es sich beim Verhältnis zwischen dem Unendlichen und Endlichen um das Verhältnis zwischen idealbegri=lichen Sätzen über allgemeine Formen und deren immer nur mehr oder weniger guten Instanziierungen handelt – und dann auch zwischen spekulativen, ganzheitlichen und bloß begrenzten, idealtypischen Reflexionen. Da alle Begri=e ideal sind und alles konkrete Begri=sverstehen in dialektischer Weise zwischen Ideal und Realität im Hin und Her von bestimmender und reflektierender Urteilskraft vermitteln muss, ist es ein Desaster logischer Analyse, wenn man »das Endliche zu einem schlechthin Festen« macht. Denn die Substanz, der nachhaltige Inhalt im Denken und Verstehen, auch jeder objektive Gegenstand, auf den wir gemeinsam Bezug nehmen (könnten), ist nie einfach eine Erscheinung rein für sich, ohne idealbegri=liche Bestimmung ihrer Ur-Sache (bei Hegel auch: ihres Grundes). Aller Inhalt und alle Objektivität sind immer durch den ›unendlichen‹, generischen Begri= als dem relevanten Gegenstandsbereich mit seinen typischen Relationen an sich im zugehörigen System von Idealformen vermittelt. Eine bloß ›pragmatische‹ Bescheidenheit im Denken ist daher per se keine Tugend. Denn sie verkennt die ideale Verfassung des Begri=lichen und die nur konkret in prekärer Schwebe bleibende, aber
504 316 k Hegels Einleitung in die Philosophie des Geistes 384 f. insgesamt mögliche Gemeinsamkeit und Einheit theoretischer und praktischer Vernunft. Wenn man die Rede von einer absoluten Wahrheit nicht als spekulatives Ideal begreift, sondern wie Kant in eine angeblich von uns nicht erkennbare noumenale bzw. intelligiblen Welt des Dinges an sich verfrachtet, führt das nicht weniger in die Irre als der empiristische Skeptizismus. Für mich und uns zugänglich seien demnach nur Erscheinungen und subjektive Gewissheiten. Jacobi hat die Folgen dieser Lehre immerhin erkannt. In ihr kollabiert Aufklärung und sinnkritische Philosophie nämlich in eine neue Rechtfertigung des Glaubens. Im Unterschied zu Hegel hat Jacobi diese Folgerung aber noch nicht als das Skandalon kantischer Philosophie kritisiert. Im Gegenteil. Indem er sie selbst zieht, wird Jacobi zum Vater einer bis heute weltweit herrschenden Inkohärenz. Einerseits hält man an der Unmittelbarkeit eines ehrlichen Überzeugtseins fest. Andererseits schreibt man der Wissenschaft umstandslos das Recht auf Setzung von allgemeinem Wissen zu. Dieses Endliche der bisherigen Sphären ist die Dialektik, sein Vergehen durch ein Anderes und in einem Andern zu haben; der Geist aber, der Begri= und das an sich Ewige, ist es selbst, dieses Vernichtigen des Nichtigen, das Vereiteln des Eiteln in sich selbst zu vollbringen. – Die erwähnte Bescheidenheit ist das Festhalten dieses Eiteln, des Endlichen, gegen das Wahre, und darum selbst das Eitle. Diese Eitelkeit wird sich in der Entwicklung des Geistes selbst als seine höchste Vertiefung in seine Subjektivität und innerster Widerspruch und damit Wendepunkt, als das Böse, ergeben. (384 f.) Die Passage ist ein bombastisches und zugleich polemisches Orakel. Hegel erklärt ironisch, fast schon sarkastisch, dass die scheinbar vernünftige epistemische, moralische und religiöse Forderung nach bescheidener Selbsteinschränkung der Vernunft in Wahrheit dem Unwahren eines rein subjektiven Willkürglaubens Vorschub leistet. Das wahre Böse besteht in einer bloß erst subjektiv ehrlichen, aber eben damit noch ganz selbstgerechten Moral. Sie liegt direkt neben einem intuitiven Aberglauben eines rein subjektiven religiösen Gefühls. Auch Nietzsche wird später zeigen, wie subjektive Willkür in den Nihilismus eines Wahrheits- und Werte-Relativismus führt. Hegel begründet sein vernichtendes Urteil gegen Kant, Fichte und
Begri= des Geistes 505 dessen romantische Nachfolger, zu denen man aus Hegels Sicht unter anderen J. J. Fries, F. Schlegel und F. Schleiermacher zu zählen hätte, in einer kurzen Gedanken-Skizze so: Alles Endliche ist durch anderes Endliches begrenzt und in Relation zu ihm bestimmt. Es entsteht aus Anderem und vergeht in Anderes. Der schematische Standpunkt des Verstandes abstrahiert von unserer Bestimmung aller Identitäten und Verschiedenheiten, damit von uns und unserer Rolle bei der Bestimmung von Gleichgültigkeiten und Unterscheidungen. Die Spitze der Subjektivität besteht daher ironischerweise darin, in unmittelbarer Gewissheit die Objektivität transsubjektiver Unterscheidungen samt aller reflexionslogisch bewerteten Richtigkeiten und Wahrheiten zu beanspruchen. Die Internalisierung kooperativer Formen des Wissens, Urteilens und Handelns geht damit entschieden einen Schritt zu weit. Hegel diagnostiziert zugleich eine vorgeschobene Bescheidenheit. Sie vertuscht die Weigerung, über die Gesamtformation von Wissen und Begri=, über Geist und Natur, Vernunft und Verstand, institutionalisierte Sittlichkeit und bloß subjektive Kohärenzmoral auch eines moral sentiment gewissenhaft nachzudenken. In Wahrheit wollen die Leute mit der These von einem Nichtwissenkönnen und einem vermeintlich pluralen Glauben nur an ihren eigenen Lieblingsideen dogmatisch festhalten dürfen. Sie verbitten sich so jede Kritik an der inhaltlichen Leere ihres im Grunde anmaßenden Selbstdenkens. Wir können Hegels pathetische Polemik jetzt ein klein wenig trockener formulieren: Geist und Begri= sind an sich ewig nur in ihrer generischen Zeitallgemeinheit als (ideale) Formen des Vollzugs geistigen Lebens und begri=lichen Verstehens. Im Prozess der Entwicklung des allgemeinen Wissens als Voraussetzung des Begri=lichen und damit des Sprechens und Denkens wird das bloß Nichtige akzidenteller Ausnahmen oder auch rein subjektiver Gefühle kanonisch aufgehoben, ebenso alles Eitle im Sinne des Leeren und des subjektiven Wichtigtuns. Gerade auch in der Rechtsphilosophie hat Hegel diese Eitelkeit als »höchste Vertiefung in seine Subjektivität« und damit als das wahre Böse herausgearbeitet. Hier sagt er, dass sich dieses Ergebnis in der Philosophie des objektiven Geistes noch einmal ergeben wird.

Erste Abteilung der Philosophie des Geistes. Der subjektive Geist § 387 Der Geist, in seiner Idealität sich entwickelnd, ist der Geist als erkennend. Aber das Erkennen wird hier nicht bloß aufgefaßt, wie es die Bestimmtheit der Idee als logischer ist (§ 223), sondern wie der konkrete Geist sich zu demselben bestimmt. (386) Der Geist tut natürlich im wörtlichen Sinn gar nichts. Die Rede von seiner (Selbst-)Entwicklung meint, dass wir die geistigen Formen entwickeln, so aber, dass diese Entwicklung kein intentionales Tun von mir oder uns wäre, sondern immer auch ereignisartig ist. Denn alle Vorschläge zur Formung gemeinsamen Wissens und Handelns müssen allgemein anerkannt werden. Nur so werden sie zu kanonischen Normen des Verstandes und der Vernunft. Der Geist entwickelt sich demnach von selbst, insofern wir von den Sachen her dazu geführt werden, an dieser Entwicklung teilzunehmen. Die Idealität des Geistes ist dann aber auch im Sinn der subjektiv etablierten Vollzugsformen zu verstehen, nicht nur im Sinne der Ideale, die in allen Schematisierungen geformten Redens und Handelns immer schon enthalten sind. Daher beginnt alle Reflexion auf den Geist mit dem subjektiven Erkennen. In der Logik war das Erkennen begri=lich allgemein als Anwendung allgemeinen begri=lichen Wissens in realen, also empirischen Weltbezügen erläutert worden. Hier geht es nun um seine konkreten Möglichkeitsbedingungen. Der subjektive Geist ist: A. An sich oder unmittelbar ; so ist er Seele oder Naturgeist; – Gegenstand der Anthropologie. B. Für sich oder vermittelt, noch als identische Reflexion in sich und in Anderes; der Geist im Verhältnis oder Besonderung; Bewußtsein, – der Gegenstand der Phänomenologie des Geistes. 317 317
508 Der subjektive Geist 386 C. Der sich in sich bestimmende Geist, als Subjekt für sich, der Gegenstand der Psychologie. (386) Die Gliederung des Themas, das unter dem Titel »subjektiver Geist« steht, betri=t verschiedene Momente oder Aspekte je meines begri=sbestimmten Lebens. Diesen Momenten oder besser Aspektbereichen des personalen Subjekts ordnet Hegel einerseits reflexionslogische Titel wie »Seele« und »Bewusstsein« zu, andererseits die Themenbereiche der Anthropologie, Phänomenologie des Geistes und der Psychologie. Dabei würde man traditionell als Thema der Psychologie nicht das Subjekt, sondern die Seele oder Psyche nennen. Das ist aber eine Frage der Terminologie und trägt zur Sache nicht viel bei. Zu beachten ist aber, dass Hegels philosophische Anthropologie sich nur mit grundbegri=lichen Fragen beschäftigt. Sie steht damit nicht in Konkurrenz zu einer empirischen oder evolutionären Anthropologie, auch wenn gewisse Begri=sverwirrungen kritisiert werden, die sich ergeben können, wenn man die methodische Ordnung des Aufstiegs von allgemeinen zu besonderen Unterscheidungen oder des Abstiegs in entsprechenden Anwendungen nicht genügend beachtet. Analoges gilt für die ›Psychologie‹, die bei Hegel als Philosophie des personalen Subjektseins betrieben wird und ebenfalls nicht in Konkurrenz steht zu einer empirischen oder medizinischen, pädagogischen oder therapeutischen Psychologie. Obwohl ich den Titel Naturgeist nicht selbst übernehme, steht er für alle allgemeinen biologisch-animalischen Voraussetzungen der ontogenetisch-pädagogischen bzw. entwicklungspsychologischen Bildung und Selbstbildung geistiger Vermögen. Das Unmittelbare der Seele als Geist an sich besteht gerade in der Möglichkeit ihrer Entwicklung. Gegenstand der Phänomenologie des Geistes sind die realen Vollzugsformen bewusster Welt- und Selbstbezugnahmen. Hier gibt es keine zugehörige Sachwissenschaft. Das liegt daran, dass die Aufgabe dieser rein philosophischen Disziplin die explizite Artikulation reflexionslogischer Unterscheidungen ist, in welcher mentalistische oder metaphysisch-metaphorische Reden über Seele und Gemüt, Bewusstsein und Selbstbewusstsein durch gemeinsame Unterscheidungen
386 Der subjektive Geist 509 auf der phänomenologischen Ebene ihrer Erscheinungen sinnkritisch analysiert werden. Die reflexionslogischen Gegenstände und Eigenschaften des Bewusstseins sind durch entsprechende Erscheinungen vermittelt. Von Bewertungen der Formgleichheit der Erscheinungen gehen wir zum Fürsichsein der Form als Gegenstand der Reflexion über. Das beginnt in einem rational-verständigen Unterscheiden und schematisch-formalen Schließen. Dieses macht den Verstand aus als Fähigkeit (auch als metaphorisches Agens) des prima facie korrekten Redens und Handelns. Vernunft besteht aus einem dialektischen Hin und Her von reflektierender und bestimmender Urteilskraft samt zugehöriger Sinnkritik und potentiell unendlicher Reflexion auf Richtigkeiten in der begri=lichen Bestimmung einer Sache. Hegels Ausdruck »identische Reflexion in sich« meint eben diese reflexionslogischen Bewertungen gerade auch von reflektierenden Aussagen. Wie das Bewusstsein mein geistiges Verhältnis zur Welt und zu mir selbst zugleich ist, habe ich schon erläutert. Das voll zur Person gebildete Subjekt einerseits, seine möglichen Defekte oder Privationen etwa in sogenannten geistigen und seelischen Krankheiten andererseits sind dann das Thema der Psychologie. In Hegels Philosophie der Psychologie geht es dabei – ich variiere den Punkt – nur um die grundsätzlichen Formen und Privationen personaler Selbstbestimmung. In der Seele erwacht das Bewußtsein; das Bewußtsein setzt sich als Vernunft, die unmittelbar zur sich wissenden Vernunft erwacht ist, welche sich durch ihre Tätigkeit zur Objektivität, zum Bewußtsein ihres Begri=s befreit. (386) Der Satz spricht nicht etwa narrativ oder behauptend darüber, was in einer schon irgendwie als bekannt oder gegeben unterstellten Seele passiert, nämlich dass das Bewusstsein erwache. Das wäre eine falsche Lektüre. Die Aussageform ist so zu lesen, dass die Seele als das Thema der Anthropologie das Erwachen des Bewusstseins ist, also sozusagen der Anfang des Wegs, der vom animalischen Gewahrsein zu einem begri=lich bestimmten Erkennen und von da zu einem Wissen über das Erkennen führt. 317
510 317 f . k Der subjektive Geist 386 f. Es ist dann schon ein Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, also zur Reflexion des Bewusstseins, wenn Hegel sagt, dieses setze sich als Vernunft. Das Sich-Wissen der Vernunft ist Selbstbewusstsein. Die Phänomenologie des Geistes macht klar, dass man dabei nie ›in sich hineinsehen‹ kann, sondern dass alles vermeintlich Innere sich auf typische Weise äußert, äußern kann oder äußern können muss – je nachdem. Dennoch gehört das Achten auf das Empfinden und Fühlen, auf Stimmungen und besonders auf das leise Denken als Sprechen mit sich selbst zur sogenannten Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis. Wohl schon partiell zum Übergang zur Psychologie gehört der Kommentar, dass wir in einer abstraktiven Objektivierung gemeinsame Bezüge tätig herstellen (müssen). Damit gelangen wir zugleich zum Begri= des personalen Subjekts: Durch reflexionslogische Selbstvergegenständlichung befreien wir uns vom bloßen enaktiven bzw. empraktischen Vollzug seelischer und dann auch geistiger Fähigkeiten. Wie im Begri=e überhaupt die Bestimmtheit, die an ihm vorkommt, Fortgang der Entwicklung ist, so ist auch an dem Geiste jede Bestimmtheit, in der er sich zeigt, Moment der Entwicklung und in der Fortbestimmung Vorwärtsgehen seinem Ziele zu, sich zu dem zu machen und für sich zu werden das, was er an sich ist. Jede Stufe ist innerhalb ihrer dieser Prozeß, und das Produkt derselben [ist], daß für den Geist (d. i. die Form desselben, die er in ihr hat) das ist, was er im Beginn derselben an sich oder damit nur für uns war. – (386 f.) So wie die Rede über Prozessformen ist auch die reflexionslogische Rede über Begri=e logisch schwierig. Das Problem verstärkt sich in der spekulativen, holistischen, topischen, aber immer noch generischen Rede über den Begri= als Gesamt der allgemeinen Formen des begri=lichen Unterscheidens und Schließens oder über den Geist als figurativ angesprochenes Wir, Man oder plurales Subjekt. Denn der Begri= und der Geist haben – wie die Menschheit, die sie sind – eine Geschichte. Alles, was wir in spekulativer Reflexion über den Begri= oder den Geist sagen, ist daher im Kontext des Fortgangs ihrer Entwicklung zu begreifen. Das betri=t teils die Form des Gesamtprozesses, teils bloße Momente, für welche dann aber der Bezug zur jeweiligen Zeit oder Epoche wichtig werden kann. Die Rede von einem Ziel ist dabei nicht von einer überzeitlichen Seite eines Gottes, son-
387 Der subjektive Geist 511 dern von der jeweiligen Bewertung einer Erfüllung von Bedingungen her zu verstehen.57 Die psychologische, sonst gewöhnliche Betrachtungsweise gibt an, erzählungsweise, was der Geist oder die Seele ist, was ihr geschieht, was sie tut, so daß die Seele als fertiges Subjekt vorausgesetzt ist, an dem dergleichen Bestimmungen nur als Äußerungen zum Vorschein kommen, aus denen soll erkannt werden, was sie ist, – in sich für Vermögen und Kräfte besitzt; ohne Bewußtsein darüber, daß die Äußerung dessen, was sie ist, im Begri=e dasselbe für sie setzt, wodurch sie eine höhere Bestimmung gewonnen hat. – (387) Man beachte Hegels fundamentale Kritik an aller ›Philosophie‹ und ›Wissenschaft‹, die, wie die gewöhnliche Betrachtungsweise, sich in der Form der Erzählung präsentiert. Die Kritik ist tief und absolut berechtigt. Die narrative Form gehört in Romane und den Bereich des Sekundärwissens der Berichte über die Wissenschaft, ihre Inhalte oder Ergebnisse. In erzählförmigen Darstellungen der Theologie, Philosophie oder Psychologie wird so z. B. über Gott, den Geist oder die Seele gesagt, was sie tun und können. Dabei wird nicht geklärt, »was der Geist oder die Seele ist«, »so daß die Seele als fertiges Subjekt vorausgesetzt ist«. Aus Sätzen etwa darüber, was die Psyche, Seele das Ich, Es und Über-Ich tun und was ihnen geschieht, kann man keineswegs begri=lich klar genug entwickeln, wovon die Rede ist bzw. was sie sind. Dasselbe gilt für die Reden über Gott oder über den Geist. Hegel ist sich dessen ganz klar bewusst. Und doch markiert er ›für die gewöhnliche Betrachtungsweise‹ o=enbar nicht deutlich genug, dass (fast) alle seine Sätze begri=lich, also erläuternd, nicht im Modus der Behauptung, Aussage oder kausalgenetischen Erklärung zu lesen sind.58 Das Verhältnis zwischen dem, was begri=lich an sich als Vermögen oder Disposition in die Seele, den Geist oder Gott gesetzt ist, zu 57 In Bezug auf Gott, die Seele oder den Geist sagt Hegel, seine Analyse mache explizit, was diese Redegegenstände nicht nur an sich, sondern je nach Kontext an und für sich seien. 58 Alle Erklärung muss fort, sagt Wittgenstein über Logik und Philosophie in PU, § 109. Das muss verschärft werden zu: Alle Erzählung muss fort. Das gilt dann aber auch für die Wissenschaften, nicht nur für die Philosophie. Was Wittgenstein in diesem Kontext »Beschreibung« nennt, ist in Wahrheit Artikulation phänomenologischer Reflexion auf reales Tun. 317 f . k
512 318 k 318 k Der subjektive Geist 387 dem, wie es sich normalerweisen äußert, ist sogar schon allgemeiner Bestandteil oder Moment der Idee. Diese ist der Gesamtbegri= unter Einschluss der allgemeinen Formen seiner Manifestationen in der realen, auch empirischen Welt. Das ist die »höhere Bestimmung«, um die es Hegel hier geht. Von dem hier zu betrachtenden Fortschreiten ist dasjenige zu unterscheiden und davon ausgeschlossen, welches Bildung und Erziehung ist. Dieser Kreis bezieht sich nur auf die einzelnen Subjekte als solche, daß der allgemeine Geist in ihnen zur Existenz gebracht werde. (387) Hegel erklärt hier noch einmal explizit, dass seine höchst allgemeinen Analysen nicht mit einer Entwicklungspsychologie und Pädagogik konkurrieren. Diese erarbeiten besonderes Wissen zur Ontogenese und Reifung geistiger Kompetenzen. Es geht ihm auch nicht um eine theoretisch-allgemeine Erklärung von Privationen oder um ein besonderes praktisches Wissen über eine gute Erziehung und Bildung, das die Besonderheiten der einzelnen Subjekte betri=t. In der philosophischen Ansicht des Geistes als solchen wird er selbst als in seinem Begri=e sich bildend und erziehend betrachtet und seine Äußerungen als die Momente seines Sich-zu-sich-selbstHervorbringens, seines [Sich-] Zusammenschließens mit sich, wodurch er erst wirklicher Geist ist. (387) Der zunächst obskure Satz sagt etwas zur disziplinären Aufteilung von Themen in der Rede über das Geistige, damit auch zu den Sachwissenschaften der Pädagogik, Psychologie, auch Anthropologie, Ethnologie und sogenannten Völkerpsychologie. Während die Philosophie des objektiven Geistes sich nur für den allgemeinen Rahmen interessiert, gehören alle Geistes- und Sozialwissenschaften zu den Sachwissenschaften, von der Theologie und den Philologien bis zu allen Staats- und Geschichtswissenschaften. Was den Begri= des Geistes und die durch ihn ermöglichte sinnkritische Rekonstruktion der logischen Form und Signifikanz gerade auch unserer Rede über Gott betri=t, so geht es der Philosophie um Folgendes: Wir verwenden die Rede über Geist, Bewusstsein, Verstand, Vernunft, Intelligenz, Wissen und Weisheit normativ so, dass wir im Blick auf die Bildung der Einzelsubjekte sagen können, ob
Anthropologie. Die Seele 387 513 oder wie weit sie ›den Begri=‹ der geistigen, verständig-vernünftigen Person erfüllen. Alle Äußerungen des Geistes bleiben dabei vermittelt durch Äußerungen personaler Subjekte. Hegel verteidigt dieses Prinzip des methodologischen Individualismus in dieser Form vehement als absolute Tatsache und als Recht der Subjektivität oder des Bewusstseins. Dabei unterstellen wir aber jeweils, dass die Subjekte und ihr Tun schon als ausreichend geistig gebildet, intelligent, bewusst, verständig, vernünftig, weise und gewissenhaft gelten können. Es sind eben das die Momente des »Sich-zu-sich-selbst-Hervorbringens« des wirklichen Geistes in seiner Allgemeinheit A, der alle einzelnen personalen Subjekte mit ihren vernünftigen Fähigkeiten E und deren besondere Anwendungen im Leben in sich einschließt. Hegel liebt es, von den drei ›logischen‹ Zusammenschlüssen E -A, B-A und E -B zu sprechen, jeweils vermittelt durch B, E und A. In unserem Fall kann man das so illustrieren: Ein einzelnes Tun E erfüllt eine allgemeine Bedingung A, wie z. B. geistvoll zu sein, immer auf besondere Weise B. Ein Besonderes B gehört zum Allgemeinen A, wenn im Normalfall das Einzelne E des Typs B zu A gehört. Ein einzelnes Tun E erfüllt eine besondere Bedingung B wie die, vernünftig zu sein, nur dann, wenn es schon zur richtigen allgemeinen Sphäre A des Geistigen gehört, aber so, dass nicht-B schon hinreichend ausgeschlossen ist, etwa der Mangel eines bloß erst subjektiv ehrlichen schematischen Unterscheidens und Schließens. A. Anthropologie. Die Seele § 388 Der Geist ist als die Wahrheit der Natur geworden. (387) Die Wahrheit einer Sache ist bei Hegel immer das Ganze. Daher sagen Hegels Sätze der Form »Y ist die Wahrheit von X « zunächst nur, dass Y entweder selbst der umfassendere Bereich ist, in dem X zu platzieren ist, oder eine wesentliche Ergänzung von X zu einem solchen Bereich. Rein formal gesprochen ist daher der Begri= oder Bereich der natürlichen Zahl die Wahrheit der Primzahlen, der Staat die Wahrheit des Rechts oder die Teleologie des Lebens die Wahrheit 318
514 318 Der subjektive Geist 387 f. des Mechanismus. Letzteres bedeutet, dass die Natur als Ganze sich nur verstehen lässt, wenn man neben mechanischen Bewegungen und chemischen Prozessen auch das zielgerichtete Verhalten von Lebewesen in seiner besonderen teleologischen Form hinzunimmt. Eine Reduktion der Biologie auf bloße Physik ist damit materialbegri=lich als sinnlos und in diesem Sinn als unmöglich ausgeschlossen. In ganz entsprechender Weise ist die Welt nur als Natur und Geist die ganze Welt. Die ganze Wissenschaft besteht aus Natur- und Geisteswissenschaft. Der Ausdruck »Wahrheit der Natur« meint also zugleich das wahre Wissen über die Natur, das als volles und damit selbstbewusstes Wissen das philosophische Wissen über die Besonderheiten des Naturwissens und die wesentlichen geisteswissenschaftlichen Inhalte guter Wissenschaftsgeschichtsschreibung voraussetzt. Nur in diesem Ganzen gibt es auch die wichtige Unterscheidung zwischen einem geistig bzw. begri=lich bestimmten Tun und einem handlungsfreien, rein natürlichen Geschehen. Hegels verdichteter Satz besagt aber auch, dass der Geist, also die Seinsform personaler Menschen, in der Welt entstanden, also aus einer vormenschlichen Natur geworden ist. Das gilt besonders für die Sprache in ihrer engen Verschränkung mit einem begri=sbestimmenden Allgemeinwissen. Außerdem, daß in der Idee überhaupt dies Resultat die Bedeutung der Wahrheit und vielmehr des Ersten gegen das Vorhergehende hat, hat das Werden oder Übergehen im Begri= die bestimmtere Bedeutung des freien Urteils. (387 f.) Die Dichte der Formulierung macht sie dunkel. Die komprehensive Idee der Natur und des Geistes ist insgesamt ein Ganzes von Vollzugsformen der Realisierung ›des‹ Begri=es der Natur und des Geistes. Sie zeigt sich in unseren Instanziierungen von Wissen und Handeln. Wahrheit ist Erfüllung der betre=enden Bedingungen. Unser Zugang zur Welt und zur Natur hängt dabei ab vom Begri=lichen und von prototypisch aufweisbaren Realisierungen, also der Idee. Die Natur ist zwar immer das zeitlich Vorhergehende. Aber alle Aussagen über ein Werden und Übergehen, also etwa von der Natur zum Geist, vom Tier zum Menschen, sind Urteile. Ihre Inhalte sind schon abhängig vom Begri=sverstehen. Damit steht nicht die historische Tatsache der Evolution infrage, wohl aber die Meinung, aus ihr folge,
388 Anthropologie. Die Seele 515 Geist und Freiheit seien nur Worte, in Wahrheit sei der Mensch nur ein etwas intelligenteres Tier, das sich in der Liebe zu seinen eigenen Worten überschätzt. Im Übrigen sei alles Geschehen der Welt physikalisch determiniert und im Prinzip entsprechend ›kausal erklärbar‹. Der gewordene Geist hat daher den Sinn, daß die Natur an ihr selbst als das Unwahre sich aufhebt und der Geist so sich als diese nicht mehr in leiblicher Einzelnheit außer-sich-seiende, sondern in ihrer Konkretion und Totalität einfache Allgemeinheit voraussetzt, in welcher er Seele, noch nicht Geist ist. (388) Wenn wir sagen, dass der Geist in der Welt entstanden ist, dann ist das nur so zu verstehen, dass die nicht-geistige, nicht-handelnde und nichts ›wissende‹ Natur an ihr selbst, unter Einschluss des Lebens der Tiere, ein Bereich ist, in dem es noch gar keine Wahrheit und Objektivität gibt. Dass sich, wie Hegel zu sagen beliebt, das Unwahre der Natur mit dem Werden des Geistes aufhebe, meint nur das eben Gesagte. Das alles gilt für die Phylogenese der Menschheit ebenso wie für je meine eigene Ontogenese. Auf diese fokussiert jetzt die zweite Hälfte des Satzes: Ich bin in meiner leiblichen Einzelheit ein geistiges Wesen. Weder ist der Geist oder die Seele etwas außer mir, noch unterscheide ich mich von meinem leiblichen Leben im Ganzen. Ich bin aber weder nur Leib, noch bin ich reiner Geist oder reine Seele. In der »Konkretion und Totalität« des unmittelbaren Lebensvollzugs bin ich dennoch nur erst Seele, noch nicht Geist insofern, als wir zunächst die formenbezogenen, eidetischen, leiblich vermittelten Vorbedingungen geistigen Lebens betrachten, also die nötigen natürlichen Dispositionen und Fähigkeiten der Formenerkennung und Formenreproduktion im Lernen. Die sensitive Seele eines animalischen Wesens ist damit schon bei Aristoteles das Eidos oder die Gesamtform aller erkennbaren oder reproduzierbaren Formen. Im Fall des Menschen gehören zur Seele als mens oder mind alle Empfindungen und Lernbarkeiten kognitiver Formen – so dass bei Hegel diese Seele zum Thema der Anthropologie wird, während die (subjektive) Geistseele als Ausübung geistiger Fähigkeiten samt den möglichen Privationen Thema der Psychologie ist. 318 k
516 318 f . Der subjektive Geist 388 § 389 Die Seele ist nicht nur für sich immateriell, sondern die allgemeine Immaterialität der Natur, deren einfaches ideelles Leben. Sie ist die Substanz, so die absolute Grundlage aller Besonderung und Vereinzelung des Geistes, so daß er in ihr allen Sto= seiner Bestimmung hat und sie die durchdringende, identische Idealität derselben bleibt. Aber in dieser noch abstrakten Bestimmung ist sie nur der Schlaf des Geistes; – der passive Nus des Aristoteles, welcher der Möglichkeit nach Alles ist. (388) Man könnte den Satz mit Vittorio Hösle59 als Unterstützung einer Art Panpsychismus oder Vitalismus lesen. Man sollte das aber nicht tun. Traditionell sagt man, der Geist und die Seele seien für sich immateriell, so wie Gedanken oder Zahlen. Wenn Hegel hier sagt, dass die Seele sogar »die allgemeine Immaterialität der Natur« sei, so meint das nur, dass alle Formen und Begri=e als solche ›immateriell‹ sind. Materialisiert werden sie erst in geformten Vollzügen oder meinetwegen auch in Gestaltungen von Körpern. Das ›einfache ideelle Leben‹ der Natur ist Instanziierung von Formen. Das gilt sogar für das natürliche Sein, nicht nur für das Leben von Organismen oder gar das der Menschen. Prozessuale Formen sind immer generisch-allgemein. Alles generisch Allgemeine wiederum ist trotz aller materialen Vermittlung wegen seiner zeit- und ortsallgemeinen Abstraktheit immateriell. Der wesentliche Unterschied zwischen Formen der reinen Physik und den Lebensformen der Biologie besteht nun darin, dass im Fall der toten Dinge und Prozesse der Mechanik, Chemie und dann auch der gesamten Physik alle repräsentativen Formbestimmungen von uns Menschen für uns Menschen symbolisch konstruiert sind. Wie alle Relationen und Dispositionen gibt es die Formen aber real nur in ihren je einzelnen und je endlichen Materialisierungen oder Instanziierungen. Sie manifestieren oder o=enbaren sich in Erscheinungen. Im Leben verhalten sich die einzelnen Lebewesen selbständig, in der Fauna schon proto-bewusst, zu ihrer eigenen allgemeinen Artform 59 Vittorio Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, Hamburg: Meiner 1998, S. 315 (Digitaldruck ›on demand‹ 2020).
Anthropologie. Die Seele 517 und Seinsweise. Das wird vermittelt durch eine Art ›Kognition von Formen‹ der umgebenden Natur. Dabei gibt es ganz verschiedene Arten der Bezugnahme auf Formen – realisiert im Vollzug. Das ist so, weil es ganz verschiedene Weisen der Identifizierung einer Form durch empraktische oder dann auch schon explizite, bewusste Äquivalentsetzung verschiedener Instanziierungen gibt. Die ›ideelle‹, also formenbezogene Rede über die Seele ist dann auch, wie schon Aristoteles weiß, auf den Hegel hier selbst verweist, grundsätzlich von der Art, dass man in ihrem Gebrauch ein Eidos zum Agens einer typischen Wirkfolge oder zum Patiens eines anderweitigen Einflusses macht. Zunächst also ist die Seele Lebensvollzugsform des subjektiven Seins von Lebewesen, vom Vegetativen der Pflanze über das enaktiv Sensitive der Tiere zur empraktischen Noesis als Wissen und Erkennen der Menschen. Sokrates sorgt sich dann aber schon unter dem Titel Seele um die Gesamtperson, die er am Ende gewesen sein wird. Alle Mystifizierungen der Ideenlehre Platons und der auf sie folgenden christlichen Seelenlehre sowohl von Anhängern als auch Gegnern liegen daran, dass diese Logik des Futurum Exactum im vollen Personsein nicht leicht zu verstehen ist. Wir werden daher die sokratische Rede über die zeitallgemeine und nur daher ›unsterbliche‹ Seele post mortem eigens betrachten müssen.60 60 Schon Sokrates und Platon, nicht erst Kant, verteidigen den Gedanken, dass es vernünftig sei, im Reden und Handeln so zu tun, als gäbe es einen gerechten Richter-Gott, auch wenn der Inhalt dieses Glaubens, wörtlich gelesen, falsch sei. Der Glaube (belief ), dass es einen solchen Gott ›gibt‹, führt manche Menschen in der Tat zu einer Haltung des Gottvertrauens (faith) und des Selbstvertrauens (confidence), die für das Vertrauen (trust) in andere Personen ebenso wie für ein gutes Leben notwendige Bedingung ist. In der Debatte um den Atheismus geht es immer schon um das Problem, dass eine nihilistische Haltung gemäß dem Slogan: »Nach uns die Sintflut«, dem nicht zufälligerweise gerade auch die Nazis gefolgt sind, eine kulturelle Katastrophe bedeutet. Das führt zu den Ambivalenzen der Aufklärung schon des 17. und 18. Jahrhunderts und dann auch des Biologismus im 19. und 20. Jahrhundert, wie sie u. a. auch bei Nietzsche und Heidegger thematisch werden.
518 319 k Der subjektive Geist 388 In allen Fällen ist die Seele nur im Sinn eines relativ nachhaltigen Eidos Substanz. Sie ist also nur bleibende Form und Gegenstand der Rede, kein immaterielles Ding, schon gar kein materieller Körperteil. Dasselbe gilt für den Geist, also für Verstand und Vernunft im Reden, Denken und Handeln. Die allgemeine Seinsform des Menschen ist »absolute Grundlage aller Besonderung und Vereinzelung des Geistes«. Dazu gehören alle Besonderungen der Formen des vegetativen und sensitiven Lebens, aber auch die noch allgemeineren Formen der Lokalität und Endlichkeit allen materiellen Seins. Der Geist hat in der Seele »allen Sto= seiner Bestimmung« insofern, als das geistige Leben das sensitive Leben sozusagen überformt. Als Sinnenwesen bleiben wir die subjektiven Träger aller dieser geistig-begri=lichen Überformungen des leiblichen Benehmens, Verhaltens und Handelns. Das ist eine zentrale Einsicht von Hegels Philosophie des Geistes. In der bloß erst abstrakten Bestimmung der Seele als Vermögen eines geistig geformten leiblichen Lebens ist diese, wie Hegel bildlich sagt, nur erst der Schlaf des Geistes, aus dem man jeden Menschen allererst erwecken muss. Bildung (engl.: formation) zum personalen Subjekt ist damit Formation der Seele qua Gemüt (mens oder mind) gemäß den Formen des Nous des Aristoteles, der als allgemein möglicher Geist zu verstehen ist. Der Bereich der Möglichkeiten dessen, was in geistiger Überformung gelernt werden kann, ist dabei zunächst offen. Dazu gehören übrigens auch alle Sport- und alle Körpertechniken. Die Frage um die Immaterialität der Seele kann nur dann noch ein Interesse haben, wenn die Materie als ein Wahres einerseits und der Geist als ein Ding andererseits vorgestellt wird. Sogar den Physikern ist aber in neuern Zeiten die Materie unter den Händen dünner geworden; sie sind auf imponderable Sto=e als Wärme, Licht usf. gekommen, wozu sie leicht auch Raum und Zeit rechnen könnten. Diese Imponderabilien, welche die der Materie eigentümliche Eigenschaft der Schwere, in gewissem Sinne auch die Fähigkeit, Widerstand zu leisten, verloren, haben jedoch noch sonst ein sinnliches Dasein, ein Außersichsein; der Lebensmaterie aber, die man auch darunter gezählt finden kann, fehlt nicht nur die Schwere, sondern auch jedes andere Dasein, wonach sie sich noch zum Materiellen rechnen ließe. (388)
388 Anthropologie. Die Seele 519 Hegel wehrt die üblichen ontischen Hypostasierungen der Reden von der Seele auf eine Weise ab, dass weder gläubige Immaterialisten noch gläubige Materialisten noch mitkommen. Denn auch die Atome der modernen Physik werden als ein nicht unmittelbar Wahres, sondern als vermittelt durch konstruierte Modelle erkannt. Außerdem sind raumzeitliche Prozesse und Relationen zunächst, ohne Definition von Gleichungen für die Reflexion, keine Gegenstände. Alle Dinge sind durch Artbestimmungen und diese durch Prozessformen vermittelt, nicht nur die Lebewesen.61 In der Tat ist in der Idee des Lebens schon an sich das Außersichsein der Natur aufgehoben, und der Begri=, die Substanz des Lebens ist als Subjektivität, jedoch nur so, daß die Existenz oder Objektivität noch zugleich an jenes Außersichsein verfallen ist. (388) Dass in der Idee des Lebens als Seinsform »an sich das Außersichsein der Natur aufgehoben« ist, bedeutet nicht, dass neben mir als lebendem Leib die Seele als Form des Lebens schwebt, der das Körperliche rein äußerlich wäre. Es bedeutet vielmehr, dass alle Lebewesen körperlich existieren, dass sie aber ›Teile‹ oder ›Momente‹ von sich auf diverse Weise als rein äußerlich behandeln können. Manche Tiere können sich z. B. spontan von ihren Beinen oder Schwänzen trennen. Die perspektivische Subjektivität des sensitiven Weltzugangs bleibt immer erhalten, zumal die Existenz des immer nur individuell existierenden Leibs notwendige Bedingung des Lebens bleibt. Wir Menschen sind und bleiben so in die Welt ›geworfen‹ und sind dem »Außersichsein« unseres Leibes sozusagen »verfallen«.62 61 Hegels Polemik in der Naturphilosophie gegen alle Ad-hoc-Erfindungen von Wärme- oder Lichtsto=en oder gar von einer Lebensmaterie wird jetzt noch besser verstehbar. Im Fall der Lichtausbreitung erkennt er den kategorialen Unterschied zu bewegten Körpern. Raum und Zeit erkennt er als relationale Formen aller Dinge und Sachen in der Welt, nicht nur als deren Beziehungen zu unserer Sinnlichkeit. Wenn man über Relationen, Ereignisse, Prozesse und ihre Formen gegenständlich spricht, werden diese noch lange nicht zu ›Dingen‹. 62 Die Vorstellung eines Avatars, in dem sich eine rein geistige ›Identität‹ wie ein kopierbares ›Programm‹ reinkarniert, ist reine Fiktion und gehört als solche in die gleiche Literaturform wie alle Mythen von einer Seelenwanderung oder Wiedergeburt. 319 k
520 319 k Der subjektive Geist 388 f. Aber im Geiste, als dem Begri=e, dessen Existenz nicht die unmittelbare Einzelnheit, sondern die absolute Negativität, die Freiheit ist, so daß das Objekt oder die Realität des Begri=es der Begri= selbst ist, ist das Außersichsein, welches die Grundbestimmung der Materie ausmacht, ganz zur subjektiven Idealität des Begri=es, zur Allgemeinheit verflüchtigt. (388 f.) Die generische Rede über den Begri= als System der Begri=e ist immer wieder neu zu kommentieren. Jede begri=liche Bestimmung ist unabhängig von den Einzelheiten ihrer symbolischen Repräsentanten, der prototypischen Beispiele oder exemplifizierenden Präsentationen. Im gemeinsamen Vollzug des Unterscheidens und Schließens kann man einen Begri= auch »absolute Negativität« nennen. Dabei ist nicht nur die Anwendung begri=licher Artbestimmungen trotz aller normativen Bewertungen nach richtig (wahr, gut) und falsch (unrichtig, schlecht) frei, sondern alle Freiheit des Handelns beruht auf der Freiheit des begri=lichen Urteilens und (tätigen) Schließens. Es ergibt sich, dass »die Realität des Begri=es« nicht in den einzelnen Repräsentationen oder empirischen Anwendungsfällen liegt, auch nicht im Kopf eines oder mehrerer Subjekte, sondern in der Vollzugsform des gemeinsamen Gebrauchs des Begri=s, wie man zu sagen geneigt ist. Nach Wittgenstein und Quine spricht man heute in Vermeidung sogar des Wortes »Bedeutung« über einen Gebrauch von Worten. Aber auch dann reden wir nicht von einzelnen Verwendungen, sondern von Gebrauchsformen. Wir unterscheiden also einen normativ guten oder orientierungsrichtigen Gebrauch von richtigen oder unrichtigen Verwendungen.63 Dabei sind wir an den konkreten Wörtern zumeist (oder ho=entlich) gar nicht allzu sehr interessiert, sondern operieren längst schon mit inner- oder zwischensprachlichen Übersetzungen in der Form schematischer, damit freilich zunächst nur erst grober 63 Die Debatte um die ›soziale‹ Normativität materialbegri=lich gesetzter Defaultinferenzen wurde insbesondere in Auseinandersetzung mit den behavioristischen Ansichten W. V. Quines nötig. W. Sellars und R. B. Brandom stehen für diese Abkehr von einem bloßen semantischen ›Regularismus‹, wie er auch in manchen Lesarten von Wittgensteins Rede über einen ›Gebrauch‹ der Wörter zu finden ist.
389 Anthropologie. Die Seele 521 Bedeutungsäquivalenzen. Es kommt nämlich primär auf das gemeinsame Unterscheiden und Normalfallschließen an, das freilich immer vermittelt ist durch eine je zugehörige Klasse symbolischer Repräsentationen der inferentiell oder dispositionell relevanten Unterscheidung. Das »Außersichsein« der räumlichen Beziehungen, die zur Grundbestimmung materieller Körper gehören, wird ›rein begri<ich‹ oder an sich z. B. idealgeometrisch und dadurch generisch-allgemein dargestellt. Es löst sich schon daher die Vorstellung auf, alle Materie sei von der Form stabiler Billardkugeln, die im Modell obendrein zu Punkten idealisiert werden. Die Idealität oder Formalität des Begri=s nicht nur der sogenannten Atome und damit der Materie der neueren Physik, sondern, wie man jetzt auch sehen kann, schon der nur vermeintlich unmittelbaren middle sized dry objects als Prototypen körperlicher Dinge ist natürlich keine individualsubjektive, sondern transsubjektive Angelegenheit. Der Geist ist die existierende Wahrheit der Materie, daß die Materie selbst keine Wahrheit hat. (389) Das großartige Orakel ist leicht zu memorieren. Es löst aber unter gläubigen Materialisten unmittelbar eine Gegenpolemik aus. Das ist o=enbar beabsichtigt – so dass der Text selbst zwischen erfahrenen Lesern unterscheidet, die das bemerken, und solchen, die das nicht tun. Das Wahre ist in der Tat immer das relevante begri=liche Ganze. Der relevante Begri= als das Genus einer prädikativen Unterscheidung P ergibt sich, wie schon gesagt wurde, grob als Vereinigung mit dem Komplement P C . Demnach wäre etwa die Wahrheit der ungeraden Zahlen das System der natürlichen Zahlen. Die Wahrheit der causa e;ciens des Mechanismus ist die causa finalis oder Teleologie auch deswegen, weil die geistige Welt vorausgesetzt wird, wenn wir mit einem Modell von Massenpunktbewegungen oder den neuen Atommodellen operieren. Dass die Materie selbst keine Wahrheit hat, wird schon dadurch klar, dass »wahr« ein Bewertungswort für Inhalte unserer Wissensansprüche ist. Eine damit zusammenhängende Frage ist die nach der Gemeinschaft der Seele und des Körpers. Diese Gemeinschaft war als Faktum angenommen, und es handelte sich allein darum, wie sie zu begreifen sei? Für die gewöhnliche Antwort kann angesehen werden, daß sie ein unbegreifliches Geheimnis sei. Denn in der Tat, wenn beide 319 k 319 k
522 319 f . k Der subjektive Geist 389 als absolut Selbständige gegeneinander vorausgesetzt werden, sind sie einander ebenso undurchdringlich, als jede Materie gegen eine andere undurchdringlich und nur in ihrem gegenseitigen Nichtsein, ihren Poren, befindlich angenommen wird; wie denn Epikur den Göttern ihren Aufenthalt in den Poren angewiesen, aber konsequent ihnen keine Gemeinschaft mit der Welt aufgebürdet hat. – (389) Mit der Frage nach der Immaterialität der Seele (des Geistes, des Bewusstseins, auch des Begri=s und aller Formen) zusammen hängt die Frage nach der »Gemeinschaft« von Seele und Leib oder auch nach der ›Wirkung‹ des Geistigen auf das Körperliche. In der traditionellen Auffassung (von der Theologie bis zur Volkspsychologie) wird eine solche Interaktion (bis heute weitgehend) »als Faktum angenommen« und man will wissen, »wie sie zu begreifen sei«. Noch in David Chalmers Vorstellung von einem harten Problem der philosophy of mind wird in heimlicher Kanttradition erklärt, dass das Phänomen des Bewusstseins in seinem Verhältnis zu rein leiblichen Prozessen ein »unbegreifliches Geheimnis sei«. Hegel erklärt dazu zunächst nur, dass die Frage schon dann falsch gestellt und daher unbeantwortbar ist, wenn wir Leib und Seele, Körper und Geist, Gehirnströme und Bewusstsein (bei Chalmers zunächst qua animalische awareness) als völlig unabhängige Gegenstands-, Rede- oder Themenbereiche einander gegenüberstellen. – Auf die ironische Polemik, die der Vergleich mit Epikurs Poren transportiert, in denen die Götter hausen, brauchen wir wohl nicht weiter einzugehen. Für gleichbedeutend mit dieser Antwort kann die nicht angesehen werden, welche alle Philosophen gegeben haben, seitdem dieses Verhältnis zur Frage gekommen ist. Descartes, Malebranche, Spinoza, Leibniz haben sämtlich Gott als diese Beziehung angegeben, und zwar in dem Sinne, daß die Endlichkeit der Seele und die Materie nur ideelle Bestimmungen gegeneinander sind und keine Wahrheit haben, so daß Gott bei jenen Philosophen nicht bloß, wie oft der Fall ist, ein anderes Wort für jene Unbegreiflichkeit [ist], sondern vielmehr als die allein wahrhafte Identität derselben gefaßt wird. Diese Identität ist jedoch bald zu abstrakt, wie die Spinozistische, bald wie die Leibnizische Monade der Monaden zwar auch scha=end, aber nur als urteilend, so daß es [zwar] zu einem Unterschiede der Seele und des Leiblichen, Materiellen kommt, die Identität aber nur
389 Anthropologie. Die Seele 523 als Kopula des Urteils ist, nicht zur Entwicklung und dem Systeme des absoluten Schlusses fortgeht. (389) Einen besonderen Typ von Antwort auf die Frage nach der Interaktion von Körperlichem und Geistigem finden wir in der DescartesNachfolge bei Malebranche, Spinoza und Leibniz. Diese Autoren haben die Beziehung selbst etwas großzügig mit Gott identifiziert. Dabei sollten wir ihr spekulatives Denken nicht unterschätzen, da sie, anders als der naive Materialismus und Spiritualismus, die Seele nicht als ein vom Rest der Welt unabhängiges geistiges Ding ansehen. Wie z. B. auch die Monade oder einen Massenpunkt haben sie auch die Rede von der Materie zunächst nur als Moment im Rahmen einer formalen Unterscheidung verstanden. Das Wort »Gott« verwandeln sie sogar von einem bloßen Lumpensammler angeblicher Unbegreiflichkeiten zum holistischen Titel für »die allein wahrhafte Identität« von Leib und Seele, Körper und Geist, Sein oder Welt und Gott. Das Problem freilich ist, dass diese Identifizierung bei Descartes, Malebranche und Spinoza ganz o=ensichtlich noch zu abstrakt ist, zumal nicht ganz klar ist, wie Gott einerseits das Wahre, anderseits die Natur sein soll. Die Monadenlehre von Leibniz verweist sogar schon grob auf den Unterschied subjektiver Vollzugsformen (damit erstens des Seins und zweitens der hochgradig endlichen Subjektivität des Seelischen) auf der einen Seite, der Konstitution von Bezügen auf Seiendes oder Objekte auf der anderen. Das geschieht durch eine Form des Wechsels der Perspektive auf eine und dieselbe Sache. Dabei versucht Leibniz, die utopische und damit sinnlose Vorstellung zu vermeiden, die Monade (also auch je ich) könne durch Fenster oder Türen aus sich hinausgehen. Sie kann ihre ewig subjektive Perspektive nie verlassen. Sie kann nie unmittelbar sehen, wie sie selbst von außen aussieht oder wie sich die Welt anderen Subjekten darstellt. Meine Versuche eines Wechsels der Perspektiven bleiben wie auch jede ›Einfühlung‹ in andere Subjekte immer mein Tun. Perspektivenwechsel bestehen grundsätzlich nur in der subjektiven Beherrschung allgemeiner Formen gemeinsamer Weltbezugnahmen und im ›Hören‹ auf andere, also in freier Kooperation, welche manche Vielstimmigkeit und damit auch Widerspruch aushalten kann. Der kategoriale Unterschied der Lokalität der Perzeptionen der Monade und der Totalität des kontrafaktischen Wissens einer göttlichen
524 Der subjektive Geist Supermonade macht sogar in erster Näherung klar, dass und wie jede physikalistische oder materialistische Vorstellung der Welt des Körperlichen selbst schon mit einem idealistischen, leider sogar utopischspekulativen Blick von der Seite eines Gottes, also von überall und immer her operiert. Andererseits artikuliert diese Vorstellung für den bloßen Verstand scheinbar den absoluten Begri= der Wahrheit. In Bezug auf das subjektive Handeln versucht Leibniz den Gedanken eines Kompatibilismus der Freiheit mit einem göttlichen Vorherwissen durch seine dunkle Rede von einer prästabilierten Harmonie plausibel zu machen. Das Modell hängt aber sozusagen noch in der Luft. Denn es fehlt jede Vermittlung mit unserem realen Urteilen, Schließen und Handeln. Hegel drückt das in idiosynkratischer Weise dadurch aus, dass er sagt, Leibniz habe die Kopula des Urteils nicht ausreichend erläutert. Gemeint ist, dass in seinem Modell und seinem intendierten Gebrauch unklar bleibt, inwiefern ich eine Monade als perspektivisches Punktsubjekt bin und inwiefern ich mein ganzer Leib bin, erst recht aber, inwiefern wir gemeinsam die allgemeine Supermonade als Wirklichkeit des Geistes sind und Gott nur erst deren ideale, formale und damit subjektive Vorstellung ist. Wie verhalten sich schließlich das allgemeine Wir oder Man zu den vielen Fällen eines besonderen Wir und Man? Etwa nach Art der Menschheit zu einem regionalen Volk in einer Zeitepoche? Außerdem bleibt bei Leibniz unklar, wie sich die verschiedenen Monaden – die geistigen oder begri=lich perzipierenden, die sensitiv perzipierenden Lebewesen und die bloß passiv reagierenden Körper – je verschieden zur sie umgebenden Welt verhalten. Diese Verhältnisse spiegeln sich nicht nur in dem als idealperfekten, ganzheitlich und eben damit als absolut wahr vorgestellten ›Erkennen‹ Gottes wider, sondern auch in den Reaktionen der Dinge und Wesen, besonders aber in den je subjektiv zu vollziehenden Formen des Perspektivenwechsels und der Repräsentation objektiver Sachen durch uns Menschen als geistigen Wesen. Das alles packt Hegel in die extrem dichte Formulierung, dass Leibniz nicht »zur Entwicklung und dem Systeme des absoluten Schlusses fortgeht«. Dabei können wir für unsere Zwecke hier die Rede vom »absoluten Schluss« einfach, wie oben schon vorgeschlagen wurde, auf die reale Gebrauchsform des Modells in unserem Urteilen, Schließen und Handeln beziehen.
390 Anthropologie. Die Seele 525 Bis heute gibt es übrigen kaum einen Leser, der Leibniz und Spinoza, die Lehre von den Monaden und die Gleichung zwischen Gott und Welt bzw. Substanz und Gesamtnatur so gut verstanden und so richtig kritisiert hat wie Hegel. § 390 Die Seele ist zuerst a. in ihrer unmittelbaren Naturbestimmtheit, – die nur seiende, natürliche Seele; b. tritt sie als individuell in das Verhältnis zu diesem ihrem unmittelbaren Sein und ist in dessen Bestimmtheiten abstrakt für sich – fühlende Seele; c. ist dasselbe als ihre Leiblichkeit in sie eingebildet, und sie darin als wirkliche Seele. (390) Der Text ist unmittelbar verstehbar. Ich hebe nur Hegels Betonung der Formation oder Bildung je meiner Leiblichkeit in der Entwicklung mentaler und dann auch psychischer Fähigkeiten hervor. 320 a. Die natürliche Seele § 391 Die allgemeine Seele muß nicht als Weltseele, gleichsam als ein Subjekt fixiert werden, denn sie ist nur die allgemeine Substanz, welche ihre wirkliche Wahrheit nur als Einzelnheit, Subjektivität, hat. So zeigt sie sich als einzelne, aber unmittelbar nur als seiende Seele, welche Naturbestimmtheiten an ihr hat. Diese haben sozusagen hinter ihrer Idealität freie Existenz, d. i. sie sind für das Bewußtsein Naturgegenstände, zu denen aber die Seele als solche sich nicht als zu äußerlichen verhält. Sie hat vielmehr an ihr selbst diese Bestimmungen als natürliche Qualitäten. (390) Das »muss nicht« bedeutet in moderne Sprache übersetzt: Man darf die Rede von der Seele in ihrer allgemeinen Form nicht verwechseln mit der Rede über die Weltseele – falls man diesen Ausdruck oder auch das Wort »Weltgeist« je selbst gebrauchen möchte. Hier bewährt sich auch schon unser auch sonst in jedem Fall notwendiger Vergleich mit Leibniz und seiner Monadenlehre. Denn die Seele korrespondiert den einzelnen Monaden, die Weltseele oder der Weltgeist aber der 320
526 Der subjektive Geist Supermonade bzw. dem Gott der beiden größten Philosophen der Zeit des sogenannten Rationalismus, Leibniz und Spinoza.64 Das Wort »Seele« ist also wie das Wort »Monade« nur ein Reflexionsterminus, der es erlaubt, über das Ich, also je mich, als personales Subjekt zu sprechen. Dazu muss man nämlich die Satzform des ›ti kata tinos‹, des ›etwas über etwas sagen‹ gebrauchen, mit grammatischem Subjekt, Prädikat und einer Kopula wie »ist«, »hat« oder »tut«. Die Seele als nachhaltige Subjektivität des gegenwärtigen Vollzugs des Seins oder Lebens nennt daher zunächst »nur die allgemeine Substanz« des Ich-Seins, das an meine leibliche Identität als unteilbarem Individuum gebunden bleibt. Analoges gilt für die übertragene, in ihren Eigenschaften sozusagen ausgedünnte, Verwendung der Rede von einer Seele bei Tieren und Pflanzen. Die zeitliche Ausdehnung der relevanten Gegenwart und der besondere Aspekt des Subjekts, über das reflexionslogisch jeweils gesprochen wird, sind nun aber immer vom Kontext, besonders dem Prädikat des Satzes abhängig. Ich spreche über meinen Leib eben jetzt, wenn ich sage: »ich habe Fieber« oder »ich habe Kopfschmerzen«, nicht aber, wenn ich sage: »ich denke gerade über den Begri= von Leib und Gehirn, Denken und Geist nach«. Im zweiten Fall bewege ich zwar leiblich meinen Mund oder konzentriere mich in spontaner Kontrolle meines Bewusstseinsstroms. Der Inhalt aber, der mich dabei leitet, existiert unabhängig von meinen leiblichen Prozessen. Daher unterscheiden wir das Gesamt-Ich des Denkens vom Leib notwendigerweise. Hegel erkennt, dass wir dabei weder eine mystische Geistseele wie in einer traditionellen Geistmetaphysik als neben dem Leib existierend hypostasieren noch das Ich wie in der modernen Naturmetaphysik mit dem Gehirn und seinen neuronalen Prozessen einfach identifizieren dürfen. Logisch zentral ist die Einsicht, dass das Fürsichsein des Ich 64 Die ironische Ambivalenz in Hegels Formulierung, Napoleon sei 1806 als Weltseele zu Pferde nach Jena eingezogen, wird von humorresistenten Interpreten natürlich übersehen: Napoleon wirklich als Gott anzusehen oder auch nur als wirkliche Verkörperung des fortschrittlichsten Zeitgeistes wäre selbst seinen größten Bewunderern in Deutschland wie Goethe, Hegel und Niethammer nicht einmal in einem Alptraum eingefallen.
Anthropologie. Die Seele 527 bzw. seine Identität hochgradig variabel ist, so dass das Wort »ich« nicht nur ein Pronomen ist, dass für den Eigennamen des Sprechers steht, sondern eine in der Situation und unter Berücksichtigung des Redekontextes allererst zu belegende Variable. Spreche ich zum Beispiel über mich als Subjekt, das eben gerade diese Zeilen schreibt und dabei versucht, ein nicht triviales logisches Problem zu vermitteln, dann spreche ich in gewissem Sinn über ein anderes Subjekt, als wenn ich etwa sage, dass ich Vater einer Tochter bin und Schüler in Meßkirch war, unbeschadet der Gleichheit des Individuums. Wenn man wie Peter Strawson und mit ihm Ernst Tugendhat immer nur über körperliche Individuen reden möchte, verkennt man, dass logisch die Gegenstände durch Bereiche prädikativer Unterscheidungen und die Beziehungen des Fürsichseins und der Ungleichheit bestimmt sind. Daher sind auch Zahlen keine Mengen, Subjekte keine Individuen, Personen keine Körper, ein Wasserschwall kein Fluss usf. Wenn ich auf ein Foto von mir in Meßkirch zeige, kann ich durchaus sagen: »Das bin ich«. Ich spreche dann über mich als Individuum. Wenn ich sage: »Das war ich«, hebe ich die Di=erenzen zunächst der Zeit und des Alters, dann aber vielleicht auch des Aussehens, in jedem Fall aber des jeweiligen präsentischen Subjekts hervor. In eben diesem Sinn gibt es die Seele wirklich »nur als Einzelheit«, als »seiende Seele« – mit variabler Zeitbestimmung. Die ›Naturbestimmtheiten‹ aber, welche die Seele an ihr oder das Subjekt an sich hat, betre=en natürlich zunächst das leibliche Individuum. Angesichts von Reifung und Entwicklung ist dabei zumeist ebenfalls eine Zeitbestimmung zu beachten. Zu den Naturbestimmtheiten gehört alles Arttypische. Dieses hat sozusagen über die ›Idealität‹ hinaus, die hier als subjektiv-einzelne Instanziierung der Artform zu verstehen ist, eine »freie Existenz«, gerade so wie die Ethologie der Tiere ihr allgemeines Artwesen darstellt und nicht etwa nur über einzelnes Verhalten einzelner Exemplare berichtet. In eben diesem Sinn sind auch die Formen der Normalentwicklungen, die typischen privativen Fehlentwicklungen und die seltenen Ausnahmeerscheinungen ›an Leib und Seele‹ »für das Bewußtsein«, also für unser Wissen, Naturgegenstände. Der wichtige Gedanke ist nun der, dass ich mich als Subjekt im Lebensvollzug nicht einfach von diesen Formen distanzieren kann.
528 Der subjektive Geist 391 Zumindest zunächst gehören sie unmittelbar zu mir bzw. sind vom Subjekt als zu sich gehörig anzusehen und zu behandeln. Diese Bestimmungen oder Eigenschaften als das Andere meiner selbst zu betrachten, kann zwar schon mal notwendig sein, auch wenn es nicht der Normalfall ist, dass sich ein Bergsteiger die eingeklemmte Hand abschneiden muss, um sein Leben zu retten, oder, wie in dem fast allzu drastischen Gleichnis des Neuen Testaments, mancher sich sein Auge ausreißen sollte, wenn er Schaden von seiner Seele nur durch Selbstblendung abwenden kann. In der Tat kann es sein, dass ich lange und mühsam an meinen Gefühlen, Stimmungen und Gewohnheiten arbeiten muss, obwohl diese je jetzt mich in meinem unmittelbaren leibseelischen Sein wesentlich ausmachen. Die hierfür nötige Selbstdistanzierung ist keineswegs triviale Bedingung dafür, eine volle Person zu werden. Jetzt erst verstehen wir vielleicht, in welchem Sinn die Seele an ihr selbst »diese Bestimmungen als natürliche Qualitäten« hat, so dass es sie gar nicht unabhängig von der Leiblichkeit zum Beispiel im sensitiven Wahrnehmen und Fühlen, aber auch in den laufenden Einfällen des Bewusstseinsstroms unserer leisen oder lauten Selbstgespräche gibt. In die Kontrolle und Steuerung dieses stream of consciousness (William James) greift dann aber im guten Fall das erlernte allgemeine Wissen und damit das inhaltliche Denken so ein, dass ich selbst das Wir gemeinsamer Vernunft so gut vertrete, wie ich es eben vermag. Es ist schlicht unmöglich, das zu leugnen. Jeder reine Naturalismus ist mit seinem materialistischen Kausal-Determinismus daher phänomenologisch und logisch blind und im Denken verwirrt. α) Natürliche Qualitäten 320 f . § 392 Der Geist lebt 1) in seiner Substanz, der natürlichen Seele, das allgemeine planetarische Leben mit, den Unterschied der Klimate, den Wechsel der Jahreszeiten, der Tageszeiten u. dgl., – ein Naturleben, das in ihm zum Teil nur zu trüben Stimmungen kommt. (391) Das nachhaltige Sein des Geistes besteht in der Seele des Einzelwesens als dem geformten leiblichen Leben. Wir leben allein schon im Blick auf Wetter und Nahrung sozusagen mit den Jahreszeiten, die
391 Anthropologie. Die Seele 529 das allgemeine Leben auf diesem Planeten prägen. Regional spielen dabei Unterschiede des Klimas und dann auch der Wechsel der Tageszeiten eine gewisse Rolle. Das ist kein besonderes, sondern ein höchst allgemeines Wissen, an dem zu zweifeln angesichts seiner Allgemeinheit schlicht sinnlos wäre. Hegels Ausdruck »Naturleben«, wie später auch »Gefühlsleben«, ist idiosynkratisch, aber selbsterklärend. Mit beiden bezieht er sich auf ein Leben, das sich nur, oder allzu sehr, abhängig macht von der uns gerade umgebenden Natur und den von dieser relativ unmittelbar abhängigen (z. B. trüben) Stimmungen bzw. Gefühlen. Es ist in neuern Zeiten viel vom kosmischen, siderischen, tellurischen Leben des Menschen die Rede geworden. Das Tier lebt wesentlich in dieser Sympathie; dessen spezifischer Charakter sowie seine besondern Entwicklungen hängen bei vielen ganz, immer mehr oder weniger damit zusammen. Beim Menschen verlieren dergleichen Zusammenhänge um so mehr an Bedeutung, je gebildeter er und je mehr damit sein ganzer Zustand auf freie geistige Grundlage gestellt ist. (391) Was Hegel in seiner Zeit für erwähnenswert hält, mag nicht mit dem übereinstimmen, was uns heute noch interessiert, selbst wenn er die entsprechenden Schlagworte und modischen Ansichten so ablehnt wie die Reden von einem »kosmischen, siderischen, tellurischen Leben des Menschen«. Der Kosmos und die Sterne sind für unser Leben gleichgültig, bis auf die Sonne und ein wenig den Mond, so dass am Ende alles Leben »tellurisch«, also irdisch ist. Leben auf anderen Himmelskörpern ist dagegen erst einmal nicht sehr wahrscheinlich und geht uns weit weniger an als etwa das Leben in der Tiefsee. Das Tier lebt ein Naturleben und ein Gefühlsleben in Hegels Sinne. Dieses ist eine vita sensitiva, ein Leben der enaktiven Perzeption, wie man heute sagen könnte. Das Wort »Sympathie« steht hier wohl nur für die mit den natürlichen Zuständen der Umgebung zusammengehenden ›Eindrücke‹. Diese verlieren beim Menschen »um so mehr an Bedeutung, je gebildeter er« ist. Bildung ist »geistige Grundlage« der Befreiung von der Natur. Allgemeines begri=liches Wissen ermöglicht nämlich symbolisches Handeln. Als Denken des bloß erst Möglichen befreit es uns von den reinen Gegebenheiten präsentischer Natur. Wir orientieren unser Leben und Tun (fast) immer an Möglichkeiten, 321 k
530 321 k 321 k 321 k Der subjektive Geist 391 Tiere niemals. Das erklärt auch die Bedeutung jeder Art von Literatur, von der Bibel bis in alle Bibliotheken. Denn nur Texte machen unseren Möglichkeitssinn aus, nach dem Robert Musil schon auf den ersten Seiten des Romans Der Mann ohne Eigenschaften fahndet, den er aber wie die szientistische Weltanschauung des 20. Jahrhunderts am falschen Ort vermutet, nämlich rein im Kopf. Die Weltgeschichte hängt nicht mit Revolutionen im Sonnensysteme zusammen, so wenig wie die Schicksale der Einzelnen mit den Stellungen von Planeten. – (391) Die Geschichte menschlicher Kultur, menschlichen Wissens und politisch vermittelten Zusammenlebens, die bei Hegel »Weltgeschichte« heißt, hängt von fast gar nichts ab, was jenseits der Erde geschieht, »so wenig wie die Schicksale der Einzelnen« von »den Stellungen« der Planeten. Alles andere ist reines Gerede. Die Menschen lieben die Astrologie dennoch, so wie sie z. B. die Spannung des Lottospielens lieben; beide aber haben keinen weiteren Sinn. Der Unterschied der Klimate enthält eine festere und gewaltigere Bestimmtheit. Aber den Jahreszeiten, Tageszeiten entsprechen nur schwächere Stimmungen, die in Krankheitszuständen, wozu auch Verrücktheit gehört, in der Depression des selbstbewußten Lebens, sich vornehmlich nur hervortun können. – (391) Die Bedeutung des Klimas der Zonen auf die allgemeine Form des menschlichen Lebens wird erst seit kürzester Zeit nicht mehr so überschätzt wie z. B. noch bei Montesquieu. Klima und Jahreszeit haben einen Einfluss auf psychische Krankheiten wie Depressionen nur so wie Wetterfühligkeit auf Migräne. Unter dem Aberglauben der Völker und den Verirrungen des schwachen Verstandes finden sich bei Völkern, die weniger in der geistigen Freiheit fortgeschritten und darum noch mehr in der Einigkeit mit der Natur leben, auch einige wirkliche Zusammenhänge und darauf sich gründende wunderbar scheinende Voraussehungen von Zuständen und den daran sich knüpfenden Ereignissen. Aber mit der tiefer sich erfassenden Freiheit des Geistes verschwinden auch diese wenigen und geringen Dispositionen, die sich auf das Mitleben mit der Natur gründen. Das Tier wie die Pflanze bleibt dagegen darunter gebunden. (391) Zu den Verrücktheiten und zu dem Aberglauben der Völker, von de-
392 Anthropologie. Die Seele 531 nen Hegel hier spricht, gehören scheinbar primitive Riten wie etwa die Regentänze, aber auch so harmlose wie die Feiern des Karnevals, der Blutritte oder der Feste der Stadtheiligen, mit denen protestantische Bilderstürmer schon seit dem 16. Jahrhundert nichts mehr anfangen können. Wir sollten alle diese Verrücktheiten, der ›katholischen‹ Kunstliebhaber wie der ›protestantischen‹ (auch islamischen) Ikonoklasten, soweit tolerieren, als sie die Freiheit anderer Menschen nicht allzu sehr beeinträchtigen. Regentänze als Bitten um Regen wären wie Gebete um besseres Wetter bloße Torheit, wenn sie nicht auch als Demonstration einer gemeinsamen Liturgie ihren Sinn in sich selbst tragen würden. Würden sie wörtlich verstanden, gehörten sie zu den »Verirrungen des schwachen Verstandes«, die Hegel bei Völkern zu finden glaubt, »die weniger in der geistigen Freiheit fortgeschritten« sind »und darum noch mehr in der Einigkeit mit der Natur leben«. Hegel hat aber durchaus recht, dass man die »wenigen und geringen Dispositionen«, von Klima und Jahreszeit nicht überschätzen sollte, während Tiere und Pflanzen ganz von diesen abhängig bleiben. § 393 Das allgemeine planetarische Leben des Naturgeistes 2) besondert sich in die konkreten Unterschiede der Erde und zerfällt in die besondern Naturgeister, die im ganzen die Natur der geographischen Weltteile ausdrücken und die Rassenverschiedenheit ausmachen. Der Gegensatz der terrestrischen Polarität, durch welchen das Land gegen Norden zusammengedrängter ist und das Übergewicht gegen das Meer hat, gegen die südliche Hemisphäre aber getrennt in Zuspitzungen auseinanderläuft, bringt in den Unterschied der Weltteile zugleich eine Modifikation, die Treviranus (Biolog. II. Tl.) in Ansehung der Pflanzen und Tiere aufgezeigt hat. (392) Die Unterschiede der menschlichen Rassen in den verschiedenen Klimazonen wurden damals noch maßlos überschätzt, wie auch Kants Schriften »Von den verschiedenen Rassen der Menschen« und »Bestimmung des Begri=s einer Menschenrasse« zeigen,65 auf die 65 C f. Kant, Werke, hg. v. W. Weischedel, Bd. 9, Wiesbaden: Insel und Darmstadt: Wiss. Buchg. 1964, = Kant, Studienausgabe Bd. VI, S. 11–30 und S. 65–82. 321 k
532 Der subjektive Geist 392 sich Hegel hier o=enbar implizit bezieht. Ich übergehe die Rede von den besonderen Naturgeistern. Sie ist ebenfalls schlicht veraltet. Dass sich auf der nördlichen Halbkugel mehr Land als auf der südlichen findet, ist praktisch für nichts relevant, das uns hier interessiert. 322 k § 394 Dieser Unterschied geht in die Partikularitäten hinaus, die man Lokalgeister nennen kann, und die sich in der äußerlichen Lebensart, Beschäftigung, körperlicher Bildung und Disposition, aber noch mehr in innerer Tendenz und Befähigung des intelligenten und sittlichen Charakters der Völker zeigen. So weit die Geschichte der Völker zurückreicht, zeigt sie das Beharrliche dieses Typus der besondern Nationen. (392) Auch den veralteten Ausdruck »Lokalgeister« für regionale Kulturen als Themen der Ethnologie können wir übergehen, samt der Frage, ob es dabei nicht doch nur um ›äußerliche Lebensart, Beschäftigung, körperliche Bildung und Disposition‹ handelt und gerade nicht um die »Befähigung des intelligenten und sittlichen Charakters der Völker«. Immerhin bleibt Hegel vorsichtiger als Kant in Bezug auf erbliche Unterschiede und eine Idee der ›Reinheit‹ von ›Menschenrassen‹, soweit diese über die bloß Haut- und Haarfarbe hinausgehen.66 Hegels ›private‹ Meinung, manche Überzeugungen zu besonderen (intellektuellen) Fähigkeiten seien durch die Geschichte der Völker bestätigt, zeigt nur das Beharrliche und Ubiquitäre irrtümlicher Meinungen über andere Völker, wie man sie ›mit aller Welt‹ geteilt hat, obwohl man nicht etwa erst seit heute Gegenbeispiele kennt. Man denke an 66 Die gegenwärtige Debatte um einen ohnehin nur erst im Rückblick zugeschriebenen ›Rassismus‹ ist insofern unglücklich, als sie den Fokus verschiebt. Man interessiert sich nicht für nachhaltige Beiträge zu unserem eigenen Denken, Wissen und einer Ethik in globaler Perspektive, sondern nur für die Mängel gerade der für groß gehaltenen Denker und Menschen. Man benimmt sich damit wie der Kammerdiener in Hegels Satire, für den sein Herr kein Held sein kann, weil er ihn nur im privaten Bereich der Nachttöpfe oder eines Bettgeflüsters kennt. Wie im Darwinismus ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren es gerade Naturwissenschaftler wie Georg Christoph Lichtenberg und naturalistische Philosophen wie Arthur Schopenhauer, die ihren Antisemitismus erstmals biologistisch gerechtfertigt haben.
392 Anthropologie. Die Seele 533 das alte Ägypten und Kusch im Sudan, später auch an das christliche Äthiopien, oder dann auch an Shakespeares Othello, dem ›Mohr‹ und Strategen von Venedig. § 395 Die Seele ist 3) zum individuellen Subjekte vereinzelt. Diese Subjektivität kommt aber hier nur als Vereinzelung der Naturbestimmtheit in Betracht. (392) Dass die Seele »zum individuellen Subjekt vereinzelt« sei, ist keine Aussage über die Seele, sondern ganz o=enbar ein Kommentar zu einem Gebrauch des Wortes »Seele«, der grob im Sinne von »(ich als) Subjekt« zu verstehen ist. Dabei schränkt Hegel diese Subjektivität auf die Naturbestimmtheit des Subjektseins, also auf meine rein natürlich-animalischen Fähigkeiten, Reaktionen und tätigen Verhaltungen ein. Das zur frei handelnden Person gebildete Subjekt wird dann als mein Geist oder mein Selbstbewusstsein angesprochen. Sie ist als der Modus des verschiedenen Temperaments, Talents, Charakters, Physiognomie und anderer Dispositionen und Idiosynkrasien von Familien oder den singulären Individuen. (392) Meine natürliche Seele ist also einfach mein angeborenes Temperament, Talent, mein ererbter Charakter, was sich partiell auch in meiner Physiognomie zeigt. Es gibt Idiosynkrasien, die ich von meiner Familie genetisch oder epigenetisch geerbt haben kann. Man denke z. B. an eine gewisse Ängstlichkeit oder ein gewisses Draufgängertum. Mit Genen haben viele der epigenetisch erworbenen Charaktertypiken in den Familien und sogar Regionen aber schon kaum mehr viel zu tun. 322 322 β) Natürliche Veränderungen § 396 An der Seele als Individuum bestimmt, sind die Unterschiede als Veränderungen an ihm, dem in ihnen beharrenden Einen Subjekte, und als Entwicklungsmomente desselben. Da sie in Einem physische und geistige Unterschiede sind, so wäre für deren konkretere Bestimmung oder Beschreibung die Kenntnis des gebildeten Geistes zu antizipieren. 322 f .
534 Der subjektive Geist 393 Sie sind 1) der natürliche Verlauf der Lebensalter, von dem Kinde an, dem in sich eingehüllten Geiste, – durch den entwickelten Gegensatz, die Spannung einer selbst noch subjektiven Allgemeinheit (Ideale, Einbildungen, Sollen, Ho=nungen usf.) gegen die unmittelbare Einzelnheit, d. i. gegen die vorhandene, denselben nicht angemessene Welt, und die Stellung des auf der andern Seite noch unselbständigen und in sich unfertigen Individuums in seinem Dasein zu derselben (Jüngling), – zu dem wahrhaften Verhältnis, der Anerkennung der objektiven Notwendigkeit und Vernünftigkeit der bereits vorhandenen, fertigen Welt, an deren sich an und für sich vollbringendem Werke das Individuum seiner Tätigkeit eine Bewährung und Anteil verscha=t, dadurch Etwas ist, wirkliche Gegenwart und objektiven Wert hat (Mann), – bis zur Vollbringung der Einheit mit dieser Objektivität, welche Einheit als reell in die Untätigkeit abstumpfender Gewohnheit übergeht, als ideell die Freiheit von den beschränkten Interessen und Verwicklungen der äußerlichen Gegenwart gewinnt, – (Greis). (393) Die Seele ist Individuum, weil ›ihr‹ Leib ein Individuum ist, ein atomon, das unteilbar ist und von der Geburt bis zum Tod eine Einheit bildet. Alle Unterschiede in der Zeit ergeben sich, so reden wir, als Veränderungen an ihm, dem Individuum. Dieses ist Leib-Seele. Mein Leib ist für mich und Andere je präsentisch und je objektiv. Im Vollzug ist die Seele aber ›daseiendes Subjekt‹ – so wie ich es je gerade bin. Die jeweils zu betrachtende zeitliche Ausdehnung des Wortes »ich« und damit in drittpersonaler bzw. reflexionslogischer Redeform auch von »Subjekt« hängt – wie oben im Kontext von Heraklits Fluss schon formal skizziert – von den Verben oder Prädikaten ab. Dennoch sprechen wir in diesen Formen immer über das ›beharrende einheitliche Subjekt‹ und damit über ›Entwicklungsmomente‹ des leiblich in seiner Identität bestimmten Daseins. Alle Aussagen über mich artikulieren grundsätzlich zugleich »physische und geistige Unterschiede«, was erklärt, dass Physiologie, Medizin und Seelenkunde eng zusammenhängen. Die Trennung von Leiblichem und Seelischem ist also nur eine Folge unserer Abstraktionslogik in der Fokussierung auf thematische Hauptmomente. So ist eine ›seelische Stimmung‹ oder Gestimmtheit (wie z. B. Depression oder Angstneurose, Euphorie oder Leidenschaft) zugleich ein Beneh-
Anthropologie. Die Seele 535 men und ein mentaler Gemütszustand, zugleich leiblich bedingt und dennoch auch verhaltensmäßig steuerbar, wenigstens partiell und im sozialen Kontext. Im Unterschied zur leibseelischen Reaktion einer nicht notwendig genauer bestimmten, aber unmittelbar präsentischen Angst als Stimmung ist die Furcht vor etwas Bestimmtem ein intentionales Gefühl im modernen Sinn des Wortes. Der Gegenstand muss hier, wie bekanntlich Franz Brentano herausgearbeitet hat, weder anwesend noch wirklich vorhanden sein. Solche intentionalen Gefühle sind also längst schon begri=lich und damit geistig bestimmt. Daher müssten wir für ihre »konkretere Bestimmung oder Beschreibung die Kenntnis des gebildeten Geistes« antizipieren. Terminologisch unterscheidet Hegel zwischen eher rezeptiven Empfindungen (wie Schmerzen etwa als Folge eines Stiches) und schon reflexiven Gefühlen (wie der Furcht vor einer Gefahr) dadurch, dass letztere begri=lich (heute: ›propositional‹) in ihrem Inhalt bestimmt sind, obgleich uns das manchmal nicht bewusst ist. Dennoch ist ein reines Gefühlsleben defizitär, weil die selbstbewusste Kontrolle der Inhalte noch fehlt. Hegel spricht von geistigen Gefühlen, die intentional gerichtet sind, also propositionale Inhalte haben. Sie werden durch das leise Denken im partiell bewusst steuerbaren Stream of Consciousness zumindest verstärkt. Man denke als Beispiel an die Meinung, etwas nicht zu können, was man aber sehr wohl könnte, wenn man sich das Nichtkönnen nicht aus Angst vor einem Versagen sozusagen einreden würde. Geistige Krankheiten unterscheiden sich von rein leibseelischen wesentlich darin, dass sie vom eigenen Stream of Consciousness, damit von den eigenen Einfällen und Gedankenfolgen wesentlich abhängen und daher partiell durch Einübung in Gewohnheiten des Denkens und Verhaltens partiell kontrollierbar sind. Nur geistige Krankheiten lassen sich durch rein verbale ›Therapien‹ behandeln. Diese verlangen zumeist langwierige Änderung im Umgang mit dem eigenen stillen Reden und dann auch im Verhalten. Manchmal stellen sich dennoch auch plötzliche Erleuchtungen und Änderungen der Lebenshaltung ein. Das kann subjektiv als Form der Erlösung empfunden werden. Es handelt sich im guten Fall um eine Auflösung einer Dauerstimmung der Depression oder Grundhaltung der Angst. Eine solche Auflösung
536 Der subjektive Geist 393 f. hat auch leibliche Folgen. Dass es diese Art Wunder gibt, sollte uns nicht wundern. Im »Verlauf der Lebensalter« – das ist eine erste ganz allgemeine Unterscheidung der Stufen des subjektiven Geistes – gibt es verschiedene Phasen und Epochen der natürlichen Entwicklung und geistigen Selbstbildung. Das Kind muss sich Formen des Wissens und Könnens aneignen, wozu z. B. die Überwindung von Feigheit und Bequemlichkeit gehört. Es muss insgesamt mit der Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit umgehen lernen. In der Jugend übt man noch erst die Selbständigkeit und das Selbstbewusstsein, die man subjektiv schon zu haben meint, aber objektiv noch nicht hat. Erwachsene leben in »Anerkennung der objektiven Notwendigkeit und Vernünftigkeit der bereits vorhandenen, fertigen Welt«, auch wenn Romantiker gerne jugendlich bleiben und ihre eigenen Ideale weiterhin unmittelbar revolutionär umzusetzen wünschen. Senioren haben das aktive Leben, wie man so sagt, hinter sich – und im guten Fall eine Balance hergestellt zwischen der Verfolgung der Ideale einer Perfektionierung des eigenen und gemeinsamen Lebens und den Widerständigkeiten der Welt. In der zunächst negativen »Untätigkeit abstumpfender Gewohnheit« eines bloß noch privaten Lebens kann sich dann positiv eine Loslösung »von den beschränkten Interessen und Verwicklungen der äußerlichen Gegenwart« und damit eine gewisse abgeklärte freie Souveränität ergeben. 323 § 397 2) Das Moment des reellen Gegensatzes des Individuums gegen sich selbst, so daß es sich in einem andern Individuum sucht und findet; – das Geschlechtsverhältnis, ein Naturunterschied einerseits der Subjektivität, die mit sich einig in der Empfindung der Sittlichkeit, Liebe usf. bleibt, nicht zum Extreme des Allgemeinen in Zwecken, Staat, Wissenschaft, Kunst usf. fortgeht, andererseits der Tätigkeit, die sich in sich zum Gegensatz allgemeiner, objektiver Interessen gegen die vorhandene, seine eigene und die äußerlich-weltliche, Existenz spannt und jene in dieser zu einer erst hervorgebrachten Einheit verwirklicht. Das Geschlechtsverhältnis erlangt in der Familie seine geistige und sittliche Bedeutung und Bestimmung. (393 f.) Das Verhältnis von Mann und Frau – als zweite, besondere Un-
Anthropologie. Die Seele 537 terscheidung der Formen geistigen Lebens – behandelt Hegel jetzt explizit unter dem Titel »Geschlechtsverhältnis«. Es geht um die institutionelle und nur dadurch geistige Umformung des natürlichen Unterschieds des Sexus in Gender-Rollen. Hegel unterstellt gewisse natürliche, also leiblich bedingte Unterschiede in der allgemeinen, also typischen, im nicht-normativen Sinn ›normalen‹ Subjektivität des empfindungs- und gefühlsbestimmten Daseins von Frau und Mann. Dabei spielt er mit der doppelten Lesart der Aussage, dass diese »mit sich einig« bleiben »in der Empfindung der Sittlichkeit, Liebe usf.«. Die Sittlichkeit bleibt zunächst unmittelbar auf das kommunitarische Zusammenleben in familialer Gemeinschaft beschränkt und geht noch nicht weiter »zum Extreme des Allgemeinen in Zwecken, Staat, Wissenschaft, Kunst usf.«. Das ist keine Behauptung, sondern nur ein erläuternder Kommentar zum Thema. Es geht hier klarerweise nicht um eine angebliche natürliche Beschränkung der Rolle der Frau auf die Familie, sondern nur erst um eine allgemeine begri=liche Trennung von Sphären. Wohl aber lautet die allgemeine Diagnose: Das Geschlechterverhältnis ergibt sich in einer seelisch-geistigen und leiblich-institutionellen Umformung des weitgehend angeborenen Sexus (mit nur relativ seltenen Ausnahmen) in ein Normalgenus von Frau und Mann. Als default gender erlangen die entstehenden Formen und empraktischen Normen eines ›normalen‹ oder ›guten‹ Mann- oder Frau-, Vater- oder Mutter-, Bruder- oder Schwester-Seins in der Familie ihre »geistige und sittliche Bedeutung und Bestimmung«. In dieser höchst allgemeinen Form ist die Aussage noch keineswegs als falsch anzusehen. Denn sie bleibt gerade o=en für die Unterscheidung von Sexus und Gender, wie auch viele Leserinnen Hegels seit Simone de Beauvoir und Judith Butler gesehen haben. Allerdings waren die Möglichkeiten der Neubestimmung der Rollen in einer familienanalogen Zweierbeziehung als Lebensprojekt von Paaren damals noch sehr begrenzt. Es ist daher hochgradig zeitbedingt, wenn Hegel das gemischtgeschlechtliche Paar und das Ziel der Zeugung und Bildung eigener Kinder als normative Idealform ansieht: Im Interesse der Kinder plädiert er für eine möglichst unauflösliche Familie, anerkennt aber, dass es gute Gründe für eine rechtlich geregelte Auflösung der Ehe geben kann. Außerdem stehe
538 Der subjektive Geist 394 das Ideal der Liebe immer schon in einem spannungsvollen Gegensatz zu ökonomischen und anderen Interessen. 323 323 § 398 3) Das Unterscheiden der Individualität als für-sich-seiender gegen sich als nur seiender, als unmittelbares Urteil, ist das Erwachen der Seele, welches ihrem in sich verschlossenen Naturleben zunächst als Naturbestimmtheit und Zustand einem [anderen, PS] Zustande, dem Schlafe, gegenübertritt. – (394) Jetzt geht es um die Unterschiede von bloßem Gewahrsein und geistigem Bewusstsein in einzelnen Lebensvollzügen, damit auch um die Wachheit der Vigilanz, die gerichtete Aufmerksamkeit der Attention und schließlich das sprachbegleitete Bewusstsein. Es ist zwar poetisch, aber ganz tre=end, im entsprechenden Aufstieg von einem Erwachen der Seele zu sprechen. Wachheit als Vigilanz ist zunächst nur eine natürliche Unterscheidung zu Schlaf oder Koma, wie wir sie auch bei Tieren kennen. Im Schlaf oder Koma werden die sensitiven Perzeptionen der Umwelt und die enaktiven Reaktionen weitgehend ausgeschaltet, wobei uns die kausalen Ursachen und teleologischen Funktionen hier nicht interessieren, sondern nur die grundbegri=lichen und damit logisch-phänomenologischen Grundtatsachen. Alles Besondere zu diesem Thema gehört in die Neurophysiologie, Psychologie, Medizin und Pharmazie. Das Erwachen ist nicht nur für uns oder äußerlich vom Schlafe unterschieden; es selbst ist das Urteil der individuellen Seele, deren Fürsichsein für sie die Beziehung dieser ihrer Bestimmung auf ihr Sein, das Unterscheiden ihrer selbst von ihrer noch ununterschiedenen Allgemeinheit ist. (394) Geistige Wachheit ist nicht nur vom Schlaf unterschieden. Schon beim Kind ist sie spätestens ab dem zweiten Lebensjahr begri=lich vermittelter Bezug auf sich und Umwelt, enthält also nicht nur sensitives Gewahrsein, sondern gerichtete Aufmerksamkeit und sprechsprachliche Begleitung. Hegels Rede von einem »Urteil der individuellen Seele« meint eben dieses tätige Unterscheiden und spricht keineswegs von einer Seele, die irgendwie neben dem Leib schwebt oder sich in seinen Hohlräumen verschanzt, sondern vom gesamten personalen Subjekt.
394 Anthropologie. Die Seele 539 Das Fürsichsein der Seele besteht – ich wiederhole den Punkt – in den relevanten Beziehungen x R y zwischen Momenten x ,y des Subjekts, also je von mir selbst, die von der Art sind, dass wir sie als Äußerungen, Präsentationen, oder symbolische Vertreter, also Repräsentationen, des personalen Subjekts ansehen können. Man denke etwa an das Verhältnis zwischen meiner perzeptiven Tätigkeit und den leisen, manchmal auch lauten Kommentierungen dazu, was ich wahrnehme. Hegel spricht in eben diesem Sinn von einer Beziehung des urteilenden Unterscheidens auf das Sein der Seele. In einer schwierigen Formel sagt Hegel, dass die einzelne Geistseele ein »Unterscheiden ihrer selbst von ihrer noch ununterschiedenen Allgemeinheit« sei, und verweist damit auf die konkrete Anwendung allgemeiner, je von mir schon schematisch gelernter Unterscheidungen und begri<ich-inferentieller Normalerwartungen im tägigen Umgang mit dem, was ich wahrnehme. In das Wachsein fällt überhaupt alle selbstbewußte und vernünftige Tätigkeit des für sich seienden Unterscheidens des Geistes. – (394) Der Satz, dass wir nur in geistiger Wachheit selbstbewusst und vernünftig urteilen können, stellt sich gegen den verbreiteten Glauben an irgendwelche Divinationen. Gegen alle bloß erst naiven Intuitionen und Gefühle ist der mehrfach ironische Satz gerichtet: Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. Der Schlaf ist Bekräftigung dieser Tätigkeit nicht als bloß negative Ruhe von derselben, sondern als Rückkehr aus der Welt der Bestimmtheiten, aus der Zerstreuung und dem Festwerden in den Einzelnheiten in das allgemeine Wesen der Subjektivität, welches die Substanz jener Bestimmtheiten und deren absolute Macht ist. (394) Dennoch wissen wir, dass wir – wie alles Leben – den Schlaf brauchen, und wenn auch nur zur inneren Sammlung und erneuten Einstellung von Fokussierungen. Der Unterschied von Schlaf und Wachen pflegt zu einer der Vexierfragen, wie man sie nennen könnte, an die Philosophie gemacht zu werden (– auch Napoleon richtete bei einem Besuch der Universität zu Pavia diese Frage an die Klasse der Ideologie). Die im § angegebene Bestimmtheit ist abstrakt, insofern sie zunächst das Erwachen als natürliches betri=t, worin das geistige allerdings implizite enthalten, aber noch nicht als Dasein gesetzt ist. Wenn konkreter 323 323 f . 324 k
540 Der subjektive Geist 394 f. von diesem Unterschiede, der in seiner Grundbestimmung derselbe bleibt, gesprochen werden sollte, so müßte das Fürsichsein der individuellen Seele schon bestimmt als Ich des Bewußtseins und als verständiger Geist genommen werden. Die Schwierigkeit, welche man [mit] dem Unterscheiden von jenen beiden Zuständen erregt, entsteht eigentlich erst, insofern man das Träumen im Schlafe hinzunimmt und dann die Vorstellungen des wachen, besonnenen Bewußtseins auch nur als Vorstellungen, was die Träume gleichfalls seien, bestimmt. In dieser oberflächlichen Bestimmung von Vorstellungen kommen freilich beide Zustände überein, d. h. es wird damit über den Unterschied derselben hinweggesehen; und bei jeder angegebenen Unterscheidung des wachen Bewußtseins läßt sich zu der trivialen Bemerkung, daß dies doch auch nur Vorstellungen enthalte, zurückkehren. – Aber das Fürsichsein der wachen Seele, konkret aufgefaßt, ist Bewußtsein und Verstand, und die Welt des verständigen Bewußtseins ist ganz etwas anderes als ein Gemälde von bloßen Vorstellungen und Bildern. (394 f.) In Hegels Exkurs geht es erstens um die eigentlich ganz langweilige ›skeptische‹ Frage, woher ich sicher weiß, dass ich wache und nicht schlafe, zweitens um die Unterscheidung zwischen natürlicher und geistiger Wachheit und drittens um die Di=erenz zwischen einer philosophischen und einer wissenschaftlichen Betrachtung des Unterschieds von Schlafen und Wachen. Zunächst aber betont Hegel selbst die Abstraktheit seiner definitorischen oder begri=serläuternden Bestimmungen. Dazu hebt er hervor, dass alle diese Unterscheidungen schon voraussetzen, dass ich je mich als Ich mit Bewusstsein und damit als verständiges geistiges Wesen kenne und verstehe. Die erste Schwierigkeit entsteht nicht aus dem Unterschied von Wachen und Schlafen, sondern aus der Erfahrung des Träumens im Schlafe und dann auch von Tagträumen. Dabei ist, wie schon Heraklit sagt,67 die gemeinsame Weltbezugnahme völlig ausreichend, um den Unterschied zwischen den bloß privat zugänglichen Vorstellungen im Traum und einem Bewusstsein von objektiven Sachen zu bestimmen. Der Wachtraumskeptizismus beruht also, erstens, auf der bloß formalen Gleichheit der Inhalte von Träumen, die wie die Inhalte beson67 Heraklit, Frgm. B 89.
Anthropologie. Die Seele 541 nenen Denkens zunächst nur Möglichkeiten sind, und der inhaltlich gedeuteten bewussten Wahrnehmungen, zweitens aber auf einem willkürlichen Entschluss, die Di=erenzierungen im Vollzug wegzureden und in diesem allzu schlichten Sinn von ihnen zu ›abstrahieren‹. Der Denkfehler des Skeptizismus liegt also darin, nicht zwischen bloßen Möglichkeiten und einer gemeinsam bewerteten Wirklichkeit zu unterscheiden. Man vergisst sozusagen den schon erwähnten Willensentschluss im Zweifeln selbst – und die Tatsache, dass die Teilnahme an einem gemeinsamen Unterscheiden kein subjektives Widerfahrnis ist, unbeschadet der Tatsache, dass ich auch manchmal von solchen Gemeinsamkeiten träumen mag. Manchmal wissen wir ja in der Tat nicht mehr, ob wir etwas geträumt oder wirklich erlebt haben. Noch wichtiger ist dieses: Zum Wissen und Erkennen gehört das Gefühl der Gewissheit nur in der Form subjektiver Befriedigung durch die eigenen Kontrollurteile, also weder als notwendige noch als zureichende begri=liche Bedingung. Allerdings ist jeder meiner Wissensansprüche fallibel und kann sich als bloß subjektive Gewissheit herausstellen. Dennoch ist es eine fixe Idee, ein utopischer Irrtum, nach ›absoluter‹ Gewissheit zu streben. Objektivität entsteht durch Formen der gemeinsamen Kontrollen eines Perspektivenwechsels in Bezug auf die gleichen Sachen, definiert im Rahmen gemeinsamer Unterscheidungen und allgemein gesetzter Normalfallinferenzen. Hegel selbst drückt die Kritik an jedem Skeptizismus, subjektiven Idealismus und transzendenten Realismus als Vorstellung infallibler Wahrheiten extrem trocken dadurch aus, dass er inhaltlich sagt: Es ist eine völlig triviale Bemerkung, dass auch jedes echte Wahrnehmen ein Vorstellen ist. Es ist genauer sogar ein dialektisches Hin-undher-Gehen zwischen Präsentation und Repräsentation. Wir beenden die unendlichen Möglichkeiten selbstkritischer Reflexion faktisch auf einer je bestimmten Stufe. Wir schneiden also sozusagen den infiniten Regress skeptischer Kritik und Kontrolle einfach ab und gehen zur Tagesordnung tätigen Handelns über. Es geht nur darum, dies gewissenshaft zu tun. Ansonsten können und müssen wir den Skeptikern die Fallibilität unserer Urteile zugestehen. Wichtig ist, die im Grunde triviale Einsicht nicht zu vergessen, dass das Ideal vollkommenen Wissens und ›absoluter‹ Objektivität unser eigener Entwurf ist, der
542 324 k Der subjektive Geist 395 gerade so wie die idealen Formen der reinen Geometrie zu verstehen und handzuhaben ist. Diese letztern als solche hängen vornehmlich äußerlich, nach den sogenannten Gesetzen der sogenannten Ideen-Assoziation, auf unverständige Weise zusammen, wobei sich freilich auch hie und da Kategorien einmischen können. Im Wachen aber verhält sich wesentlich der Mensch als konkretes Ich, als Verstand; durch diesen steht die Anschauung vor ihm als konkrete Totalität von Bestimmungen, in welcher jedes Glied, jeder Punkt seine durch und mit allen andern zugleich bestimmte Stelle einnimmt. So hat der Inhalt seine Bewährung nicht durch das bloße subjektive Vorstellen und Unterscheiden des Inhalts als eines Äußern von der Person, sondern durch den konkreten Zusammenhang, in welchem jeder Teil mit allen Teilen dieses Komplexes steht. (395) Vorstellungen und Bilder hängen zunächst bloß erst assoziativ zusammen. Nicht nur wegen ihrer Privatheit, auch wegen ihrer akzidentellen Willkür streuen sie zwischen verschiedenen Subjekten. Wir müssen daher nicht wirklich befürchten, dass wir gemeinsam dasselbe träumen: »Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt; im Schlaf wendet sich jeder der eigenen zu«, schreibt Heraklit dazu in Fragment B 89. Diese ebenso triviale wie tiefe Beobachtung bestätigt sich in ihrer Form auch an allen Fake News und dem Kohärenzproblem von Lügnern. Die Tendenz, sich in Sekten aufzuspalten, ist ein weiteres Indiz dafür, dass ein willkürlicher Aberglaube wörtlicher, d. h. beliebiger, Lektüre tradierter Texte vorliegt, wie man das in bloß noch so genannten ›religiösen‹ Konfessionen sehen kann. Es gibt eben nicht nur in Bezug auf die Natur, sondern auch auf den Geist und daher auch auf die Religion aus rein logischen Gründen viele unterschiedlichen Falschheiten, aber nur eine Wahrheit im gemeinsamen Unterscheiden und inhaltlichen Bewerten, freilich mit breitem Spielraum unwesentlicher Äußerlichkeiten im Ausdruck. Hegel interessiert sich nun noch zusätzlich für die holistischen Kohärenzbeziehungen in einer konkreten Totalität der Bestimmungen von Einzelsachen. Diese müssen, um objektiv zu sein, am Ende im prozessualen Relationssystem der einen und einzigen Gesamtwelt platziert sein. Nur so kann ein Inhalt seine ›endgültige‹ Bewährung erhalten.
396 Anthropologie. Die Seele 543 Das Wachen ist das konkrete Bewußtsein dieser gegenseitigen Bestätigung jedes einzelnen Momentes seines Inhalts durch alle übrigen des Gemäldes der Anschauung. Dies Bewußtsein hat dabei nicht nötig, deutlich entwickelt zu sein, aber diese umfassende Bestimmtheit ist im konkreten Selbstgefühl enthalten und vorhanden. – (395 f.) Das Signalwort »deutlich« bedeutet »distincte« in Gegenüberstellung zu »clare« und macht in der Passage klar, dass sich Hegel hier mit Descartes und Leibniz auseinandersetzt. Geistige Wachheit liefert in Bezug auf die relationalen ›Orte‹ der einzelnen Sachen und Dinge ein konkretes Erkennen. Es entsteht eine gegenseitige Bestätigung der inhaltlichen ›Momente‹ eines »Gemäldes der Anschauung«, wie Hegel so schön sagt. Dazu ist es keineswegs schon nötig, dass wir alle Eigenschaften und Relationen schon deutlich entwickelt erkennen. Vielmehr reicht uns ein holistisches, aber konkretes »Selbstgefühl« der Wachheit, um die »umfassende Bestimmtheit« der objektiven Dinge im Unterschied zu den gar nicht näher bestimmten Fiktionen zu bemerken. Um den Unterschied von Träumen und Wachen zu erkennen, braucht man nur den Kantischen Unterschied der Objektivität der Vorstellung (ihres Bestimmtseins durch Kategorien) von der Subjektivität derselben überhaupt vor Augen zu haben; zugleich muß man wissen, was soeben bemerkt worden, daß, was im Geiste wirklich vorhanden ist, darum nicht auf explizite Weise in seinem Bewußtsein gesetzt zu sein nötig hat, so wenig als die Erhebung des etwa fühlenden Geistes zu Gott in Form der Beweise vom Dasein Gottes vor dem Bewußtsein zu stehen nötig hat, ungeachtet, wie früher auseinandergesetzt worden, diese Beweise ganz nur den Gehalt und Inhalt jenes Gefühls ausdrücken. (396) Für eine objektive Weltbezugnahme ist die Frage zu beantworten, wann verschiedene Präsentationen und Repräsentationen als subjektive Vorstellungen oder Darstellungen des gleichen physischen Etwas zu begreifen sind. Wann also sind sie als ›objektgleich‹ zu werten? Kant versucht eine erste Antwort, indem er die formale Gegenstandsform unseres Redens über etwas, das ti kata tinos des Aristoteles, expliziert, nämlich über die Kategorien der Transzendentalen Analytik und dabei besonders über die Analytik der Grundsätze und die Postulate des empirischen Denkens überhaupt. Auf ihrer Grund- 324 k 324 f . k
544 Der subjektive Geist lage sollen wir zwischen subjektiven Vorstellungen von Sachen und Dingen und ihrer Objektivität, damit auch zwischen Traum und wachem Bewusstsein unterscheiden können. Wie das konkret gehen soll, bleibt aber trotz der allgemein erläuterten Form zunächst ganz unklar. Für uns reicht es hier jedoch zu sehen, dass es um die subjektiv je gewissenhaft geprüfte Kohärenz nicht bloß meiner Vorstellungen, sondern unseres gemeinsamen Anschauens und Denkens geht. Hegel wiederholt dazu noch einmal, dass wir dazu nicht wirklich alle Relationen der Dinge zueinander und zu uns »auf explizite Weise« kennen müssen. Dann aber springt er zu einem anderen Thema, nämlich der »Erhebung des fühlenden Geistes zu Gott in Form der Beweise vom Dasein Gottes«. Auch hier, sagt er, braucht niemand alle Details zu kennen, und zwar deswegen, weil es nur um die allgemeine Einsicht in das Primat des Ganzen vor dem Einzelnen geht und dann auch in den Vorrang allgemeiner Wahrheiten vor meinen und unseren Einzelkenntnissen. Daher explizieren die Beweise des Daseins Gottes nur einen intuitiv schon bekannten Gehalt: Dass es die Welt als ganze gibt und in ihr den Geist allgemeinen Wissens und vernünftigen Begreifens im Unterschied zu privaten, rein subjektiven Vorstellungen und Meinungen, ist längst schon Voraussetzung in jedem auch nur im Ansatz sinnvollen Zweifel. Das Primat der Bestimmtheit allgemeiner Wahrheit vor jedem konkreten Wissensanspruch oder Zweifel ist sogar von der gleichen Form wie das Primat der ›Existenz‹ der natürlichen Zahlen vor jeder arithmetischen Einzelaussage. M. a. W., in der scheinbar transzendenten Rede von Gott und seiner göttlichen Wahrheit artikulieren die Menschen nur die logische Grundtatsache, dass in jedem Wissensanspruch allgemeine Wahrheitsbedingungen und in jedem moralischen Urteil allgemeine normative Geltungen schon transzendental vorausgesetzt sind. Diese Einsicht geht auf die Kritik der reinen Vernunft zurück. Sie ist Kern ihrer transzendentalen Wende und Logik. Daher bleibt Kants überragende Bedeutung für alle moderne Philosophie unangefochten, auch wenn sich seine formalistische Kritik am sogenannten ontologischen Gottesbeweis als völlig falsch herausstellt. Der Fehler besteht in Kants Verwechslung von nie leeren Begri=en mit möglicherweise
396 Anthropologie. Die Seele 545 leeren Prädikaten. Frege und die Analytische Philosophie werden den Fehler sozusagen kopieren oder wiederholen. γ) Empfindung § 399 Schlafen und Wachen sind zunächst zwar nicht bloße Veränderungen, sondern wechselnde Zustände (Progreß ins Unendliche). In diesem ihrem formellen, negativen Verhältnis ist [aber] ebensosehr das a;rmative vorhanden. (396) Wir hatten Schlafen und Wachen als Gegensätze formal unterschieden. Daher ist mein Einschlafen und mein Aufwachen nicht bloß eine Veränderung an mir wie z. B. mein Erröten oder eine Ortsbewegung. Es sind »wechselnde Zustände« meines Seins: Im Schlaf oder der Bewusstlosigkeit des Komas bin ich anders – manchmal sagen wir sogar auch: ein Anderer – als im wachen Zustand. Die zunächst ominöse Rede von einem Progress ins Unendliche meint nur, dass im Leben diese Zustände ›ewig‹ einander ablösen. Das Wort »a;rmativ« signalisiert dabei nur die gegenseitige Beeinflussung von wachem Zustand und Schlaf. In dem Fürsichsein der wachen Seele ist das Sein als ideelles Moment enthalten; sie findet so die Inhalts-Bestimmtheiten ihrer schlafenden Natur, welche als in ihrer Substanz an sich in derselben sind, in sich selbst, und zwar für sich. (396) Das »Fürsichsein der wachen Seele« besteht aus allen je meinen nicht rein körperlichen Selbstbeziehungen, z. B. Erinnerungen. In ihnen »ist das Sein«, also meine fortdauernde Existenz, wie wir heute eher sagen würden, als formales und subjektives, in diesem Sinn »ideelles« Teilmoment immer schon präsuppositional enthalten. Wenn ich mich z. B. an Inhalte von Wahrnehmungen oder von Träumen erinnere, bin ich und ist das Erinnern selbst dann aktual und real, wenn ich mich ›falsch‹ erinnern sollte. Als Bestimmtheit ist dies Besondere von der Identität des Fürsichseins mit sich unterschieden und zugleich in dessen Einfachheit einfach enthalten, – Empfindung. (396) Hegels stilistische Marotte, den nächsten zu erläuternden Begri= in einem Übergang zu einem immer nur partiell neuen Thema wie ein Ka- 325 325 325
546 Der subjektive Geist 396 f. ninchen aus dem Hut zu ziehen, sollte uns wieder nicht weiter stören. Auch Hegels Weigerung, auf erst später genauer besprochene Worte und Begri=e vorzugreifen, können oder sollten wir einfach ignorieren, selbst wenn manche meinen, damit würde Wesentliches verändert. Dazu wäre aber das Wesentliche inhaltlich so zu bestimmen, dass Varianten äußerer Ausdrucksweisen als äquivalent erkennbar werden. Das heißt, man muss im inhaltlichen Verstehen immer relativ unabhängig von den partiell immer auch akzidentellen Ordnungen des gegebenen Textes werden. Erst wenn man nicht bloß philologisch, also bloß in Pflege ihrer tradierten äußeren Form, sondern inhaltlich mit Texten umgeht, nimmt man sie wirklich ernst. Empfindung (sensation) ist nun, das sagt Hegel hier, das, was inhaltlich allererst zu bestimmen ist, was sich sozusagen als unbewusste oder meinetwegen auch unterbewusste Substanz in meiner Leibseele befindet. Wir pflegen uns seit alters in unserer Reflexion auf dieses Phänomen metaphorisch so ausdrücken. Man denke z. B. an den Fall, in dem ich irgendwie das ›Gefühl‹ habe, etwas Besonderes in meiner Tasche wahrzunehmen – und mir dann etwa einfällt: Ach ja, das ist mein Schlüsselbund! An dem Beispiel ist die besondere Bestimmtheit der Sache, eben der Schlüssel, klar. Was ich tastend oder hörend oder sehend empfunden habe, waren aber nicht etwa Qualia, aus denen ich das Schlüsselbund als Bündel von Empfindungen aufbaue, wie Hume und partiell sogar noch Kant suggerieren. Qualia oder Empfindungen sind keine für sich bestimmbaren Gegenstände. Jede Identität, die hier möglich wird, ist von der Art der Gleichheit des Fürsichseins des Schlüsselbundes, also des über meine Empfindungen erfühlten Gesamtobjekts – oder einer bloß vorgestellten, bloß möglichen, nicht vorhandenen Sache, etwa wenn es nicht mein, sondern ein anderer Schlüsselbund ist statt etwa eine Sammlung von Utensilien zur Fahrradreparatur. 325 § 400 Die Empfindung ist die Form des dumpfen Webens des Geistes in seiner bewußt- und verstandlosen Individualität, in der alle Bestimmtheit noch unmittelbar ist, nach ihrem Inhalte wie nach dem Gegensatze eines Objektiven gegen das Subjekt unentwickelt gesetzt, als seiner besondersten, natürlichen Eigenheit angehörig. (396 f.)
397 Anthropologie. Die Seele 547 Qualia oder Empfindungen sind für sich so dumpf und bestimmungslos wie das dumpfe Weben des Träumens oder ein bloß enaktives Reagieren, ohne jedes Urteil, worauf man sich bezieht. Man denke z. B. an Fälle, in denen ich halb unbewusst einem Schatten ausweiche. Hier ist »alle Bestimmtheit noch unmittelbar«. Empfindungen sind per definitionem in ihrer Bestimmung noch unentwickelt. Ihre Dumpfheit ist nicht empirisch besondere Eigenschaft. Sie sind vielmehr begri<ich als noch un- oder unterbestimmt zu begreifen. Ebenfalls begri=lich wahr ist, dass nur ich meine Empfindungen haben kann. Das meint Hegels Rede von der »besondersten, natürlichen Eigenheit«, der sie angehören. Diese explikativen Erläuterungen allgemeinster Grundbegri=e auf der Basis einer Phänomenologie bekannter Selbstverständlichkeiten sind keine ›Thesen‹ oder ›Behauptungen‹. Von einem eigenen ›philosophischen System‹ im üblichen Sinne kann schon daher nicht die Rede sein. Der Inhalt des Empfindens ist eben damit beschränkt und vorübergehend, weil er dem natürlichen, unmittelbaren Sein, dem qualitativen also und endlichen angehört. (397) Wir sprechen zwar von einem »Inhalt des Empfindens«. Aber es gibt hier ggf. noch gar keine fixierte und nachhaltige Inhaltsgleichheit – bis auf so allgemeine Momente wie »ich fühle etwas Festes, sehe etwas Silbernes, höre ein Klimpern« usw. Das ist deswegen so, weil Empfindungen begri=lich gerade als vorübergehend zu fassen sind, so also, dass wir an ihnen wie an »dem natürlichen, unmittelbaren« Subjekt-Sein noch gar nichts näher bestimmt haben. Es ist daher sprachlicher und sachlicher Widersinn, Empfindungen, Qualia oder Sinnesdaten als sortale Gegenstände einer bestimmten Art mit bestimmten Gleichheiten und Eigenschaften auffassen zu wollen. Alles ist in der Empfindung, und wenn man will, alles, was im geistigen Bewußtsein und in der Vernunft hervortritt, hat seine Quelle und Ursprung in derselben; denn Quelle und Ursprung heißt nichts anderes als die erste unmittelbarste Weise, in der etwas erscheint. (397) Das Wort »alles« meint nicht immer alle Gegenstände einer sortalen Menge. Der Satz »Alles ist in der Empfindung« ist außerdem eine Anspielung auf Aristoteles, Leibniz, auch Hume und Kant, genauer 325 325 f . k
548 326 k 326 k Der subjektive Geist 397 auf die Formel »Nichts ist im Geist, das nicht in der Empfindung gewesen ist«. Hegel dementiert den Satz keineswegs. Er weist aber implizit auf das Opake des »etwas« und »nicht etwas« bzw. »alles« hin und auf das Vage der Rede von Quelle und Ursprung, die nur auf die »unmittelbarste Weise« verweist, in der uns »etwas erscheint«. Es genüge nicht [sagt man, PS], daß Grundsätze, Religion usf. nur im Kopfe seien, sie müssen im Herzen, in der Empfindung sein. (397) Es ist fast trivial wahr, mit Blaise Pascal zu sagen, es genüge nicht, Grundsätze etwa der Ethik und Religion im Kopf zu haben. Die Metapher, etwas ›im Kopf‹ zu haben, bedeutet ja nur, es auf die eine oder andere Weise verbal zu artikulieren, es zu denken. Nur wenn sie im Herzen, in der Empfindung, Intuition und Gewohnheit sind, bestimmen sie enaktiv und empraktisch das reale Tun mit. Eben das ist der Sinn dieser zweiten Metapher. Auch hier zeigt sich, wie falsch es ist, Hegel vorzuwerfen, er vertrete einen Intellektualismus. Er kritisiert nur die romantische Illusion unmittelbarer Inhalte, die erst in zweiter Linie ihren sprachlichen Ausdruck erhalten, so also, wie es sich die so genannte intentionale Semantik vorstellt. Richtig ist nur, dass bei der Verfertigung einer Rede diese nicht schon als ganze vorher im Kopf gewesen ist. Wenn man sagt, dass man weiß, was man sagen will, heißt das, dass man es vorab grob umreißen kann oder schon jetzt in anderen Worten sagen könnte und sich insbesondere dessen gewiss ist, was man als ausreichend gut gesagt anerkennen würde. In der Tat, was man so im Kopfe hat, ist im Bewußtsein überhaupt und der Inhalt demselben so gegenständlich, daß ebensosehr, als er in Mir, dem abstrakten Ich, gesetzt ist, er auch von Mir nach meiner konkreten Subjektivität entfernt gehalten werden kann; in der Empfindung dagegen ist solcher Inhalt Bestimmtheit meines ganzen, obgleich in solcher Form dumpfen Fürsichseins; er ist also als mein Eigenstes gesetzt. (397) Was man ›im Kopf hat‹, ist als leise Rede oder abrufbares, ›auswendiges‹ Wissen »im Bewußtsein überhaupt«. Hier ist der Inhalt gegenständlich. Das heißt, das Subjekt kann sich den Inhalt etwa über nominalisierende Benennungen, wie grob oder fein auch immer zum Gegenstand bewusster Reflexion machen. Damit haben wir die Metaphern »im Bewusstsein«, »in mir« und »im Kopf« aufgehoben.
397 Anthropologie. Die Seele 549 Selbst den Inhalt meines leisen Bewusstseinsstroms naheliegender Einfälle kann ich »von meiner konkreten Subjektivität entfernt« halten, mich also so zu ihm verhalten, wie wenn jemand anderer spräche, also z. B. im Modus eines bloß erst möglichen Urteils. Nur über die Vermittlung der empfindenden Leib-Seele, also einer gefühlsgetragenen Empraktik, um es einmal so zu sagen, erhalten Denkinhalte im intentionalen Tun ihre Wirkkraft. Auf die Rolle, die Gewohnheiten als partiell schematisierte Handlungsabläufe dabei spielen, kommen wir später zu sprechen. Daher ist es auch so absurd, wenn Kant die Neigungen einem abstrakten Sollen gegenüberstellt. Sie sind vielmehr, wie Hegel mit Friedrich Schiller sieht, von der praktischen Vernunft in Dienst zu nehmen, also in ihren Inhalten und Zielen umzuformen. Es bleibt allerdings das unmittelbare Empfinden als solches immer Teil eines bloß erst animalisch-dumpfen Fürsichseins. Dieses ist subjektive Selbstbeziehung. Meine Empfindungen erscheinen mir zusammen mit den Stimmungen »als mein Eigenstes« oder werden von mir so gesetzt. Stimmungen, Empfindungen und unmittelbare Neigungen sind eben daher auch schwer veränderbar, schon gar nicht rein ›momentan‹. Im Vollzug des Subjekts sind sie ja unmittelbar. Sie sind damit zunächst Teil seines Selbst. Und doch können sich nicht nur Fakire und andere Schmerzkünstler von ihren Empfindungen distanzieren, so wie man im Fall von Stimmungen manche Angst und Niedergeschlagenheit überwinden und leibseelische Neigungen in ›höhere Antriebe sublimieren‹ kann. Es wäre absurd, diese psychischen Basistechniken grundsätzlich zu leugnen, etwa deswegen, weil man sie selbst schlecht beherrscht oder nicht bewusst als solche kennt oder erkennt. Das Eigene ist das vom wirklichen konkreten Ich Ungetrennte, und diese unmittelbare Einheit der Seele mit ihrer Substanz und dem bestimmten Inhalte derselben ist eben dies Ungetrenntsein, insofern es nicht zum Ich des Bewußtseins, noch weniger zur Freiheit vernünftiger Geistigkeit bestimmt ist. (397) Hegel erläutert hier extrem kurz, was man mit dem Reflexionsausdruck »das Ich« so alles benennen kann. Dieses ist nämlich alles Meine, insofern ich es ggf. zusammen mit anderen Personen als von mir ungetrennt betrachte. Das heißt selten oder nie, dass wir es 326 k
550 326 k 326 k Der subjektive Geist 397 nicht auch, etwa in anderem Kontext, als trennbar betrachten können. Zwar bin ich mein Leib insgesamt, also auch alles, was ich empfinde, aber auch alles, was ich fühle und denke. Formal, also zunächst verbal, kann ich mich dann aber auch wieder von fast allem, sogar von meinem schmerzenden Kopf oder dem, was ich eben gesagt habe, distanzieren. Ein Kleptomane kann z. B. ähnlich wie ein Trinksüchtiger schon einmal sagen, dass nicht er, sondern seine Hand zu der Whiskyflasche im Regal gri=. Damit könnte er etwa zum Ausdruck bringen wollen, dass er für den Trieb nicht verantwortlich sei, oder ihn wenigstens lieber nicht hätte. Wir werden noch genauer sehen, dass wegen der Möglichkeit von manchmal sogar praktisch folgenreichen Selbstdistanzierungen die »unmittelbare Einheit der Seele mit ihrer Substanz«, dem Leib, am Ende nicht ganz so unmittelbar sein wird, wie sie je mir im Tun oder Lebensvollzug und unmittelbaren Selbstgefühl erscheint. Hegel weist hier auch auf die Inhalte des Denkens hin, auf deren Grundlage wir unser Tun und Leben intentional steuern, und unterscheidet so das unmittelbare ›Ungetrenntsein‹ begierdebestimmter Perzeption samt triebbestimmtem Verhalten vom weiteren Ich des Bewusstseins und der Freiheit vernünftiger Selbstbestimmung. Auf diese Unterscheidung zwischen Empfindung und Gefühl hatte ich oben schon vorgegri=en. Daß übrigens Wille, Gewissen, Charakter noch eine ganz andere Intensität und Festigkeit des Mein-eigen-seins besitzen als die Empfindung überhaupt und der Komplex derselben, das Herz, liegt auch in den gewöhnlichen Vorstellungen. – (397) Hegel betont jetzt noch, dass die geistigen Transformationen des natürlichen Lebens bloßer Empfindungen und Gefühle im bewussten, also explizit durch symbolisches Denken gesteuerten Wollen eine »ganz andere Intensität und Festigkeit des Mein-eigen-seins« zur Folge haben. Damit ist auch die gewissenhafte Prüfung von vermeinten Wahrheiten angesprochen oder die Kontrolle empraktischer, charakterlich stabil gemachter Gewohnheiten. Daher ist die übliche Gegenüberstellung von Kopf und Herz immer auch irreführend. Es ist freilich richtig zu sagen, daß vor allem das Herz gut sein müsse. (397) Wenn wir – ganz zu Recht – metaphorisch sagen, dass »vor allem
398 Anthropologie. Die Seele 551 das Herz gut sein müsse«, meinen wir gerade die empraktischen Umsetzungen von Charakter, Gewissen und Willen. Daß aber die Empfindung und das Herz nicht die Form sei, wodurch etwas als religiös, sittlich, wahr, gerecht usf. gerechtfertigt sei, und die Berufung auf Herz und Empfindung entweder ein nur Nichts-Sagendes oder vielmehr Schlechtes-Sagendes sei, sollte für sich nicht nötig sein, erinnert zu werden. (397) Das ehrliche Gefühl, es gut gemeint zu haben, ist nie genug. In diesem Sinn taugt »die Berufung auf Herz und Empfindung« nur sehr wenig. Es kann keine trivialere Erfahrung geben als die, daß es wenigstens gleichfalls böse, schlechte, gottlose, niederträchtige usf. Empfindungen und Herzen gibt; ja daß aus den Herzen nur solcher Inhalt kommt, ist in den Worten ausgesprochen: ›Aus dem Herzen kommen arge Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Lästerung usf.‹ In solchen Zeiten, in welchen das Herz und die Empfindung zum Kriterium des Guten, Sittlichen und Religiösen von wissenschaftlicher Theologie und Philosophie gemacht wird, – wird es nötig, an jene triviale Erfahrung zu erinnern, ebensosehr als es auch heutigentags nötig ist, überhaupt daran zu mahnen, daß das Denken das Eigenste ist, wodurch der Mensch sich vom Vieh unterscheidet, und daß er das Empfinden mit diesem gemein hat. (397 f.) Es gibt zwar in der Tat »böse, schlechte, gottlose, niederträchtige usf. Empfindungen und Herzen«, also Menschen, die noch nicht einmal ehrlich das tun, was sie selbst allgemein für gut halten, und auch an keiner Wahrheit interessiert sind. Das Herz, also das unmittelbare Gefühl in der Selbstbewertung zum »Kriterium des Guten, Sittlichen und Religiösen« zu machen, wie es die Romantik von Pascal bis Schleiermacher und weit darüber hinaus tut, macht allerdings den Bock zum Gärtner, wie wir noch genauer sehen werden. Hier ist nur erst wichtig, dass »das Denken das Eigenste ist, wodurch der Mensch sich vom Vieh unterscheidet«, während er »das Empfinden mit diesem gemein hat«. § 401 Was die empfindende Seele in sich findet, ist einerseits das natürliche Unmittelbare, als in ihr ideell und ihr zueigen gemacht. (398) 326 k 326 k 326
552 326 326 f . Der subjektive Geist 398 Das schwierige Wort »ideell« verlangt immer wieder einen Kommentar. Die Metapher, dass die empfindende Seele in sich etwas findet, ist zunächst so zu lesen: Als das natürliche Unmittelbare ist es enaktive Perzeption, also Sinnesempfindung mit gewissen Normalreaktionen. Man denke etwa an das Zurückziehen der Hand beim Spüren von etwas zu Heißem. Nachdem wir die Welt begri=lich zu gliedern gelernt haben, begleiten wir manche Perzeptionen, die dadurch zu Wahrnehmungen werden, mit artikulierbaren Titelworten. Wir bringen sie so ›unter Begri=e‹. Eben dadurch verwandle ich eine reale Empfindung in eine Instanz oder Manifestation einer allgemeinen Art oder Form, die als Eidos auch schon Begri= ist. So wird das Harte, das ich z. B. erfühle und als Schlüssel erkenne oder zu erkennen glaube, ideell. Ich mache es mir zu eigen als mein Empfinden oder ›Gefühl‹, dass das etwas metallisch Hartes oder ein Schlüssel ist. Andererseits wird umgekehrt das ursprünglich dem Fürsichsein, das ist, wie es weiter in sich vertieft Ich des Bewußtseins und freier Geist ist, Angehörige zur natürlichen Leiblichkeit bestimmt und so empfunden. (398) Hegels Betonung der Identität von geistigem Ich und Leiblichkeit ist klar und deutlich. Um diesen dennoch sowohl allzu umständlichen als auch allzu verkürzten Satz zu verstehen, beziehe ich ihn gleich auf unser Beispiel: Indem ich das Metall in der Tasche spüre, etwa sogar mich an ihm reibe und leicht einen Finger verletze, ist meine empfindende Beziehung zum Schlüssel natürlich leiblich. Zu meinem Fürsichsein gehören dann aber verschiedene Momente meines eigenen Ich, unter anderem das empfindende Gewahrsein, besonnene Bewusstsein und der freie Geist des Nachdenkens und Urteilens. Explizit wird dieses im Wahrnehmungsurteil: »Es ist mein Schlüssel«. – Das Beispiel zeigt auch schon, dass uns der Unterschied zwischen der durch Erziehung und Selbsterziehung, Lernen und Wissen längst schon überformten und der ursprünglich natürlichen Leiblichkeit nie unmittelbar im Vollzug klar sein kann. Es gibt kein ›reines‹ Selbstgefühl. Hienach unterscheidet sich eine Sphäre des Empfindens, welches zuerst Bestimmung der Leiblichkeit (des Auges usf., überhaupt jedes körperlichen Teils) ist, die dadurch Empfindung wird, daß sie im Fürsichsein der Seele innerlich gemacht, erinnert wird, – und
398 Anthropologie. Die Seele 553 eine andere Sphäre der im Geiste entsprungenen, ihm angehörigen Bestimmtheiten, die, um als gefundene zu sein, um empfunden zu werden, verleiblicht werden. (398) Ich formuliere nur etwas schärfer als Hegel: Wir müssen in einer eigenen Anstrengung abstrahierender Reflexion unterscheiden zwischen einer Sphäre des ›unmittelbaren‹ Empfindens oder ›rein natürlichen Perzipierens‹ und der Sphäre des begri=lich längst schon überformten und von möglichen Urteilen begleiteten, in diesem Sinn schon ›apperzeptiven‹ Fühlens und Wahrnehmens. Der Unterschied hat massive Folgen für das rechte Verständnis der disziplinären Unterscheidung zwischen reiner Sinnphysiologie und Wahrnehmungspsychologie. Im ersten Fall betre=en Thema und Methode nur ›natürliche Funktionen‹, kurz, die Leiblichkeit (des Auges usf., überhaupt jedes körperlichen Teils). Im entwickelten Leben des personalen Subjekts haben sich Status und Rolle des Empfindens schon verwandelt. Denn die ›gefühlten‹ Unterscheidungen werden »im Fürsichsein der Seele innerlich gemacht, erinnert«. Damit werden sie zu gefühlten Unterschieden. Aus diesen ergeben sich über ein vergegenständlichendes Reflektieren und Urteilen Objekte des Fühlens, nämlich als Instanziierungen von Arten. Die Bestimmung der Gegenstandsart ergibt sich keineswegs, wie bei Locke, unmittelbar aus ›Impressionen‹ des Empfindens, sondern ist längst Anwendung erlernter begri=licher Unterscheidungen und der zugehörigen Normalfallschlüsse. Man denke an einen partiell schon automatisierten Stream of Consciousness, der selbst durchaus leiblich vermittelt ist, wobei das Gehirn eine zentrale vermittelnde Rolle beim leisen Reden spielt. Zwar sind die Selbstgespräche konkret, wie man sie bei Menschen hören kann, die wie Zwei- und Dreijährige laut mit sich sprechen. Die ›Inhalte‹ sind dennoch abstrakt-allgemein. Vermöge der Gleichgültigkeitsrelation der Gehaltsäquivalenz oder Sinngleichheit sind sie sozusagen subjekttranszendent und damit objektiv. Und doch müssen die einzelnen Subjekte ihre eigenen Urteile über Sinngleichheiten und ihre begri=lichen Inferenzen je konkret einbringen. In diesem Sinn sind gerade auch nach Hegels Analyse Objektivität und Transsubjektivität als Formen dasselbe, während Intersubjektivität nur für die Gemein-
554 327 327 Der subjektive Geist 398 samkeit eines unter Umständen immer auch partiell akzidentellen Konsenses steht. Im ›Kopf‹ läuft also nur erst ein konkreter Trägerstrom von Wörtern und ggf. ›Bildern‹ ab. Deren ›Inhalte‹ sind durch den Geist, die Teilnahme an einer gemeinsamen Kultur des Umgangs mit Symbolen bestimmt. Dabei ist alle Objektivität und Wahrheit definiert auf der Basis allgemein gelernter Formen und Normen des artikulierten, verbalisierten Unterscheidens und Schließens, kurz: durch Kriterien des Richtigen, keineswegs allein durch das leibliche Subjekt in bloß akzidenteller Willkür spontaner Einfälle und Urteile. Es ist daher auch zwischen der Idee der Gemeinsamkeit des Unterscheidens und Normalfallfolgerns und einem bloß akzidentell-aktualen Konsens im Urteilen zu unterscheiden. Dieser Unterschied bestimmt gerade den Unterschied zwischen einer objektiven Transsubjektivität der Erfüllung von Kriterien, Formen und Normen und einer bloß erst subjektiven Intersubjektivität gemeinsamer Befriedigungen. Die Bedingungen der Erfüllungen bestimmen eine Wahrheit oder Geltung jenseits bloß intersubjektiver Gewissheiten. So entsteht die immanente Transzendenz der Wahrheit. Sie liefert eine auf keine Weise metaphysische Grundlage für die prinzipielle Fallibilität aller unserer Urteile. So ist die Bestimmtheit im Subjekt als in der Seele gesetzt. (398) Die Metaphern ›im Subjekt‹ und ›in der Seele‹, auch: ›im Ich‹, sind alle gleichbedeutend. Wir gebrauchen sie seit mehr als 3000 Jahren insbesondere zur bildlichen Reflexion auf die geschilderte Grundtatsache des er-innernden Wahrnehmens, der Apperzeption. Wie die weitere Spezifikation jenes Empfindens in dem Systeme der Sinne vorliegt, so systematisieren sich notwendig auch die Bestimmtheiten des Empfindens, die aus dem Innern kommen, und deren Verleiblichung, als in der lebendigen konkret entwickelten Natürlichkeit gesetzt, führt sich nach dem besondern Inhalt der geistigen Bestimmung in einem besondern Systeme oder Organe des Leibes aus. (398 f.) Die fünf Sinne bilden ein System der auf Objekte bzw. Sachen gerichteten Orientierung, zunächst vermittelt durch natürliche Synästhesie. Auf diesem System baut alles begri=liche Unterscheiden und dann auch das verbal erlernte Schließen auf und bildet das psychische System. Zu diesem gehören aber auch die Bestimmtheiten des Emp-
399 Anthropologie. Die Seele 555 findens, die aus dem Innern kommen, nämlich als Propriozeptionen, also das ›innere‹ Leibgefühl, das immer auch ganzheitlich ist, aber wohl auch die ungerichteten Stimmungen. Verleiblichungen durch gewohnheitsförmiges, halbautomatisches Verhalten vermitteln dabei das Unterscheiden und Schließen im Vollzug. Das Empfinden überhaupt ist das gesunde Mitleben des individuellen Geistes in seiner Leiblichkeit. (399) Das Empfinden von Schmerzen als Warnsignalen gehört im Normalfall zur allgemeinen Gesundheit des individuellen Subjekts. Im Fall von personalen Subjekten, die als solche schon partiell zu Personen gebildete Menschen sind, ist das empfindende Gewahrsein eine Art »Mitleben des individuellen Geistes in seiner Leiblichkeit«. Wie schon Aristoteles dementiert damit auch Hegel, dass die Leibseele (psychē, mens, anima) oder die Geistseele (nous, spiritus, animus) ein vom Gesamtleben getrenntes Leben führen könnten. Die Sinne sind das einfache System der spezifizierten Körperlichkeit; 1) die physische Idealität zerfällt in zwei, weil in ihr als unmittelbarer, noch nicht subjektiver Idealität der Unterschied als Verschiedenheit erscheint, die Sinne des bestimmten Lichts (vergl. § 317 =.) und des Klangs (§ 300). 2) Die di=erente Realität ist sogleich für sich eine gedoppelte, – die Sinne des Geruchs und Geschmacks (§ 321, 322); 3) der Sinn der gediegenen Realität, der schweren Materie, der Wärme (§ 303), der Gestalt (§ 310). (399) Die idiosynkratische Rede von einer physischen Idealität meint (hier) die durch die Fernsinne des Sehens und Hörens möglichen subjektiven Unterscheidungen äußerer physischer Formgestalten der die Empfindungen verursachenden Dinge oder Sachen. Das Wort »idea«, ich muss es wiederholen, steht ja für eine Gestaltung, die eine Form ausreichend gut realisiert. Das Licht und der Schall bzw. Licht- und Schallwellen vermitteln zwischen den wahrgenommenen Sachen und unseren Wahrnehmungen. Das gesehene oder gespürte Brennen einer Kerze ist dabei erst dann als Ursache für das Sehen oder Fühlen ansprechbar, wenn wir das richtige Wahrnehmen und Urteilen schon als bekannt und beherrscht voraussetzen. Daher liegt sozusagen eine Phänomenologie der Wahrnehmung und des Denkens jeder Physiologie des Wahrneh- 327 k 327 k
556 327 k Der subjektive Geist 399 mens längst schon zugrunde, so wie die Logik des Symbolgebrauchs jeder Psychologie des Denkens.68 Geschmack und Tastsinn sind Nahsinne, auch der Geruch, obwohl man dessen Ursachen auch in einiger Entfernung riechen kann. Die Bezüge zur Naturphilosophie sind explizit genannt. Der Tastsinn ist »der Sinn der gediegenen Realität« von Festkörpern. Dabei ist die Haut zwar ein Organ, zählt aber üblicherweise nicht als eigenes Sinnesorgan, obgleich sie es bei genauerer Betrachtung gerade als allgemeines Tastorgan ist. Dem steht nicht entgegen, dass wir hauptsächlich unsere Finger für das Fühlen im Sinne eines Probe-Tastens einsetzen, manchmal aber auch für einen Wärmetest. Hegels Verweis auf die schwere Masse lese ich nur als Hinweis, dass wir widerständige und schwere Festkörper haptisch spüren. Das Spüren von Wärme hatte ich schon als möglichen sechsten Sinn angesprochen. Das allgemeine Leibgefühl der Propriozeption, zu dem neben Furcht und Angst, allgemeinem Unwohlsein und Niedergeschlagenheit, Schwächegefühl oder Euphorie besonders auch die Lokalisierung von Schmerzen und anderen Empfindungen gehört, hat zwar keinen eigenen Namen in der Volkssprache, da es nicht auf Augen, Ohren, Nase, Zunge und Gaumen als besondere Sinnesorgane beschränkt ist. Und doch zählen wir manchmal nicht bloß fünf, sondern sieben Sinne. Der siebte Sinn ist dabei eben dieses innere Allgemeingefühl insgesamt. Um den Mittelpunkt der empfindenden Individualität ordnen sich diese Spezifikationen einfacher als in der Entwicklung der natürlichen Körperlichkeit. (399) Hegels Kommentar bestätigt sozusagen, dass meine Ordnung von sieben Sinnen als Arten der Empfindungen zu einer besseren und einfacheren Spezifikation führt, als wenn wir nur die fünf lokalen Sinnesorgane betrachten würden. Man versteht so die Entwicklungen der natürlichen Körperlichkeit in den begri=lichen Unterscheidungen gerade auch in Bezug auf die sie verursachenden Objekte besser – wobei natürlich die Rede von den wahren Ursachen schon einen gehörigen Umfang an allgemeinem Wissen voraussetzt. 68 Hegel selbst spricht hier noch nicht von Wahrnehmungen.
399 f. Anthropologie. Die Seele 557 Das System des innern Empfindens in seiner sich verleiblichenden Besonderung wäre würdig, in einer eigentümlichen Wissenschaft, – einer psychischen Physiologie, ausgeführt und abgehandelt zu werden. (399) Hier bestätigt Hegel des Weiteren explizit, dass er immer auch an einer vernünftigen disziplinären Gliederung der Gegenstände, Themen und Methoden der Wissenschaften interessiert ist. Es geht jetzt um eine psychische Physiologie, die sich heute als Wahrnehmungspsychologie darstellt und der Sinnesphysiologie sozusagen nebengeordnet ist. Hegels ›Projekt‹ wurde also wirklich realisiert, zumal die Sache es erfordert. Dass man bei seiner Ausgestaltung weitgehend nichts mehr von Hegel wusste, ist nicht verwunderlich. Man hat auch sonst die Bedeutung der Überlegungen der romantischen Naturphilosophie Schellings und seiner Kollegen weitgehend vergessen. Das ist einfach ein Mangel an geschichtlichem und damit manchmal auch methodisch-logischem Selbstbewusstsein dieser Sachwissenschaften – gerade auch bei so wichtigen Personen wie Hermann von Helmholtz. Etwas von einer Beziehung dieser Art enthält schon die Empfindung der Angemessenheit oder Unangemessenheit einer unmittelbaren Empfindung zu dem für sich bestimmten sinnlichen Innern, – das Angenehme oder Unangenehme; wie auch die bestimmte Vergleichung im Symbolisieren der Empfindungen, z. B. von Farben, Tönen, Gerüchen usf. (399) Hegel nennt als Beispiel (noch einmal) die angenehmen Empfindungen, welche gewisse Farbtöne (etwa des Grüns einer Wiese oder eines Waldes) oder Laute (wie Vogelgesang oder das Murmeln des Wassers) oder auch Stille (›des Friedens‹) hervorrufen können. Sie liefern die Grundlagen für einen symbolischen Gebrauch von Gestalten (wie der Kinderfiguren der Putten), Farben (wie manches Grün, Blau oder Gold), Tönen (wie schon genannt), Gerüchen (wie nach Heu, Tee, Ka=ee, auch Weihrauch usf.). Aber es würde die interessanteste Seite einer psychischen Physiologie sein, nicht die bloße Sympathie, sondern bestimmter die Verleiblichung zu betrachten, welche sich geistige Bestimmungen insbesondere als A=ekte geben. (399 f.) Die Verleiblichung durch angelernte Reaktionsmuster auf kulturelle Symbole ist interessanter und wichtiger als die üblichen Spekula- 327 k 327 k 327 k
558 327 k 327 f . k Der subjektive Geist 400 tionen über eine angebliche oder nur zum Teil wirklich natürliche Symbolik, zumal diese inzwischen häufig allzu platt mit Sexualität in Verbindung gebracht werden. Man denke etwa an den bekannten Unsinn, der über barocke Kirchtürme geschrieben wird. Das Wort »Sympathie« verweist auf eine relativ unmittelbare Übertragung eines passiven Reaktionstyps wie etwa im Fall a=ektiver Reaktionen z. B. auf Musik oder auf Gemälde. Es wäre der Zusammenhang zu begreifen, durch welchen der Zorn und Mut in der Brust, im Blute, im irritabeln Systeme, wie Nachdenken, geistige Beschäftigung im Kopfe, dem Zentrum des sensibeln Systemes, empfunden wird. (400) Natürlich hatte schon Platon auf die Unterschiede der Wirkung von Musik reflektiert und die Möglichkeiten eines psychotechnischen Einsatzes von Militärmusik erkannt. (Es ist übrigens höchst interessant zu sehen, wie gerade bei Platon eine vorschnelle Kritik an Einzelheiten seiner Vorschläge das weit entscheidendere Wissen über die allgemeinen Formen verdunkeln kann.) Hegel zielt hier aber auf mehr und anderes ab, nämlich auf ein Wissen über die realen Formen der Steuerung von Zorn (als Antrieb) und Mut (als Diskontierung von berechtigter Furcht oder di=user Angst), dann aber auch des Nachdenkens selbst, also ›der geistigen Beschäftigung im Kopfe, dem Zentrum des sensiblen Systems‹. Dabei interessiert er sich nicht dafür, ob und wie jemand geistige Arbeit vielleicht als anstrengend empfindet, sondern eher dafür, welche Reaktionsweisen auf Wahrnehmungen bzw. auf ein Hören oder Lesen von Worten und dann auch auf eigene Einfälle einzuüben sind, wenn man lernen will, selbständig zu denken. Es wäre ein gründlicheres Verständnis als bisher über die bekanntesten Zusammenhänge zu fassen, durch welche von der Seele heraus die Träne, die Stimme überhaupt, näher die Sprache, Lachen, Seufzen, und dann noch viele andere Partikularisationen sich bilden, die gegen das Pathognomische und Physiognomische zu liegen. (400) Hegels Überlegungen zum Ansteckenden von Stimmungen sind hier nur skizzenhaft, aber in ihrer Bedeutung auf keinen Fall zu unterschätzen. So greift z. B. erst William James den Gedanken wieder auf, dass das Lächeln selbst, also der eigene Gesichtsausdruck, den wir der Tendenz nach halbautomatisch beim Lächeln anderer imitieren, unse-
400 Anthropologie. Die Seele 559 re Stimmung aufhellen kann – obwohl man das schon bei Säuglingen beobachten kann. Wir ändern auch sonst unsere Stimmung über halbautomatische Kopien z. B. des ansteckenden Lachens und Weinens. Hegel fordert uns auf, das Spekulative und Willkürliche der damaligen pathognomischen und physiognomischen Theorien etwa Lavaters zu ersetzen durch genaue empirisch-phänomenologische Studien. Grundlage ist ein allgemeines materialbegri=liches, methodisches und logisches Wissen, auf der das speziellere Wissen entwickelt wird. Dazu gehört dann insbesondere auch das Wissen über das Figurative unserer gegenständlichen Reden über die Seele, das Gemüt, auch über andere Momente des Empfindens oder Fühlens wie Schmerz oder Furcht, und dann auch des Denkens wie Phantasie, Vorstellungsund Einbildungskraft bzw. Verstand und Vernunft. Die Eingeweide und Organe werden in der Physiologie als Momente nur des animalischen Organismus betrachtet, aber sie bilden zugleich ein System der Verleiblichung des Geistigen und erhalten hiedurch noch eine ganz andere Deutung. (400) Die Eingeweide tragen zwar zum Denken nicht viel Positives bei, können aber von ihm abhalten. Ein voller Bauch studiert nicht gern. Sogenannte Sünden und andere Verantwortlichkeiten können andererseits ebenfalls auf den Magen schlagen. Daher hat man in der Frühzeit das Denken im Zwerchfell (phrēn) platziert. Zunächst spürt nämlich kein Mensch, dass er mit dem Kopf denkt, in den das Hirn (phrēn) später sozusagen gerutscht ist. Die Physiologie kann von ihrem Thema und ihrer Methode her nur die Organe und ihre Funktionstüchtigkeiten als notwendige Bedingung für ein entsprechend spezifiziertes (aktuales) Verhalten untersuchen. Sie bleibt eben damit auf »Momente nur des animalischen Organismus« reduziert. Dass das Leibliche insgesamt »zugleich ein System der Verleiblichung des Geistigen« bildet, entgeht ihr. § 402 Die Empfindungen sind, um ihrer Unmittelbarkeit und des Gefundenseins willen, einzelne und vorübergehende Bestimmungen, Veränderungen in der Substantialität der Seele, gesetzt in ihrem mit derselben identischen Fürsichsein. Aber dieses Fürsichsein ist nicht bloß ein formelles Moment des Empfindens; die Seele ist an sich re- 328 k 328
560 328 k Der subjektive Geist 400 flektierte Totalität desselben – Empfinden der totalen Substantialität, die sie an sich ist, in sich, – fühlende Seele. (400) Enaktive Perzeptionen sind vorübergehende Veränderungen am leiblichen Subjekt. Sie sind damit jeweils auch einzelne Unterscheidungen der Leib-Seele. Die nachhaltigere Identität der Seele bzw. des Subjekts ist logisch gesetzt oder definiert dadurch, dass ihre verschiedenen Momente zueinander in der Relation des Fürsichseins stehen, also für mich als individuelles Subjekt in je meiner relevanten zeitlichen Ausdehnung als ein größeres Ganzes aufzufassen sind. Es ist aber nie einfach das leibliche Individuum, das ich als lebender Leib jetzt oder dann auch von der Geburt bis zum Tod bin. Der Ausdruck »Person(en)« steht für mich oder dich (bzw. uns) als Träger von Rollen im Kontext sozialer, besser: personaler Interaktionen und Kooperationen. Das Fürsichsein der Seele ist logisch ein Gesamt von Beziehungen zwischen verschiedenen Momenten leiblichen Seins, die aber nie einfach als bloß körperliche Reaktionen zu verstehen sind. Die Identität des relevanten Subjektseins ist kein bloß »formelles Moment des Empfindens«. Ich empfinde mich keineswegs als Seele oder Subjekt. Kein Lebewesen tut das. Das Subjekt zeigt sich nur im Vollzug, also im eigenen leiblichen Sein. Und es wird zum Gegenstand nur in expliziten Reflexionsaussagen. Die fühlende Seele unterscheidet sich von der empfindenden dadurch, dass sie reflektierte Totalität ist. Sie ist damit kommentierte Selbstempfindung, und zwar »der totalen Substantialität, die sie an sich ist«. Kurz, Gefühle unterscheiden sich von Empfindungen durch ihre begri=liche Bestimmung gerade so wie eine auf ein Objekt gerichtete Wahrnehmung von einer bloßen enaktiven Perzeption im reaktiven Verhalten. Gefühle sind daher weit distinkter als di=use innere Spürungen. Für Empfindung und Fühlen gibt der Sprachgebrauch eben nicht einen durchdringenden Unterschied an die Hand; doch sagt man etwa nicht wohl Empfindung des Rechts, Selbstempfindung u. dgl., sondern Gefühl des Rechts, Selbstgefühl; mit der Empfindung hängt die Empfindsamkeit zusammen; man kann daher dafür halten, daß die Empfindung mehr die Seite der Passivität, des Findens, d. i. der
401 Anthropologie. Die Seele 561 Unmittelbarkeit der Bestimmtheit im Fühlen, hervorhebt, das Gefühl zugleich mehr auf die Selbstischkeit, die darin ist, geht. (400) Wir unterscheiden leider in den Sprachen nicht kanonisch zwischen Empfindungen und Gefühlen. Man spricht z. B. von einem Rechtsempfinden und von einem Selbstgefühl, obwohl im ersten Fall Urteile involviert sind, im zweiten nicht. Dabei ist von der Kernbedeutung her das Empfinden passiver, rezeptiver als das Fühlen. Eine Grenzziehung zwischen eher wörtlicher und schon figurativ übertragener Bedeutung ist nirgends so schwierig und fast nie so wichtig wie im Fall psychologischer Rede und spekulativer, also generisch-holistischer, Reflexionen. Mit der Empfindung der sensation hängt, wie Hegel ganz zu Recht hervorhebt, die Empfindsamkeit der sensibility zusammen, aber auch das Wort »sentimental« wie in Laurence Sternes Yoricks Sentimentale Reise, die zu den zwei Urtexten der literarischen Romantik gehört, zusammen mit seinem großen Tristram Shandy. b. Die fühlende Seele § 403 Das fühlende Individuum ist die einfache Idealität, Subjektivität des Empfindens. Es ist darum zu tun, daß es seine Substantialität, die nur an sich seiende Erfüllung als Subjektivität setzt, sich in Besitz nimmt und als die Macht seiner selbst für sich wird. Die Seele ist als fühlende nicht mehr bloß natürliche, sondern innerliche Individualität; dies ihr in der nur substantiellen Totalität erst formelle[s] Fürsichsein ist zu verselbständigen und zu befreien. (401) Die einfache Idealität meiner fühlenden Seele ist die in meinem Dasein durch mich instanziierte Vollzugsform meines subjektiven Empfindens und Fühlens. In meinem (Selbst-)Gefühl geht es mir immer darum, meine sinnlich vermittelten Empfindungen und Reaktionen sozusagen intentional zu steuern und dadurch in Besitz zu nehmen. Ich als Individuum bin zwar leibliche Substanz bis zum Tod. Ich bin Subjekt oder Agens in allen meinem enaktiven Perzeptionen und im Vollzug des Lebens. Aber das bin ich zunächst nur an sich. Für mich muss ich dazu sozusagen die Inhalte kontrollieren. Ich als fühlende Seele bin daher nicht nur eine innerliche Individualität je meiner Empfindungen, sondern 328
562 329 k 329 k Der subjektive Geist 401 ich habe sie. Das bedeutet konkret, dass sich mein Fürsichsein dadurch ausweitet, dass zu meinem leiblichen Sein und den enaktiven Perzeptionen die eigene Kontrolle der Inhalte etwa in Bewertungen von ausreichenden Erfüllungen statt bloß unmittelbaren Gefühlen der Befriedigung hinzukommt und ich mich so von dem, was mir bloß erst rezeptiv gegeben ist und was ich in mir finde, in ersten Schritten befreie.69 Nirgend so sehr als bei der Seele und noch mehr beim Geiste ist es die Bestimmung der Idealität, die für das Verständnis am wesentlichsten festzuhalten ist, daß die Idealität Negation des Reellen, dieses aber zugleich aufbewahrt, virtualiter erhalten ist, ob es gleich nicht existiert. (401) Hegel reflektiert nun selbst auf die Bedeutung seiner Rede von der Idealität und ihrer Bedeutsamkeit für das Verständnis (der Rede) von Seele und Geist. Dabei hebt er zunächst nur erst abstrakt hervor, dass »die Idealität Negation des Reellen« sei. Das Reale sei dennoch zugleich irgendwie auch aufbewahrt, virtualiter erhalten. Was heißt das? Und warum soll das Reale nicht ›existieren‹, wie man den Satz beim ersten Anschauen zu lesen geneigt ist? Der dichte Satz spricht nach meinem Lesevorschlag davon, dass die Seele nur ein formaler Gegenstand reflexionslogischer Rede ist. Die Seele ist also kein wirklich existierender, und das heißt nach Hegels kanonischer Sinnanalyse: konkrete Erscheinungen bewirkender, spiritueller ›Gegenstand‹. Die Seele ist, wie schon Aristoteles erkennt, nur eine Form, Eidos. Dasselbe gilt auch für den Geist. Auch er ist nur die Gesamtform unseres begri=lich bedingten personalen Seins oder geistigen Lebens. Das Reale der individuellen oder gemeinsamen Vollzugsformen, also auch des aktualen Seins und Verhaltens, ist in den Vollzügen selbst aufgehoben. Es ist die Bestimmung, die wir wohl in Ansehung der Vorstellungen, des Gedächtnisses vor uns haben. Jedes Individuum ist ein unendlicher Reichtum von Empfindungsbestimmungen, Vorstellungen, Kenntnissen, Gedanken usf.; aber Ich bin darum doch ein 69 Die Erfüllungen, von denen Hegel hier spricht, betre=en schon (Urteile über) begri=liche Bedingungen und sind damit von bloß momentanen Empfindungen unmittelbarer Befriedigungen zu unterscheiden.
401 Anthropologie. Die Seele 563 ganz Einfaches, – ein bestimmungsloser Schacht, in welchem alles dieses aufbewahrt ist, ohne zu existieren. Erst wenn Ich mich an eine Vorstellung erinnere, bringe Ich sie aus jenem Innern heraus zur Existenz, vor das Bewußtsein. (401) Wenn wir von Erinnerungen sprechen, benutzen wir das Bild, es seien Inhalte in unserem Innern, in der Seele, im Gedächtnis, aufbewahrt wie in einer Asservatenkammer, in einem Museum oder in einer Bibliothek. Hegel kommentiert nun, das beachte man, diese Vorstellung keinesfalls einfach zustimmend, sondern in kritischer Distanz: Man sagt oder gibt zu, dass jedes Individuum eine unüberschaubare Mannigfaltigkeit von Erinnerungen ›hat‹, auch Vorstellungen, Kenntnisse, Gedanken usf. Aber jeder besteht dennoch darauf, er selbst sei »ein ganz Einfaches«. Der waagerechte Strich signalisiert, dass Hegel erst jetzt seinen eigenen Kommentar folgen lässt: O=enbar fasst man sich in diesem metaphorischen Selbstbild als eine Art bestimmungslosen Schacht auf, »in welchem alles dieses aufbewahrt ist« – aber ohne zu existieren, was in Hegels Sprache heißt, ich wiederhole das in neuen Worten, dass es sich nicht aktual zeigt: Ich weiß vieles, ohne gerade daran zu denken. An manches erinnere ich mich nur in geeigneten Situationen. Ein Materialist könnte jetzt behaupten, die Informationen seien notwendiger Weise wie in einem Computer in der Hardware repräsentiert. Wir sprechen ja auch gern metaphorisch von einem Zugri= auf unser Gedächtnis. Das Problem bei diesem verbalen Schachzug ist, dass man den Weg von den vermeintlich wörtlich gespeicherten Daten zu den Inhalten ganz ausklammert. Dabei erinnern wir uns als erwachsene Menschen zumeist viel eher an Inhalte, vielleicht vermittelt durch titelartige Überschriften, auch Bildskizzen, als an genaue Texte oder ganze Bilder. Die Inhalte werden aus den Titeln sozusagen ad hoc und frei wie in Heinrich von Kleists Schilderung der Verfertigung der Gedanken beim Reden entwickelt. Dabei gibt es einen klaren Unterschied zu einem Computer oder Roboter, der alles, was er gespeichert hat, nur schematisch und damit nur auf der Ausdrucksebene behandeln kann, selbst alle optischen, akustischen, haptischen oder auch olfaktorischen Inputs. Daran ändern auch sogenannte lernende Systeme nichts. Es ist daher reine Metapher, wenn davon die Rede ist, etwas, »aus jenem Innern heraus [. . . ] vor das Bewußtsein« zu bringen:
564 329 k 329 k Der subjektive Geist 401 Den erinnerten Gehalt (qua ›Vorstellung‹, auch qua ›Bild‹) gibt es erst dann wirklich, wenn ich mich erinnere, also z. B. einen Gedanken explizit mache und damit als weiter bedenkbaren Gegenstand ›zur Existenz‹ und ›vor das Bewusstsein‹ bringe. Es gibt also zumeist gar keinen ausreichend guten Grund anzunehmen, dass genau dieser Gedanke oder gar genau diese seine Formulierung vorher in meinem Kopf auf nicht bloß metaphorische Weise gespeichert gewesen sein soll – es sei denn, ich hätte einen Text auswendig gelernt, was aber ein Sonderfall ist. In Krankheiten geschieht, daß Vorstellungen, Kenntnisse wieder zum Vorschein kommen, die seit vielen Jahren vergessen heißen, weil sie in so langer Zeit nicht ins Bewußtsein gebracht wurden. Wir waren nicht in ihrem Besitz, kommen etwa auch durch solche in der Krankheit geschehene Reproduktion nicht fernerhin in ihren Besitz, und doch waren sie in uns und bleiben noch fernerhin in uns. (401) Manche alten Leute ›erinnern‹ sich plötzlich an eine ›vergessene‹ Sprache oder an ›vergessene‹ Texte ihrer Kindheit. Das Beispiel scheint mir besser als Hegels Fall von Erinnerungsphänomenen im Fall besonderer Krankheiten oder unter Hypnose zu sein – wobei die Frage übrigens nicht immer einfach zu beantworten ist, ob die ›erinnerte‹ Sache auch wirklich stattgefunden hat. Bei der Auffrischung von Kenntnissen und Vermögen liegt der Fall immerhin anders. Aber auch hier gilt: Wir waren lange »nicht in ihrem Besitz«. In gewissem Sinn müssen wir daher aktuales bzw. willentlich aktualisierbares Wissen, Kennen und Können von bloß virtuellem unterscheiden, auch den Fall, in dem uns nur akzidentell etwas nicht einfällt, von einem dauernden Vergessen. Was ›in uns‹ war und ›in uns‹ bleiben wird, ist im Einzelnen durchaus unklar, wie Hegel gleich sagen wird. So kann der Mensch nie wissen, wie viele Kenntnisse er in der Tat in sich hat, sollte er sie gleich vergessen haben; – sie gehören nicht seiner Wirklichkeit, nicht seiner Subjektivität als solcher, sondern nur seinem an sich seienden Sein an. (401) Es sind die verschiedenen Perspektiven der Betrachtung und Rede, die dafür sorgen, dass ich nie ganz und gar irrtumsfrei ›wissen‹ kann, was ich alles im virtuellen Sinn ›weiß‹. Wir sagen, ich hätte Kenntnisse in mir gehabt, wenn sie wieder zum Vorschein kommen. Aber soweit ich sie jetzt vergessen habe, gehören sie nicht zu mir oder
401 f. Anthropologie. Die Seele 565 »meiner Subjektivität als solcher«. Die Stelle macht klar, dass das Wort »Subjekt« tatsächlich, wie in meiner Rekonstruktion, auf den aktualen Vollzug verweist, und erläutert den Sinn der Rede davon, dass implizite Kenntnisse nur meinem »an sich seienden Sein« zugehören, was heißt, dass sie zunächst bloß erst latent oder virtuell sind: Das Ansichsein ist nur eine Möglichkeit. Sie ist eine unter gewissen passenden Umständen instanziierbare Artform, die aber erst in ihren Manifestationen real wird. Diese einfache Innerlichkeit ist und bleibt die Individualität in aller Bestimmtheit und Vermittlung des Bewußtseins, welche später in sie gesetzt wird. Hier ist diese Einfachheit der Seele zunächst als fühlender, in der die Leiblichkeit enthalten ist, und gegen die Vorstellung dieser Leiblichkeit, welche für das Bewußtsein und den Verstand eine außereinander und außer ihr seiende Materialität ist, festzuhalten. (401 f.) Wir sagen, dass das, an was ich mich erinnere, in mir sei. Diese einfache Innerlichkeit, von der wir so abstrakt sprechen wie ein Schüler, dem ein Wort angeblich auf der Zunge liegt, der es aber gerade nicht herausbringen kann, ist, insgesamt gesehen, zwar meine Individualität, also die Leibidentität. Das ist aber im Blick auf die Inhalte immer auch schon Metapher. Im Blick auf auswendig Reproduzierbares ist es allerdings wörtlich wahr. Wenn wir in dieser Form reden, ist die Einfachheit der Seele punktförmig. Dennoch ›enthält‹ der Punkt semantisch die Leiblichkeit als ein Ganzes. Das ist so zu verstehen, dass von allen Teilbarkeiten des Äußerlichen des Körpers, auch von allen Einzelorganen, abgesehen wird. Sie gehören nur zum äußeren Fürsichsein. Sie vertreten also die eine Seele des einen Leibes. Meine Seele ist ja als Subjekt mein Dasein oder Seinsvollzug in seiner Einheit. Die einfache Identität der Seele hängt eng mit der substantiellen, während meiner Lebenszeit gesicherten Unteilbarkeit von mir als leibliches Individuum zusammen, so aber, dass von allen gedanklichen Trennungen von Körperteilen ebenso abgesehen wird wie von einer rein formalen, also rein verbalen Trennung der Leiblichkeit überhaupt vom Bewusstsein oder Verstand. Weder steht mein Leib als etwas Materielles meinem Bewusstsein gegenüber noch umgekehrt mein Verstand oder Geist meinem Körper – so wenig wie meine Gestalt, 329 k
566 329 k 329 k Der subjektive Geist 402 mein Aussehen, meine Größe usf. Andererseits kann ich, rein ideell, jeden meiner Körperteile als etwas Äußeres ansehen, sogar meine gedanklichen Einfälle oder, wie gesehen, meine Empfindungen. So wenig die Mannigfaltigkeit der vielen Vorstellungen ein Außereinander und reale Vielheit in dem Ich begründet, so wenig hat das reale Auseinander der Leiblichkeit eine Wahrheit für die fühlende Seele. (402) Indem wir die fühlende Seele als ideelles Zentrum ohne genaue Platzierung im Raum meines Leibes ansehen, die, wie die Spinne im Netz, sozusagen immer dort ist, wo sich etwas bewegt, etwa dort, wo etwas schmerzt, wie Heraklit so schön sagt,70 hat für sie »das reale Auseinander der Leiblichkeit« keine Wahrheit, ist also ebenso irrelevant wie »die Mannigfaltigkeit der vielen Vorstellungen«. Auch für diese hat es keinen Sinn, sie so in disjunkte Klassen aufzuteilen, dass phasenweise ein Dr. Jekyll und ein Mr. Hyde entstehen, wie bei John Locke oder Derek Parfit, je nachdem, an was sich die Subjekte gerade erinnern. Diese Art der Aufteilung des Ich und der Rede von einem gespaltenen Bewusstsein, einer Schizophrenie, ist einerseits Metapher, andererseits ein Kommentar zur Variabilität der Extension des Wortes »ich« im Verweis auf das Subjekt, dem ein Prädikat zugesprochen wird. Die Prädikate bestimmen sozusagen die relevanten Identitäten von »ich«, »mir« und »mich« im Kontext meiner Rede über mich und dann auch von »dir« oder »ihr« im Kontext der Rede über dich oder über jene Person. Empfindend ist sie unmittelbar bestimmt, also natürlich und leiblich, aber das Außereinander und die sinnliche Mannigfaltigkeit dieses Leiblichen gilt der Seele ebensowenig als dem Begri=e als etwas Reales und darum nicht für eine Schranke; die Seele ist der existierende Begri=, die Existenz des Spekulativen. (402) Trotz des Gesagten lassen sich zwei Hauptmomente der seelischen (Selbst-)Gefühle unterscheiden, nämlich die rezeptiven Empfindungen, welche in gewissem Sinn doch auch als unmittelbar gegeben gelten können, da sie natürlich und leiblich sind, und das spontane verbale und praktische Denken, also etwa das stille, nur daher ›innere‹ (verbale) Planen und das zugehörige äußere Tun (und Reden). 70 Vgl. Heraklit, Frgm. B 67a.
Anthropologie. Die Seele 567 Was aber heißt es, dass die Seele erstens der existierende Begri= und zweitens die Existenz des Spekulativen ist? Zunächst ist zum dritten Mal daran zu erinnern, dass »existieren« bei Hegel bedeutet, dass sich etwas aktual im Äußerlichen zeigt. Die Seele des Tieres oder Menschen ist also das, was sich im oder als Vollzug der Artform zeigt.71 Bei allem Spekulativen geht es um – gedanklich und damit sprachlich – vergegenständlichende Thematisierungen von Ganzheiten, ohne die es kein ausreichendes topisches Selbstwissen über unsere eigene Lage in der Welt oder den Sitz im Leben einer konkreten Sache gibt. Derartige Ganzheiten sind z. B. das Sein der ganzen Welt, die handlungsfreie Natur und dann auch das Ich. Dieses können wir als »das personale Subjekt« bzw. »die individuelle Person« ansprechen, um bestimmte Momente der gesamten Bedeutungsbreite der möglichen Verwendungen des selbstbezüglichen Pronomens »ich« hervorzuheben. In unseren reflexionslogischen Reden ist die Seele als formaler Gegenstand ›gesetzt‹ bzw. unterstellt. Dabei wird von allem leiblichen Auseinander in Raum und Zeit abstrahiert, aber auch von den Verschiedenheiten der ›inneren‹ Empfindungen. Alle diese ›Teilmomente‹ meines Seins repräsentieren oder präsentieren meine ganze ›Seele‹ als Gesamtvollzugsform meines Lebens als je gegenwärtiges Subjekt, als Person in personalen Beziehungen zu anderen Personen oder als leibliches Individuum von meiner Geburt bis zu meinem Tod. Die sinnliche Mannigfaltigkeit der leiblichen Empfindungen gilt der Seele ebenso wenig wie dem Begri= als etwas Reales, aber nur deswegen, weil noch jede begri=liche Bestimmung fehlt. Zwar wird die sinnliche Perzeption schon im Zusammenhang enaktiver Reaktio71 Hegel reserviert, wie in der Wesenslogik erläutert, die Wörter »Existenz« und »existieren« dafür, dass sich ein Gegenstand an und für sich in der realen Welt der Erscheinungen zeigt. Demnach existieren z. B. Kräfte und Dispositionen, mehr oder weniger gut verfasste Rechtsstaaten oder konkrete Mengen oder geometrische Figuren, nicht aber reine Zahlen, reine Formen, reine Begri=e, die es nur an sich gibt. Auch Engel oder Einhörner, Götter und Gott existieren nicht, sondern haben nur ein Ansichsein. Es gibt sie nur für uns bzw. in von uns konstruierten reinen oder fiktionalen Gegenstandsbereichen.
568 329 f . k Der subjektive Geist nen wie bei den Tieren tätig und damit implizit bestimmt. Aber sie ist damit keine reine Mannigfaltigkeit leiblicher Empfindungen mehr. Vielmehr wird zwischen einem Innen und einem Außen, zwischen Subjektivem und Sachbezug schon unterschieden. Das Leibliche ist dabei auch keineswegs eine Schranke für die Seele. Daher geht es in der Phänomenologie des Geistes darum, die falschen Konnotationen in der unter anderem bei Platon oder Kant zu findenden Metapher von einem Kampf der Seele gegen die natürlichen Neigungen des Leibes aufzuheben. Hegels ebenso schwieriger wie wichtiger Merksatz »Die Seele ist [. . . ] die Existenz des Spekulativen« besagt also, dass die Seele nicht nur als holistisches Objekt meiner Reflexion auf mich zu verstehen ist, sondern als das totale Subjekt, das ich als Agens meines Tuns im Lebensvollzug je präsentisch bin. Die Seele ist deswegen die Existenz des Spekulativen, weil das Spekulative aus je meiner Sicht meine Welt ist. Das spekulationslogische Verhältnis von Seele und Gott ist dann aber so kompliziert wie die Relation zwischen meiner Welt und der Welt.72 Dabei erkennt Hegel den Perspektivenunterschied in der Rede über mein Sein oder Dasein auf der einen Seite, dem Sein oder der Wahrheit auf der anderen; und er erläutert, wie wir Menschen eben diesen Unterschied an sich seit sicher mehr als 4000 Jahren durch analogierende Reden über Götter und Gott explizieren. Die Streichung der Wörter »Seele«, »Geist« und »Gott« aus dem Sprachrepertoire wissenschaftlicher Aufklärung bedeutet daher unmittelbar eine Selbstprovinzialisierung. Sie ist darum in dem Leiblichen einfache allgegenwärtige Einheit; wie für die Vorstellung der Leib Eine Vorstellung ist und das unendlich Mannigfaltige seiner Materiatur und Organisation zur Einfachheit eines bestimmten Begri=s durchdrungen ist, so ist die Leiblichkeit und damit alles das, was als in ihre Sphäre Gehöriges außereinander fällt, in der fühlenden Seele zur Idealität, der Wahrheit der natürlichen Mannigfaltigkeit, reduziert. Die Seele ist an sich die Totalität der Natur, als individuelle Seele ist sie Monade; sie selbst ist die gesetzte Totalität ihrer besondern Welt, so daß diese in 72 Vgl. TLP 5.63–5.641.
402 Anthropologie. Die Seele 569 sie eingeschlossen, ihre Erfüllung ist, gegen die sie sich nur zu sich selbst verhält. (402) Hier geht es nur erst um die Seele im Sinne der einfachen, mir allgegenwärtigen Einheit je meines Seins. Es geht also um die je präsentische Bezugnahme des »ich« oder »Ich bin . . . « auf mich als gegenwärtiges Vollzugssubjekt im Unterschied zu einer Selbstbezugnahme auf mich als Individuum etwa der Form »Das da . . . bin ich«, damit auch im Unterschied zu anderen Aussagen über schon objektförmige Gegenstände etwa der Form »Er/sie/es ist . . . «. Besonders schwierig zu begreifen ist der Bezug auf mich als Person oder geistiges Wesen. Dabei geht es um meine personalen Rollen und meinen ›sozialen‹, besser: ›gesellschaftlichen‹, noch besser: institutionellen Status in den kooperativen Relationen zu allen anderen Personen. Man denke dabei etwa an Aussagen der Art »Ich war Sängerknabe und bin noch Lehrer«. In meiner Selbstwahrnehmung und entsprechenden Vorstellungen ist mein Leib ein dinglicher Gegenstand. Aber insgesamt bin ich meine Leiblichkeit, die als solche, als leibliches Leben, gar kein bloßes Ding ist. Im logischen Naturalismus, der als solcher ein metaphysisches ›Programm‹ ist, sollen einerseits alle Aussagen über mich auf Aussagen über meinen Körper reduzierbar sein. Im logischen Spiritualismus, dem sogenannten Mentalismus, wird andererseits die Seele als punktförmiges metaphysisches Agens aller ›Vorstellungen‹ aufgefasst. Beide metaphysischen Theorien sind Folge eines Mangels in der logisch-grammatischen Analyse des Gebrauchs der Personalpronomen. Insbesondere verkennt man, was gerade Fichte in unendlichen Anläufen hervorzuheben versucht: Weder die Instanziierungen leiblicher noch mentaler oder geistiger Vollzugsformen lassen sich unmittelbar über ›Tätigkeiten‹ und ›dispositionelle Eigenschaften‹ darstellen. Wir kommen in entsprechenden Reflexionen nicht ohne die Sprachtechniken metonymischer bzw. analogisch-metaphorischer Rede aus. Die Metaphysiken des Naturalismus und des Mentalismus entstehen gerade dadurch, dass man diese empraktisch längst in allen Sprachen etablierten und allen Religionen aufgegri=enen Redeformen in logischphilosophischen Reflexionen ›wörtlich‹ liest. Damit wird die Rede
570 Der subjektive Geist 402 f. über die Seele verdinglicht. Sie wird entweder ersetzt durch die Rede über Köperdinge wie Kopf und Gehirn oder durch eine Paramechanik eines gespenstförmigen Geistes. Aus logisch-grammatischen Gründen nimmt allerdings auch jede sinnvolle Rede über die Seele immer schon die Form der Rede über eine Monade an. In dieser Einsicht ist Leibniz groß. Monaden sind als Punkte vorgestellte Einheiten der Sammlung ›je meiner‹ Weltbezüge. Als Subjekt kann ich natürlich nie aus mir heraustreten. In diesem Sinn ›haben‹ Monaden keine Fenster und Türen. Die sprachlich vermittelte Technik eines objektivierenden Perspektivenwechsels ist daher auf keinen Fall wörtlich als eine bloß so genannte Einfühlung in andere Wesen zu verstehen. Das bedeutet z. B., dass die besonders im Buddhismus oder bei Schopenhauer populär gemachte Metapher von einem Mitleiden angemessen aufzuheben ist. Hegel geht es hier aber erst einmal um die logische Verinnerlichung je meiner Bezüge auf die Welt, in je meiner Besonderung. Dabei haben schon Leibniz, Kant und Fichte gesehen, dass ich mich in allem meinem Verhalten zur Welt immer auch schon zu mir selbst verhalte. Leibniz hat, wie dann auch Hegel, die Selbstrelationen der Monade entsprechend gedeutet. 330 § 404 Als individuell ist die Seele ausschließend überhaupt und den Unterschied in sich setzend. Das von ihr Unterschiedenwerdende ist noch nicht ein äußeres Objekt wie im Bewußtsein, sondern es sind die Bestimmungen ihrer empfindenden Totalität. Sie ist in diesem Urteile Subjekt überhaupt, ihr Objekt ist ihre Substanz, welche zugleich ihr Prädikat ist. Diese Substanz ist nicht der Inhalt ihres Naturlebens, sondern als Inhalt der individuellen, von Empfindung erfüllten Seele; da sie aber darin zugleich besondere ist, ist er ihre besondere Welt, insofern diese auf implizite Weise in der Idealität des Subjekts eingeschlossen ist. (402 f.) Die bewusste Unterscheidung zwischen einer objektiven Existenz einer Sache, etwa des Ei=elturms, und einer bloßen Vorstellung, etwa eines Einhorns, setzt eine abstraktionslogische Zuordnung äquivalenter Zugänge von mir, dir und uns zu den Objekten voraus, wobei im ersten Fall mögliche Präsentationen der Sache in der Welt, Kants
403 Anthropologie. Die Seele 571 Erscheinungen, zu den von uns vorzugsweise verbal hergestellten Repräsentationen hinzukommen müssen. Es gibt hier sozusagen eine Technik der Transzendierung, welche den Solipsismus bloß enaktiver Perzeptionen wie bei den Tieren ebenso hinter sich lässt wie das bloße Gefühlsleben rein intuitiver Vorstellungen in einem bloßen Reden mit sich selbst. Eine nur erst ›fühlende‹ Seele ›urteilt‹ nur erst reaktiv. Daher ist ein reines ›Gefühlsleben‹, wie Hegel gleich sagen wird, eine Art Rückfall in den Autismus des Tieres, aber eben damit eine geistige Krankheit. Diese Stufe des Geistes ist für sich die Stufe seiner Dunkelheit, indem sich ihre Bestimmungen nicht zu bewußtem und verständigem Inhalt entwickeln; sie ist insofern überhaupt formell. Ein eigentümliches Interesse erhält sie, insofern sie als Form ist und damit als Zustand erscheint (§ 380), in welchen die schon weiter zu Bewußtsein und Verstand bestimmte Entwicklung der Seele wieder herab versinken kann. (403) Während Tiere reine Empfindungswesen sind, in dem Sinn, dass sie nur in enaktiver Perzeption auf die präsentische Umwelt reagieren können, gibt es keine reinen Gefühlswesen. Die Solipsismen des bloßen Gefühls sind nämlich schon als Privationen oder als geistige Krankheiten zu begreifen. Denn ihnen mangelt eine gewissenhafte Prüfung impliziter Urteile. Das ist logisch so, weil Gefühle im kanonischen Vollsinn des Wortes schon intentional gerichtet sind, und zwar auf Möglichkeiten in der Zukunft. Tastgefühl oder Leibgefühl sind dagegen zunächst noch bloße Empfindungen. Gefühle in diesem terminologisch präzisierten Sinn setzen damit schon ein begri=lich angeleitetes Urteilen und damit ein gemeinsames Wissen, Können und Denken voraus. Die Stufe des Geistes als bloßes Gefühl oder Intuition ist nur formell im Sinn der skizzierten Privation. Daher spricht Hegel davon, dass die menschliche Seele auf eine defiziente Stufe »wieder herab« sinken würde, wenn sie sich den Gefühlen rein überließe. Wir unterscheiden in unseren Sprachen auf der Sachebene in der Tat Gefühle von Empfindungen und Stimmungen so, wie das schon Hegel analysiert, auch wenn wir, wie oben erläutert, nie konsequent genug mit den Reflexionstermini umgehen. So ist z. B. das Gefühl der Furcht vor etwas, sagen wir einem wilden Tier im Garten oder einem Einbrecher im Haus, ganz grundlegend verschieden von der 330 k
572 330 k 330 k Der subjektive Geist 403 ungerichteten Stimmung der Angst. Wer erfährt, dass es den Gegenstand seiner Furcht nicht gibt, bei dem hört die Furcht sozusagen schlagartig auf. Einer Angst lässt sich so nicht beikommen. Die wahrhaftere Form des Geistes in einer untergeordnetern, abstraktern existierend, enthält eine Unangemessenheit, welche die Krankheit ist. (403) Hegels Formulierung ist leicht verwirrend. Ich lese, was er hier vielleicht sagen will, so: Die wahre Form des Geistes ist nur die ganze Form. Eine bloß erst fühlende Seele ist nur als privative Teilform zu verstehen. Im bloßen Fühlen und bloß intuitiven Urteilen wird das selbstbewusste Denken reflektierender Prüfung impliziter Urteile sozusagen willkürlich oder zufällig auf die eine oder andere Weise ausgeschaltet. Es sind in dieser Sphäre einmal die abstrakten Gestaltungen der Seele für sich, das andremal dieselben auch darum als die Krankheitszustände des Geistes zu betrachten, weil diese ganz allein aus jenen zu verstehen sind. (403) Unter dem Titel »fühlende Seele« sind nun zunächst die empraktisch ›normalen‹, damit in Gewohnheiten implizit enthaltenen »Gestaltungen der Seele für sich« und ihre möglichen Privationen das Thema. Diese sind nur erst Teilmomente der Geistseele. Die ›höheren‹ Privationen der Gemütskrankheiten sind methodisch erst später als Mangelzustände des Geistes zu betrachten. α) Die fühlende Seele in ihrer Unmittelbarkeit 330 330 f . § 405 1) Die fühlende Individualität zunächst ist zwar ein monadisches Individuum, aber als unmittelbar noch nicht als Es selbst, nicht in sich reflektiertes Subjekt und darum passiv. (403) Das »noch nicht« ist ganz o=enbar eher begri=lich als genetisch zu lesen: Es gibt keine eigene Entwicklungsphase, in der wir von einem Empfindungswesen zu einem fühlenden Individuum werden, das noch nicht es selbst als reflektiertes Subjekt ist. Das bloß erst Passive des Empfindens, sogar noch im Fühlen, wird noch genauer betrachtet werden. Somit ist dessen selbstische Individualität ein von ihm verschiede-
403 Anthropologie. Die Seele 573 nes Subjekt, das auch als anderes Individuum sein kann, von dessen Selbstischkeit es als eine Substanz, welche nur unselbständiges Prädikat ist, durchzittert und auf eine durchgängig widerstandslose Weise bestimmt wird; dies Subjekt kann so dessen Genius genannt werden. (403) Man kann darüber streiten, ob Hegels Vorschlag hilfreich ist, das partiell noch Vorgeistige, meinetwegen bloß erst Puerile, der ›fühlenden‹ (auch empfindenden) Seele »Genius« zu nennen. Thema ist dabei nur erst das Gemüt im Sinne von mens und mind. Hegels Vorschlag passt insofern, als sich ein Genius erst noch entwickeln muss. Ansonsten verwirrt die Unterscheidung zwischen einem selbstischen Individuum (der Mutter) und einem von ihm verschiedenen Subjekt (dem Kind), samt der Metapher des Durchzitterns und einer durchgängig widerstandslosen Weise, wie das Subjekt des Kindes inhaltlich bestimmt wird.73 Im Vorgri= auf das, was Hegel weiter unten erläutern wird, verstehe ich den Gedankengang insgesamt so: Ein Leben nur nach Empfindung (›Gefühl‹) wäre von der Art, dass sich das Individuum unvermittelt, ohne denkende Selbstkontrolle, zu den konkreten Inhalten sowohl seiner Perzeptionen als auch seiner Einfälle verhält. Man erfährt die geradezu schlafwandlerische Art eines solche Daseins manchmal in ö=entlichen Verkehrsmitteln, wenn man dem akzidentellen Bewusstseinsstrom von geistig kranken Menschen zuhört, die nur noch laut denken können, auf fast Beliebiges fast zufällig konnotativ reagieren, in ihren Stimmungen sehr schwanken und im wahrsten Sinne des Wortes unvermittelt tätig werden, etwa plötzlich aufspringen und den Bus oder die Straßenbahn verlassen. Hier fehlt, wie Hegel ebenfalls weiter unten sagen wird, ein »besonnenes Bewusstsein seiner und des verständigen Weltzusammenhangs«. 73 Hegel reproduziert hier eine damals noch allgemein vertretene Ansicht, dass sich der väterliche Samen im Uterus von selbst entwickelt, so dass, wie Laurence Stern im IV. Buch des Tristram Shandy, Kapitel XXIX, ironisch berichtet, nach britischer Rechtsprechung die Mutter mit dem Kind gar nicht verwandt sein soll. Die Mutter beeinflusse aber, so Hegel, von Anfang an die Gefühlsentwicklung. Sie sei auch sonst für die ›Kultur‹, also die umfassende Pflege der Kinder zuständig. Die Entdeckung der weiblichen Eizelle durch Karl Ernst von Baer im Jahre 1827 war Hegel wohl noch nicht bekannt.
574 331 k 331 k 331 k 331 k Der subjektive Geist 404 Es ist dies in unmittelbarer Existenz das Verhältnis des Kindes im Mutterleibe, – ein Verhältnis, das weder bloß leiblich noch bloß geistig, sondern psychisch ist, – ein Verhältnis der Seele. Es sind zwei Individuen, und doch in noch ungetrennter Seeleneinheit; das eine ist noch kein Selbst, noch nicht undurchdringlich, sondern ein Widerstandloses; das andere ist dessen Subjekt, das einzelne Selbst beider. – (404) Fraglich ist, ob die von Hegel aufgebaute Analogie zum Verhältnis von Embryo und Mutter passt. Der Kommentar, dieses Verhältnis sei »weder bloß leiblich noch bloß geistig, sondern psychisch«, »ein Verhältnis der Seele«, erscheint dem heutigen Sprachgefühl als problematisch, samt der Rede von einer ungetrennten Seeleneinheit. Richtig ist aber: Der Embryo »ist noch kein Selbst, noch nicht undurchdringlich, sondern ein Widerstandloses«. Hegel will also vielleicht nur sagen, dass die frühesten Formen der Teilnahme am geistigen Leben in Kopien des Verhaltens von Erziehern bestehen, z. B. von Müttern. Wittgenstein spricht in allzu großer Nähe zum Fall des Dompteurs von Tieren von einer »Abrichtung«. Der Ausdruck unterschätzt die Selbständigkeiten im Prozess des Kopierens. Die Mutter ist der Genius des Kindes, denn unter Genius pflegt man die selbstische Totalität des Geistes zu verstehen, (. . . ) (404) Die Analogie zielt nur darauf, die erziehende Mutter als den Genius des Kindes zu verstehen, also als seinen zunächst externen Geist. (. . . ) insofern sie für sich existiere und die subjektive Substantialität eines Andern, das nur äußerlich als Individuum gesetzt ist, ausmache; letzteres hat nur ein formelles Fürsichsein. (404) Dabei distanziert sich Hegel sogar von der Vorstellung, dass die »Totalität des Geistes« »für sich existiere«. Das heißt, er spricht im Modus der Erwähnung, nicht des eigenen Commitments, über den Gedanken, der Geist des Fühlens werde wie ein Genius schon vor der Geburt von außen in ein Individuum gesetzt. Er betont korrigierend, dass es den Genius der fühlenden Seele nur als abstrakten Gegenstand der Rede über eine bloß formelle Bestimmung etwa im Unterschied zur vollen, selbstbewussten und sich selbst bestimmenden Geistseele gibt. Das Substantielle des Genius ist die ganze Totalität des Daseins, Lebens, Charakters nicht als bloße Möglichkeit oder Fähigkeit oder
404 Anthropologie. Die Seele 575 Ansich, sondern als Wirksamkeit und Betätigung, als konkrete Subjektivität. (404) Trotzdem lassen wir den Ausdruck »Genius« für die »ganze Totalität des Daseins, Lebens, Charakters« stehen, nicht bloß als »Möglichkeit oder Fähigkeit oder Ansich« der weiteren Entwicklung; das wäre noch allzu unbestimmt und leer. Der Genius ist die von anderen Charakteren unterscheidbare »Wirksamkeit und Betätigung, als konkrete Subjektivität«. In diesem Sinn entwickelt sich die fühlende Seele sozusagen aus dem angeborenen Genius und dem Genius der Erzieher. Bleibt man bei dem Räumlichen und Materiellen stehen, nach welchem das Kind als Embryo in seinen besondern Häuten usf. existiert und sein Zusammenhang mit der Mutter durch den Nabelstrang, Mutterkuchen usf. vermittelt ist, so kommt nur die äußerliche anatomische und physiologische Existenz in sinnlichen und reflektierenden Betracht; für das Wesentliche, das psychische Verhältnis, hat jenes sinnliche und materielle Außereinander und Vermitteltsein keine Wahrheit. (404) Die anatomischen Relationen zwischen Mutter und Embryo sind nicht relevant für das psychische Verhältnis. Embryonen lernen im Mutterleib noch nichts, was man »Fühlen« nennen könnte, obwohl sie Empfindungen haben und sogar stimmungsanaloge Reaktionen mit manchmal nachhaltiger Wirkung zeigen. Es sind bei diesem Zusammenhange nicht bloß die in Verwunderung setzenden Mitteilungen von Bestimmungen, welche sich im Kinde durch heftige Gemütsbewegungen, Verletzungen usf. der Mutter fixieren, vor Augen zu haben, sondern das ganze psychische Urteil der Substanz, in welches die weibliche Natur, wie im Vegetativen die Monokotyledonen, in sich entzweibrechen kann, und worin das Kind so Krankheits- als die weitern Anlagen der Gestalt, Sinnesart, Charakters, Talents, Idiosynkrasien usf. nicht mitgeteilt bekommen, sondern ursprünglich in sich empfangen hat. (404) Man glaubte damals dennoch, dass (einzelne) heftige Gemütsbewegungen der Schwangeren nachhaltige Folgen für die Gemütsentwicklung des Kindes hätten. Für die Debatte dieser Meinung ist der genial ironische Roman Tristram Shandy einschlägig. Hegel spricht hier selbst explizit von der oben schon erwähnten Aufteilung des Genius der Gefühlsseele, die, wie man damals dachte, in wesentlichen 331 k 331 k
576 331 k 331 f . k Der subjektive Geist 404 f. Teilen von der Mutter stammt. Analog zur Zellteilung im biologischen Wachsen oder wie das eine Keimblatt der Monokotyledonen teilt sich die mütterliche bzw. elterliche Gefühlsseele den Kindern sozusagen mit. Von diesem magischen Verhältnis kommen anderwärts im Kreise des bewußten, besonnenen Lebens sporadische Beispiele und Spuren, etwa zwischen Freunden, insbesondere nervenschwachen Freundinnen (– ein Verhältnis, das sich zu den magnetischen Erscheinungen ausbilden kann), Eheleuten, Familiengliedern vor. Die Gefühls-Totalität hat zu ihrem Selbst eine von ihr verschiedene Subjektivität, welche in der angeführten Form unmittelbarer Existenz dieses Gefühllebens auch ein anderes Individuum gegen dasselbe ist. (404 f.) Die angebliche Ansteckung von Gemütskrankheiten zwischen nervenschwachen Freundinnen, Eheleuten und Familiengliedern unterstellt ein magisches Verhältnis, ist also reiner Unsinn, an den man damals noch geglaubt haben mag und den man mit magnetischen Erscheinungen in Verbindung gebracht hat. Wir sollten all das gnädig übergehen. Die Passage ist für die Interpretation von Hegels Texten dennoch insgesamt wichtig, weil sie zeigt, dass und wie er innerhalb des Ich verschiedene Subjektivitäten metaphorisch unterscheidet. Denn der Gefühlstotalität, dem Genius, dem Gemüt des Kindes, steht ein Selbst gegenüber mit einer »verschiedenen Subjektivität«, nämlich der eigenen Gefühls- und damit Selbstkontrolle der Erwachsenen. Freuds Es und Ich lassen hier schon aus der Ferne grüßen. Im Urbild der Relation von Mutter und Kind war die ›unmittelbare Existenz dieses Gefühllebens‹ sogar einem anderen Individuum zugeordnet gewesen. Aber die Gefühls-Totalität ist bestimmt, ihr Fürsichsein aus ihr selbst in Einer und derselben Individualität zur Subjektivität zu erheben; diese ist das ihr dann inwohnende besonnene, verständige, vernünftige Bewußtsein. (405) Die zunächst angeborene und dann im Verhalten kopierte ›Gefühlstotalität‹ einer und derselben Individualität, also eines einzigen Menschen, ist dazu bestimmt, sich durch eine Art Teilung des Fürsichseins der Selbstbeziehungen zu entwickeln. Die Erhebung zur Subjektivität besteht darin, dass der zunächst unmittelbare Vollzug
405 Anthropologie. Die Seele 577 des Lebens nach den Vorgaben des Gefühls oder Gemüts von mir kontrolliert wird über das mir »inwohnende besonnene, verständige, vernünftige Bewußtsein«. Für dieses ist jenes Gefühlsleben das nur ansichseiende substantielle Material, dessen vernünftiger, selbstbewußter, bestimmender Genius die besonnene Subjektivität geworden ist. (405) Für mein Bewusstsein ist also das unmittelbare ›Gefühlsleben‹ nur erst eine Art Material, so wie meine Einfälle oder natürlichen Impulse. Jedenfalls steht dem bloßen Gefühl, beginnend mit dem Empfinden eines Kindes, immer schon ein »vernünftiger, selbstbewusster, bestimmender Genius«, wie am Anfang z. B. der der Mutter oder der Eltern, gegenüber. Aus einer Kopie entwickelt sich die besonnene Subjektivität und Autonomie des Individuums. Jener Kern des Gefühls-Seins aber enthält nicht nur das für sich bewußtlose Naturell, Temperament usf., sondern erhält auch (in der Gewohnheit, s. nachher) alle weitern Bande und wesentlichen Verhältnisse, Schicksale, Grundsätze, – überhaupt alles, was zum Charakter gehört und an dessen Erarbeitung die selbstbewußte Tätigkeit ihren wichtigsten Anteil gehabt hat, – in seine[r] einhüllende[n] Einfachheit; das Gefühls-Sein ist so in sich vollkommen bestimmte Seele. (405) Zum Gemüt als dem Ganzen des Gefühlslebens zählt Hegel explizit mein unterbewusstes Naturell und Temperament, die Gewohnheit, die noch genauer zu betrachten ist, damit alle »weitern Bande« wie Neigungen, »überhaupt alles, was zum Charakter gehört« und mich zunächst prägt (wie durch einen Prägestempel, der Urbedeutung des griechischen Worts »charakter«). Dabei hat meine eigene selbstbewusste Tätigkeit an der Erarbeitung dieser Prägung immer einen wichtigen Anteil. Hegel spricht hier also auch von meiner Selbstbildung. Die Totalität des Individuums in dieser gedrungenen Weise ist unterschieden von der existierenden Entfaltung seines Bewußtseins, dessen Weltvorstellung, entwickelten Interessen, Neigungen usf. Gegen dieses vermittelte Außereinander ist jene intensive Form der Individualität der Genius genannt worden, der die letzte Bestimmung im Scheine von Vermittlungen, Absichten, Gründen, in welchen das entwickelte Bewußtsein sich ergeht, gibt. (405) 332 k 332 k 332 k
578 Der subjektive Geist Die ›gedrungene‹ Form des impliziten Gemüts des Individuums, von der Hegel hier spricht, besteht in seinen automatisierten Reaktionen im Verhalten, auch Sprachverhalten (unter Einschluss des wachen Gewahrseins der Awareness und der gerichteten Aufmerksamkeit der Attention), bzw. einer unmittelbaren Tendenz oder Neigung zu einer enaktiven Reaktion X in einer konkreten Perzeptionssituation Y . Von diesem bloßen Gemüt zu unterscheiden sind nun (Selbst-)Bewusstsein (syneidesis, per Schreibfehler auch: synderesis, conscientia) und Geist (nous, intelligentia, sapientia).74 Auf die Sache bezogen würde man daher Hegels »Geist« mit »human intelligence« oder »sapience« übersetzen und »Selbstbewusstsein« mit »self-controlled self-knowledge«. Das Wort »mind« aber steht wie »mens« eigentlich nur für das subjektive Gemüt. Daher kann eine theory of mind schon von ihrer Themenbeschränkung und methodischen Form her die Themen Bewusstsein, Wissen und Geist überhaupt nicht zureichend behandeln. Dabei fehlt nicht etwa nur eine Philosophie des objektiven Geistes, sondern die gesamte Wissenschaft vom Geist, also alle Geisteswissenschaft unter Einschluss aller Kultur-, Sozial-, Staats- und Gesellschaftswissenschaften. Wenn wir nun in unseren reflexionslogischen Metaphern das, was zum Gemüt gehört, von dem, was zum (vollen) Bewusstsein gehört, als deren jeweiliges Fürsichsein unterscheiden, können wir das Bewusstsein gegenständlich dem Gemüt als einem bloß unmittelbaren Gefühlsleben gegenüberstellen. Dabei gehört dann zum Bewusstsein die ganze topische Weltvorstellung des Individuums, seine entwickelten Interessen, seine reflexionslogisch vergegenständlichten Neigungen, dann aber auch die kontrollierten Absichten, Gründe usf. Hegel erläutert selbst: Im Unterschied zu diesem ›vermittelten Auseinander‹ einer Menge oder ›Extension‹ bewusster Momente wurde die intensive, bloß innerlich-emotionale Vollzugsform »der Individualität der Genius genannt«. 74 Hegel weiß sozusagen noch, dass die Vorsilbe »con«, im Deutschen »ge«, in »Gewissen« für ein (wenigstens potentiell) gemeinsames Wissen steht und Christian Wol=s »Bewusstsein« eigentlich »Gewusstsein« heißen müsste.
406 Anthropologie. Die Seele 579 Diese konzentrierte Individualität bringt sich auch zur Erscheinung in der Weise, welche das Herz oder Gemüt genannt wird. Man sagt von einem Menschen, er habe kein Gemüt, insofern er mit besonnenem Bewußtsein nach seinen bestimmten Zwecken, seien sie substantielle große Zwecke oder kleinliche und unrechte Interessen, betrachtet und handelt; ein gemütlicher Mensch heißt mehr, wer seine wenn auch beschränkte Gefühls-Individualität walten läßt und in deren Partikularitäten sich mit dieser ganzen Individualität befindet und von denselben völlig ausgefüllt ist. – Man kann aber von solcher Gemütlichkeit sagen, daß sie weniger der Genius selbst als das ›Indulgere genio‹ ist. (405) Das Wort »Gemüt«, metaphorisch auch »Herz«, steht in der Tat für die sich im Vollzug unmittelbar zeigende fühlende Gesamthaltung eines Menschen. Man mag damals gesagt haben, eine Person habe kein Gemüt, wenn sie fokussiert, bewusst und unbeeindruckt ihre Zwecke verfolgt – wobei es egal ist, ob diese gut und groß sind oder nicht. Heute würde man vielleicht sagen, dass die Person keine Nerven zeigt. Gemütlich ist ein Mensch, der sich gehen lässt, also ›seinem Genius nachgibt‹; eine Wohnung oder Situation heißt so, wenn man sich in ihr gehen lassen kann. § 406 2) Das Gefühlsleben als Form, Zustand des selbstbewußten, gebildeten, besonnenen Menschen ist eine Krankheit, in der das Individuum sich unvermittelt zu dem konkreten Inhalte seiner selbst verhält und sein besonnenes Bewußtsein seiner und des verständigen Weltzusammenhangs als einen davon unterschiedenen Zustand hat, – magnetischer Somnambulismus und mit ihm verwandte Zustände. (406) Heute gebrauchen wir den Ausdruck »Gefühlsleben« keineswegs nur ›negativ‹ im Sinne eines Lebens, das sich zu sehr oder gar ausschließlich von seinen unmittelbaren Gefühlen leiten lässt. Würde das Gefühlsleben die Gesamtform der Lebensführung bestimmen, so wäre das Ergebnis im Blick auf die Normalform des Lebens eines selbstbewussten, gebildeten, besonnenen Menschen in der Tat ein 332 k 332
580 332 f . k Der subjektive Geist 406 Mangel, eine geistige Krankheit. Der Mensch wäre im wahrsten Sinn des Wortes gemütskrank.75 Hegel unterscheidet also ein reines Gefühlsleben von einem Leben der bewussten Selbstkontrolle. Und er sieht, dass wir dabei den Strom von Perzeptionen und verbalen Einfällen reflektierend kommentieren und kontrollieren (müssen). Ohne eine gewisse Selbstkommentierung von gespürten Neigungen und von Tendenzen, die es zu kontrollieren gilt, gibt es kein bewusstes und selbstbewusstes Handeln. Es bedarf sogar einer gestuften Kontrolle der Kommentierungen, die als solche zunächst auch nur Einfälle sind. Daher nennt Hegel als Beispiel für das, was er reines Gefühlsleben nennt, auch das Verhalten von Menschen in Trance oder unter Hypnose – die ja durchaus auf Sprache reagieren. In dieser enzyklopädischen Darstellung kann nicht geleistet werden, was für den Erweis der gegebenen Bestimmung des merkwürdigen, durch den animalischen Magnetismus vornehmlich hervorgerufenen Zustands zu leisten wäre, daß nämlich die Erfahrungen entsprechend seien. Hiefür müßten zuvörderst die in sich so mannigfaltigen und voneinander so sehr verschiedenen Erscheinungen unter ihre allgemeinen Gesichtspunkte gebracht werden. Wenn das Faktische vor allem der Bewährung bedürftig scheinen könnte, so würde eine solche doch wieder für diejenigen überflüssig sein, um derentwillen es einer solchen bedürfte, weil sie sich die Betrachtung dadurch höchst leicht machen, daß sie die Erzählungen, so unendlich zahlreich und so sehr sie durch die Bildung, Charakter usf. der Zeugen beglaubigt sind, kurzweg für Täuschung und Betrug ausgeben und in ihrem apriorischen Verstande so fest sind, daß nicht nur gegen denselben alle Beglaubigung nichts vermag, sondern daß sie auch schon das geleugnet haben, was sie mit Augen gesehen. Um auf diesem Felde selbst das, was man mit seinen Augen sieht, zu glauben und noch mehr, es zu begreifen, dazu ist die Grundbedingung, nicht in den Verstandeskategorien befangen zu sein. – Die Hauptmomente, auf welche es ankommt, mögen hier angegeben werden. (406) Hegel versucht, aus der Zeit heraus zu unterscheiden zwischen 75 Der Satz liefert diese Lesart nicht rein über syntaktische Konventionen, sondern über eine Rekonstruktion des Inhalts.
407 Anthropologie. Die Seele 581 dem Haltbaren des Wissens über bedingte Reflexe und unhaltbaren Kolportagen über den animalischen Magnetismus, der mit der durch elektrischen Strom bewirkten Bewegung der Schenkel toter Frösche beginnt. Dabei betont er, dass das hier nur ganz grob geschehen kann. Höchst interessant ist sein Pochen auf die methodische Maxime, dass alle allgemeinen Erklärungen den Erfahrungen entsprechen müssen. Nach der üblichen – für sich immer sehr oberflächlichen – Vergabe von Titeln samt der Zuordnung zu Ismen wäre Hegel demnach ein Empirist. In Wahrheit ist er der erste Phänomenologe. Das zeigt nur, dass hier unbedingt genauer zu unterscheiden ist: Die Wörter »empirisch«, »Empirie« und sogar »experience« stehen seit den theoretischen Spekulationen im Britischen Empirismus (besonders seit John Locke, dem Lieblingsgegner des Laurence Sterne im Tristram Shandy) für bloß subjektive Perzeptionen, nicht für allgemeine und dabei schon begri=lich geformte Erfahrungen. Phänomenologie ist strenge Darstellung der Realformen des Wissens, Denkens und Erkennens. Erzählungen über angebliche Phänomene müssen allerdings, wie gerade auch Hegel fordert, experimentell kontrolliert werden. Wir dürfen sie weder vorschnell ganz als Betrug und Irrtum abtun noch falsches Vertrauen in die vermeintlich vielen Berichterstattungen setzen. Manche ›sehen‹, was es nicht gibt; andere leugnen a priori, »was sie mit Augen gesehen«, weil angeblich nicht sein kann, was sich z. B. durch die Verstandeskategorien nicht rein mechanisch erklären lässt und es daher nicht geben darf. αα) Zum konkreten Sein eines Individuums gehört die Gesamtheit seiner Grundinteressen, der wesentlichen und partikulären, empirischen Verhältnisse, in denen es zu andern Menschen und mit der Welt überhaupt steht. Diese Totalität macht seine Wirklichkeit so aus, daß sie ihm immanent und vorhin sein Genius genannt worden ist. Dieser ist nicht der wollende und denkende freie Geist; die Gefühlsform, in deren Versinken das Individuum hier betrachtet wird, ist vielmehr das Aufgeben seiner Existenz als bei sich selbst seiender Geistigkeit. (407) Zunächst ist anzuerkennen, dass die Motivik im Denken und Tun der Menschen holistisch zu begreifen ist. Der Titel »Genius« im Sinne eines noch unausgebildeten und unbewussten Geistes des einzelnen Individuums sollte eben dieses Vorbewusstsein eines fast noch rei- 333 k
582 333 k 333 k 333 f . k Der subjektive Geist 407 nen Gefühlslebens überschreiben – wie Hegel hier noch einmal klar erläutert. Die nächste Folgerung aus der aufgezeigten Bestimmung in Beziehung auf den Inhalt ist, daß im Somnambulismus nur der Kreis der individuell bestimmten Welt, partikulären Interessen und beschränkten Verhältnisse ins Bewußtsein tritt. (407) Im Schlafwandeln ist sich wie in einer transienten Amnesie das Subjekt nur dessen gewahr, was ihm in der aktualen Umgebung auffällt. Es ist sich weder der perzipierten Sachen noch seiner selbst im vollen Sinn bewusst. Es fehlt die Apperzeption bewusster Kontrolle der begri=lichen Bestimmungen der Sachen und die Reflexion darauf, dass das Subjekt selbst diese Bestimmungen kontrolliert und auch zu kontrollieren hat. Wissenschaftliche Erkenntnisse oder philosophische Begri=e und allgemeine Wahrheiten erfordern einen andern Boden, das zum freien Bewußtsein aus der Dumpfheit des fühlenden Lebens entwickelte Denken; es ist töricht, O=enbarungen über Ideen vom somnambulen Zustand zu erwarten. (407) Narrative Leser erwarten Erzählungen, Behauptungen, Belehrungen oder gar eine Predigt. Hegels Satz steigt für narrative Leser ganz unvermittelt hinauf zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, philosophischen Begri=en und allgemeinen Wahrheiten. Es wäre daher für das lesende Publikum wohl besser gewesen, den Unterschied zwischen Gewahrsein (awareness) und Bewusstsein (consciousness, con-scientia) genauer zu artikulieren. Die Reden von der »Dumpfheit des fühlenden Lebens« und von einem entwickelten Denken machen den Punkt trotzdem klar. In einer für seinen Stil typischen harten Fügung sagt Hegel lakonisch, dass das Gerede darüber, man könne in Zuständen von Trance oder Hypnose, auch unter Drogen, zu höheren Wahrheiten gelangen, einfach Bullshit ist. Man erzeugt auf diese Weise nur ein rein subjektives Gefühlsleben. Dieses mag sich im guten Fall momentan schön und interessant anfühlen. Mit Selbsterkenntnis hat das so wenig zu tun wie ein Rausch. ββ) Der Mensch von gesundem Sinne und Verstand weiß von dieser seiner Wirklichkeit, welche die konkrete Erfüllung seiner Individualität ausmacht, auf selbstbewußte, verständige Weise; er weiß sie wach in der Form des Zusammenhangs seiner mit den
408 Anthropologie. Die Seele 583 Bestimmungen derselben als einer von ihm unterschiedenen äußern Welt, und er weiß von dieser als einer ebenso verständig in sich zusammenhängenden Mannigfaltigkeit. In seinen subjektiven Vorstellungen, Planen hat er ebenso diesen verständigen Zusammenhang seiner Welt und die Vermittlung seiner Vorstellungen und Zwecke mit den in sich durchgängig vermittelten objektiven Existenzen vor Augen (vergl. § 398 Anm.). – (407) Als gesunder Mensch mit Sinn und Verstand weiß man im wachen Zustand um die Di=erenz zwischen unmittelbaren Vorstellungen und der von diesen »unterschiedenen äußeren Welt«, zwischen meiner Welt und der Welt. Man weiß also um die Vermittlung meiner »Vorstellungen und Zwecke mit den in sich durchgängig vermittelten objektiven Existenzen«. Und man ist an der eigenen geistigen Wachheit, also am vollen Bewusstsein interessiert. Dabei hat diese Welt, die außer ihm ist, ihre Fäden so in ihm, daß, was er für sich wirklich ist, aus denselben besteht; so daß er auch in sich so abstürbe, wie diese Äußerlichkeiten verschwinden, wenn er nicht ausdrücklicher in sich durch Religion, subjektive Vernunft und Charakter selbständig und davon unabhängig ist. In diesem Falle ist er der Form des Zustandes, von dem hier die Rede, weniger fähig. – (407 f.) Die Fäden der Welt reichen immer schon in mich hinein, so dass meine Reaktionen nie nur aus meinem Inneren und selten nur von außen kommen. Das Modell der Monade ist daher ein gutes Bild für meine Subjektivität. Dabei lässt Leibniz – klugerweise – völlig o=en, wie sich die Welt in der Monade spiegelt. Manche Praxisformen wie die verschiedenen Lehren und Liturgien der Religion (die man in ihren äußeren Unterschieden, also als Erscheinungen, »Religionen« nennt) oder auch philosophische Weisheitslehren machen uns dabei von manchen äußeren Einflüssen unabhängiger. Eine völlige Unabhängigkeit aber ist reine Illusion. Für die Erscheinung jener Identität kann an die Wirkung erinnert werden, die der Tod von geliebten Verwandten, Freunden usf. auf Hinterbliebene haben kann, daß mit dem einen das andere stirbt oder abstirbt (so konnte auch Cato nach dem Untergange der römischen Republik nicht mehr leben, seine innere Wirklichkeit war nicht weiter noch höher als sie), – Heimweh u. dgl. (408) 334 k 334 k
584 334 k 334 f . k Der subjektive Geist 408 Die Abhängigkeit der Stimmung des Daseins von der äußeren Welt – auf welche Hegel jetzt zu sprechen kommt – zeigt sich z. B. im Heimweh oder im Fall des Todes geliebter Menschen. Die Selbsttötung des jüngeren Cato wegen des Untergangs der römischen Republik steht damit in einer Reihe, die unter anderem auch zu Kurt Tucholsky und Stefan Zweig in ihrer Verzweiflung an Deutschland und den Deutschen führt. γγ) Indem aber die Erfüllung des Bewußtseins, die Außenwelt desselben und sein Verhältnis zu ihr, eingehüllt und die Seele somit in Schlaf (im magnetischen Schlafe, Katalepsie, andern Krankheiten, z. B. der weiblichen Entwicklung, Nähe des Todes usf.) versenkt wird, so bleibt jene immanente Wirklichkeit des Individuums dieselbe substantielle Totalität als ein Gefühlsleben, das in sich sehend, wissend ist. (408) Die Passage ist jetzt nicht mehr schwer zu verstehen, so dass ich nur ein paar Kommentare hinzufüge. Von einem magnetischen Schlaf sprechen wir heute nicht mehr. Die Katalepsie meinte gerade eine hypnotische Trance. Wie weit man in damaliger Zeit nicht nur in Romanen eine ›natürliche‹ weibliche Entwicklung mit romantisch ausgelebten Ohnmachtsanfällen angereichert hat, geht uns nicht weiter an, ebenso wenig wie alle erzählten Nahtod-Erfahrungen. Weil es das entwickelte, erwachsene, gebildete Bewußtsein ist, das in jenen Zustand des Fühlens herabgesetzt ist, behält es mit seinem Inhalte zwar das Formelle seines Fürsichseins, ein formelles Anschauen und Wissen, das aber nicht bis zum Urteil des Bewußtseins fortgeht, wodurch sein Inhalt als äußere Objektivität für dasselbe ist, wenn es gesund und wach ist. So ist das Individuum die seine Wirklichkeit in sich wissende Monade, das Selbstanschauen des Genius. In diesem Wissen ist daher das Charakteristische, daß derselbe Inhalt, der als verständige Wirklichkeit objektiv für das gesunde Bewußtsein ist [und] um den zu wissen es als besonnenes der verständigen Vermittlung in ihrer ganzen realen Ausbreitung bedarf, in dieser Immanenz unmittelbar von ihm gewußt, geschaut werden kann. Dies Anschauen ist insofern ein Hellsehen, als es Wissen in der ungetrennten Substantialität des Genius ist und sich im Wesen des Zusammenhangs befindet, daher nicht an die Reihen der vermittelnden, einander äußerlichen Bedingungen gebunden ist, welche
408 f. Anthropologie. Die Seele 585 das besonnene Bewußtsein zu durchlaufen hat und in Ansehung deren es nach seiner eigenen äußerlichen Einzelnheit beschränkt ist. Dies Hellsehen ist aber, weil in seiner Trübheit der Inhalt nicht als verständiger Zusammenhang ausgelegt ist, aller eigenen Zufälligkeit des Fühlens, Einbildens usf. preisgegeben, außerdem daß in sein Schauen fremde Vorstellungen (s. nachher) eintreten. Es ist darum nicht auszumachen, ob dessen, was die Hellsehenden richtig schauen, mehr ist, oder dessen, in dem sie sich täuschen. – Abgeschmackt aber ist es, das Schauen dieses Zustandes für eine Erhebung des Geistes und für einen wahrhafteren, in sich allgemeiner Erkenntnisse fähigen Zustand zu halten.76 (408 f.) Hegel kommt noch einmal auf den zentralen Punkt zurück, dass die Reduktion auf das Fühlen nicht vollständig zurück zu einem bloßen animal sensibilis oder Empfindungswesen führt. Denn zu den Gefühlen des Menschen gehört der widerfahrnisartige Stream of Thought in lauten oder leisen Selbstgesprächen. Die meisten Gefühlsreaktionen sind Folge eines automatisierten Erkennens und damit eines schon begri=lich überformten Verhaltens. Keineswegs alles, was unmittelbar gewusst oder geschaut wird, ist schon gemütskranke oder verrückte Vorstellung. Daher gibt es 76 Fußnote Hegels: Plato hat das Verhältnis der Prophezeiung überhaupt zum Wissen des besonnenen Bewußtseins besser erkannt als viele Moderne, welche an den platonischen Vorstellungen vom Enthusiasmus leicht eine Autorität für ihren Glauben an die Hoheit der O=enbarungen des somnambulen Schauens zu haben meinten. Platon sagt im Timaios (ed. Steph. III, p. 71 f.), damit auch der unvernünftige Teil der Seele einigermaßen der Wahrheit teilhaftig werde, habe Gott die Leber gescha=en und ihr die Manteia, das Vermögen, Gesichte zu haben, gegeben. Daß Gott der menschlichen Unvernunft dies Weissagen gegeben, davon, fügt er hinzu, ist dies ein hinreichender Beweis, daß kein besonnener Mensch eines wahrhaften Gesichtes teilhaftig wird, sondern es sei, daß im Schlafe der Verstand gefesselt oder durch Krankheit oder einen Enthusiasmus außer sich gebracht ist. »Richtig ist schon vor alters gesagt worden: zu tun und zu kennen das Seinige und sich selbst, steht nur den Besonnenen zu.« Plato bemerkt sehr richtig sowohl das Leibliche solchen Schauens und Wissens als die Möglichkeit der Wahrheit der Gesichte, aber das Untergeordnete derselben unter das vernünftige Bewußtsein.
586 335 k 335 k Der subjektive Geist 409 durchaus eine Art des interessanten Hellsehens, nämlich in vagen Intuitionen. Hegel führt z. B. an anderen Stellen aus, dass es viel klüger gewesen wäre, wenn man in der Antike die Feldherren auch »aus dem Bauch heraus« Pro-tanto-Entscheidungen hätte fällen lassen, als sie zu zwingen, ein reines Zufallsorakel zu befragen. Zuzugeben ist allerdings, dass bloße Intuitionen häufig nicht gut genug sind. Wunderbar trocken aber ist Hegels Fazit: Das Schauen der Intuition ist keine Erhebung des Geistes. δδ) Eine wesentliche Bestimmung in diesem Gefühlsleben, dem die Persönlichkeit des Verstandes und Willens mangelt, ist diese, daß es ein Zustand der Passivität ist, ebenso wie der des Kindes im Mutterleibe. (409) Der Verstand ist das Vermögen der zunächst nur erst formal richtigen Teilnahme an einer gemeinsamen Praxis des allgemein als begri=lich kanonisierten bzw. gesetzten Urteilens und Schließens. Insofern ist Verstand Voraussetzung für jedes Gewusstsein. Im Grunde ist der Verstand das Gesamt gelernter Schemata. Der Wille ist dann das Vermögen der Teilnahme an der expliziten Formulierung von Absichten oder Zwecken samt der zugehörigen Umsetzung des Wissens über Mittel im zweckgerichteten Handeln. Die begri=lichen Erfüllungsbedingungen des Wollens sind dabei absolut ernst zu nehmen: Ich will p im Normalfall dann und nur dann, wenn ich bewusst und tätig dafür sorge, dass p – und p dabei nicht etwa von selbst geschieht. Wünschen kann ich weit mehr, auch in Bezug auf mich selbst. Die meisten Menschen verwechseln (immer oder allzu oft) Wollen mit Wünschen. In dieser Verwechslung liegt die tiefste aller Selbsttäuschungen des modernen Menschen. Ein gemütskrankes Leben aber, dem Verstand und Willen mangelt, ist von der Art eines Zustandes der Passivität »wie der des Kindes im Mutterleibe«. Hegel formuliert das ›Kindliche‹ eines solches Lebens drastisch genug. Das kranke Subjekt kommt daher und steht nach diesem Zustande unter der Macht eines andern, des Magnetiseurs, so daß in diesem psychischen Zusammenhange beider das selbstlose, nicht als persönlich wirkliche Individuum zu seinem subjektiven Bewußtsein das Bewußtsein jenes besonnenen Individuums hat, daß dies
410 Anthropologie. Die Seele 587 Andere dessen gegenwärtige, subjektive Seele, dessen Genius ist, der es auch mit Inhalt erfüllen kann. (409 f.) Selbst dann, wenn die Reaktionsmuster und Einfälle des gemütskranken Subjekts aus seinem eigenen Innern zu kommen scheinen, reagiert es passiv so, als würde es unmittelbar einem fremden Herrn – seinen inneren Stimmen – gehorchen. Das Interessante der Hypnose und gewisser Formen transienter Amnesie besteht darin, dass sie die Formen der Reaktion auf ›äußere‹ Einflüsterungen ohne bewusste begri=liche Selbstkontrolle real aufzeigen. Der Gemütskranke verhält sich also wie ein Schlafwandler, genauer, wie »unter der Macht eines andern, des Magnetiseurs«. Daß das somnambule Individuum Geschmäcke, Gerüche, die in dem, mit welchem es in Rapport ist, vorhanden sind, in sich selbst empfindet, daß es von dessen sonstigen gegenwärtigen Anschauungen und innern Vorstellungen, aber als den seinigen, weiß, zeigt diese substantielle Identität, in welcher die Seele, als die auch als konkrete wahrhaft immateriell ist, mit einer andern zu sein fähig ist. (410) Unter Hypnose oder in einer entsprechenden Amnesie bleiben die aktualen Empfindungen, beim Schlafwandeln auch die Reaktionen der Selbstbewegung intakt. Es fehlt aber jedes wirklich erinnernde ›Gewusstsein‹ und die Selbstkontrolle der passiv gegebenen äußeren Einflüsterungen, auch der zufälligen inneren Einfälle. Daher sieht Hegel seine Analyse durch eben diese Phänomene, wie selten sie auch sein mögen, mit vollem Recht als klar bestätigt an. Der Satz hat freilich formal auch andere Lesarten. Manche meinen, Hegel glaube an Seelenverwandtschaften und Seelenwanderungen, da hier mal wieder von zwei Seelen und zwei ›Bewusstseinen‹ die Rede zu sein scheint. Das halte ich für abwegig und die Lektüre für falsch. Hegel spricht hier, wie schon im Herr-Knecht-Kapitel der Phänomenologie des Geistes, nur von zwei Formen des Bewusstseins, dem unkontrollierten und damit unmittelbar ›leiblichen‹ Fühlen und der selbstbewussten Selbstkontrolle. Dabei betont er, dass Verstand und Willen allgemein, als Formen, zu lesen sind. Sie sind wie alles Abstrakte immateriell. Meine Geistseele ist wie die abstrakte Person in der Tat durch abstrakte Inhalte p und ihre äußeren (symbolischen) Trägerformen 335 k
588 335 f . k Der subjektive Geist 410 bestimmt. Die innere Politik der Autonomie der Person steht nur in gewisser Analogie zur Politik von Herrschaft und Knechtschaft. In dieser substantiellen Identität ist die Subjektivität des Bewußtseins nur Eine, und die Individualität des Kranken zwar ein Fürsichsein, aber ein leeres, sich nicht präsentes, wirkliches; dies formelle Selbst hat daher seine Erfüllungen an den Empfindungen, Vorstellungen des Andern, sieht, riecht, schmeckt, liest, hört auch im Andern. Zu bemerken ist in dieser Beziehung noch, daß der Somnambule auf diese Weise in ein Verhältnis zu zwei Genien und zweifachem Inhalt zu stehen kommt, zu seinem eigenen und zu dem des Magnetiseurs. Welche Empfindungen oder Gesichte dieses formelle Vernehmen nun aus seinem eigenen Innern oder aus dem Vorstellen dessen, mit dem es in Rapport steht, erhält, anschaut und zum Wissen bringt, ist unbestimmt. Diese Unsicherheit kann die Quelle von vielen Täuschungen sein, begründet unter anderem auch die notwendige Verschiedenheit, die unter den Ansichten der Somnambulen aus verschiedenen Ländern und unter dem Rapport zu verschieden gebildeten Personen, über Krankheitszustände und deren Heilungsweisen, Arzneimittel, auch wissenschaftliche und geistige Kategorien usf. zum Vorschein gekommen ist. (410) Die substantielle Identität ist eine Identität des Wesentlichen. Daher ist die (zunächst ›fühlende‹) Subjektivität des Bewusstseins im Vollzug nur einer ihrer Aspekte, der (zu kontrollierende) Inhalt ein anderer. Die geistig-seelische Individualität des Gemütskranken ist zwar ein Fürsichsein, welches alle seine jeweils aktualen Gefühle umfasst. Sie ist aber sich selbst nicht in dem Sinn präsent, wie es ein Selbstbewusstsein verlangen würde, das um die Formen und Inhalte seiner Wahrnehmungen und Handlungen weiß. Das formelle Selbst des gemütskranken, hypnotisierten, somnambulen Individuums spaltet sich sozusagen auf. Einerseits gibt es trotz seiner ›Amnesie‹ ein unmittelbar gefühlsförmiges Streben und auch die Befriedigungen des individuellen Subjekts im präsentischen Vollzug. Andererseits kann es ihm selbst manchmal so erscheinen, als würden nur die Vorstellungen eines anderen Individuums erfüllt, so wie ein hypnotisierter Mensch sogar in Wirklichkeit die Dinge aufgrund von Kommentaren durch den anderen »sieht, riecht, schmeckt,
411 Anthropologie. Die Seele 589 liest, hört«. Daher unterscheiden wir die eigenen Erfüllungsbedingungen von denen, die einem Subjekt bloß von außen vorgegeben sind. Dabei bleibt häufig o=en, was aus »seinem eigenen Innern« stammt und was ihm bewusst (oder durch die Gesamtsituation in unbewusster Vermittlung) ›eingeredet‹ wird – eine Unklarheit, die auch die Psychoanalyse betri=t. Hegel hat völlig recht zu betonen, dass diese Unklarheit »Quelle von vielen Täuschungen sein« kann – was sich sogar darin zeigt, dass sich das Verhalten und die Selbstkommentare von Hypnotisierten während und nach der Trance regional unterscheiden. εε) Wie in dieser fühlenden Substantialität der Gegensatz zum äußerlich Objektiven nicht vorhanden ist, so ist innerhalb seiner selbst das Subjekt in dieser Einigkeit, in welcher die Partikularitäten des Fühlens verschwunden sind, so daß, indem die Tätigkeit der Sinnesorgane eingeschlafen ist, dann das Gemeingefühl sich zu den besondern Funktionen bestimmt und mit den Fingern – insbesondere der Herzgrube, Magen – gesehen, gehört usf. wird. (411) Ich würde den Ausdruck »fühlende Substantialität« nicht gebrauchen, lese ihn aber als »bloß fühlendes Selbstgewahrsein des individuellen Subjekts«. Dieses kontrolliert die Unterschiede zwischen eigenen Einfällen und Phantasien und dem äußerlich Objektiven zumeist noch nicht ausreichend, manchmal noch nicht einmal zwischen den eigenen Sinnesorganen als den Vermittlern äußerer Perzeptionen und inneren Vorstellungen. So mag jemand unter Hypnose all sein ›Wahrnehmen‹ ganz undi=erenziert dem allgemeinen Selbst- oder Körpergefühl zuschreiben oder gar sagen und meinen, mit den Fingern zu sehen und mit dem Herzen zu hören. Begreifen heißt für die verständige Reflexion, die Reihe der Vermittlungen zwischen einer Erscheinung und anderem Dasein, mit welchem sie zusammenhängt, erkennen, den sogenannten natürlichen Gang, d. h. nach Verstandesgesetzen und Verhältnissen (z. B. der Kausalität, des Grundes usf.) einsehen. (411) Etwas im übertragenen Sinn bewusst zu begreifen, ist weit mehr, als das Urbild ertastenden Wahrnehmens hergibt – das freilich auch Urbild des Fühlens ist. Es setzt eine kompetente Reflexion auf eine ganze Reihe von Vermittlungen zwischen einer Erscheinung und vielen anderen Sachen voraus. Sogar schon die Vorstellungen von Perspektiven anderer Subjekte spielen eine Rolle. Wie Kant schon 336 k 336 k
590 336 k 336 k Der subjektive Geist 411 betont hatte, stützt man sich dabei auf Prinzipien der Kausalität, des zureichenden Grundes usf. Diese aber gelten nur generisch und nur für passende Bereiche. Man stützt sich auf gemeinsames Wissen über einen ›natürlichen Gang‹ der Dinge, wie er sich in den ›Verstandesgesetzen‹ materialbegri=lichen Wissens in unseren Darstellungen und Erklärungen niederschlägt. Das Gefühlsleben, auch wenn es noch das nur formelle Wissen, wie in den erwähnten Krankheitszuständen, beibehält, ist gerade diese Form der Unmittelbarkeit, in welcher die Unterschiede vom Subjektiven und Objektiven, verständiger Persönlichkeit gegen eine äußerliche Welt, und jene Verhältnisse der Endlichkeit zwischen denselben nicht vorhanden sind. (411) Hier wird etwas klarer als oben, dass das Gefühlsleben auch bei Hegel in der Tat nicht nur in der Form von Gemütskrankheiten auftritt – so dass manche der obigen Formulierungen als übertrieben gelten müssen. Hervorgehoben wird nur das Problem einer Unmittelbarkeit des Gefühls im reaktiven Vollzug, also der Mangel an reflektierter Unterscheidung zwischen dem, was als rein subjektiv gelten muss und was als objektiv einem gemeinsamen Zugang o=ensteht. Dabei ist sogar noch die verständige Persönlichkeit gegen eine äußerliche Welt gestellt, und zwar deswegen, weil die Formen und Schemata des Verstandes zunächst nur erst internalisiert und automatisiert sind. Sie bedürfen immer in der konkreten Anwendung einer vernünftigen, dialektischen, urteilskräftigen Kontrolle ihrer Angemessenheit. Interessant ist, dass auch die Kenntnis der Verhältnisse der empirisch-realen Endlichkeit zwischen Subjekt und Objekt, also auch der ›Relationen‹ zwischen Erkennen und Erkanntem und zwischen Person und Welt, entscheidend für ein vernünftig begreifendes (Selbst-)Bewusstsein ist. Das Begreifen dieses verhältnislosen und doch vollkommen erfüllten Zusammenhangs macht sich selbst unmöglich durch die Voraussetzung selbständiger Persönlichkeiten gegeneinander und gegen den Inhalt als eine objektive Welt und durch die Voraussetzung der Absolutheit des räumlichen und materiellen Auseinanderseins überhaupt. (411) Verhältnislos ist jeder reine Vollzug bloß als solcher, wie etwa im Tanzen oder Singen oder einer reinen ›Lokution‹, der es (noch) nicht auf Wahrheit ankommt. Daher ist der reine Vollzug, die reine Per-
Anthropologie. Die Seele 591 formanz, ein rein lokutionärer Akt an und für sich absolut, d. h. nicht relativ. Dagegen ist eine Aussage relational durch Bedingungen bestimmt und nur relativ zu ihrer Erfüllung als wahr zu bewerten. Die Absolutheit gilt freilich nur für die Performanz unter Absehung von allen Inhalten. Hegel will in der ersten Hälfte der mehrdeutigen Formulierung daher wohl sagen, dass eine hypnotisierte Person in ihrer Trance und ihrem somnambulen Verhalten nichts von ihrem Tun begreifen kann, weil ihr ›inhaltliches‹ Denken von einer zweiten Person, also von außen, über sprachliche Schemata gesteuert wird. Eine Person, die bloß meint, dass ihr Gedanken eingeflüstert werden, also ihre eigenen Einfälle als von außen kommend deutet, kann allerdings ebenfalls nichts begreifen. Die zweite Hälfte des Zitats klingt dann so, als wolle Hegel als der große Idealist, für den er gehalten wird, behaupten, dass es eine objektive Welt nicht gibt und die »Voraussetzung der Absolutheit des räumlichen und materiellen Auseinanderseins« Unsinn ist. In Wahrheit scheint er mir aber das Folgende zu sagen: Der ›verhältnislose und doch vollkommen erfüllte Zusammenhang‹ eines bloß autistischen Gefühlslebens macht jedes Begreifen unmöglich. Denn dafür muss erstens die Voraussetzung ernst genug genommen werden, dass verschiedene Individuen selbständige Persönlichkeiten gegeneinander sind, zweitens muss der Unterschied zwischen inneren Gefühlen und den Inhalten einer objektiven Welt kontrolliert werden, drittens muss man die Absolutheit des räumlichen und materiellen Auseinanderseins überhaupt anerkennen. Die letzte Bemerkung ist wieder ein impliziter Angri= gegen Kants subjektiv-idealistische Transzendentale Ästhetik, nach welcher Raum und Zeit ›nur‹ Formen der Anschauung sein sollen, damit nur relativ zu uns und nicht absolut für alle endlichen Dinge gelten würden. Es gibt bis heute keine bessere Analyse dieser wirklich spannenden Phänomene und Themen. Die gegenwärtige philosophy of mind sieht ihr gegenüber alt aus. Sie ist ja auch methodisch veraltet, zumal in ihrer Reduktion auf die mens und weil sie weitgehend dem mechanischen Paradigma des Erklärens in einer Punktbewegungsmathematik oder einer ebenfalls vagen und metaphorischen Rede von biologischen Funktionen oder einem Computerbild der Zentral-
592 Der subjektive Geist 411 steuerung des Verhaltens methodisch und metaphysisch verhaftet bleibt. Sprach- und begri=slogisch ist damit sogar in den Behavioral and Brain Sciences generell das 18. Jahrhundert noch nicht überwunden. Die Forderung an eine ›moderne‹ Philosophie des Geistes, sich mit deren ›neuesten empirischen Forschungen und Ergebnissen‹ zu beschäftigen, ist daher ganz und gar ambivalent. β) Selbstgefühl 336 336 f . 337 § 407 1) Die fühlende Totalität ist als Individualität wesentlich dies, sich in sich selbst zu unterscheiden und zum Urteil in sich zu erwachen, nach welchem sie besondere Gefühle hat und als Subjekt in Beziehung auf diese ihre Bestimmungen ist. (411) Ich bin als Subjekt jeweils jetzt eine Art Gesamt meiner Empfindungen und Gefühle, auch der unmittelbaren Befriedigungen von Wünschen, Neigungen oder anderer Erfüllungsbedingungen. Meine Individualität ist zugleich durch meinen Leib bestimmt. Die Antwort auf die Frage, was es heißt, dass ich mich in mir selbst unterscheide und zum Urteil in mir erwache, ist jetzt ganz leicht: Es geht darum, sich das Urteilen bewusst zu machen und es reflektierend zu kontrollieren. Dasselbe gilt für meine besonderen Gefühle. Als geistiges Subjekt stehe ich daher immer in partiell auch distanzierter Beziehung zu meinen eigenen unmittelbaren ›Bestimmungen‹. Diese Einsicht expliziert und entwickelt nur in spezieller Weise für mich als Gefühlswesen, was auch sonst gilt: Jedes Selbstverhältnis ist immer auch tätige Relation zwischen einem Teil oder Moment von mir zu einem Teil oder Moment von mir. Das Subjekt als solches setzt dieselben als seine Gefühle in sich. (411 f.) Als Subjekt im Seinsvollzug habe ich Gefühle. In der Reflexion schreibe ich sie mir zu und setze sie in mich, etwa indem ich mein Magendrücken als Angst oder Reue deute oder meine Trauer spüre – um von dem einfacheren Fall der Bestimmung einer Empfindung durch ihre Ursache und damit als Impression oder Eindruck gar nicht weiter zu reden. Es ist in diese Besonderheit der Empfindungen versenkt, und
412 Anthropologie. Die Seele 593 zugleich schließt es durch die Idealität des Besondern sich darin mit sich als subjektivem Eins zusammen. Es ist auf diese Weise Selbstgefühl – und ist dies zugleich nur im besondern Gefühl. (412) Ich bin als Subjekt die Besonderheiten meiner Empfindungen und unterscheide mich zugleich – indem ich sage, dass ich sie habe. Die idiosynkratische Rede vom Zusammenschluss ist zwar lästig, markiert aber nur die Einheitsbildung des Selbst zunächst im Selbstgefühl. Sie hilft damit zu verstehen, dass ein Selbstgefühl sozusagen immer nur ein besonderes Gefühl in mir sein kann. So kann ich, um den Fall plastisch zu machen, wie auch ein Arzt die Stelle meiner Bauchschmerzen ›ertasten‹. Auch andere Lokalisierungen von Schmerzen sind von dieser Art. Im ›Erkennen‹ der eigenen Emotionen spielen dagegen Körperteile keine Rolle, trotz der Metapher vom Herzen oder der Brust. § 408 2) Um der Unmittelbarkeit, in der das Selbstgefühl noch bestimmt ist, d. i. um des Moments der Leiblichkeit willen, die darin noch ungeschieden von der Geistigkeit ist, und indem auch das Gefühl selbst ein besonderes, hiemit eine partikuläre Verleiblichung ist, ist das obgleich zum verständigen Bewußtsein gebildete Subjekt noch der Krankheit fähig, daß es in einer Besonderheit seines Selbstgefühls beharren bleibt, welche es nicht zur Idealität zu verarbeiten und zu überwinden vermag. (412) Nun ist aber ein Selbstgefühl als Gefühl selbst nur erst unmittelbar. Es ist also noch nicht eigentlich voll bewusst kontrolliert. Wir kennen alle die Fälle, in denen man sich und anderen einen latenten Ärger noch nicht ›zugibt‹, wie man sagt. Es kann sogar sein, dass man die Emotion noch gar nicht als Ärger erkannt hat, geschweige denn seinen ›Gegenstand‹, den man auch seine ›Ursache‹ nennt. Extrem wichtig ist Hegels Einsicht (die er hier nur im Vorbeigehen erwähnt), dass alles Unmittelbare im Empfinden und Fühlen, auch alles Selbstgefühl, leiblich getragen ist. Hier ist die Leiblichkeit sogar noch ganz »ungeschieden von der Geistigkeit« bzw. Beseeltheit der enaktiven Perzeptionen, wie sie schon Tiere haben. Die Selbstbezugnahme auf ein besonderes Gefühl ist daher, wie oben beim Ertasten eines Ortes der Schmerzen paradigmatisch beschrieben, eine partikuläre Verleiblichung – was meinen Lesevorschlag weitgehend bestätigt. 337
594 337 Der subjektive Geist Der Fehler der modernen Naturalisierung des Geistes besteht damit nicht darin, dass alle Rede über Seele und Geist als Rede über verleiblichte Formen des Verhaltens und Handelns begri=en wird, sondern in der Verkennung des Holismus und damit der Geschichtlichkeit und Gemeinsamkeit des Geistes. Der bloße Fokus auf lokale, atomistische Erklärungen und ggf. auch Therapien mentalen Verhaltens blendet damit das Wesentliche aus. Das »zum verständigen Bewusstsein gebildete Subjekt« kann seine Gemütsbewegungen schon benennen, vergegenständlichen. Es ist ihnen daher nicht völlig ausgeliefert wie ein völlig gemütskranker Mensch, dessen Bewusstsein nach unserer obigen Schilderung sozusagen gänzlich in seinem unmittelbaren Gefühlsleben ertrunken ist und der schlafwandelnd wie in Trance lebt. Damit können wir unterscheiden zwischen einer mentalen Dysfunktion oder Krankheit des Gemüts und einer psychischen Krankheit. Hegel spricht, wie damals üblich, im zweiten Fall, nicht im ersten, von einer Verrücktheit. Eine Verrücktheit ist eine Verrückung des Denkens oder subjektiven Geistes wie in gewissen Manien. Heute spricht man manchmal noch von »Geisteskrankheit«. Es handelt sich dabei dennoch eigentlich gar nicht um eine ›Krankheit des Geistes‹, wie wir gleich genauer sehen werden, sondern eine Krankheit der Seele, der Psyche. Denn Mängel des Geistes sind Mängel an Bildung im Denken und im Handeln. Sie zählen nicht als Krankheiten i. e. S. Mentale Dysfunktionen sind dagegen von der Art einer Depression oder von Angststörungen und als solche viel stärker leiblich und nicht unmittelbar durch Denken und Wollen in den Gri= zu bekommen. Mentale Dysfunktionen sind Mängel im unmittelbaren Empfinden oder in nicht unmittelbar steuerbaren Stimmungen, samt einem Verhalten, das auch Folgen für die Lernfähigkeit haben kann. Eine bloß erst mentale Krankheit des Gemüts skizziert Hegel daher als den Mangel, »in einer Besonderheit seines Selbstgefühls« zu beharren, ohne sie »zur Idealität zu verarbeiten und zu überwinden«. Hier wird klar, dass »Idealität« für eine reflektierende Vergegenständlichung einer Form steht, wie sie Bedingung dafür ist, die Form zu beherrschen, statt sich von ihr als bloß enaktiver Vollzugsform wie von einer schlechten Gewohnheit beherrschen zu lassen. Das erfüllte Selbst des verständigen Bewußtseins ist das Subjekt
412 Anthropologie. Die Seele 595 als in sich konsequentes, nach seiner individuellen Stellung und dem Zusammenhange mit der äußern, ebenso innerhalb ihrer geordneten Welt sich ordnendes und haltendes Bewußtsein. (412) Hegel analysiert zwar von Anfang bis Ende unsere gegenständliche Rede über konkrete Dinge und Sachen, Kräfte und Dispositionen, Vermögen und Verhältnisse, Gestalten und Formen, Aspekte und Momente. Zugleich aber gebraucht er sie nach unserem Geschmack allzu extensiv. Falsch aber wäre es zu meinen, jede formale Benennung unterstelle eine benennbare Entität, die es im wörtlichen Sinne gibt. Hegel sieht, dass jede metaphysische Verdinglichung diesem logischen Aberglauben erliegt. Max Stirner und in seiner Nachfolge Friedrich Nietzsche und Felix Mauthner glauben wie alle bloß erst ruralen Sprecher als Liebhaber bloß narrativer Texte, das Problem läge an Hypostasierungen und damit einer idée fixe auf der Basis der ubiquitären Redeform des Etwas-über-etwas-Sagens. Daher betreiben sie, wie dann auch die Analytische Philosophie nach Russell und Wittgenstein, ihre vermeintliche Metaphysikkritik als vermeintliche Sprachkritik. Schopenhauer und der frühe Wittgenstein sind sich darin näher, als Letzterer sagt und glaubt. Hegel erkennt dagegen nicht nur die Unvermeidbarkeit von Nominalisierungen für jede begri=liche Reflexion, sondern auch, dass der Begri= selbst in seiner Grundform immer eine nominale Nennung von Gegenständen im Sinne von Themen oder Bereichen ist und dass der Unterschied zwischen Name und Satz, Proposition und Gegenstand ohnehin ephemer, also rein äußerlich ist. Man kann jede Aussage durch Nominalisierung zum Gegenstand machen, so dass auch die formale ›Existenz‹ des ›es gibt‹ in Bezug auf Gegenstände den Gesamtbereich des beredbaren Seins umfasst. Anders gesagt, Sachverhalte und Tatsachen, auch Ereignisse und Prozesse sind nicht bloß durch Aussagen, sondern auch durch Benennungen vertreten. Ich würde hier nun die Rede von einem erfüllten Selbst auflösen und lieber von den Erfüllungen eines (selbst-)bewussten menschlichen Daseins sprechen. Das ist im Wesentlichen bedeutungsgleich mit Hegels Formulierung. Der Hinweis auf Konsequenz meint den kohärenten Zusammenhang meiner ›inneren‹ Welt teils unbewusster, teils bewusster Orientierung gemäß einem von mir selbst sozusagen zu topographischen Zwecken in langer Selbst-Bildung gescha=enen,
596 337 337 Der subjektive Geist 412 ho=entlich in sich einigermaßen konsistenten ›Welt-Bild‹ mit der gegebenen äußeren Welt. In einer besondern Bestimmtheit aber befangen bleibend, weist es solchem Inhalte nicht die verständige Stelle und die Unterordnung an, die ihm in dem individuellen Weltsysteme, welches ein Subjekt ist, zugehört. (412) Wer sich unter dem Eindruck einer bloß momentanen Situation oder aufgrund fixer Ideen auf eine allzu enge Sicht der Dinge versteift, wird verrückt. Standardbeispiel großer Literatur ist Ajax, der aus Wut und Hass (besonders gegen Achill und Odysseus) eine Schafherde niedermetzelt. Dabei hat er klarerweise »einem Inhalt«, den Schafen, »nicht die verständige«, also richtige »Stelle und die Unterordnung« angewiesen, »die ihm in dem individuellen Weltsystem, welches ein Subjekt ist, zugehört«. Was ich oben als von mir für mich zur Orientierung entwickeltes Welt-Bild angesprochen habe, nennt Hegel hier ganz o=enbar »mein individuelles Weltsystem« und identifiziert mich als Subjekt sogar mit diesem Bild insoweit, als es mich im konkreten Tun sozusagen navigiert. Das Subjekt befindet sich auf diese Weise im Widerspruche seiner in seinem Bewußtsein systematisierten Totalität und der besondern in derselben nicht flüssigen und nicht ein- und untergeordneten Bestimmtheit, – die Verrücktheit. (412) Wenn ich mich im Wahrnehmen, Urteilen und Handeln so wie Ajax im Widerspruch zu meinem eigenen Navigationssystem des Wissens befinde, bin ich verrückt. Manche sprechen bei innerer Inkonsistenz dieser Art auch von Schizophrenie. Verrückt ist jemand daher schon, wenn er p klar wünscht und dennoch dafür sorgt, dass non-p. Er wünscht dann p, will aber non-p. Verrückt ist also keineswegs nur der, welcher wie der geisteskrank gewordene Nietzsche meint, er sei Jesus und Gott, so wie sich andere für Napoleon halten. So ist zum Beispiel auch jeder Kampf um Anerkennung zwischen Personen oder dann auch Gruppen und Staaten im wörtlichen Sinn einfach verrückt. Denn man kann ein freies Anerkennen nie erzwingen. Im gesellschaftlichen Bereich nennt man daher z. B. einen Kampf um eine verbesserte Ordnung der Verteilung von Arbeit und Wohlstand, Leistung und Gütern, dann auch um gleiche Chancen gerade im Zugang zu Bildung und Ausbildung nur in einem metaphorischen
412 f. Anthropologie. Die Seele 597 Sinn »Kampf um Anerkennung«, obwohl dazu auch der ›moralische‹ Kampf um Nichtdiskriminierung von diversesten Gruppen gehört. Für uns wichtig ist, den von Hegel aufgedeckten und im weiten Sinne logischen Mangel im Urteilen bei einer ›Geisteskrankheit‹ als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu einer ›bloßen‹, aber zumeist nachhaltigeren, weit schwerer therapierbaren ›Gemütskrankheit‹ zu erkennen. Bei der Betrachtung der Verrücktheit ist gleichfalls das ausgebildete, verständige Bewußtsein zu antizipieren, welches Subjekt zugleich natürliches Selbst des Selbstgefühls ist. (412) Das Wort »verrückt« drückt logisch eine Privation aus, welche den Normalfall nicht-privativer Normalität im ›gesunden‹ (sound) Denken qua Unterscheiden, Schließen und Handeln antizipiert oder unterstellt. Wie gerade der Fall der neurotischen Angst beispielhaft zeigt, sind das Subjekt des Denkens und das Gemüt zwei nur reflexionslogisch als Redethemen ganz getrennte ›Gegenstände‹. Als Individuum hier und jetzt bin ich dieses Subjekt und »zugleich natürliches Selbst des Selbstgefühls«. In dieser Bestimmung ist es fähig, in den Widerspruch seiner für sich freien Subjektivität und einer Besonderheit, welche darin nicht ideell wird und im Selbstgefühle fest bleibt, zu verfallen. (412) Hegel will erklären, wie es überhaupt möglich ist, so verrückt zu werden, dass man, wie im Fall des Ajax, die Unterschiede zwischen Schafen und Griechen nicht mehr bemerkt. Der Widerspruch gründet im ›blinden‹ Zorn des Gemüts, welcher dem klaren Denken entgegensteht: Als Ajax merkt, was er getan hat, schämt er sich vor sich selbst und bringt sich um. Der Geist ist frei und darum für sich dieser Krankheit nicht fähig. (412 f.) Das oben schon vorab genannte Ergebnis der Unterscheidung, Analyse und Überlegung ist äußerst interessant. Nicht der Geist ist krank, sondern die Seele. Wir sollten, heißt das, immer etwas genauer reden. Denn der Geist für sich ist das kohärente Denken, mit dem wir unser unmittelbares Urteilen (Unterscheiden) und Folgern (auch Tun) kontrollieren (sollten). Die unzusammenhängenden A=ekte und Einfälle sind nur erst ein Tun des Gemüts. In diesem Sinn ist der Geist nicht zur Krankheit der Verrücktheit fähig. Aus dem Zentrum des 337 k 337 k 337 k
598 337 k 337 k 338 k Der subjektive Geist 413 Normalen und Gesunden weggerückt ist also nicht der Geist, sondern der gefühlsmäßige Antrieb im verrückten Urteilen und Verhalten, zu dem auch die unwillkürlichen Inhalte im widerfahrnisförmigen Strom der Vorstellungen gehören – wie gerade auch der Fall des Ajax zeigt. Er ist von früherer Metaphysik als Seele, als Ding betrachtet worden, und nur als Ding, d. i. als Natürliches und Seiendes ist er der Verrücktheit, der sich in ihm festhaltenden Endlichkeit, fähig. (413) Nun ist allerdings der Geist in der traditionellen Metaphysik als Geistseele und, weil die Seele nur Form des leiblichen Vollzugsseins ist, damit als Ding betrachtet worden. Daher sprach und spricht man immer noch von der Verrücktheit des Geistes. Deswegen ist sie eine Krankheit des Psychischen, ungetrennt des Leiblichen und Geistigen; der Anfang kann mehr von der einen oder der andern Seite auszugeben scheinen und ebenso die Heilung. (413) Mein Vorschlag zur Lektüre und terminologischen Rekonstruktion bestätigt sich hier: Verrücktheit ist in Wahrheit eine Krankheit des Psychischen: Anders als das Gemüt, das ein bloßes Gesamt der Stimmungen und Gefühle ist, ist die Psyche Einheit des Leiblichen und Geistigen. Mit anderen Worten, zur (fühlenden) Seele gehören alle bloß erst verhaltensförmigen Reaktionsmuster. Zum Psychischen gehört die Art der Kontrolle (oder Nichtkontrolle) des Fühlens und der Motivik, also auch der Begierden und Neigungen, durch das Denken. Da nun aber im Psychischen das Leibseelische des unmittelbaren Gefühlslebens und die Selbst-Umsteuerungen durch ein – wenn auch sporadisches – Nachdenken ineinander verschränkt sind, kann der Anfang oder die Ursache einer psychischen (früher: geistigen) Krankheit manchmal mehr von der leiblichen, manchmal mehr von der verhaltensmäßig seelischen Seite ausgehen – und ebenso die Heilung. Daher lassen sich manche der psychischen Krankheiten (eher oder nur) verhaltenstherapeutisch, manche (eher oder nur) denktherapeutisch behandeln. Bei ›Gemütskrankheiten‹, die weit tiefer im Leiblichen wurzeln, ist das kaum der Fall. – Die sogenannte Psychoanalyse läuft auf eine solche Denk- und Verhaltenstherapie hinaus und lässt sich damit auf einen bestimmten Bereich von Fällen sinnvoll begrenzen. Als gesund und besonnen hat das Subjekt das präsente Bewußtsein der geordneten Totalität seiner individuellen Welt, in deren System es jeden vorkommenden besondern Inhalt der Empfindung,
413 Anthropologie. Die Seele 599 Vorstellung, Begierde, Neigung usf. subsumiert und an der verständigen Stelle desselben einordnet; es ist der herrschende Genius über diese Besonderheiten. Es ist der Unterschied wie beim Wachen und Träumen, aber hier fällt der Traum innerhalb des Wachens selbst, so daß er dem wirklichen Selbstgefühl angehört. Irrtum und dergleichen ist ein in jenen objektiven Zusammenhang konsequent aufgenommener Inhalt. Es ist aber im Konkreten oft schwer zu sagen, wo er anfängt, Wahnsinn zu werden. So kann eine heftige, aber ihrem Gehalt nach geringfügige Leidenschaft des Hasses usf. gegen die vorauszusetzende höhere Besonnenheit und Halt in sich als ein Außersichsein des Wahnsinnes erscheinen. Dieser enthält aber wesentlich den Widerspruch eines leiblich, seiend gewordenen Gefühls gegen die Totalität der Vermittlungen, welche das konkrete Bewußtsein ist. Der Geist als nur seiend bestimmt, insofern ein solches Sein unaufgelöst in seinem Bewußtsein ist, ist krank. – (413) Der schwierige letzte Satz zeigt, wie merkwürdig sich Hegel auszudrücken beliebt. Denn der Satz soll nach den obigen Erläuterungen das Folgende darstellen: Wenn wir sagen, dass der Geist des Ajax oder Nietzsches erkrankt sei, sprechen wir über den Geist »als nur seiend«. Wir sprechen also über ihr konkretes (halb-)bewusstes Reden und Handeln, nicht über den Geist an sich, wie man also denken sollte, wenn man konsequent denken würde. Daher sagen wir auch, dass der Geisteskranke seinen Geist verloren habe. – Gesund und besonnen denkt und handelt ein Subjekt nur, wenn es ›geistesgegenwärtig‹ sozusagen die rechte Übersicht behält. Dazu müssen alle besonderen Inhalte »der Empfindung, Vorstellung, Begierde, Neigung« ihren rechten Platz finden. Das denkende Subjekt steht damit im guten Fall als herrschender Genius über diesen Besonderheiten. Wir werden die Dialektik der Herrschaft des Geistes und der Unterordnung des leibseelischen Fühlens und Begehrens im Abschnitt zur Phänomenologie des Geistes noch einmal genauer zu betrachten haben. Hier erläutert Hegel aber schon, dass der Unterschied zwischen einem besonnenen Subjekt und einem noch unbesonnenen Gemüt mit seinen unmittelbaren Stimmungs- und Gefühlsäußerungen analog ist zum Unterschied von Wachen und Träumen. Damit schließt er an die obige Diskussion des Nachtwandelns eines reinen Gefühlslebens an. Die Tagträume des ›Verrückten‹ oder ›Wahnsinnigen‹ sind
600 338 k Der subjektive Geist 413 zwar schon von anderem Typ, gehören aber dennoch »dem wirklichen Selbstgefühl« an, das zumindest partiell schon vernünftig ist. Hegel spielt immer mit der prinzipiellen Äquivalenz von »wirklich« und »vernünftig«. Ein Irrtum gehört also schon zur Sphäre des Vernünftigen, obwohl es in konkreten Fällen in der Tat oft schwer zu sagen ist, wo ein Irrtum anfängt, völliger Wahnsinn zu werden – was wir auch schon oben an den Beispielen verrückter Urteile sehen können. Als Beispiel für einen heftigen Ausbruch von Jähzorn passt die Tötung von Kleitos (›dem Schwarzen‹) durch Alexander den Großen nach dessen Wutausbruch während eines Trinkgelages. Dauernder Wahnsinn liegt erst vor, sagt Hegel, wenn es sich um »leiblich, seiend« gewordene Zustände handelt – wie etwa beim erkrankten Hölderlin oder Nietzsche. Hegels Analysevorschlag zur ›Verrücktheit‹ als psychisches Krankheitsbild ist durchaus nicht überholt: Intellektuelle Fähigkeiten sind dabei partiell noch intakt, ›definieren‹ aber in ihrer Defizienz die jeweilige Krankheit bzw. erlauben, sie zu unterscheiden. So ist etwa die Paranoia (die z. B. im Verfolgungswahn eine Unterform hat) ein Sonderfall einer allgemeineren Krankheitsfamilie, für die sich Hegel interessiert, gerade auch im Unterschied zu den seelischen Krankheiten des Gemüts wie Depressionen oder ›Melancholie‹. Dabei ist er auf der allgemeinen Ebene sogar weit genauer als das, was man in üblichen Enzyklopädien findet. Eine anerkannte ›Definition‹ der Wörter wie »Wahn« und »Wahnsinn« gibt es nicht. Gerade auch das Wort »verrückt« ist kein ›wissenschaftlicher‹ Terminus. Die Wörterbücher sprechen dennoch von ›Begri=en‹. Dabei war z. B. ›Unvernunft‹ oder ›normwidriges Verhalten‹ nie ausreichend für die Rede von ›Wahnsinn‹. Hegel stellt daher klar und richtig auf dauernde innere Widersprüche des Subjekts selbst ab, so dass man entsprechend bloße Zuschreibungen und metaphorische Verwendungen des Wortes »wahnsinnig« von einem eigentlichen Gebrauch unterscheiden kann. Der Inhalt, der in dieser seiner Natürlichkeit frei wird, sind die selbstsüchtigen Bestimmungen des Herzens, Eitelkeit, Stolz und die andern Leidenschaften, und Einbildungen, Ho=nungen, Liebe und Haß des Subjekts. (413)
413 f. Anthropologie. Die Seele 601 Zur Ortsbestimmung und damit zum Verständnis von Hegels Überlegungen ist gerade auch hier wichtig, dass es ihm nie im Detail um eine Konkurrenz zu den Sachwissenschaften geht, sondern nur um die gute Artikulation und Kommentierung der basalen Unterschiede allgemeiner Themen und Gegenstände bzw. Sachbereiche, wie sie am Ende dann doch auch für die einzelnen Disziplinen in ihrem Selbstwissen gerade auch über ihre Grenzen wichtig werden. Hier sagt Hegel, dass die Inhalte ›verrückter‹ Grundhaltungen aus den emotionalen ›Bestimmungen des Herzens‹ stammen. So verbindet er – implizit – den Größenwahn mit Eitelkeit und Stolz. Dieses Irdische wird frei, indem die Macht der Besonnenheit und des Allgemeinen, der theoretischen oder moralischen Grundsätze über das Natürliche nachläßt, von welcher dasselbe sonst unterworfen und versteckt gehalten wird; denn an sich vorhanden ist dies Böse in dem Herzen, weil dieses als unmittelbar natürlich und selbstisch ist. (413) In der Metapher vom Irdischen ruft Hegel nur den Gegensatz zum ›Geistigen‹ auf, um zu sagen, dass verrückter Wahnsinn eine Folge einer Art ›Schlaf der Vernunft‹, also mangelnder Kontrolle von Emotionen und Antrieben ist, wobei zunächst ganz o=en ist, ob der Mangel ›angeboren‹ ist oder als Folge mangelnder (Selbst-)Bildung zu begreifen ist. Man sprach damals vom ›Bösen im Herzen‹. Hegel greift das ironisch so auf: Das Herz, das Gemüt, das Gefühl an sich wäre demnach insgesamt böse, weil es in seiner unmittelbaren Natürlichkeit autistisch ist. Doch diese Ansicht ist falsch. Es ist der böse Genius des Menschen, der in der Verrücktheit herrschend wird, aber im Gegensatze und im Widerspruche gegen das Bessere und Verständige, das im Menschen zugleich ist, so daß dieser Zustand Zerrüttung und Unglück des Geistes in ihm selbst ist. – (413 f.) Wir sollten die leisen Distanzen im Text nicht übersehen. Denn der ›böse‹ Genius, »der in der Verrücktheit herrschend wird«, ist ja nur erst das empfindend fühlende Subjekt selbst. Es wird dabei aufgrund seiner sentimentalen Unmittelbarkeit in einen Gegensatz und Widerspruch »gegen das Bessere und Verständige« gesetzt. Daher finden wir gerade auch im ›verrückten‹ Menschen beide zugleich, das egozentrische Gefühl und wenigstens einen Rest an Verstand 338 k 338 k
602 338 k Der subjektive Geist 414 und Vernunft – und können die innere Form dieses Zustandes der Zerrüttung als »Unglück des Geistes in ihm selbst« begreifen. Die wahrhafte psychische Behandlung hält darum auch den Gesichtspunkt fest, daß die Verrücktheit nicht abstrakter Verlust der Vernunft weder nach der Seite der Intelligenz noch des Willens und seiner Zurechnungsfähigkeit, sondern nur Verrücktheit, nur Widerspruch in der noch vorhandenen Vernunft [ist], wie die physische Krankheit nicht abstrakter, d. i. gänzlicher Verlust der Gesundheit (ein solcher wäre der Tod), sondern ein Widerspruch in ihr ist. Diese menschliche, d. i. ebenso wohlwollende als vernünftige Behandlung – Pinel verdient die höchste Anerkennung für die Verdienste, die er um sie gehabt, – setzt den Kranken als Vernünftiges voraus und hat hieran den festen Halt, an dem sie ihn nach dieser Seite erfassen kann, wie nach der Leiblichkeit an der Lebendigkeit, welche als solche noch Gesundheit in sich enthält. (414) Hegel lobt Philippe Pinel, den Begründer der wissenschaftlichen Psychiatrie, für seine prinzipielle Anerkennung der psychisch Kranken als vernünftigen Personen, die es insbesondere nicht einfach aus Sicherheitsgründen wegzusperren gilt. Vielmehr ist neben der Entwicklung möglicher Therapien auch nach den Ursachen ihrer geistigen Krankheiten zu suchen. Eine solche psychische Krankheit ist insbesondere nicht einfach eine Seinsform unglücklicher Menschen, wie es das uralte Bild von der Besessenheit durch einen Dämon oder bösen Geist darstellt. Sie sind vielmehr Privationen, in denen etwas im Verhältnis von Denken und Fühlen schiefgelaufen ist. Das meint m. E. Hegels Rede vom festen Halt, von dem man die Krankheit a) in ihrer Leiblichkeit als Mangel an Fähigkeiten, b) in ihrer Gefühlsbestimmtheit etwa als Gemütskrankheit, c) als Mangel geistiger Selbstkontrolle erfassen kann. Und man kann dann jeweils sehen, welche Art von Gesundheit die Kranken ›noch in sich enthalten‹. Eben daher sollten wir, wie gesagt, lieber nicht von einer ›Geisteskrankheit‹ sprechen, schon gar nicht von einem Verlust des Geistes, der Vernunft oder des Willens, jedenfalls nicht im wörtlichen Sinn. Die psychischen Krankheiten und ihre Behandlungen stehen schon damit, lange vor Sigmund Freud, in passender Parallele zu den organischen Krankheiten, die ja ebenfalls nur begrenzte Mängel sind – sofern sie nicht zum Tod führen.
415 Anthropologie. Die Seele 603 γ) Die Gewohnheit § 409 Das Selbstgefühl, in die Besonderheit der Gefühle (einfacher Empfindungen, wie der Begierden, Triebe, Leidenschaften und deren Befriedigungen) versenkt, ist ununterschieden von ihnen. Aber das Selbst ist an sich einfache Beziehung der Idealität auf sich, formelle Allgemeinheit, und diese ist Wahrheit dieses Besondern; als diese Allgemeinheit ist das Selbst in diesem Gefühlsleben zu setzen; so ist es die von der Besonderheit sich unterscheidende für sich seiende Allgemeinheit. (414 f.) Was wir als Selbstgefühl ansprachen, war das Gesamt – damit die holistische ›Wahrheit‹ – aller besonderen Empfindungen, Begierden und deren Befriedigungen, wobei das Selbst nur Idealität, also Form gegenständlicher Rede ist, und zwar so, dass insbesondere die gespürten oder auch ›tätigen‹ Beziehungen zwischen den Gefühlen als Selbstbeziehungen auftreten. Damit ist das Selbst zunächst in das – wie wir sehen werden: gewohnheitsförmige – Gefühlsleben gesetzt oder mit ihm gleichgesetzt, nämlich als generisch-allgemeiner Gegenstand reflexionslogischer Aussagen über mich als Gefühlswesen. Diese ist nicht die gehaltvolle Wahrheit der bestimmten Empfindungen, Begierden usf., denn der Inhalt derselben kommt hier noch nicht in Betracht. Die Besonderheit ist in dieser Bestimmung ebenso formell und nur das besondere Sein oder Unmittelbarkeit der Seele gegen ihr selbst formelles, abstraktes Fürsichsein. Dies besondere Sein der Seele ist das Moment ihrer Leiblichkeit, mit welcher sie hier bricht, sich davon als deren einfaches Sein unterscheidet und als ideelle, subjektive Substantialität dieser Leiblichkeit ist, wie sie in ihrem ansichseienden Begri= (§ 389) nur die Substanz derselben als solche war. (415) Die Allgemeinheit des Selbst der Seele ist dabei, Hegel wiederholt den Punkt, nur erst formal, genauer sogar variabel, so dass erst im jeweils konkreten Kontext bestimmt wird, um welche Empfindungen, Begierden usf. es sich handelt, die sein Fürsichsein ausmachen. Wenn ich mich höre und sehe, beziehe ich mich anders auf mich, als wenn ich mein Leibgefühl erkenne und weiß, dass ich Hunger habe. Diesen kann ich dann durch Essen stillen oder befriedigen. Die Variable 339 339
604 339 k 339 k Der subjektive Geist 415 des Selbst in unserer Rede über ein Selbstgefühl enthält also noch keinen Inhalt, so wenig wie das Ich als variabler Gegenstand in der Thematisierung der verschiedenen temporalen oder aspektbezogenen ›Extensionen‹ im kontextabhängigen Gebrauch des Wortes »ich«. Dabei wäre es abwegig zu denken, es gäbe schon ein Selbst im Unterschied zum Ich. Es ist vielmehr ein äußerst sinnvoller terminologischer Vorschlag, von einem Selbst im Kontext von nur erst enaktiver und implizit-empraktischer, also gewohnheitsförmiger, leiblicher und seelischer Selbstbeziehung zu sprechen. Von einem Ich sprechen wir häufig erst dann, wenn auch der Kontext psychisch-geistiger Selbstbeziehungen in denkender Rede oder im bewusst selbstbezüglichen Handeln involviert ist. Das eben sagt die sonst leicht obskure Rede von der »Unmittelbarkeit der Seele gegen ihr selbst formelles, abstraktes Fürsichsein« – und dass dies »besondere Sein der Seele« (oder Selbst) »Moment ihrer Leiblichkeit« ist. Das einfache Sein der Seele entsteht also aus den je im Kontext relevanten Relationen des leibseelischen Selbst- oder eben Fürsichseins. Ideell, subjektiv ist die ›Substantialität‹ oder Identität von Selbst oder Seele im Vollzug gefühlsbestimmten Seins in je meiner Leiblichkeit, also nicht einfach als rein physische (physikalische und chemische) Körperidentität und Körperbewegung – samt den physiologischen Momenten der Perzeptionen und der Sto=wechselprozesse. Dieses abstrakte Fürsichsein der Seele in ihrer Leiblichkeit ist noch nicht Ich, nicht die Existenz des für das Allgemeine seienden Allgemeinen. (415) Wegen der genannten Einschränkung auf Empfindungen und Gefühle ist das »abstrakte Fürsichsein der Seele in ihrer Leiblichkeit«, wie Hegel seinen eigenen Redevorschlag erläutert, »noch nicht Ich«. Seine Formel zur Charakterisierung des Ich als das leibliche, seelische und geistige Fürsichsein ist die »Existenz des für das Allgemeine seienden Allgemeinen«. Dabei ist Existenz wieder das erscheinende Wesen. Das »für« (pro) steht generell für Relationen, so dass – auch dieser Punkt ist nicht oft genug zu wiederholen – das Fürsichsein und damit die Identität des Ich aus den Relationen zwischen dem allgemeinen begri=lichen Denken und dem Selbst, der Seele bzw. dem nur über Gefühle bestimmbaren Leib in seinem Sein und Tun besteht. Es ist die auf ihre reine Idealität zurückgesetzte Leiblichkeit, wel-
415 Anthropologie. Die Seele 605 che so der Seele als solcher zukommt; das ist, wie Raum und Zeit als das abstrakte Außereinander, also als leerer Raum und leere Zeit nur subjektive Formen, reines Anschauen sind, so ist jenes reine Sein, das, indem in ihm die Besonderheit der Leiblichkeit, d. i. die unmittelbare Leiblichkeit als solche aufgehoben worden, Fürsichsein ist, das ganz reine bewußtlose Anschauen, aber die Grundlage des Bewußtseins, zu welchem es in sich geht, indem es die Leiblichkeit, deren subjektive Substanz es [ist] und welche noch für dasselbe und als Schranke ist, in sich aufgehoben hat und so als Subjekt für sich gesetzt ist. (415) Die »auf ihre reine Idealität zurückgesetzte Leiblichkeit« ist also nichts Anderes als die punkt- oder gegenstandsförmige Vertretung von allem Leiblichen und allen Gefühlen in unserer Rede über die Seele. Hegel versucht, diese sprachtechnische ›Geometrie der Seele‹ gerade durch ihre Analogie zur punktgeometrischen Darstellung von Raum und Zeit zu erläutern. Denn nur als mathematisches Modell gibt es einen Punktraum und eine lineare Zeit. Dargestellt werden in diesen Modellen keineswegs, wie Kant noch meint, subjektive Formen. Auch wo Kant von einem reinen Anschauen spricht, geht es gar nicht um ein Anschauen, sondern um eine denkende Darstellung von Formen der Anschauung, genauer, von Formen beweglicher und bewegter Dinge. Auf analoge Weise ist das reine Sein des Selbst oder der Seele bloße Form. Von der »Besonderheit der Leiblichkeit« wird abstrahiert, »d. i. die unmittelbare Leiblichkeit als solche« wird aufgehoben. Das Selbst wird, wenn man es rein vorstellt, zu einer Art bewusstlos-unbewusstem Sein eines gefühlsmäßigen, quasi schlafwandlerischen Lebens, das es außerhalb der schon diskutierten Gemütskrankheiten nur als abstrakte Konstruktion gibt. Meine Leiblichkeit ist und bleibt objektive Substanz für die Gefühlsseele oder das Selbst, die Geistseele oder das Ich. – Aber die Seele ist subjektive Substanz für den Leib, indem dieser im Lebensvollzug als dem Selbst äußerlich vorgestellt, ja schon so gefühlt wird. Damit erscheine ich mir selbst so, als wäre ich in meinem Wesen Seele, Selbst, und nicht etwa der Leib, an dem ich sozusagen jeden Teil formal als ›mir äußerlich‹ ansehen bzw. behandeln kann. Das Ergebnis der Analyse ist das genaue Gegenteil einer unmittelbaren, also reflexionslogisch naiven Seelen- oder gar Geistesmetaphysik.
606 339 340 Der subjektive Geist 415 § 410 Daß die Seele sich so zum abstrakten allgemeinen Sein macht und das Besondere der Gefühle (auch des Bewußtseins) zu einer nur seienden Bestimmung an ihr reduziert, ist die Gewohnheit. (415) Der Übergang zum neuen Thema, der Gewohnheit, ist bei Hegel, wie immer in solchen Fällen, auf manierierte und damit für uns Leser durchaus lästige Weise überraschend. Und doch ist die Lesart ganz falsch, nach welcher Hegel eine tätige Seele unterstellt, die sich durch irgendwelche Winkelzüge wie die eines Advokaten zu einem abstrakten allgemeinen Sein macht und die eigenen Gefühle dabei reduziert. Vielmehr sagt Hegel, dass es die Gewohnheit und damit auch ein leiblich-geistiges Training ist, durch die wir in Bildung und Selbstbildung das solipsistische Selbst einer bloß erst gefühligen Seele (des Kindes in uns) in ein nach allgemeinen Formen denkendes und handelndes Ich (der erwachsenen Person) verwandeln. Dabei werden einige der natürlichen Empfindungen und Antriebe transformiert, andere zurückgedrängt oder kontrolliert. Die Seele hat den Inhalt auf diese Weise in Besitz und enthält ihn so an ihr, daß sie in solchen Bestimmungen nicht als empfindend ist, nicht von ihnen sich unterscheidend im Verhältnisse zu ihnen steht noch in sie versenkt ist, sondern sie empfindungs- und bewußtlos an ihr hat und in ihnen sich bewegt. (415 f.) Die Seele ist je meine Leiblichkeit im enaktiven und empraktischen Vollzug. Sie hat begri=liche Inhalte im situationsbedingten Unterscheiden und Schließen nicht einfach in der Form von Wörtern und Sätzen ›im Kopf‹ wie ein Roboter in seinem Computer. In fiktiv-utopischen Projektionen unserer Techniken der Künstlichen Intelligenz auf das Denken und Verstehen von Menschen beliebt man dennoch so zu reden. Alles Inhaltsverstehen ist durch gewohnheitsmäßige Reaktionen vermittelt. Zu diesen gehören unter anderem auch Einfälle von Wörtern und Sätzen und weitere sprachliche (Selbst-)Explikationen. In Besitz haben wir Begri=e immer nur durch Vermittlung des Gefühlslebens, also sozusagen im Selbst der fühlenden Seele, so aber, dass die Bestimmungen sich im Vollzug des Unterscheidens und Tuns zeigen. Sie sind nicht etwa Gegenstände von Empfindungen. Wir gebrauchen gelernte begri=liche Formen. Das geschieht fast
416 Anthropologie. Die Seele 607 von selbst. Es ist durch Gewohnheiten automatisiert und betri=t schon unsere Wahrnehmungen. Denn das unterscheidende Urteilen ist uns noch nicht einmal in allen seinen impliziten Kommentierungen durch einen dauernden ›Bewusstseinsstrom‹ bewusst. Das bewusste Aufmerken ist schon etwas anderes als das automatisierte Denken in der Begleitung von Wahrnehmungen. Ansonsten bewegen wir uns ›empfindungs- und bewusstlos‹ in den Gewohnheiten, solange nichts dazwischenkommt. Wir achten sogar in vielfacher Hinsicht nur partiell bewusst auf das, was wir gerade sagen. Das muss so sein, da man sonst aus einem unendlichen Regress der inneren Selbstkontrolle eines leisen, aber expliziten verbal planning gar nicht zum Sprechen käme, ähnlich wie ein Sportler, der an alle Einzelbewegungen seines Leibes denken und sie so kontrollieren wollte, nicht erfolgreich sein kann. Sie ist insofern frei von ihnen, als sie sich in ihnen nicht interessiert und beschäftigt; indem sie in diesen Formen als ihrem Besitze existiert, – ist sie zugleich für die weitere Tätigkeit und Beschäftigung – der Empfindung sowie des Bewußtseins des Geistes überhaupt – o=en. (416) Hegels Formulierungen sind suboptimal, inhaltlich aber korrekt und interessant. Denn gerade dadurch, dass wir zunächst nicht auf den besonderen Ausdruck einer begri=lichen Unterscheidung, sondern auf Sache und Inhalt äquivalenter Präsentationen und Repräsentationen fokussieren, gehen wir frei mit angelernten Gewohnheiten um – gerade so, wie Sportler oder Musiker nicht mehr auf die eigens eingeübten Teilbewegungen achten. Nur so sind wir für »weitere Tätigkeit und Beschäftigung – der Empfindung sowie des Bewusstseins des Geistes überhaupt – o=en«. Entsprechend ist jede übermäßige Fokussierung auf politisch korrekte Ausdrucksformen nur Begleiterscheinung politischer Untätigkeit. Dieses Sich-einbilden des Besondern oder Leiblichen der Gefühlsbestimmungen in das Sein der Seele erscheint als eine Wiederholung derselben und die Erzeugung der Gewohnheit als eine Übung. (416) Es ist nicht nur Hegels Artikulierungsversuch, es ist die Sache selbst, die nicht ganz leicht zu verstehen ist. Das beginnt schon bei der Unterscheidung zwischen Sein und Gegenstand, reproduzierbarer Vollzugsform und thematisierter, besonderer Form. 340 340
608 340 340 k Der subjektive Geist 416 Das Wort »erscheint« darf hier nicht als »scheint« gelesen werden, sondern bedeutet »manifestiert sich als«. Das »Sicheinbilden des Besonderen« von Bestimmungen »in das Sein der Seele« ist gerade Selbstbildung durch Lernen und Übung. Hegel begreift diese ganz recht als leibliches Training. Von bloßer Einbildung ist also gar nicht die Rede, sondern von Verleiblichung. Hegel bezieht sich implizit auf den fast abgedroschenen Spruch von Lateinlehrern: Repetitio (est) mater studiorum. In der Wiederholung von Formen erzeugen wir über Gewohnheiten ein Können. Man kann das auf allen Ebenen des Lernens sehen. Denn dies Sein als abstrakte Allgemeinheit in Beziehung auf das Natürlich-Besondere, das in diese Form gesetzt wird, ist die Reflexions-Allgemeinheit (§ 175), – ein und dasselbe als Äußerlich-Vieles des Empfindens auf seine Einheit reduziert, diese abstrakte Einheit als gesetzt. (416) Das Sein der Seele ist Vollzug einer abstrakten Allgemeinheit, zunächst des Natürlich-Besonderen der Artform des Lebens. In wiederholten Instanziierungen wird ein unmittelbar durch Gefühle gesteuerter Vollzug transformiert, wie ich schon öfter gesagt habe, oder in Form gebracht bzw., wie Hegel zu sagen beliebt, »in diese Form gesetzt«. Alles, was wir lernen, besteht in der reproduktiven Übernahme und Ausbildung von Verhaltens-, Gebrauchs-, Handlungs- oder Praxisformen durch Wiederholung. Das beginnt beim Kind in den ›unendlichen‹ Übungen besonders der Motorik der Finger und dann auch des Gehens und Sprechens. Die Rede davon, dass »Äußerlich-Vieles des Empfindens auf seine Einheit reduziert« werde und »diese abstrakte Einheit als gesetzt« angesehen wird oder sogar anzusehen ist, meint wohl einfach, dass die Einheit des leiblichen Individuums, wie es sich in seinem Tun und Fühlen zeigt, ihm selbst sich schon im Vollzug bewusst ist. Es bedarf dazu nicht schon der reflexionslogischen Rede über die Seele. Die Gewohnheit ist wie das Gedächtnis ein schwerer Punkt in der Organisation des Geistes; die Gewohnheit ist der Mechanismus des Selbstgefühls wie das Gedächtnis der Mechanismus der Intelligenz. (416) Das sogenannte Leib-Seele-Problem aufzuheben, ist dasselbe, wie die beiden wichtigsten Momente jeder Verleiblichung des Geistes
416 Anthropologie. Die Seele 609 zu begreifen. Diese führt in Erziehung, Bildung und Selbstbildung von einem allgemeinen Wissen und Können, Formenerkennen und Formenreproduktion zu Erzeugungen und Veränderungen von Gewohnheiten und dann auch zu einem Gedächtnis im ›Er-Innern‹. Die zentralen Merksätze zur verleiblichten »Organisation« des subjektiven Geistes sind hier nur zu wiederholen: Die Gewohnheit ist der Mechanismus des Selbstgefühls. Das Gedächtnis ist der Mechanismus der Intelligenz. Daher zeigt sich bei Kindern ihre verbale Lernkompetenz gerade auch, aber nicht nur daran, woran sie sich erinnern und was sie mehr oder weniger auswendig lernen können.77 Die natürlichen Qualitäten und Veränderungen des Alters, des Schlafens und Wachens sind unmittelbar natürlich; die Gewohnheit ist die zu einem Natürlichseienden, Mechanischen gemachte Bestimmtheit des Gefühls, auch der Intelligenz, des Willens usf., insofern sie zum Selbstgefühl gehören. (416) Hegel blickt noch einmal kurz zurück, zunächst auf die »natürlichen Qualitäten und Veränderungen des Alters« in der ›natürlichen‹ Maturation (Ontogenese und Bildungsgeschichte) der einzelnen Menschen und dann auf den Unterschied zwischen Schlafen und Wachen. Dieser wird wichtig für die Begri=e der Vigilanz oder Wachheit, des Gewahrseins als präsentischer oder gar schon geistesgegenwärtiger Awareness und der gerichteten Aufmerksamkeit – von der Attention bis zur höheren, weil schon geistig geformten Apperzeption. Sie bestimmen zusammen das Proto-Bewusstsein der fühlenden Seele oder des unmittelbaren Selbst-Seins. Alle diese qualitativen NormalVermögen und ihre akzidentellen Privationen etwa im Schlaf und Koma, unter Hypnose, in Trance, in Krankheiten des Gemüts oder dann auch der Psyche – wie wir sie genauer erst im Abschnitt zur Psychologie betrachten werden – »sind unmittelbar natürlich« und direkt leiblich vermittelt. Hegel betont außerdem noch einmal die Bedeutung aller Schematisierungen für das Lernen und die Bildung des Verstandes als Vermögen der Reproduktion schematischer Regeln z. B. im Sprechen 77 Hegels Analyse der Empfindungen, Gefühle und der Umformungen von begehrensgeleitetem Tun und Verhaltensabläufen ist ganz o=enkundig eine logisch informierte Phänomenologie des Leibes. 340 k
610 340 k Der subjektive Geist 416 und formal ›richtigen‹ Schließen, von dem schon rein akzidentelle Einfälle und bloße Konnotationen abweichen würden. Hierzu wiederhole ich nur den Kernsatz: Die Gewohnheit ist die zu einem Mechanischen gemachte Bestimmtheit des Gefühls. Aber auch Teile der Intelligenz des Lernens von Unterscheidungen und dann sogar die (sprachlichen) Einfälle des ›Bewusstseinsstroms‹ gehören zum automatisierten Selbstgefühl, so wie das Proto-Wollen des Begehrens oder auch eines unmittelbaren Prima-facie-Wünschens oder Präferierens. Die Gewohnheit ist mit Recht eine zweite Natur genannt worden, – Natur, denn sie ist ein unmittelbares Sein der Seele, – eine zweite, denn sie ist eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit, eine Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit, die den Gefühlsbestimmungen als solchen und den Vorstellungs- [und] Willens-Bestimmtheiten als verleiblichten (§ 401) zukommt. (416) Wie schon Aristoteles spricht Hegel von einer zweiten Natur nur im Blick auf die verleiblichten Gewohnheiten und automatisierten Abläufe der Gefühlswelt, nicht etwa unter Bezugnahme schon auf die gesamte, auch geistige Normalentwicklung und generisch-allgemeine Normalpraxis eines personalen Individuums. Er reserviert damit die Wörter »Natur«, auch »Seele« und »Gefühl«, für das unmittelbare Sein des Selbst – um den Unterschied zwischen Natur und Geist, der nur erst fühlenden Seele und der schon denkenden Psyche, dem unmittelbaren Selbstsein und dem kulturell überformten, begri=lich gebildeten Ich-Sein deutlich genug artikulieren zu können. Dass die Formation von Gewohnheiten und die zugehörigen, partiell schon automatisierten, daher nur holistisch kontrollierten Verhaltensabläufe als zweite Natur angesprochen werden, liegt daran, dass sie durch Lernen, metaphorisch gesagt, in die Seele gesetzt werden – trotz der Unmittelbarkeit ihrer ›gefühlsgetragenen Wirkweise‹, um es einmal so zu sagen. Hegel spricht wie das englische Wort »formation« von einer »Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit«. Und er betont, dass es dabei um die verleiblichten Gefühlsbestimmungen samt allen zugehörigen Vorstellungs- und Willensbestimmtheiten geht. Die Entgegensetzungen von Leib und Seele, dem körperlichen Individuum und dem punktförmig nur vorgestellten Selbst heben sich so auf – womit das sogenannte Leib-Seele-Problem schlicht gelöst ist.
416 Anthropologie. Die Seele 611 Das Körper-Geist-Problem wird aufgehoben dadurch, dass die transsubjektive Seinsweise des Geistes als allgemeines Menschheitswissen samt aller Praxisformen herausgearbeitet werden wird. Der subjektive Geist des Ich besteht in der kompetenten Teilnahme an diesen Formen. Psychische ›Krankheiten‹ und geistige Defizienz bzw. intellektuelle Schwächen ergeben sich aus privativen Mängeln im Blick auf die Normen des Normalen und Guten in der (›begri=lichen‹) Formenkompetenz. Der Mensch ist in der Gewohnheit in der Weise von Natur-Existenz und darum in ihr unfrei, aber insofern frei, als die Naturbestimmtheit der Empfindung durch die Gewohnheit zu seinem bloßen Sein herabgesetzt, er nicht mehr in Di=erenz und damit nicht mehr in Interesse, Beschäftigung und in Abhängigkeit gegen dieselbe ist. (416) Alles, was wir rein gewohnheitsmäßig tun, ist in seinem ›natürlichen‹ oder ›schematisierten‹ Ablauf gerade nicht durch ein begleitendes Denken kontrolliert. Insofern ist es noch kein freies Handeln. Aber manche antrainierten Gewohnheiten werden dadurch zur Grundlage freien Denkens und Handelns, dass ihr Beginn und ihr Ende kontrolliert oder sie als mögliche Denkformen zur Grundlage einer Wahlentscheidung und eines Entschlusses als Anfang konsequenten Tuns werden. Die Formulierung, dass die empfindungs- und gefühlsgesteuerten Abläufe der Gewohnheit zu einem »bloßen Sein« des Verhaltens herabgesetzt sind, ist durchaus passend. Außerdem sind meine Gewohnheiten nichts, was ich unmittelbar von mir trennen kann. Im Normalfall ist ein Leben, das guten Gewohnheiten folgt, gerade dadurch frei, dass es keine Di=erenz zu den wahren eigenen Interessen gibt: Wenn ich eine von mir selbst als schlecht bewertete Gewohnheit loswerden will, ist diese für mich eine Privation. Niemand will ›gute‹ Gewohnheiten loswerden. Die Unfreiheit in der Gewohnheit ist teils nur formell, als nur in das Sein der Seele gehörig; teils nur relativ, insofern sie eigentlich nur bei übeln Gewohnheiten stattfindet oder insofern einer Gewohnheit überhaupt ein anderer Zweck entgegengesetzt ist; die Gewohnheit des Rechten überhaupt, des Sittlichen, hat den Inhalt der Freiheit. – Die wesentliche Bestimmung ist die Befreiung, die 340 k 340 f . k
612 341 k 341 k Der subjektive Geist 416 f. der Mensch von den Empfindungen, indem er von ihnen a;ziert ist, durch die Gewohnheit gewinnt. (416 f.) Rein formal sagt man, dass ein gewohnheitsförmiges Verhalten unfrei sei, zumal vieles daran uns im Einzelfall noch nicht einmal gewahr ist und wir ihm auch nicht unsere Aufmerksamkeit schenken, so dass es uns als ›unbewusstes‹ Tun erscheinen mag. Doch diese ›Unfreiheit‹ und ›Unbewusstheit‹ ist, wie oben schon erläutert, häufig nur relativ. Als ›unfrei‹ und ›abhängig‹ von üblen Gewohnheiten mögen wir uns z. B. im Fall eines Suchtverhaltens empfinden, das wir nicht einfach momentan schon dadurch loswerden, dass wir es loszuwerden wünschen. Oft kann einer gegebenen Gewohnheit nur eine bessere entgegengesetzt werden. Das ist gerade auch dann der Fall, wenn ein Individuum sich darum bemüht, sogar rein gewohnheitsmäßig das jeweils ethisch Gute zu tun. In solchen Fällen befreit sich der Mensch von bloß gegebenen empfindungsgesteuerten Reaktionen durch neu erworbene Gewohnheiten. Es können die unterschiedenen Formen derselben so bestimmt werden: 1) Die unmittelbare Empfindung als negiert, als gleichgültig gesetzt. Die Abhärtung gegen äußerliche Empfindungen (Frost, Hitze, Müdigkeit der Glieder usf., Wohlgeschmack usf.) sowie die Abhärtung des Gemüts gegen Unglück ist eine Stärke, daß, indem der Frost usf., das Unglück von dem Menschen allerdings empfunden wird, solche A=ektion zu einer Äußerlichkeit und Unmittelbarkeit nur herabgesetzt ist; das allgemeine Sein der Seele erhält sich als abstrakt für sich darin, und das Selbstgefühl als solches, Bewußtsein, Reflexion, sonstiger Zweck und Tätigkeit ist nicht mehr damit verwickelt. (417) Der erste Fall, den man hier hervorheben kann, besteht in einer Art Abhärtung etwa gegen Frost und Hitze oder in der Verschiebung des Fokus weg von Furcht und Angst. So steuern wir langfristig unsere Gefühlsreaktionen. Dabei gibt es Spezialisten, aber auch ein nötiges Normal- oder Mindestmaß der ›Herabsetzung‹ unmittelbarer Reaktionstypiken. Hier zeigt sich Hegels tiefe Einsicht in die Leib-SeeleTechnik der Selbstdistanzierung von gewissen eigenen Empfindungen, die sich nicht einfach wie über einen Schalter ›ausknipsen‹ lassen. 2) Gleichgültigkeit gegen die Befriedigung ; die Begierden, Trie-
417 Anthropologie. Die Seele 613 be werden durch die Gewohnheit ihrer Befriedigung abgestumpft; dies ist die vernünftige Befreiung von denselben; die mönchische Entsagung und Gewaltsamkeit befreit nicht von ihnen, noch ist sie dem Inhalte nach vernünftig; – es versteht sich dabei, daß die Triebe nach ihrer Natur als endliche Bestimmtheiten gehalten und sie wie ihre Befriedigung als Momente in der Vernünftigkeit des Willens untergeordnet sind. – (417) Eine zweite Methode, den Fokus auf gewisse Begierden und Triebe abzuschwächen, besteht schlicht in ihrer regelmäßigen Befriedigung. Hegel hält z. B. gar nichts von mönchischer sexueller Entsagung, zumal man sie nur als eine Regel anzusehen hat, um eine klösterliche Gemeinschaft aufrecht zu erhalten,78 so wie das Zölibat nur dazu diente, die Pfarrpfründen und Bischofstühle immer wieder an die zentral organisierte Kirche zurückfallen zu lassen. Alle späteren ›Überhöhungen‹ dieser Normen sind von der Art bloßer Tabuisierung, die sich auf sophistische Umdeutungen der Heiligen Schriften des so genannten Neuen Testament stützen. So empfiehlt z. B. Paulus die Ehelosigkeit seinen Missionaren zwar aus Gründen der E=ektivität, besteht aber keineswegs auf ihr. Es war und ist ein großes kulturelles Defizit christlicher Ethik, nicht zwischen berechtigten und unberechtigten Tabus zu unterscheiden. So war und ist z. B. das ethische Tabu und rechtliche Verbot sexueller Beziehungen zu pädagogisch Abhängigen völlig berechtigt, aber weder die Tabuisierung der Homoerotik wie in Rom und Israel noch der außerehelichen Sexualität. Das ›prinzipielle‹ Verbot der Ehescheidung in der Lehre des Jesus ist ohnehin nur als Versuch der Gleichstellung der Frau zu werten. In der Schlussbemerkung hebt Hegel noch hervor, dass die Formen eines vertrauensvollen Zusammenlebens allerlei sittliche Normen hervorgebracht haben, die es selbstverständlich in vernünftiger Weise ethisch zu berücksichtigen gilt. 3) In der Gewohnheit als Geschicklichkeit soll nicht nur das abstrakte Sein der Seele für sich festgehalten werden, sondern als ein 78 Schon das Leben des Augustinus zeigt, dass eine gemischtgeschlechtliche Kommune instabil ist. 341 k
614 341 k 341 k Der subjektive Geist 417 subjektiver Zweck in der Leiblichkeit geltend gemacht, diese ihm unterworfen und ganz durchgängig werden. (417) Übung und Training sind typische Umformungen von Gewohnheiten – wie das auch der dritte Fall zeigt, der einer erzeugten Geschicklichkeit. Hier ist nur die Kommentarsprache interessant. Das abstrakte Sein der Seele für sich festzuhalten, bedeutet, sich als Leibwesen insgesamt und damit als Einheit im Vollzug zunächst gewahr und später dann explizit bewusst zu sein. In der Umsteuerung von Begehrungen, die auch als Sublimieren angesprochen wird, oder auch in neuen Gewohnheiten werden neue subjektive Ziele »in der Leiblichkeit geltend gemacht«. Nur in diesem Sinn werden Triebe und das Streben nach Befriedigung von Begierden neuen Zielsetzungen unterworfen und das in einer Gewohnheit sogar ganz durchgängig – so dass sich z. B. manche Menschen ohne ihr Jogging oder Workout etc., andere ohne Arbeit nicht wohlfühlen. Gegen solche innerliche Bestimmung der subjektiven Seele ist die Leiblichkeit als unmittelbares äußerliches Sein und Schranke bestimmt; – der bestimmtere Bruch der Seele als einfachen Fürsichseins in sich selbst gegen ihre erste Natürlichkeit und Unmittelbarkeit; die Seele ist damit nicht mehr in erster unmittelbarer Identität, sondern muß als äußerlich erst dazu herabgesetzt werden. (417 f.) Einerseits ist die subjektive Seele selbst ganz und gar leiblich, andererseits stehen ihre Ziele als Befriedigungen von Bedingungen der bloß erst unmittelbaren äußerlichen Leiblichkeit auch gegenüber. Das Leibliche kann die Befriedigungen der Seele immer auch beschränken. Das ist ein wichtiger Bruch in der Seele, die damit nicht mehr die einfache und unmittelbare ›Identität‹ des Selbst als Punkt ist, sondern sich in sich unterscheidet, nämlich in ›unmittelbare‹ Empfindungen der Befriedigung eines Begehrens und in schon bewertete Erfüllungen eines Wissens und Wollens. Damit sehen wir schon, was es heißt, dass die Seele zum bloß formalen Selbst von Gefühlsempfindungen ›herabgesetzt‹ und vom Gesamt-Ich nachhaltigen Wollens unterschieden werden kann und muss. Die Verleiblichung der bestimmten Empfindungen ist ferner selbst eine bestimmte (§ 401), und die unmittelbare Leiblichkeit eine besondere Möglichkeit (– eine besondere Seite ihrer Unterschieden-
418 Anthropologie. Die Seele 615 heit an ihr, ein besonderes Organ ihres organischen Systems) für einen bestimmten Zweck. (418) Dass die Verleiblichung bestimmter Empfindungen selbst bestimmt ist, bedeutet, dass es sich um di=erentiell bedingte Normalreaktionen handelt. In einem einfachen Beispielfall sieht ein etwa zweijähriges Kind ein Kaninchen und ruft: »Da, ein Kaninchen«. Quine spricht in einem solchen Fall von »stimulus meaning«. Das Problem ist, dass er die Reaktion als rein kausale Wirkung auf ein Verhalten deutet, nicht als eine immer noch kontrollierbare und dadurch weiterzuentwickelnde Gewohnheit – als Möglichkeit. Das Einbilden solchen Zwecks darein ist dies, daß die an sich seiende Idealität des Materiellen überhaupt und der bestimmten Leiblichkeit als Idealität gesetzt worden, damit die Seele nach der Bestimmtheit ihres Vorstellens und Wollens als Substanz in ihr existiere. (418) Hegel versucht hier in einer sehr schwierigen Formulierung zu erläutern, wie überhaupt eine Kontrolle des Wünschens im Wollen und damit eine bewusste Zweckorientiertheit möglich werden kann. Wie also kommt ein Zweck in das Tun der Gewohnheit und dann auch in das einzelne Handeln? Dazu erinnert er daran, dass er in der Begri=slogik zur ›Teleologie‹ gezeigt hatte, wie eine »an sich seiende Idealität des Materiellen überhaupt« möglich wird. Dort geht es um das durch die Artform bestimmte zielgerichtete Verhalten von Lebewesen in enaktiven Perzeptionen als empfindungsgeleiteten Reaktionen. Ein Verhalten und ein Handeln, das sich auf Gefühle stützt, ist im Normalfall längst schon implizit bzw. empraktisch begri=lich bestimmt. Es wird aber erst aktual selbstbewusst durch Formen der Explikation und Kontrolle. Diese Formen sind in der Leiblichkeit gesetzt durch eine Art des übenden Lernens. Aber schon die ›Vererbungen‹ eines ›Instinkts‹ formen das seelische Naturwesen eines Tieres. Das gilt auch für unsere eigene ›erste‹ Natur. Diese ist das sensitive Gemüt, aus dem das Selbst des Gefühls geformt wird, also die Seele »nach der Bestimmtheit ihres Vorstellens und Wollens als Substanz in ihr«, also in ihrer Leiblichkeit. Das alles betri=t nun auch die erworbenen Gewohnheiten der ›zweiten‹ Natur des Menschen. Deren Zielgerichtetheit stammt zunächst nicht von mir und meinem Nachdenken über Zwecke und Mittel, 341 k
616 341 k 341 f . k 342 k Der subjektive Geist 418 sondern aus der Allgemeinheit von Begri= und Geist, also dem allgemeinen Wissen und Können der Menschheit – so wie die Teleologie im Verhalten der Tiere aus den Seinsformen der Gattung oder Art. Auf solche Weise ist dann in der Geschicklichkeit die Leiblichkeit durchgängig und zum Instrumente gemacht, daß, wie die Vorstellung (z. B. eine Reihe von Noten) in mir ist, auch widerstandslos und flüssig der Körper sie richtig geäußert hat. (418) Jetzt können wir verstehen, wie die Aktualisierung einer erworbenen Geschicklichkeit, ich wiederhole die wichtige Passage, »die Leiblichkeit durchgängig zum Instrumente macht«, worauf schon Platon im Dialog Alkibiades aufmerksam gemacht hatte – so dass ich z. B., wenn ich einmal sprechen gelernt habe, das im Normalfall »widerstandslos und flüssig« reproduzieren kann, während das Kleinkind noch übt und experimentiert. Die Form der Gewohnheit umfaßt alle Arten und Stufen der Tätigkeit des Geistes; die äußerlichste, die räumliche Bestimmung des Individuums, daß es aufrecht steht, ist durch seinen Willen zur Gewohnheit gemacht, eine unmittelbare, bewußtlose Stellung, die immer Sache seines fortdauernden Willens bleibt; der Mensch steht nur, weil und sofern er will, und nur solang, als er es bewußtlos will. (418) Übung und Training in der Transformation von Gewohnheiten betre=en alle Fähigkeiten oder Skills, also etwa körpertechnische, leibliche, seelische und geistige im engeren Sinn. Das aufrechte Gehen ist bloß ein besonders eklatantes Beispiel, zu dem Hegel hervorhebt, dass der Menschen nur aufrecht steht und geht, »weil und sofern er will, und nur solang, als er es bewußtlos will«. Ebenso Sehen und so fort ist die konkrete Gewohnheit, welche unmittelbar die vielen Bestimmungen der Empfindung, des Bewußtseins, der Anschauung, des Verstandes usf. in Einem einfachen Akt vereint. (418) Im Fall des Sehens ist das sehende Unterscheiden konkret gelernte und keineswegs in allen Dingen rein natürliche Gewohnheit, selbst wenn es in der Aktualisierung unmittelbar ist. Wie auch John McDowell in Mind and World betont Hegel hier, dass begri=liche »Bestimmungen der Empfindung, des Bewusstseins, der Anschauung, des Verstandes usf. in einem einfachen Akt« des Sehens etwa des
418 Anthropologie. Die Seele 617 Ei=elturms vereint sind. (Ein Tier sieht Nahrung oder Beutegreifer, keine fernen Türme und schon gar nicht den Ei=elturm.) Das ganz freie, in dem reinen Elemente seiner selbst tätige Denken bedarf ebenfalls der Gewohnheit und Geläufigkeit, dieser Form der Unmittelbarkeit, wodurch es ungehindertes, durchgedrungenes Eigentum meines einzelnen Selbsts ist. (418) Bei Hegel gehört alles zum Denken, was sich als freier Umgang mit begri=lichen Formen darstellen lässt. Der einfachste Fall ist das sprachliche (laute oder leise) Denken. Für dieses braucht es Übung, Gewohnheit und Geläufigkeit, zuvor aber schnelle Auffassungsgabe. Erst durch diese Gewohnheit existiere Ich als denkendes für mich. (418) Alles und jedes durch einen leisen Denkstrom zu begleiten und dabei ggf. auch meinen eigenen Bewusstseinsstrom zu kommentieren und umzulenken, ist die Form der Existenz des Ich. Ich bin so denkend für mich. Diesem terminologischen Kommentar liegt eine völlig korrekte phänomenologische Beobachtung und Reflexion zugrunde. Gemeint ist der Unterschied zwischen mir als unmittelbar fühlendem Selbst und mir als über mich selbst nachdenkendem und mich dabei durch Denkinhalte partiell selbst im Urteilen und Handeln bestimmendem bzw. steuerndem personalen Subjekt. Selbst diese Unmittelbarkeit des denkenden Bei-sich-seins enthält Leiblichkeit (Ungewohnheit und lange Fortsetzung des Denkens macht Kopfweh), die Gewohnheit vermindert diese Empfindung, indem sie die natürliche Bestimmung zu einer Unmittelbarkeit der Seele macht. – (418) Nachdenken kann anstrengend sein; es verbraucht sogar Energie. Das wissen wir alle. Es zeigt, dass dabei mein Leib selbst dann gefordert wird, wenn sich äußerlich nichts bewegt. Die Details der Abläufe im Kopf oder Gehirn interessieren dabei erst einmal nicht. Andererseits kann kaum einer im Kopf ›klarer‹ und ›komplexer‹ (bestenfalls schneller) denken, als er sprechen oder schreiben oder meinetwegen auch Diagramme, Bilder, Noten oder Musik äußerlich produzieren kann (oder könnte). Es ist daher ein typischer Denkfehler von Romantikern, zu meinen, die Tiefe und Weite, Genauigkeit und Genialität ihres Denkens und Meinens könnten andere Personen ohnehin nie voll erfassen. So etwas sagt z. B. Heinrich von Kleist explizit, Nietz- 342 k 342 k 342 k
618 342 k 342 k 342 k Der subjektive Geist 418 sche implizit. Man verwechselt dabei Inhalte mit einem bloßen Gefühl der Zufriedenheit mit sich selbst oder mit der Gewissheit, auf Interpretation des Gesagten oder Geschriebenen nicht nur willkürlich zustimmend oder ablehnend reagieren zu können. Die entwickelte und im Geistigen als solchem betätigte Gewohnheit aber ist die Erinnerung und das Gedächtnis, und weiter unten zu betrachten. (418) Voraussetzung von vielem Verstehen und Sagen- oder Denkenkönnen ist, wie schon gesagt, das Gedächtnis. Von der Gewohnheit pflegt herabsetzend gesprochen und sie als ein Unlebendiges, Zufälliges und Partikuläres genommen zu werden. Ganz zufälliger Inhalt ist allerdings der Form der Gewohnheit, wie jeder andere, fähig, und es ist die Gewohnheit des Lebens, welche den Tod herbeiführt, oder, wenn ganz abstrakt, der Tod selbst ist. (419) Die Unterschätzung der Bedeutung von Gewohnheit ist ein großer Fehler. Freilich führt eine rein schematische Gewohnheit im Reden und Denken zum Tod des Geistes. Aber zugleich ist sie der Existenz aller Geistigkeit im individuellen Subjekte das Wesentlichste, damit das Subjekt als konkrete Unmittelbarkeit, als seelische Idealität sei, damit der Inhalt, religiöser, moralischer usf., ihm als diesem Selbst, ihm als dieser Seele angehöre, weder in ihm bloß an sich (als Anlage) noch als vorübergehende Empfindung oder Vorstellung, noch als abstrakte, von Tun und Wirklichkeit abgeschiedene Innerlichkeit, sondern in seinem Sein sei. – In wissenschaftlichen Betrachtungen der Seele und des Geistes pflegt die Gewohnheit entweder als etwas Verächtliches übergangen zu werden oder vielmehr auch, weil sie zu den schwersten Bestimmungen gehört. (419) Der Verstand als Vermögen des schematischen Rechnens mit Symbolen aller Art ist immer Bedingung der Möglichkeit »aller Geistigkeit im individuellen Subjekt«.
419 Anthropologie. Die Seele 619 c. Die wirkliche Seele § 411 Die Seele ist in ihrer durchgebildeten und sich zu eigen gemachten Leiblichkeit als einzelnes Subjekt für sich, und die Leiblichkeit ist so die Äußerlichkeit als Prädikat, in welchem das Subjekt sich nur auf sich bezieht. (419) Der Satz ist nicht so zu verstehen, dass eine mystische Seele sich ihren Leib forme. Er sagt, dass die Rede von der Seele auf nichts anderes verweist als auf die geformte Leiblichkeit. Diese ist im Seinsvollzug das einzelne Subjekt, das ich für mich, also in meinen Beziehungen zu mir bin. Die Leiblichkeit ist das Äußere der Seele insofern, als die Rede über die Seele eine gegenständliche Form hat, so dass alles Äußere ihr wie einem Punkt als Prädikat zugesprochen wird. Ich als Seele oder Subjekt habe, wie wir daher sagen, einen Leib oder einen Körper. Auch in einer solchen Aussage beziehe ich mich als Subjekt auf mich selbst. Diese Äußerlichkeit stellt nicht sich vor, sondern die Seele, und ist deren Zeichen. (419) Mein Aussehen kann Anzeichen meiner Seele, meiner Stimmungen und Gefühle sein. Man sieht mir vieles am Gesicht und an der Haltung an. Die Seele ist als diese Identität des Innern mit dem Äußern, das jenem unterworfen ist, wirklich; sie hat an ihrer Leiblichkeit ihre freie Gestalt, in der sie sich fühlt und sich zu fühlen gibt, die als das Kunstwerk der Seele menschlichen, pathognomischen und physiognomischen Ausdruck hat. (419) Die sensitive Seele als Form, ein empfindendes und fühlendes Subjekt oder Selbst zu sein, ist nach wie vor »Identität des Inneren mit dem Äußeren«. Das Aussehen ist dabei im Allgemeinen vom Inneren beeinflusst, also von Gewohnheiten oder momentanen Stimmungen. In ihm zeigt sich daher das Seelische wirklich, gerade in dem Sinn, wie Hegel in der Wesenslogik das Wirkliche versteht: Es ist das ›Wesen‹, das sich in typischer Weise empirisch zeigt. Zum menschlichen Ausdruck gehört z. B. die aufrechte Gestalt überhaupt, die Bildung insbesondere der Hand, als des absoluten Werkzeugs, des Mundes, Lachen, Weinen usw. und der über das 342 342 342 f . 343 k
620 343 k 343 k 343 k Der subjektive Geist 420 Ganze ausgegossene geistige Ton, welcher den Körper unmittelbar als Äußerlichkeit einer höhern Natur kundgibt. Dieser Ton ist eine so leichte, unbestimmte und unsagbare Modifikation, weil die Gestalt nach ihrer Äußerlichkeit ein Unmittelbares und Natürliches ist und darum nur ein unbestimmtes und ganz unvollkommenes Zeichen für den Geist sein kann und ihn nicht, wie er für sich selbst als Allgemeines ist, vorzustellen vermag. (420) Zum aufrechten Gang und zur Bedeutung der Motorik der Finger und der Hand, des in der Tat absoluten Werkzeugs, wurde schon das Wesentliche gesagt. Die Gesichtsmimik ist ebenfalls wichtig. Sie ist bei Schauspielern eine Sache willkürlicher Umformung. Zeichen für den Geist einer Person ist auch die Gesamthaltung, gerade auch im Reden. Für das Tier ist die menschliche Gestalt das Höchste, wie der Geist demselben erscheint. (420) Was Tiere von der menschlichen Gestalt halten, muss uns gleichgültig bleiben. Für uns ist die menschliche Gestalt das Schönste, was es gibt, wie man das an der klassischen Kunst der Plastik und Malerei sehen kann. Aber für den Geist ist sie nur die erste Erscheinung desselben und die Sprache sogleich sein vollkommenerer Ausdruck. (420) Für den Geist ist die äußere Gestalt nur die erste Erscheinung. Entscheidend ist die Sprache, also das Sprechen und damit das sprechende Denken. Es ist wesentlichster Ausdruck meines geistigen Wesens, meines Ich als dem personalen Subjekt, das ich bin. Weiter ist kein späterer linguistic turn je gekommen. Die Gestalt ist zwar seine nächste Existenz, aber zugleich in ihrer physiognomischen und pathognomischen Bestimmtheit ein Zufälliges für ihn; die Physiognomik, vollends aber die Kranioskopie zu Wissenschaften erheben zu wollen, war einer der leersten Einfälle, noch leerer als eine signatura rerum, wenn aus der Gestalt der Pflanzen ihre Heilkraft erkannt werden sollte. (420) Hegel hält zu Recht relativ wenig von Physiognomik, Kranioskopie, Phrenologie etc. Wie das Handlesen sind diese Pseudowissenschaften etwa so klug, wie wenn man aus der äußeren »Gestalt der Pflanzen ihre Heilkraft« erkennen will. Das Beispiel bestätigt meine Lektüre Hegels und seine Analyse dispositioneller bzw. inferentieller SinnMomente in Artbegri=en voll und ganz. – Das Wissen über das Ge-
421 Anthropologie. Die Seele 621 hirn gehört zwar zur Physiologie und Medizin. Man diagnostiziert, erklärt und behandelt dabei aber nur gewisse Krankheiten. Aus einem Wissen über Privationen erhält man im Allgemeinen keine Erklärung der Normalfälle. § 412 An sich hat die Materie keine Wahrheit in der Seele; als für sich seiende scheidet diese sich von ihrem unmittelbaren Sein und stellt sich dasselbe als Leiblichkeit gegenüber, die ihrem Einbilden in sie keinen Widerstand leisten kann. Die Seele, die ihr Sein sich entgegengesetzt, es aufgehoben und als das ihrige bestimmt hat, hat die Bedeutung der Seele, der Unmittelbarkeit des Geistes, verloren. (420 f.) Dass die Materie an sich »keine Wahrheit in der Seele« habe, bedeutet, dass wir im Modus generischer Reflexion zwischen dem Körper (auch dem Leib) als solchem in seinen Ortsbewegungen und der Seele als den inneren Regungen, Empfindungen, Stimmungen und Gefühlen bzw. als Selbst in allem Selbstgefühl unterscheiden. An und für sich sind Leib und Seele trotzdem schlicht identisch, zumal das Leibliche dem Seelischen, so verstanden, keinerlei Widerstand leistet. Wenn wir aber die Seele so ansprechen, als existierte sie für sich, so also, als stünde sie der Leiblichkeit und damit ihrem eigenen Sein gegenüber, wäre sie, wie Hegel hier absichtlich leicht verwirrend und doch ganz konsequent und richtig sagt, keine Seele mehr. Es gibt die Seele ja als wirkliche nur im Lebensvollzug. Sie ist dann nicht bloß Reflexionsgegenstand wie es z. B. die ›unsterbliche Seele‹ ist. Diese ist ja die Person im Ganzen. Im Fall des Sokrates ist sie das, was Sokrates unter Einschluss seines Todes gewesen ist. Im Fall noch lebender personaler Subjekte ist die Person im Ganzen, wer und was je ich nach meinem Tod auf immer, post mortem also zeitallgemein, gewesen sein werde. Die wirkliche Seele in der Gewohnheit des Empfindens und ihres konkreten Selbstgefühls ist an sich die für sich seiende Idealität ihrer Bestimmtheiten, in ihrer Äußerlichkeit erinnert in sich und unendliche Beziehung auf sich. (421) Die Seele als abstrakter Seelenpunkt ist nur formales Moment unserer generisch-allgemeinen Reflexionen auf Körper, Leib, Individuum, Gefühlsseele, Bewusstsein, Verstand und Vernunft. Wirklich existiert 343 343
622 343 f . Der subjektive Geist die Seele nur in den Vollzügen des Lebens. Hier äußert sie sich in »der Gewohnheit des Empfindens und ihres konkreten Selbstgefühls«. Man kann Hegels Analysen o=enbar nur verstehen, nachdem man seine logische Kommentarsprache entschlüsselt hat. Dann ist klar, dass die wirkliche Seele das Fürsichsein aller ›ihrer‹ realen Präsentationen oder Vollzüge ist, samt aller ›inneren‹ Relationen z. B. zwischen Empfindungen und Tätigkeiten, Stimmungen und Untätigkeiten. In eben diesem Sinn ist die wirkliche Seele »für sich seiende Idealität ihrer Bestimmtheiten« – in ›ihren‹ sich leiblich zeigenden Vollzugsoder auch Seinsformen. Dabei kommentiert und dekonstruiert Hegel fast spielerisch-distanziert die etablierte Metapher vom seelischen Inneren. Er sagt, die Äußerlichkeit der leiblichen Vollzüge gerade auch eines Trainings erinnert die wirkliche Seele, also die gesamte Leiblichkeit, in sich, gerade so, wie ein Wanderer, Bergsteiger oder Fahrradfahrer sich gesamtleiblich und nicht nur verbal im Kopf etwa an schwere Steigungen erinnert. Dass die Seele unendliche Beziehung auf sich ist, wird jetzt auch klar, da es indefinit viele Momente des Lebens gibt, die möglicherweise partiell bewusst, unbewusst oder ›unterbewusst‹ so erinnert werden. Das Innere ist hier natürlich logisch-begri=lich und keinesfalls wörtlich, also räumlich zu verstehen. Der Hauptmangel einer Phrenologie, Kraniologie oder Hirnkunde samt einer angeblich wissenschaftsnahen philosophy of mind besteht bis heute darin, dass sie diese Metaphorik teils explizit schematisch kritisiert, teil unbewusst selbst gebraucht – gerade so wie jeder Materialismus und Physikalismus seit Thomas Hobbes. Verbal bekämpft man dabei alle Vagheit und alle Metaphern als Irrlichter (so Hobbes) und möchte alles klar definieren und sagen. Dabei merkt man nicht, dass am Ende alle Modellierungen, besonders auch die Erklärungen der Physik, selbst metaphorische Analogien sind. Das gilt gerade auch für Hobbes’ Vertragstheorie des Sozialen und Politischen. Dies Fürsichsein der freien Allgemeinheit ist das höhere Erwachen der Seele zum Ich, der abstrakten Allgemeinheit, insofern sie für die abstrakte Allgemeinheit ist, welche so Denken und Subjekt für sich, und zwar bestimmt Subjekt seines Urteils ist, in welchem es die natürliche Totalität seiner Bestimmungen als ein Objekt, eine ihm äußere Welt, von sich ausschließt und sich darauf bezieht, so
421 Anthropologie. Die Seele 623 daß es in derselben unmittelbar in sich reflektiert ist, – das Bewußtsein. (421) Wieder löse ich Hegels manierierten Übergang durch Umordnung auf. Das, was wir als Bewusstsein ansprechen, ist sozusagen die Kontrolle der Leibseele oder des Selbst durch die in Gewohnheiten verleiblichten Allgemeinheiten von Verhaltens-, Wissens-, und Handlungsformen. In ihr ›erwacht‹ die Seele zum ›höheren‹, nämlich bewussten Ich. Das Selbst ist also sozusagen nur erst wach im Sinne von Vigilanz, Gewahrsein und (Selbst-)Aufmerksamkeit. Es ist nur erst Selbstgefühl. Bewusstsein im vollen Sinn setzt damit Denken voraus, ja es ist das denkende personale Subjekt für sich im Vollzug seines Urteilens und inferentiellen Handelns. In bewussten Welt- und Selbstbezügen setze ich mir die äußere körperliche Welt, daher auch meinen Leib, gegenüber. Alles Leibliche und somit auch mein Selbst im Sinne meiner unmittelbaren Gefühlsseele wird so zu einem Gegenstand meiner Reflexion und Kontrolle. Als Gegenstand des Redens und Denkens bestimmt ist dieses Selbst aber nur dadurch, dass ich auf mich reflektiere. Das, was ich dabei tue, ist – wie auch der verbal konstituierte Formalgegenstand der Reflexion (also das Selbst) – von seinem Sein im Vollzug immer noch zu unterscheiden. Jedes Sein und Tun, das ich bedenken will, muss über eine abstraktive Nominalisierung allererst in einen thematischen Gegenstand der Reflexion mit je spezifischem Fürsichsein (als den Relationen unterhalb der Gleichheit) verwandelt werden. Nur so wird »die natürliche Totalität« der Bestimmungen des Selbst (also der Empfindungen, Gefühle und Begierden der Seele und der unmittelbaren Leiblichkeit in ihren je momentan gegebenen Tendenzen und Gewohnheiten) zu einem Objekt für mich. Nur so werde ich auch zu einem Teil der äußeren Welt – woraus ganz o=enbar eine Spannung resultiert zwischen Selbst und Ich, Gefühlsseele und (Selbst-)Bewusstsein. Aus dieser Spannung ergibt sich der berüchtigte Kampf zwischen dem Leib als Knecht und der Seele als Herr. Es geht um die nicht bloß verbale, sondern tätige Anerkennung meiner Absichten, auch meiner ›Aussagen‹ über Vollzugsformen, um ihre Bewertung und insbesondere um ihre Steuerung durch den Willen, der durch sein Tun insgesamt dafür sorgt, wer ich gewesen sein werde, der aber am
624 Der subjektive Geist 421 Ende gerade das tätige Subjekt selbst ist. Ich bin mein Wille, so wie ich mein Gefühl bin. Daher bin oder habe ich zwei sich manchmal widerstreitende ›Bewusstseine‹. Das unmittelbare und das bewusst kontrollierte Sein oder Leben stehen sich damit gegenüber. Diese ›Zerrissenheit‹ des Selbstbewusstseins ist das zentrale Thema des nächsten Abschnitts, der Phänomenologie des Geistes. Es geht um das Wissen über die Di=erenz zwischen einem bloß wachen (Selbst-) Gewahrsein und einem vollen (Selbst-)Bewusstsein, damit auch zwischen bloßer Begierde und vollem Willen, zwischen einem bloßen Wünschen und einem vorsätzlich tätigen Beabsichtigen. B. 344 344 Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein § 413 Das Bewußtsein macht die Stufe der Reflexion oder des Verhältnisses des Geistes, seiner als Erscheinung, aus. (421) In der Rede über das Bewusstsein sprechen wir schon über einen gedanklich bzw. begri=lich reflektierten Bezug auf das, was je mir oder uns bewusst ist, nicht nur über eine bloß erst unmittelbare Weltund Selbstbezugnahme. Das Sich-einer-Sache-bewusst-Sein ist schon ›metastufig‹, logisch reflektiert, die Rede über das Bewusstsein damit in gewisser Weise schon meta-meta-stufig. Hegel spricht in diesem Sinn vom Verhältnis des Geistes erstens zu seiner Erscheinung im subjektiven Vollzug, zweitens auch zu den Formen und Gegenständen des Bewusstseins. Ich ist die unendliche Beziehung des Geistes auf sich, aber als subjektive, als Gewißheit seiner selbst; die unmittelbare Identität der natürlichen Seele ist zu dieser reinen ideellen Identität mit sich erhoben, der Inhalt von jener ist für diese für sich seiende Reflexion Gegenstand. (421) Während ich immer existiere, wenn ich »ich« sagen kann, existiert das Ich natürlich für sich nicht. Es ›ist‹ erst mal gar nichts. Da das auch für Hegel klar ist, besagt der Kommentar zum großgeschriebenen Ausdruck »Ich« etwa bei Kant und Fichte das Folgende: Man spricht in Sätzen über das Ich, ob man das weiß oder nicht, in Wahrheit auf nominal verdichtete Weise über den Gebrauch des Wortes »ich«. In
421 f. Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 625 einem solchen Gebrauch beziehe ich mich zunächst immer auf mich als denkendes und damit als geistiges Subjekt. Daher ist das Ich nur »die unendliche Beziehung des Geistes auf sich, aber als subjektive«. Das Wort »unendlich« steht hier nur dafür, dass der Ausdruck »das Ich« alle möglichen derartigen Selbstbezüge überschreibt. Es gibt unendlich viele mögliche Gleichheiten und Verschiedenheiten im Gebrauch der Personalpronomen »ich«, »mir« und »mich«. Dabei kann ich mich in konkreten Verwendungen auf mich hier und jetzt in einer verschieden lang ausgedehnten Gegenwart beziehen oder auf Aspekte und Momente meiner selbst. Entscheidend ist dabei der Kontext und das prädikativ ausgedrückte Thema. Ich kann mich so ipso facto als präsentisches Subjekt im Vollzug von mir in der Vergangenheit oder von mir als Leib oder Individuum, auch von mir in anderen Rollen und immer auch von mir als ganzer Person in meinem gesamten Sein und Leben unterscheiden. In gewissem Sinn ist freilich das Ich im Vollzug dennoch immer auch die »Gewissheit seiner selbst«. Im konkreten Gebrauch von »ich« urteile ich nämlich unmittelbar und damit subjektiv über mich – etwa dann, wenn ich in leiser Rede mein Tun begleite und z. B. zu mir so etwas sage wie: »Ich sollte und will jetzt dieses und dann jenes machen«. Die »unmittelbare Identität der natürlichen Seele« wird so »zu dieser reinen ideellen Identität mit sich erhoben«. Wir sehen hier also, dass die Identität des Ich eine reine Form ist. Sie bleibt in diesem Sein ideell, auch bei jeweiliger Konkretisierung der relevanten Gleichheit von mir mit mir. Sie wird instanziiert als subjektive Vollzugsform in einem Selbsturteil oder einer tätigen Selbstbestimmung. Deren Wahrheit und Richtigkeit sind durch allgemeine Erfüllungsbedingungen bestimmt, die über unmittelbare Befriedigungsgefühle bloßer Selbstgewissheit weit hinausgehen. Die Inhalte und Geltungsansprüche von urteilenden und tätigen Selbstbeziehungen werden ja im (selbst-)bewussten Ich zu Gegenständen der Reflexion und Selbstkontrolle. Die reine abstrakte Freiheit für sich entläßt ihre Bestimmtheit, das Naturleben der Seele, als ebenso frei, als selbständiges Objekt, aus sich, und von diesem als ihm äußern ist es, daß Ich zunächst weiß, und ist so Bewußtsein. (421 f.) 344
626 Der subjektive Geist Wieder müssen wir Hegels manieristischen Satz drehen und sagen, dass das Bewusstsein seiner Form nach – das eben sagt das Wort ›rein‹ – »abstrakte Freiheit für sich« ist, eben deswegen, weil alles Sagen und Denken im Vollzug frei und absolut, im Inhalt aber ideell, allgemein und abstrakt ist. Und wieder ist klar, dass weder das Bewusstsein noch die Freiheit, weder der Verstand noch der Wille eigenständige Entitäten sind, die für sich etwas tun. Die nominalen Ausdrücke nennen nur die wesentlichen Momente bewussten Seins, freien Tuns, verständigen Regelfolgens und eines nachhaltigen Wollens. Die Rede davon, dass die Freiheit ihre »Bestimmtheit, das Naturleben der Seele« aus sich entlasse, heißt daher (nur), dass ich mich denkend und handelnd zu mir als Gefühlswesen theoretisch und praktisch verhalte. Ich mache damit meine eigenen Bedingungen der Möglichkeit, ein geistiges Leben zu führen, zum gegenständlichen Thema meiner Reflexion und tätigen Selbstbestimmung. Bei Fichte findet sich dazu nur erst die abstrakte Unterscheidung zwischen dem Ich als Subjekt und dem Ich als Objekt. In Hegels Analyse wird bei geeigneter Lektüre klar, wie das konkret zu verstehen ist. So weiß ich z. B. von meinen Empfindungen und Gefühlen. Ich kann sie partiell steuern. Ich beziehe mich über eine schon begri=lich bestimmte Apperzeption mit Wahrnehmungsurteilen und InferenzErwartungen auf objektive Sachen in der Welt. Der jeweils wahrgenommene Gegenstand wird erst in einer weiteren Runde höherstufiger Reflexion zur ›Ursache‹ meiner Empfindungen oder auch ›seiner‹ Perzeption. Er ist aber nie Gesamtursache meiner Wahrnehmung. Diese ist vermöge der sie begleitenden Wahrnehmungsurteile immer auch eine Tätigkeit freier Spontaneität. Wer das nicht sieht, versteht noch zu wenig von Logik im Allgemeinen, von der Logik des Wahrnehmens, der Anschauung und Beobachtung im Besonderen. Kant beginnt diese Analyse, indem er die Mängel einer bloßen Physiologie des Erkennens seit Thomas Hobbes und John Locke erkennt. Wenn Hobbes, Locke, Reid oder Hume auf diese Logik der Reflexion geachtet hätten, wäre ihre Erkenntnistheorie nicht so ambivalent geblieben. So aber schwankt sie zwischen einem Glauben an einen mechanisch-materialistischen Kausalismus kognitiver Stimuli, Impressionen und Reaktionen und einem Solipsismus der inneren Verarbeitung von Sinnesdaten. Die gesamte empiristische Episte-
422 Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 627 mologie erweist sich als reine Theorie oder Metaphysik, trotz ihrer vehement vorgetragenen metaphysikkritischen Absichten. Allerdings ist auch noch Kants Rede von einer Mannigfaltigkeit gegebener Sinnesempfindungen nicht frei von Verwirrungen, auch wenn er beginnt, alle apperzipierten Gegenstände und Qualitäten als Ergebnisse unserer inferentiell dichten und damit begri=lich längst durch Wissen und Sprache geformten Unterscheidungen im Vollzug zu begreifen. Der Empirismus aber hatte sie zu unmittelbaren Gegenständen gemacht und das Erkennen zugleich mit der bloßen enaktiven Perzeption von Tieren oder gar Pflanzen analogisiert. Man redet also allzu schnell und allzu unmittelbar gegenständlich von Qualitäten der Empfindung, obwohl es solche ›Qualia‹ wegen des Fehlens von Identitätsbedingungen so wenig geben kann wie elementare Ereignisse und basale Prozesse ohne Artbestimmung. No entity without identity, sagt Quine dazu ganz richtig. Aber er erkennt die variable Vielfalt der Identitäten und damit des Fürsichseins jeweils in einem der unendlich vielen möglichen Gegenstandsbereiche dennoch nicht. Er sieht zwar, dass es nichts Einzelnes als Bezugsgegenstand ›gibt‹, das nicht schon als besondere Instanziierung einer Gattung und Art zu verstehen wäre, aber noch nicht das logisch Besondere der Instanziierungen von begri=lich bestimmten Arten von Dingen, Ereignissen und typischen Prozessen. Ich als diese absolute Negativität ist an sich die Identität in dem Anderssein; Ich ist es selbst und greift über das Objekt als ein an sich aufgehobenes über, ist Eine Seite des Verhältnisses und das ganze Verhältnis; – das Licht, das sich und noch Anderes manifestiert. (422) Hegels zusammenfassende Einleitungssätze in einen neuen Denkabschnitt sind für uns Leser immer eine Zumutung. Hier sagt er: Ich bin absolute Negativität dadurch, dass ich alles Meinige von mir unterscheiden kann, obwohl ich zugleich alles Meinige bin. Damit verstehen wir die sonst bloß erst dunkle Formel schon besser, dass das Ich an sich eine Art Identität mit seinem Anderssein ist. Ich bin meine Welt. Ich kann mich dennoch abstrakt, im redenden Denken, von jedem besonderen Inhalt distanzieren. Damit kann ich jede Sache formal zu einem mir gegenüberstehenden Gegenstand machen. Umgekehrt ist jeder derartige Gegenstand durch diese Form der Be- 344
628 Der subjektive Geist zugnahme Teil meiner Welt. Nur in diesem Sinn ist die Welt meine Welt. Je nach Kontext werden also ganz unterschiedliche Sachen als zu mir gehörig deklariert oder anerkannt, und zwar sowohl von mir als auch von anderen Personen. So kann manchmal mein Besitz oder meine Hand als zu mir gehörig aufzufassen sein. Ich werde ja bestohlen, nicht mein Besitz. Aber es kann mich mein Besitz evtl. auch gar nicht interessieren. In der Lehre des Jesus geht es daher unter anderem auch um den logischen Gebrauch und Bezug des Worts »ich«. Hegel erläutert die logische Struktur des Ich bzw. »ich« im Bewusstsein so: Ich bin im Vollzug der, der etwas tut. Dabei kann ich jedes Objekt »als ein an sich aufgehobenes« und damit als ein Meiniges auffassen und mir zuschreiben. Jedes Objekt meines Redens oder Denkens ist dabei »eine Seite des Verhältnisses« und ich stehe ihr als denkendes Subjekt gegenüber. Trotzdem kann jedes Meinige eventuell auch »das ganze Verhältnis« des Ich oder meiner Welt vertreten. Ich bin es, der spricht, indem mein Mund spricht. Ich handle, indem meine Hand etwas (›bewusst und willentlich‹) tut usf. Das Licht ist nun für Hegel schon deswegen eine gute Metapher für das bewusste Ich, weil Wissen (alt-indisch: »veda«) und Sehen (lat. »videre«) immer schon metonymisch identifiziert wurden, so wie Sagen und Zeigen (griechisch: »phrazein«). Über das griechische »noein« werden Wahrnehmen und Erkennen sogar identisch mit Denken. Licht verhält sich zum Geist analog darin, dass es die allgemeine Bedingung der Möglichkeit des Sehens ist. Geist ist allgemeine Bedingung der Möglichkeit des Wissens und Erkennens. Außerdem erhellt Licht das, worauf es scheint, und verweist zugleich, wie im Fall von Sonne und Mond, auf Objekte als seine Ursachen, obwohl es zugleich eine von den Ursachen dann auch wieder losgelöste, freie Manifestation des Lichts wie des Wissens gibt. In einem analogischen Sinn zeigt sich im Bewusstsein einer Sache erstens die beleuchtete Sache, zweitens das Licht des Wissens oder des Begri=s als allgemeine Bedingung der Möglichkeit des Sich-einerSache-bewusst-Seins. Drittens steht die Sonne als Ursache des je konkreten Lichts im Sonnensystem in Analogie zum geschichtlichen Geist als Gesamtsubjekt allen Allgemeinwissens und viertens zeigt
422 Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 629 sich das Bewusstsein im je präsentischen Vollzug des Subjekts oder des Ichs selbst. Wenn wir sagen, dass Geist und Bewusstsein aus einer Welt entstanden sind, in der es noch kein Wissen und kein Empfinden gab, dann ist das immer auch so zu verstehen, dass die nicht-geistige und nicht-handelnde Natur an und für sich selbst, unter Einschluss des Lebens der Tiere, ganz generell ein Bereich des Seins ist, für den es ohne Bezugnahme auf seine Darstellung durch uns gar keine Wahrheit gibt. In spekulativer Rede ist es dennoch wahr zu sagen, dass (proto-)bewusstes Leben und selbstbewusste Vernunft in einem Kosmos entstanden sind, in dem neben physikochemischen Gesetzen nur erst der Zufall herrschte. Im uralten mythischen Bild des Himmels erscheint dieser Zufall auch schon als Willkür des Uranos, des Vaters der Erdenzeit. Diese Epoche wiederum erhält zunächst die mythische Gestalt des Kronos, der zum Vater des Vaters irdischen Lebens, also des Zeus, wird. § 414 Die Identität des Geistes mit sich, wie sie zunächst als Ich gesetzt ist, ist nur seine abstrakte, formelle Idealität. (422) Die obigen Erläuterungen machen schon etwas begreifbarer, dass das Gesamt meiner möglichen bewussten Welt- und Selbstbezugnahmen nur die abstrakte Vollzugsform, also die »Idealität«, des Ich ausmacht. Der objektive Geist insgesamt ist das Wir oder Gesamtsubjekt, der subjektive Geist das Ich der realen Vollzüge in einem begri=lich informierten Leben. Die unmittelbare Idee ist das Leben als Seinsform. Die Idee ist der in Vollzügen realisierte Begri= – etwa der Artform von Tier oder Mensch insgesamt. Besondere Ideen sind daher Handlungs- oder Praxisformen. Als Seele in der Form substantieller Allgemeinheit, ist er nun die subjektive Reflexion-in-sich, auf diese Substantialität als auf das Negative seiner, ihm Jenseitiges und Dunkles bezogen. (422) Die Seele, ich wiederhole den Punkt, ist reale Leiblichkeit des Selbst im Vollzug. Selbst wenn sich in einem durch eine Gewohnheit schon umgeformten Selbstgefühl der allgemeine Geist zeigt, ist er in dieser Form nur erst unbewusste Reflexion in sich. Dennoch steht dem Selbst schon als unmittelbares Gefühl der Leib als etwas Negatives, also 344 344
630 344 344 f . 345 Der subjektive Geist 422 Unterscheidbares, gegenüber. Hegel betrachtet das in Analogie dazu, dass das Körperliche generell dem Licht entgegengesetzt wird und sich dennoch beide gerade darin zeigen, wie das Licht reflektiert wird. Das Bewußtsein ist daher, wie das Verhältnis überhaupt, der Widerspruch der Selbständigkeit beider Seiten und ihrer Identität, in welcher sie aufgehoben sind. (422) Die in einer Identität aufgehobene Relation des Fürsichseins betri=t auch das Bewusstsein, die mitwissende Selbstkontrolle, und erst recht das Selbstbewusstsein. Das Selbst der gefühls- und antriebbestimmten Vollzugseele ist dabei sowohl identisch mit dem Ich des (Selbst-)Bewusstseins als auch von ihm verschieden. Der Geist ist als Ich Wesen, aber indem die Realität in der Sphäre des Wesens als unmittelbar seiend und zugleich als ideell gesetzt ist, ist er als das Bewußtsein nur das Erscheinen des Geistes. (422) Der Empirismus (nach Locke) hat Probleme mit dem Wort »Wesen«, weil er nicht versteht, dass es sich um den logisch konstituierten Gegenstand handelt, dem ›seine‹ verschiedenen Erscheinungen so zugeordnet (›gesetzt‹) sind, wie wir von verschiedenen Erscheinungen (Präsentationen) bzw. Vorstellungen (Repräsentationen) in Techniken der Übersetzung und des Perspektivenwechsels durch (kovariante) Abstraktion zum Wesen oder zur Sache selbst kommen. Ich als subjektiver Geist bin das Wesen meiner ho=entlich prima facie verständigen und dann auch reflektiert-vernünftigen Äußerungen. In der Rede-Ebene des Wesens gelten die Ursachen von Erscheinungen als unmittelbar real, so dass mein geistiges Ich wie eine Ursache meiner geistigen Tätigkeiten erscheint. Demnach scheint es so, als sollten wir nicht sagen, dass ich mein Bewusstsein bin, sondern ein Bewusstsein einer Sache habe. Ich lese den schwierigen Satz so als Kommentarversuch zum Unterschied von »ich« und »sich seiner bewusst sein« bzw. »Bewusstsein«. § 415 Da Ich für sich nur als formelle Identität ist, so ist die dialektische Bewegung des Begri=s, die Fortbestimmung des Bewußtseins, ihm nicht als seine Tätigkeit, sondern sie ist an sich und für dasselbe Veränderung des Objekts. (422) Die logische Einsicht in die formelle, dabei aber immer variable
422 Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 631 Identität »=« in ihrer Beziehung zu den relevanten Prädikaten und den Relationen des Für-Anderes-Seins wird, wie schon Heraklit hervorhebt, besonders für das Verständnis von »ich« relevant. Es geht ja um die kontextuelle und konkrete Bestimmung meines Fürsichseins im Unterschied zu einer entsprechend situationsabhängigen Unterscheidung nicht nur von dir und ihm, sondern auch von mir in diesem Aspekt oder Moment und mir in einer anderen Betrachtung, aus anderem Blick, zu anderer Zeit etc. Als Spaziergänger bin ich z. B. normalerweise ein anderer als im Schlaf. Dialektik ist bei Hegel generell auch als konkrete Belegung von Wörtern in situationsbezogener Aufhebung von o=ensichtlich nicht mitgemeinten Katachresen, Widersprüchen und kalkulierten Absurditäten zu verstehen. Diese führen von der schwierigen dialektischen Ironie sozusagen zurück zur einfachen Metapher. Es handelt sich um sprechaktpraktische Inferenzformen nach Art der Implikaturen bei Paul Grice.79 Die Defaultschlüsse auf der Ausdrucksebene liefern nur die Grundlagen einer vernünftig mitdenkenden Auswahl relevanter Implikaturen des Gesagten oder Geschriebenen. Damit verstehen wir erst einmal den allgemeinen Rahmen dessen, was die »dialektische Bewegung des Begri=s« im konkreten Verstehen ist. Hier geht es um »die Fortbestimmung des Bewusstseins«, also darum, was wir mit dem Reflexionswort »bewusst« jeweils ›meinen‹, also sagen wollen und sagen können. Dazu erläutert Hegel, dass es keine besondere Tätigkeit gibt, die ich aktualisiere, wenn ich mir einer Sache bewusst sein will, sondern der Vollzug zunächst so unmittelbar ist wie das Spazierengehen. Und doch ändert sich die Art meiner Beziehung auf ein Objekt oder auch auf mich selbst, wenn mir etwas in der Welt oder an mir selbst zunächst nur empraktisch gewiss ist und dann erst explizit bewusst wird. Das Bewußtsein erscheint daher verschieden bestimmt nach der Verschiedenheit des gegebenen Gegenstandes und seine Fortbildung als eine Veränderung der Bestimmungen seines Objekts. (422) 79 Paul Grice, Studies in the Way of Words, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1989, S. 24 =. (»Logic and Conversation«) und 138= (»Some Models for Implicature«). 345
632 345 345 k Der subjektive Geist 422 Zwar muss man etwas tun, um sich einer Sache bewusst zu werden; aber was dabei konkret zu tun ist, ist »verschieden bestimmt nach der Verschiedenheit des gegebenen Gegenstandes«. Das ist ganz klar und wahr. Ich, das Subjekt des Bewußtseins, ist Denken, die logische Fortbestimmung des Objekts ist das in Subjekt und Objekt identische, ihr absoluter Zusammenhang, dasjenige, wonach das Objekt das Seinige des Subjekts ist. (422) Es folgt eine Bestätigung meines Lektürevorschlags. Denn Hegel artikuliert hier in der dritten Person, was ich oben gesagt habe: Ich bin das Meinige, meine Welt oder ein markierter Teil von ihr. Das Ich als Objekt unbewusster oder bewusster Reflexion auf mich ist das Seinige eben des Subjekts, das ich in der Reflexion (auf mich als dem Meinigen) bin. Dieses Ich-Subjekt des Bewusstseins ist kein mystischer Seelenpunkt in der Nähe der Hypophyse, der etwas tut (um ironisch auf Descartes anzuspielen). Es ist das Denken im Vollzug selbst. Es gilt sogar, dass das, was ich beim Denken tue, Instanziierung einer Denkform ist. Die Rede von der Identität von Subjekt und Objekt versteht sich damit unmittelbar so, dass ich im Vollzug einen Aussage-Inhalt über mich anerkenne. Dabei habe ich aber den Inhalt keineswegs selbst gescha=en. Diesen gibt es nur in der von mir ergriffenen Denk- oder Sprachform. Daher kann es z. B. auch – sogar auf mehrfache Weise – wahr bzw. falsch sein, wenn ich laut oder leise von mir sage, »ich sehe da ein Reh«. Es sind die kanonisch und normativ gesetzten Defaultregeln, die festlegen, ob ich – prima facie – richtig unterscheide und tätig schließe, etwa dann, wenn ich als Jäger das Reh schieße und nicht doch versehentlich eine Kuh, weil ich diese ›als Reh‹ gesehen habe. Insofern ist der allgemeine Geist, das generische Wir oder auch der Begri=, das eigentliche Subjekt des Wissens. Ich als Einzelsubjekt im bewussten Erkennen versuche dieses allgemeine Wissen jeweils nur richtig zu aktualisieren. Die Kantische Philosophie kann am bestimmtesten so betrachtet werden, daß sie den Geist als Bewußtsein aufgefaßt hat und ganz nur Bestimmungen der Phänomenologie, nicht der Philosophie desselben enthält. (422) In kantianisch geprägter Philosophie wird der Geist nur als subjektiver Geist aufgefasst. Es wird einfach unterstellt, dass ich bewusst
422 f. Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 633 denken und erkennen könne, ohne auf die transsubjektive Konstitution und geschichtliche Verfassung von Wissen und Begri=, Gegenstand und prädikativem Inhalt samt deren je konkreten Anwendungen genauer zu achten. Gerade indem man im Kantianismus unmittelbar ›inhaltlich‹ denkt, denkt man nur erst ›formal‹. Konkrete logische Analyse dagegen ist phänomenologisch-allgemein, nicht ›sprachphilosophisch‹ im üblichen Sinn entweder einer Formalsprachen- oder einer Einzelsprachensemantik. Die Vollzugsformen des denkenden Wahrnehmens, Urteilens und Schließens bedürfen in der Tat einer phänomenologischen Analyse oder, meinetwegen, einer phänomenologischen Sprachpragmatik. Dabei geht es in der Phänomenologie des Bewusstseins um die besonderen Erscheinungsformen des Geistes im Tun der Einzelmenschen, noch nicht um eine Philosophie des Geistes als voller logischer Analyse aller Reden über das Geistige. Es folgt dann die Analyse der transsubjektiven Seinsformen des objektiven Geistes. Sie betrachtet Ich als Beziehung auf ein Jenseitsliegendes, das in seiner abstrakten Bestimmung das Ding-an-sich heißt, und nur nach dieser Endlichkeit faßt sie sowohl die Intelligenz als den Willen. Wenn sie im Begri=e der reflektierenden Urteilskraft zwar auf die Idee des Geistes, die Subjekt-Objektivität, einen anschauenden Verstand usf., wie auch auf die Idee der Natur kommt, so wird diese Idee selbst wieder zu einer Erscheinung, nämlich einer subjektiven Maxime, herabgesetzt (s. § 58, Einl.). (422 f.) Das Hauptproblem einer kantianischen Analyse liegt erstens in einer Mystifizierung der Wahrheit in der Gegenüberstellung von Ding an sich in einem mundus intelligibilis und Erscheinungen im mundus sensibilis, zweitens in einer Mystifizierung des Ich in der Rede davon, es gehöre als noumenon zum mundus intelligibilis. Es ist zwar richtig, dass das Ich als Redegegenstand die logische Verfassung von etwas hat, das zunächst als Gedachtes zu begreifen ist, und zwar schon in so einfachen Aussagen wie »Ich bin traurig«. Diese Aussagen sind zwar als performative Deklarationen absolute Vollzüge. Als Aussagen über mich hier und jetzt können sie aber auch falsch sein. Dabei kann ich, wie schon Kant richtig sieht, mich sogar selbst täuschen. So wäre etwa die mir subjektiv ganz ehrlich von mir zugeschriebene Intention im Handeln nicht wirklich die wahre, wenn ich nur glaubte, 345 k
634 Der subjektive Geist ›aus Pflicht‹ gut gehandelt zu haben, obwohl ich es in Wahrheit nur ›aus Neigung‹ tat, nämlich z. B., um gelobt zu werden. Das wahre Ich rutscht hier, so scheint es wenigstens, auf die Ebene des Dinges an sich, das nur Gott erkennt. In eben diesem Sinn betrachtet Kant »Ich als Beziehung auf ein Jenseitsliegendes« und setzt ihm ein ›empirisches‹ Ich gegenüber, wie es sich in seiner »Endlichkeit« real zeigt. Erst in der dritten Kritik entwickelt Kant den wichtigen Begri= der reflektierenden Urteilskraft, mit der man nach dem ›wahren‹ Begri= oder auch der ›besten theoretischen Erklärung‹ einer gegebenen Sache sucht und damit abduktiv im Sinne von Charles Sanders Peirce die Sache mit ihrem Begri= zusammenschließt. Dabei spricht Kant zwar über die Idee des Geistes schon so ähnlich wie Fichte, auch über einen anschauenden Verstand bzw. eine intellektuelle Anschauung der Deklarationen der Form ›saying so makes it so‹ (wie in: »Ich taufe dich hiermit . . . «) usf. Aber er macht den Fehler, den Hegel schon im § 58 der Einleitung zur Enzyklopädie skizziert hatte: Er erklärt alle Ursachen und Gründe, Zwecke und Absichten selbst zu bloß subjektiven Vorstellungen und damit zu bloßen Erscheinungen, so dass man schon aus rein definitorischen Gründen seine wahren Zwecke und Intentionen nicht kennen kann, so wenig wie die wahren Ursachen in der Welt. In seinem – zugegebenermaßen kaum unmittelbar zu verstehenden – Kommentar zum § 58 erklärt Hegel das Folgende: Selbst dann, wenn wir Kant zugeben, dass wir die Gegenstände und mechanischen und chemischen Prozesse der physikalischen Natur als Erscheinungen nach Vorgabe der Kategorien (Hegel nennt Qualität, Ursache und Wirkung, Zusammensetzung, Bestandteile usf.) vor- und darstellen, so wäre er doch sogar von seinem eigenen Ansatz her gehalten gewesen, das Sein der Natur selbst und insbesondere das Leben »nicht bloß« nach diesen Kategorien zu erkennen. Wie das genau zu verstehen ist, zeigt Hegel im Teleologiekapitel der Begri=slogik. Denn hier sehen wir, in welchem Sinn in einer wissenschaftlichen Biologie und damit in der Erklärung des Lebens am »Prinzip der innern Zweckmäßigkeit« (§ 58) festgehalten werden muss. Zwar kommt auch Kant dazu, über die »Idee der Natur« als Vollzugsform für sich im Unterschied zu unseren begri<ich-theoretischen Erklärungen durch konstruierte Modellierungen zu sprechen. Doch es wird, ich wiederhole Hegels For-
423 Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 635 mulierung, »diese Idee selbst wieder zu einer Erscheinung, nämlich einer subjektiven Maxime, herabgesetzt«. Das heißt, Kant behauptet einfach, alle Reden von Zielen und Zwecken seien bloße Reden über Vorstellungen, es gäbe sie außerhalb unserer Modellvorstellungen gar nicht. Wie weit es die von uns den Erscheinungen als Wirkungen zugeschriebenen Ursachen nach Kant gibt, lasse ich dabei o=en. Es ist daher für einen richtigen Sinn dieser Philosophie anzusehen, daß sie von Reinhold als eine Theorie des Bewußtseins, unter dem Namen Vorstellungsvermögen, aufgefaßt worden ist. Die Fichtesche Philosophie hat denselben Standpunkt, und Nicht-Ich ist nur als Gegenstand des Ich, nur im Bewußtsein bestimmt; es bleibt als unendlicher Anstoß, d. i. als Ding-an-sich. Beide Philosophien zeigen daher, daß sie nicht zum Begri=e und nicht zum Geiste, wie er an und für sich ist, sondern nur, wie er in Beziehung auf ein Anderes ist, gekommen sind. (423) Karl Leonhard Reinhold fasst Kants Kritik der reinen Vernunft zu Recht als eine Art Theorie des Bewusstseins auf, als Reflexion und Artikulation unserer Vorstellungsvermögen. Auch Fichte kommt wie Kant nur zu den immanenten Gegenständen des Denkens und Wahrnehmens. Die ontologische Di=erenz zwischen der gegenständlichen Form des Redens und einem immer holistischen Sein im Vollzug, also zwischen ›Seiendem‹ und ›Sein‹, wird ebenso wenig erkannt wie die weltimmanente Unterscheidung zwischen wesensförmiger Ursache und ihren manifesten Erscheinungen. Die Rede von Impressionen ist dabei, wie schon gesagt, in allen Formen des Empirismus ambig. Als Ursachen dieser Eindrücke werden nämlich bei Hobbes und Locke ontisch unterstellte Dinge angesehen, die aber aufgrund von Berkeleys Kritik bei Hume selbst zu Bündeln von Erscheinungen werden. Auch bei Kant verdoppeln sich die Erscheinungsdinge: Sie sind Ursachen von Erscheinungen, aber auch Bündel oder Mengen von Erfahrbarem. Ihnen irgendwie zugordnet sind unerkennbare Sachen eines noumenalen oder intelligiblen, in Wahrheit spekulativ-holistischen Bereichs, den Kant unter den Titel »Ding an sich« stellt. Nach Hegels Urteil kommen Berkeley und Hume, sogar Kant und Fichte auf keine Weise zum Begri= als gemeinsamer Formung unserer gegenstandsartigen Weltbezugnahmen. Damit gelangen sie 345 k
636 345 k 346 Der subjektive Geist 423 gar nicht zum Geist des geschichtlichen Wir der Menschheit an und für sich. Sie betrachten nur den subjektiven Geist, diesen freilich auf generische Weise, so dass ihr Ich zu einem Wir wird, aber nur im distributiven Sinn, bestenfalls im Sinne eines Man. Sie unterstellen die sich zeigenden Formen des Bewusstseins als unmittelbar gegeben. Die wahre Konstitution transsubjektiver geistiger Formen wird damit übergangen. In Beziehung auf [den] Spinozismus ist dagegen zu bemerken, daß der Geist in dem Urteile, wodurch er sich als Ich, als freie Subjektivität gegen die Bestimmtheit konstituiert, aus der Substanz, und die Philosophie, indem ihr dies Urteil absolute Bestimmung des Geistes ist, aus dem Spinozismus heraustritt. (423) Während Kant den subjektivistischen Empirismus Humes in Richtung einer objektiven Erfahrung zu entwickeln versucht, ergänzt Hegel den holistischen Blick des Spinoza auf die ganze Welt durch eine realistische Phänomenologie des Ich als Logik der Gebrauchsweisen des Pronomens »ich« und der den jeweiligen Gebrauch kommentierenden Reflexionsbegri=e ›Subjekt‹, ›Person‹ und ›(leibliches) Individuum‹, das für den zugehörigen Leib steht. Spinoza gelangt so wenig wie die traditionelle Theologie zu einer angemessenen Analyse des Verhältnisses von Gott und Welt, Geist und Ich. Schon die Tatsache, dass ich mich im Prinzip von allen durch Imagination gegebenen Inhalten frei distanzieren kann, sprengt die Vorstellungswelt des Spinozismus. § 416 Das Ziel des Geistes als Bewußtseins ist, diese seine Erscheinung mit seinem Wesen identisch zu machen, die Gewißheit seiner selbst zur Wahrheit zu erheben. (423) Warum soll nun aber der Geist als Bewusstsein überhaupt ein Ziel haben? Was heißt es, »diese seine Erscheinung«, also das Bewusstsein der Einzelperson, »mit seinem Wesen«, also dem Geist und damit seinen begri=lichen Bedingungen, »identisch zu machen«? Schon die in den Fragen sichtbare Langform des Gedankens hilft uns weiter. Es geht ja die ganze Zeit darum, »die Gewißheit seiner selbst«, also der fühlenden Seele oder des Selbstgefühls, »zur Wahrheit zu erheben«, also durch eigene Kontrolle der Erfüllungen von
424 Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 637 Bedingungen ein wirkliches Wissen im Sinne eines bestmöglichen gewissenhaften Urteils zu begründen. Die Existenz, die er im Bewußtsein hat, hat darin ihre Endlichkeit, daß sie die formelle Beziehung auf sich, nur Gewißheit ist; (. . . ) (423) Der Geist existiert im Bewusstsein, und zwar eben dadurch, dass ich mein urteilendes Unterscheiden, Schließen, Erwarten und Handeln nach Maßgabe meines begri=lichen Allgemeinwissens kontrolliere. So mag ich z. B. unmittelbar denken, das Tier da hinten im Wald sei ein Reh. Bevor ich es schieße, sollte ich aber besser prüfen, ob es vielleicht nicht doch eine Kuh ist. Auf diese ganz einfache Art steht Bewusstsein gegen eine Doxa als bloß erst unmittelbare Meinung. Es steht damit ein gewissenhaftes Urteilen gegen Intuition und Gefühl subjektiver Gewissheit. (. . . ) weil das Objekt nur abstrakt als das Seinige bestimmt oder er in demselben nur in sich als abstraktes Ich reflektiert ist, so hat diese Existenz noch einen Inhalt, der nicht als der seinige ist. (423) Das Objekt, das zu sehen ich zunächst gewiss bin, ist nur erst als das abstrakt Meinige bestimmt. Es ist also prima facie nur Gegenstand ›meiner Welt‹. Wir kennen alle den Unterschied zu ›der Welt‹. Daher hat seine Existenz – als Kuh oder Reh – »noch einen Inhalt«, der keineswegs nur mein Inhalt ist. § 417 Die Stufen dieser Erhebung der Gewißheit zur Wahrheit sind, daß er a. Bewußtsein überhaupt ist, welches einen Gegenstand als solchen hat, b. Selbstbewußtsein, für welches Ich der Gegenstand ist, c. Einheit des Bewußtseins und Selbstbewußtseins, daß der Geist den Inhalt des Gegenstandes als sich selbst und sich selbst als an und für sich bestimmt anschaut; – Vernunft, der Begri= des Geistes. (424) Hegel unterscheidet drei Stufen im Aufstieg von einer bloß intuitiven Gewissheit durch Kontrolle des gemeinsamen Wissens der conscientia: Bewusstsein, Selbstbewusstsein und vernünftiges Urteilen aus einer möglichst gut verfassten Wir-Perspektive. a. Bewusstsein überhaupt ist wissensvermittelter Gegenstandsbezug. 346 346 346
638 Der subjektive Geist 424 b. Im Selbstbewusstsein wird das Ich, also meine Welt, zum Gegenstand – und der gemeinsamen Welt gegenübergestellt. c. »Einheit des Bewußtseins und Selbstbewußtseins« ist Hegels Formel für die Vernunft, die den Begri= sozusagen zum Subjekt des Urteilens macht, indem wir uns an den Normen begri=lich richtigen Urteilens, Schließens und Handelns orientieren. a. Das Bewußtsein als solches α) Das sinnliche Bewußtsein 346 346 k 346 f . k § 418 Das Bewußtsein ist zunächst das unmittelbare, seine Beziehung auf den Gegenstand daher die einfache unvermittelte Gewißheit desselben; der Gegenstand selbst ist daher ebenso als unmittelbarer, als seiender und in sich reflektierter, weiter als unmittelbar einzelner bestimmt; – sinnliches Bewußtsein. (424) Sinnliche Gewissheit ist ein zwar begri=lich, aber partiell noch unbewusst vermitteltes Proto-Bewusstsein. Ihre Unterscheidung der Dinge ist nur erst implizit, enaktiv im gefühlsbestimmten Reagieren oder empraktisch in Gewohnheiten eingelassen. Erst ›später‹ wird daraus eine artbestimmte Perzeption, also eine Apperzeption, präsentischer einzelner Gegenstände, wie z. B. der Kuh hier und des Rehs dort. In sich reflektiert sind die Gegenstände dennoch, da wir auch schon in der sinnlichen Gewissheit implizit auf Arten der Dinge Bezug nehmen und nicht etwa nur auf ein unbestimmtes ›Diesda‹ oder ›Dings‹ (frz. ›truc‹). Das Bewußtsein als Verhältnis enthält nur die dem abstrakten Ich oder formellen Denken angehörigen Kategorien, die ihm Bestimmungen des Objekts sind (§ 415). (424) Wenn ich mir einer präsentischen Sache sinnlich bewusst bin, beziehe ich mich nicht schon explizit auf mich, sondern bin nur Subjekt im Vollzug. In diesem Sinn bin ich zunächst bloß erst abstraktes Ich. Das gilt auch, wenn mein Bewusstseinsstrom als formelles Denken die Perzeption schon schematisch begleitet. So war auch schon der § 415 zu verstehen. Das sinnliche Bewußtsein weiß daher nur von diesem als einem
424 Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 639 Seienden, Etwas, existierenden Dinge, Einzelnem und so fort. Es erscheint als das reichste an Inhalt, ist aber das ärmste an Gedanken. Jene reiche Erfüllung machen die Gefühlsbestimmungen aus; sie sind der Sto= des Bewußtseins (§ 414), das Substantielle und Qualitative, das in der anthropologischen Sphäre die Seele ist und in sich findet. (424) In der bloß erst sinnlichen Gewissheit weiß ich noch nicht explizit, dass das, was ich da sehe, ein Reh und keine Kuh ist, selbst wenn ich mich so verhalte, als wäre es ein Reh. Den ›romantischen‹ Aberglauben des Empirismus und Kantianismus, dass der empfindende, sinnliche Zugang zur Welt in der ›Mannigfaltigkeit‹ von Sinnesdaten reich an Inhalt sei, kontert Hegel damit, dass es in den Gefühlsbestimmungen des bloßen Vollzugsseins noch gar keine Inhalte gibt, wenn kontrollierte Reflexionen noch fehlen. Die unmittelbaren Reaktionstendenzen auch im Bewusstseinsstrom des Subjekts liefern bloß erst den Sto= für das Bewusstsein – was schon oben im § 414 gesagt wurde. Diesen Sto= trennt die Reflexion der Seele in sich, Ich, von sich ab und gibt ihm zunächst die Bestimmung des Seins. – (424) Den Sto= meiner Empfindungen und Gefühle trenne ich in einer begri=lichen Reflexion auf die allgemein richtigen begri=lichen Artbestimmungen sozusagen von mir ab und stelle mein Ich gegen mein bloß erst unmittelbares Selbst – das damit, wie schon mehrfach gesagt, zunächst nur die Bestimmung des Seins im aktualen Lebensvollzug behält. Diese Form der Selbstdistanzierung ist ubiquitär. Sie betri=t nicht nur die unmittelbaren Empfindungen und Gefühle, sondern auch die relativ unmittelbaren Einfälle von verbalen Kommentaren und naheliegenden schematischen Schlüssen. Denn es bleibt selten oder nie bei unmittelbaren Verhaltensreaktionen auf Apperzeptionen oder auf gehörte Reden. Das volle Verstehen einer Rede ist höherstufig reflektiert. Das ist eine der wesentlichen Einsichten Hegels. Eine weitere ist, dass jeder metaphern- und ironiefreie, ›wörtliche‹ Umgang mit Sprache und Rede ähnlich defizitär ist wie unmittelbare Gefühlsreaktionen. Meine Rede von einem homo rationalis sentimentalis versucht, das Undialektische eines derartigen unmittelbaren ›Verstehens‹ zu benennen. Logisch gesehen besteht der Grundfehler darin, die Wörter und Schemata der Sprache, wie sie auch Computer beherrschen, nicht bloß 347 k
640 347 k 347 347 Der subjektive Geist 424 f. erst als Variable zu begreifen, die es allererst selbstbewusst zu belegen gilt, so wie die Gefühle allererst kontrolliert werden müssen. Freilich leben wir in einer Zeit, in der ganz o=enbar weder das Formale des üblichen ›Denkens‹ noch das teils rein Schematische, teils rein Akzidentelle des eigenen vermeintlich politisch korrekten Fühlens und Urteilens erkannt wird – was wohl auch die Ursache dafür ist, dass man nicht mehr versteht, was Dialektik ist und wie wichtig sie für eine volle Person ist. Die räumliche und zeitliche Einzelnheit, Hier und Jetzt, wie ich in der Phänomenologie des Geistes S. 25 =. den Gegenstand des sinnlichen Bewußtseins bestimmt habe, gehört eigentlich dem Anschauen an. Das Objekt ist hier zunächst nur nach dem Verhältnisse zu nehmen, welches es zu dem Bewußtsein hat, nämlich ein demselben Äußerliches, noch nicht als an ihm selbst Äußerliches oder als Außersichsein bestimmt zu sein. (424 f.) Die praktische Orientierung im Raum und die zeitliche Ordnung auch schon im Gebrauch der Demonstrativpronomen »hier« und »jetzt« gehören, wie Hegel sich hier partiell gegenüber der Phänomenologie des Geistes verbessert, »eigentlich dem Anschauen an«. Das heißt, wir dürfen noch nicht an die begri=lichen Reflexionsformen der Geometrie und Kinematik denken, in denen schon über räumlich Äußerliches an sich gesprochen wird und über eine allgemeine Zeitordnung weit jenseits von meinem Hier und Jetzt. § 419 Das Sinnliche als Etwas wird ein Anderes; die Reflexion des Etwas in sich, das Ding, hat viele Eigenschaften und als Einzelnes in seiner Unmittelbarkeit mannigfaltige Prädikate. (425) Durch die begleitende Kommentierung, von welcher Art der sinnlich zugängliche Gegenstand ist, wird dieser schon zu etwas Anderem. Man denke etwa an Situationen, in denen man sich beim Aufwachen fragt, was man gerade sieht, und es stellt sich heraus, dass es doch kein Lichtreflex ist, sondern eine Lampe. Ein Ding wie eine Lampe muss viele stabile Eigenschaften haben. Wenn die fehlen, ist es kein Ding, das ich sehe. Das viele Einzelne der Sinnlichkeit wird daher ein Breites, – eine
425 Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 641 Mannigfaltigkeit von Beziehungen, Reflexionsbestimmungen und Allgemeinheiten. – (425) Sinnlich zugänglich sind nur die Qualitäten, die als relationale Prädikate dem Ding zugesprochen werden: Die Lampe erscheint von hier aus so, von dort aus so. Für jedes Ding ist dabei über seine (möglichen) Artbestimmungen eine breite Mannigfaltigkeit von Normalbeziehungen, Reflexionsbestimmungen und allgemeine Folgen gesetzt. Dies sind logische Bestimmungen, durch das Denkende, d. i. hier durch das Ich gesetzt. Aber für dasselbe als erscheinend hat der Gegenstand sich so verändert. Das sinnliche Bewußtsein ist in dieser Bestimmung des Gegenstandes Wahrnehmen. (425) Wir unterscheiden im Sprechen und Denken zwischen dem Ding und seinen relationalen Qualitäten – die je von unserem Ort her ggf. sinnlich erfahren werden. Es ändert sich daher der Gegenstand der Rede, wenn ich von einer sinnlichen Gestalt zum Ding übergehe. Wahrnehmen heißt, Dinge nach ihren Arten apperzeptiv zu bestimmen, nicht einfach auf sogenannte Sinneseindrücke oder Impression zu reagieren. 347 β) Das Wahrnehmen § 420 Das Bewußtsein, das über die Sinnlichkeit hinausgegangen, will den Gegenstand in seiner Wahrheit nehmen, nicht als bloß unmittelbaren, sondern als vermittelten, in sich reflektierten und allgemeinen. Er ist somit eine Verbindung von sinnlichen und von erweiterten Gedankenbestimmungen konkreter Verhältnisse und Zusammenhänge. Damit ist die Identität des Bewußtseins mit dem Gegenstand nicht mehr die abstrakte der Gewißheit, sondern die bestimmte, ein Wissen. (425) Im Unterschied zur bloß erst impliziten Gewissheit nehme ich eine Sache erst dann bewusst wahr, wenn ich über ihre Art kontrolliert urteile, wobei die Wahrheitsbedingungen schon allgemein gesetzt sind, deren Erfüllung ich zu prüfen habe. Die nähere Stufe des Bewußtseins, auf welcher die Kantische Philosophie den Geist auffaßt, ist das Wahrnehmen, welches überhaupt 347 347 k
642 347 f . k 348 Der subjektive Geist 426 der Standpunkt unsers gewöhnlichen Bewußtseins und mehr oder weniger der Wissenschaften ist. (426) Kant hat im Grunde nur präsentische Wahrnehmungsurteile analysiert. Die gewöhnliche Vorstellung von Wahrheit bezieht sich auf solche Konstatierungen und Berichte. In den Wissenschaften geht es aber um ganz andere Wahrheiten. Es geht um ein Wissen über ein typisches Normalverhalten von Sachen einer bestimmten Art – sogar als kanonische Voraussetzung für artbestimmte empirische Aussagen. Es wird von sinnlichen Gewißheiten einzelner Apperzeptionen oder Beobachtungen ausgegangen, die dadurch zur Wahrheit erhoben werden sollen, daß sie in ihrer Beziehung betrachtet, über sie reflektiert, überhaupt daß sie nach bestimmten Kategorien zugleich zu etwas Notwendigem und Allgemeinem, zu Erfahrungen, werden. (426) Dass Kant »von sinnlichen Gewißheiten einzelner Apperzeptionen oder Beobachtungen« ausgeht, wäre nur dann kein Problem, wenn er eine ausreichende begri=liche Konstitution der Wahrnehmungsurteile liefern würde. Im abduktiven Schließen auf eine bestmögliche Bestimmung der Art des wahrgenommenen Gegenstands kommt gerade die reflektierende Urteilskraft aus Kants dritter Kritik zum Zuge. Dazu wird über mögliche Alternativen reflektiert und es wird entschieden, was konkret als bestmögliche Setzung anzuerkennen ist. § 421 Diese Verknüpfung des Einzelnen und Allgemeinen ist Vermischung, weil das Einzelne zum Grunde liegendes Sein und fest gegen das Allgemeine bleibt, auf welches es zugleich bezogen ist. Sie ist daher der vielseitige Widerspruch, – überhaupt der einzelnen Dinge der sinnlichen Apperzeption, die den Grund der allgemeinen Erfahrung ausmachen sollen, und der Allgemeinheit, die vielmehr das Wesen und der Grund sein soll, – der Einzelnheit, welche die Selbständigkeit[,] in ihrem konkreten Inhalte genommen, ausmacht, und der mannigfaltigen Eigenschaften, die vielmehr frei von diesem negativen Bande und von einander, selbständige allgemeine Materien sind (s. § 123 =.) usf. Es fällt hierin eigentlich der Widerspruch des Endlichen durch alle Formen der logischen Sphären, am konkretesten, insofern das Etwas als Objekt bestimmt ist (§ 194 =.). (426)
426 f. Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 643 Man wirft Hegel gern vor, er behaupte, wir müssten mit unaufgehobenen Widersprüchen leben. Wahr ist nur, dass es diese immer aufzuheben gilt, was aber nicht immer geht. Alles Einzelne können wir nur als Repräsentation von etwas Allgemeinen verstehen und behandeln. Das gilt sogar schon für Tiere. Die einzelnen Dinge der sinnlichen Apperzeption sollen dann zwar ihrerseits wiederum den Grund für allgemeines Erfahrungswissen ausmachen; aber sie werden schon in der Wahrnehmung nur als Vereinzelungen ihres Arttypus aufgefasst – was Hegel schon in der Wesenslogik gezeigt hatte. Das ist Hegels Verallgemeinerung der Einsicht Kants in die transzendentallogische Konstitution jedes Dings bzw. jeder Sache als Gegenstand der Rede, des Denkens und Urteilens und eben deswegen auch der Wahrnehmung. γ) Der Verstand § 422 Die nächste Wahrheit des Wahrnehmens ist, daß der Gegenstand vielmehr Erscheinung und seine Reflexion-in-sich ein dagegen für sich seiendes Inneres und Allgemeines ist. Das Bewußtsein dieses Gegenstandes ist der Verstand. – (426 f.) Mit der Unterscheidung zwischen der gegenständlichen und eben damit in ihrer Gattung und Art schon bestimmten Form der Rede über Dinge und Sachen und ihren Prädikaten und Qualitäten bemerken wir, dass der Zugang zur Sache selbst im Wahrnehmen über Relationen zwischen Erscheinungen vermittelt ist. Wir trennen damit die Relationen der Sachen auf sich von denen zu uns und zu Anderem ab oder versuchen das jedenfalls, soweit es geht. Es ist eine Illusion, dass es ganz ginge, zumal formal das reine Innere jedes Gegenstandes am Ende so ausdehnungsleer wie ein Punkt ist. Das ist deswegen so, weil wir formal so reden, als kämen dem Gegenstand alle Prädikate ›von außen‹ zu, obwohl in ihm schon die gesamten wesentlichen Eigenschaften oder Attribute seiner Gattung und Art präsuppositional stecken. – Wie dem auch sei, die Beherrschung der Formen des Gegenstand-Seins in begri=lich verfassten Bereichen (an sich) ist der Verstand. 348
644 348 348 f . 349 Der subjektive Geist 427 Jenes Innere ist einerseits die aufgehobene Mannigfaltigkeit des Sinnlichen und auf diese Weise die abstrakte Identität, aber andererseits enthält es deswegen die Mannigfaltigkeit auch, aber als innern einfachen Unterschied, welcher in dem Wechsel der Erscheinungen mit sich identisch bleibt. Dieser einfache Unterschied ist das Reich der Gesetze der Erscheinung, ihr ruhiges allgemeines Abbild. (427) Das Innere eines gegenständlichen ›Dinges‹ g ist immer die aufgehobene Mannigfaltigkeit seiner sinnlichen Qualitäten. Diese sind z. B. relationale Prädikate der Art »g wirkt auf mich hier so. . . auf dich dort so. . . «. Alle g -Kennzeichnungen der Art »das g , das so . . . auf mich wirkt«, zählen (soweit sie wahr sind) als äquivalente Zugänge zu g . Ungefähr das meint die Rede von der abstrakten Identität von g . Allerdings setzen wir voraus, dass wir beim »Wechsel der Erscheinungen« oder der Perspektiven einen relativ stabilen, wiedererkennbaren Gegenstandsbezug haben. Für die entsprechenden Arten von Dingen und Sache präsupponieren wir dazu ein gesamtes »Reich der Gesetze der Erscheinung«, also ein generisches, zeitallgemeines Wissen, wie sich Sachen dieser Art oder dieses Typs unter diesen und jenen Umständen relativ stabil als ›Ursachen‹ ihrer phänomenalen ›Wirkungen‹ zeigen. § 423 Das Gesetz, zunächst das Verhältnis allgemeiner, bleibender Bestimmungen, hat, insofern sein Unterschied der innere ist, seine Notwendigkeit an ihm selbst; die eine der Bestimmungen, als nicht äußerlich von der andern unterschieden, liegt unmittelbar selbst in der andern. Der innere Unterschied ist aber auf diese Weise, was er in Wahrheit ist, der Unterschied an ihm selbst, oder der Unterschied, der keiner ist. – (427) Wir denken zwar, die allgemeinen Wahrheiten und Gesetze für die Dingarten gälten rein für diese selbst, ohne dass unsere Setzungen und Formulierungen eine Rolle spielten. Doch das ist ein Irrtum. Hegels Formulierung ist leicht obskur, da ein bloßer »Unterschied an ihm selbst« ein Unterschied wäre, der keiner ist. Alle Unterschiede sind durch Unterscheidungen bestimmt, die reflexionslogisch als richtig vollzogen kommentiert werden. In dieser Formbestimmung überhaupt ist an sich das Bewußtsein,
427 Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 645 welches als solches die Selbständigkeit des Subjekts und Objekts gegeneinander enthält, verschwunden; Ich hat als urteilend einen Gegenstand, der nicht von ihm unterschieden ist, – sich selbst; – Selbstbewußtsein. (427) Der Aussage, dass eine Eigenschaft E = λx .φ(x ). von einem Gegenstand g gilt, gebe ich die ›pseudofregesche‹ Form `ich φ(g ). Die Formel ist so zu lesen: »Ich sage aus, dass E von g gilt«. Die Form des Selbsturteils wird bei Fichte durch die Formel »Ich = Ich« angedeutet. Ich schreibe dafür stenographisch: »`ich φ(ich)«, was man so zu lesen hat: »Ich sage deklarativ, dass φ von mir gilt«. Nicht ich allein, sondern wir bewerten, ob solche Aussagen und Selbstaussagen richtig bzw. wahr sind. Der orakelförmige Satz, nach dem die Wahrheit des Bewusstseins das Selbstbewusstsein ist, ergibt sich daraus, dass schon eine Aussage (nicht der Satz!) »Das Ding dort ist eine Krähe« die logische Form hat: »Ich sage, dass das dort eine Krähe ist« – was o=enbar immer auch eine Aussage über mich ist. Die moderne formale Logik abstrahiert von dieser Unterscheidung zwischen Satz und Aussage. Das zeigt sich auch daran, dass Frege sein Zeichen »`« faktisch nur benutzt, um zu markieren, dass eine Formel nach den Regeln beweisbar ist. Aussagen gibt es in diesem Kontext nicht eigentlich. Die Unterscheidung von Force und Content, also behauptender Kraft und Aussage-Inhalt, wie sie Michael Dummett erläutert, ist eine zwar ganz und gar passende Ergänzung, auch wenn sie Frege bestenfalls vage im Sinn hatte.80 Zunächst schien es so, als wäre mein Bewusstsein einer Sache g nur eine Beziehung von mir zu dem selbständigen Gegenstand g . Jetzt sehen wir, dass es sich, logisch gesehen, immer auch um eine Selbstaussage handelt. Ich spreche dabei also formal über einen Gegenstand, nämlich über mich und meine Welt. Dieser ist von mir in gewissem Sinn gar nicht unterschieden; andererseits können und müssen wir in allem Fürsichsein eines Gegenstandes unserer Bezugnahme die verschiedenen Gegebenheitsweisen so ähnlich 80 Michael Dummett, Frege. Philosophy of Language, London: Duckworth 1973, S. 83f, 305= . Ders., The Interpretation of Frege’s Philosophy, London: Duckworth 1981, S. 4 and 493 f.
646 Der subjektive Geist 427 f. unterscheiden, wie Frege zwischen Bedeutung und Sinn, Bezug und Repräsentation unterscheidet. b. Das Selbstbewußtsein 349 349 § 424 Die Wahrheit des Bewußtseins ist das Selbstbewußtsein, und dieses der Grund von jenem, so daß in der Existenz alles Bewußtsein eines andern Gegenstandes Selbstbewußtsein ist; Ich weiß von dem Gegenstande als dem Meinigen (er ist meine Vorstellung), Ich weiß daher darin von mir. – Der Ausdruck vom Selbstbewußtsein ist Ich = Ich; – abstrakte Freiheit, reine Idealität. – So ist es ohne Realität, denn es selbst, das Gegenstand seiner ist, ist nicht ein solcher, da kein Unterschied desselben und seiner vorhanden ist. (427 f.) Mein Interpretationsvorschlag bewährt sich am Text unmittelbar. Dass eine deklarative Aussage abstrakt und frei ist, liegt einfach an der Form ›saying so makes it so‹. Das ist gerade die Form einer so genannten ›intellektuellen Anschauung‹. Indem ich sage, dass ich dort einen Hasen sehe, sorge ich zwar noch nicht faktiv dafür, dass es ein Hase ist, aber dass ich die Aussage gemacht habe. In diesem Sinn steht Fichtes Formel »Ich = Ich« für die reine Idealität einer aktualisierten Vollzugsform – wie das »ich zweifle« oder »ich denke« des Descartes. § 425 Das abstrakte Selbstbewußtsein ist die erste Negation des Bewußtseins, daher auch behaftet mit einem äußerlichen Objekt, formell mit der Negation seiner; es ist somit zugleich die vorhergehende Stufe, Bewußtsein, und ist der Widerspruch seiner als Selbstbewußtseins und seiner als Bewußtseins. Indem letzteres und die Negation überhaupt im Ich = Ich an sich schon aufgehoben ist, ist es als diese Gewißheit seiner selbst gegen das Objekt der Trieb, das zu setzen, was es an sich ist, – d. i. dem abstrakten Wissen von sich Inhalt und Objektivität zu geben und umgekehrt sich von seiner Sinnlichkeit zu befreien, die gegebene Objektivität aufzuheben und mit sich identisch zu setzen; beides ist ein und dasselbe; – die Identifizierung seines Bewußtseins und Selbstbewußtseins. (428) Das rein abstrakte Selbstbewusstsein ist das »ich denke« des Des-
428 f. Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 647 cartes. In ihm wird von allem bestimmten Inhalt abgesehen. Das ergibt sich aus der Einklammerung allen besonderen Wissens in den cartesischen Meditationen. Hegel betont, dass trotz der Negation von jeder Bestimmtheit ein allgemeiner Bezug auf Welt und Geist bleibt. Außerdem sollen die Inhalte der Selbstaussagen nicht nur mir als wahr erscheinen, sondern wahr sein. Daraus ergibt sich der Trieb, »dem abstrakten Wissen von sich Inhalt und Objektivität zu geben«, also wahre Inhalte über mich und die Welt auszusagen. Die Befreiung von der Sinnlichkeit meint jetzt eigentlich immer die Befreiung von einem bloß erst gefühlsgetragenen Urteilen. Die gegebene Objektivität aufzuheben bedeutet die Verwandlung bloßer (Selbst-)Gewissheit in ein gewissenhafteres (Selbst-)Wissen. Sie besteht für Hegel in einer »Identifizierung seines Bewusstseins und Selbstbewusstseins«.81 α) Die Begierde § 426 Das Selbstbewußtsein in seiner Unmittelbarkeit ist Einzelnes und Begierde, – der Widerspruch seiner Abstraktion, welche objektiv sein soll, oder seiner Unmittelbarkeit, welche die Gestalt eines äußern Objekts hat und subjektiv sein soll. (428) Auch wenn nicht ganz klar ist, wie Hegel seine Gedanken hier führt, ist das unmittelbare Selbstbewusstsein des Einzelsubjekts in dem Sinn Befriedigung und Begierde, als zielgerichtetes Tun auf Befriedigung abzielt und eben damit begehrensgeleitet ist. Unmittelbare Urteile der Einzelsubjekte über die Erfüllung von Bedingungen zeigen sich ebenfalls in Befriedigungsgefühlen. Das Teleologische insgesamt ist schon in der Begri=slogik analysiert und dort, wie oben in der Naturphilosophie, als besondere Eigenschaft des animalischen Lebens erkannt worden. Für die aus dem Aufheben des Bewußtseins hervorgegangene Gewißheit seiner selbst ist das Objekt und für die Beziehung des Selbstbewußtseins auf das Objekt ist seine abstrakte Idealität ebenso als ein Nichtiges bestimmt. (428 f.) 81 Die hier nicht näher betrachteten ›Zusätze‹ etwa aus den Vorlesungsmitschriften bestätigen übrigens meine Lesart des Abschnitts. 350 350
648 Der subjektive Geist 429 In der Gegenüberstellung von mir als Subjekt im Vollzug und dem Objekt als Gegenstand meiner praktisch tätigen oder theoretisch etwas aussagenden Bezugnahme steht meine Selbstgewissheit dem bloß äußeren Objekt ebenso gegenüber wie dieses meinem Selbstgefühl. Das Wort »Nichtiges« verweist auf den Unterschied zwischen mir als meiner Welt und der Welt: Für die Objektivität einer Sache scheinen subjektive Urteile über sie irrelevant zu sein. Umgekehrt bleibt aber für das Subjekt ein Ding an sich ohne Erscheinung nichtig. Die abstrakte Idealität ist die Vollzugsform des Begehrens oder Aussagens. Im Wünschen oder Tun ›will‹ das Begehren, dass etwas wahr werde. Die Welt zeigt sich dem Subjekt direkt darin, dass ein Begehren gestillt wird. Andererseits bleibt die Befriedigung zunächst bloß erst subjektiv: Was immer das Subjekt befriedigt, erfüllt seine Begierde. Die besonderen Eigenschaften des Gegenstandes sind also der Begierde gleichgültig. Für sie sind sie nichtig. So ist es einem Tier in gewissem Sinn egal, wie sein Hunger gestillt wurde, wenn er nur irgendwie gestillt ist. Daher entsteht der Unterschied zwischen subjektiver Befriedigung und objektiver Erfüllung erst in der Kontrastierung von subjektiver und gemeinsamer Perspektive. 350 § 427 Das Selbstbewußtsein weiß sich daher an sich im Gegenstande, der in dieser Beziehung dem Triebe gemäß ist. In der Negation der beiden einseitigen Momente, als der eigenen Tätigkeit des Ich, wird für dasselbe diese Identität. Der Gegenstand kann dieser Tätigkeit keinen Widerstand leisten, als an sich und für das Selbstbewußtsein das Selbstlose; die Dialektik, welche seine Natur ist, sich aufzuheben, existiert hier als jene Tätigkeit des Ich. Das gegebene Objekt wird hierin ebenso subjektiv gesetzt, als die Subjektivität sich ihrer Einseitigkeit entäußert und sich objektiv wird. (429) Im Gefühl der Befriedigung bin ich mir empfindungsförmig gewiss, dass das Objekt irgendwie »dem Trieb gemäß ist«. Und doch kann ich mich dabei immer noch täuschen: Die gesehene Oase führt im Fall der Fata Morgana kein Wasser, das meinen Durst löschen könnte. Aus dieser Möglichkeit der Täuschung entwickelt Hegel die Unterscheidung zwischen Schein und Sein bzw. zwischen bloßer Erscheinung
Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 649 (für die äußeren Sinne) und einer realen Wirklichkeit bzw. Wahrheit, die keineswegs bloß subjektiv bleibt. Begierde und Befriedigung liefern Hegel sogar den Schlüssel zur Überwindung der Vorstellung von einer bloß abstrakten Korrespondenz an sich zwischen Urteil und Welt. Die ›Funktion‹ des Themas Begierde im Argumentationsgang besteht also in der Vermittlung zwischen bloß theoretischen oder abstrakten Aussagen bzw. äußeren Wahrnehmungen auf der einen Seite, realen und dabei immer schon praktischen Befriedigungen und Erfüllungen auf der anderen. Wolfram Gobschs Titelfrage »Warum nur Tiere denken können« ist daher ganz richtig,82 wenn man das, was sie suggeriert, so liest: Alles Denken präsupponiert das animalische Leben. Alle begri=lichen Erfüllungen setzen animalische Befriedigungen voraus. In der praktischen Stillung von Begierden sind gewisse objektive Erfüllungsbedingungen subjektiv fundiert. Wenigstens in ihnen kann ich mich nicht täuschen, wohl aber darin, ob die Befriedigung von der rechten Art ist. Man hat vielleicht nach einem Schlag auf den Bauch kein Hungergefühl mehr; satt ist man deswegen noch lange nicht. Insbesondere reicht die unmittelbare Befriedigung einer Begierde noch nicht per se über die Gegenwart hinaus. Sie reicht daher auch nicht unmittelbar dazu aus, die ›Wahrheit‹ objektiver Aussagen zu etablieren. Hegel baut die Erfüllungen komplexer Aussagen nicht einfach auf den Befriedigungen subjektiver Begierden auf. Er anerkennt aber, wie alle Pragmatisten nach ihm, die basale Bedeutung des subjektiven Lebens. § 428 Das Produkt dieses Prozesses ist, daß Ich sich mit sich selbst zusammenschließt und hiedurch für sich befriedigt, Wirkliches ist. Nach der äußerlichen Seite bleibt es in dieser Rückkehr zunächst als Einzelnes bestimmt und hat sich als solches erhalten, weil es sich auf das selbstlose Objekt nur negativ bezieht, dieses insofern nur aufgezehrt wird. Die Begierde ist so in ihrer Befriedigung überhaupt zerstörend, wie ihrem Inhalte nach selbstsüchtig, und da die Befriedi- 82 Wolfram Gobsch, Warum nur Tiere denken können, Dissertation Basel 2011. 350
650 Der subjektive Geist 429 gung nur im Einzelnen geschehen, dieses aber vorübergehend ist, so erzeugt sich in der Befriedigung wieder die Begierde. (429) In der Begierde beziehen wir uns auf die Objekte der Welt insofern negativ, als uns vornehmlich das Widerständige der Welt und ihrer Objekte auffällt. Ansonsten wechseln im Leben Sättigungen und das Entstehen neuer Begierden einander ab. 351 § 429 Aber das Selbstgefühl, das ihm [dem Ich, PS] in der Befriedigung wird, bleibt nach der innern Seite oder an sich nicht im abstrakten Fürsichsein oder nur seiner Einzelnheit, sondern als die Negation der Unmittelbarkeit und der Einzelnheit enthält das Resultat die Bestimmung der Allgemeinheit und der Identität des Selbstbewußtseins mit seinem Gegenstande. Das Urteil oder die Diremtion dieses Selbstbewußtseins ist das Bewußtsein eines freien Objekts, in welchem Ich das Wissen seiner als Ich hat, das aber auch noch außer ihm ist. (429 f.) Hier macht Hegel nun den Zusammenhang mit dem oben analysierten Selbstgefühl explizit. Die Erfüllung geht über die subjektive Seite der Befriedigung als Gefühl hinaus; sie wird zur objektiven Erfüllung von allgemeinen Bedingungen. Hegels Formeln sind Negation der Unmittelbarkeit und Identität des Selbstbewusstseins mit seinem Gegenstande. Das Selbstwissen unterscheidet sich in eben diesem Sinn von der bloß erst unmittelbaren Selbstgewissheit. Das alles sind nur Explikationen allgemein bekannter Formen. β) Das anerkennende Selbstbewußtsein 351 § 430 Es ist ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein, zunächst unmittelbar als ein Anderes für ein Anderes. Ich schaue in ihm als Ich mich selbst an, aber auch darin ein unmittelbar daseiendes, als Ich absolut gegen mich selbständiges anderes Objekt. Das Aufheben der Einzelnheit des Selbstbewußtseins war das erste Aufheben; es ist damit nur als besonderes bestimmt. – Dieser Widerspruch gibt den Trieb, sich als freies Selbst zu zeigen und für den Andern als solches da zu sein, – den Prozeß des Anerkennens. (430)
Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 651 Selbstbewusstsein als Selbstwissen über die Inhalte der bloßen Selbstgewissheit ist schon formal ein Wissen von mir über mein Selbst qua Selbstgefühl im momentanen Vollzug. Insofern steht das Selbstbewusstsein des Ich sozusagen dem Selbstbewusstsein des Selbst oder besser: der bloßen Selbstgewissheit gegenüber. In diesem Sinn ist die unmittelbare Selbstgewissheit ein anderes Bewusstsein als das des nachdenkenden und sich selbst prüfenden Ich. Ich bin also mein unmittelbares Selbstgefühl; aber als denkendes Ich kontrolliere ich seine Inhalte und beurteile die Geltungsansprüche über die Befriedigungsgefühle hinaus. Den Prozess des Anerkennens stellt Hegel in der metaphorischen Form einer Auseinandersetzung zwischen dem Selbst der unmittelbaren Selbstgewissheit bzw. des Selbstgefühls und dem Ich der denkenden Selbstkontrolle dar. Gerade auch Selbsturteile sind freie Unterscheidungen und können als solche unrichtig sein. Hiermit beginnt das Thema der Selbstkontrolle, der Selbstbeurteilung der Richtigkeit eines Urteils oder Selbsturteils. Diese Richtigkeit steht im Kontrast zu einer unmittelbaren Selbstgewissheit im Vollzug. Die con-scientia als Bewusstsein und Gewissen wird in der Selbstkontrolle zum Selbstbewusstsein. Die Frage liegt jetzt auf der Hand und wird entscheidend, wer hier Kontrolleur der Erfüllung der Normen des Richtigen ist, wer Normensetzer und wer Normenbefolger. Die Antwort ist an dieser Stelle allerdings noch o=en, obwohl ich schon auf sie vorgegri=en habe. Immerhin sollte klar sein, dass ich in einem Sinn das alles selbst bin, in einem anderen nicht. Denn sonst könnte bzw. müsste ich mich nicht selbst kontrollieren. Dabei besteht die Unmittelbarkeit des Vollzugs-Ich, wie wir gesehen haben, immer auch in meiner Leiblichkeit. § 431 Er ist ein Kampf ; denn Ich kann mich im Andern nicht als mich selbst wissen, insofern das Andere ein unmittelbares anderes Dasein für mich ist; Ich bin daher auf die Aufhebung dieser seiner Unmittelbarkeit gerichtet. Ebensosehr kann Ich nicht als Unmittelbares anerkannt werden, sondern nur insofern Ich an mir selbst die Unmittelbarkeit aufhebe und dadurch meiner Freiheit Dasein gebe. Aber diese Unmittelbarkeit ist zugleich die Leiblichkeit des Selbst- 351
652 Der subjektive Geist 430 bewußtseins, in welcher es als in seinem Zeichen und Werkzeug sein eignes Selbstgefühl sowie sein Sein für Andere und seine es mit ihnen vermittelnde Beziehung hat. (430) Hegel selbst betont die Unmittelbarkeit der Leiblichkeit der gefühlsförmigen Selbstgewissheit auf der Basis der Selbstgefühle der Befriedigung bzw. des Unbefriedigtseins im Begehren. Es scheint zwar so, als würde die Rede von einem »Sein für Andere« wirklich auf andere Personen Bezug nehmen. In Wahrheit aber ist das Selbstgefühl etwas Anderes als das selbstbewusste Selbsturteil. Erst über eine Art Aufhebung der Auseinandersetzung zwischen Selbstgefühl und reflektierender Selbstkontrolle gelangen wir zu einem vollen Selbstbewusstsein. 352 § 432 Der Kampf des Anerkennens geht also auf Leben und Tod; jedes der beiden Selbstbewußtsein bringt das Leben des Andern in Gefahr und begibt sich selbst darein, aber nur als in Gefahr, denn ebenso ist jedes auf die Erhaltung seines Lebens als des Daseins seiner Freiheit gerichtet. (431) In der Ausgabe der Phänomenologie des Geistes der Philosophischen Bibliothek Bd. 114 (1952) hatte Johannes Ho=meister den in der Tat ungrammatischen Singular in Ausdrücken der Art »jedes der beiden Selbstbewusstsein« an mehreren Stellen in ›Selbstbewusstseine‹ und ›Bewusstseine‹ umgewandelt.83 Doch Hegel scheint ganz o=enbar auf den grammatisch falschen Ausdrucksweisen zu bestehen, um zu signalisieren, dass von einem einzigen (Selbst-)Bewusstsein eines einzigen personalen Subjekts bzw. Individuums die Rede ist. Die Auseinandersetzung zwischen Selbstgefühl und Selbstwissen geht insofern »auf Leben und Tod«, um Sein oder Nichtsein, als die Inhalte der Selbstgewissheit bestätigt oder aber als falsch und nichtig erkannt werden können. Es sind also zwei Momente eines einzigen Selbstbewusstseins, die jeweils das Sein des anderen »in Gefahr« bringen. Man stelle sich dazu das Szenarium vor, dass ich mit dem Urteil 83 Vgl. dazu G. W. F. Hegel, Phänomenologie 2 1973, S. 113–116 (Fußnoten). des Geistes, Berlin: Ullstein
431 Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 653 »Ich weiß, was Hegel hier meint«, zufrieden bin. Mein Anspruch auf Wissen weiß aber, dass in diesem Modus die Deklaration oder Versicherung, die ich mit dem Ausdruck »ich weiß« artikuliere, nur Äußerung einer Selbstgewissheit ist. Mein Selbstzweifel bringt meine Selbstgewissheit in Gefahr. Umgekehrt steht mein Selbstzweifel in der Gefahr, rein formal zu sein. Dass jedes Moment »auf die Erhaltung seines Lebens als des Daseins seiner Freiheit gerichtet« ist, bedeutet in der Auslegung der Metapher, dass ich mir meine Selbstgewissheit von einem bloß formalen Zweifel nicht nehmen lasse. Andererseits lässt sich eine freie Selbstprüfung von meinem unmittelbaren Selbstgefühl nicht ›mundtot‹ machen. Der Tod des Einen, der den Widerspruch nach einer Seite auflöst, durch die abstrakte, daher rohe Negation der Unmittelbarkeit, ist so nach der wesentlichen Seite, dem Dasein des Anerkennens, welches darin zugleich aufgehoben wird, ein neuer Widerspruch, und der höhere als der erste. (431) Indem ich in meinem Beispiel meine Selbstgewissheit, Hegel zu verstehen, dadurch erschüttere, dass ich mich von anderen Lektürevorschlägen der hier zur Debatte stehenden Passagen beeindrucken lasse, könnte ich den Widerspruch nach einer Seite auflösen. Ich würde dann meine Selbstgewissheit nicht als Wissen anerkennen. Durch diese bloß »abstrakte, daher rohe Negation der Unmittelbarkeit« komme ich aber noch nicht wirklich weiter. Denn aus der bloßen Erschütterung der Gewissheit oder der Übernahme fremder Meinungen folgt noch kein besseres Wissen. Daher entsteht so »nach der wesentlichen Seite«, dem Inhalt, den es anzuerkennen gilt, nur erst ein neuer Widerspruch, wenn es nämlich um die Prüfung der neuen Meinung oder Gewissheit geht – etwa auch, dass die Deutung durch den Philosophen X oder ein neuer Einfall von mir besser als meine alten seien. Wir können jetzt noch einmal auf eine Passage im § 430 zurückblicken, die ich bisher unkommentiert gelassen habe: »Das Aufheben der Einzelnheit des Selbstbewußtseins war das erste Aufheben; es ist damit nur als besonderes bestimmt.« Gemeint ist, dass wir uns das Selbstbewusstsein keineswegs als punktförmige Entität vorstellen dürfen, sondern erstens als eine Mannigfaltigkeit von Momenten und zweitens aufgrund der Probleme der Kohärenz und der prinzipiellen Möglichkeit, oft auch Notwendigkeit, der Reflexion auf die Ergebnisse 352
654 Der subjektive Geist 431 früherer Reflexionen auf ewig in sich gespalten und zerrissen.84 Daher ist ein zerrissenes und geflicktes Selbstbewusstsein, anders als im Fall eines Strumpfes, weit besser als eine fabrikneue Selbstgewissheit. Hegels allbekannte Metapher wird erst so in ihrem Sinn klar. 352 § 433 Indem das Leben so wesentlich als die Freiheit ist, so endigt sich der Kampf zunächst als einseitige Negation mit der Ungleichheit, daß das Eine der Kämpfenden das Leben vorzieht, sich als einzelnes Selbstbewußtsein erhält, sein Anerkanntsein aber aufgibt, das Andere aber an seiner Beziehung auf sich selbst [ fest]hält und vom Ersten als dem Unterworfenen anerkannt wird: – das Verhältnis der Herrschaft und Knechtschaft. (431) Der Paragraph ist eine Art Übergang zu einer Weiterentwicklung des Themas – was sich auch wieder an Hegels Manierismus zeigt, den Titel für das ›neue‹ Thema am Schluss der Passage hinter einen Gedankenstrich zu setzen. In der Auseinandersetzung zwischen Selbstgewissheit und Selbstkontrolle steht die Gewissheit im Urteilen auf der Seite der Freiheit des Gefühls im Vollzug. Die Selbstkontrolle blickt dagegen sozusagen von außen, von einem allgemeinen Wissen oder gar schon einer idealisierten Wahrheit her, auf die Inhalte dieser Gewissheit – in Kritik an jedem bloßen Gefühlsentscheid. In einer inneren Auseinandersetzung um die Anerkennbarkeit von Inhalten stehen sich gewissermaßen zwei Gewissheiten im Urteilen gegenüber, die unmittelbare, gefühlsförmige, intuitive und die sich begri=lich auf ein Allgemeinwissen und eine Objektivität des Wahren berufende. Vor die Alternative gestellt zwischen subjektiver Willkür oder einem Leben unter Anerkennung der Herrschaft des Allgemeinen ist nicht nur der Slogan »Freiheit oder Tod!«, sondern auch »vernünftige Unterordnung!« eine mögliche Antwort. In Hegels groß angelegter 84 Ich verzichte hier darauf, »Reflektion« für das Nachdenken des reflectere animum in kritischer Selbstprüfung zu schreiben und von einer »Reflexion« zu unterscheiden, die traditionell für eine bloße Spiegelung steht.
431 Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 655 Analogie soll die Auseinandersetzung um Anerkennbarkeit von Inhalten dazu führen, dass die eine Seite, etwa mein unmittelbares Selbstgefühl, ihre Willkürfreiheit aufgibt und sich der neuen inhaltlichen Einsicht unterwirft. In der neuen Selbstgewissheit bliebe dann die Einheit des Selbstbewusstseins erhalten, nur würde der Inhalt der alten, bloß erst gefühligen, Intuition nicht anerkannt, sondern der des reflektierten (Selbst-)Wissens. Im praktischen Fall des Handelns wird das Verhältnis, um das es geht, deutlicher als im theoretischen Fall des Wissens. Hier steht nämlich ein Verhalten nach subjektiver Neigung, Intuition und Gefühl einem selbstbewussten und selbstbestimmten Handeln gegenüber, das Vorsatz, Absicht und erwartetes Ergebnis geprüft hat und zum Ergebnis gekommen ist, dass ich A tun soll und daher pro tanto A tun will, obwohl meine Bequemlichkeit dazu neigt, nicht-A zu tun. Hier ist der Kampf um Sein oder Nichtsein klarer: Entweder gewinnt die Neigung oder der freie Wille. Es sind zwei Arten der Freiheit, die hier in Konkurrenz zueinander stehen. Gewinnt die Neigung, geht der Wille unter – und in der üblichen Darstellung sagt man dann, dass das Tun unfrei war. Gewinnt aber der Wille, so wird der Inhalt der Neigung nicht anerkannt. Hegel wird dazu erläutern, dass das nur möglich ist, wenn die Antriebskräfte der Neigung und Gefühle, die allein die Verbindung zur Leiblichkeit halten, nicht einfach dem redenden Denken ›unterworfen‹, sondern auf gewisse Weise in dessen Dienst umgelenkt worden sind. Zunächst aber entsteht eine Art Verhältnis von Herrschaft des Denkens und der Knechtschaft des Gefühls oder Leiblichen, wie es die uralte Metapher vom Kampf der Geistseele um die Herrschaft auch über alle Neigungen immer schon artikuliert. Der Kampf des Anerkennens und die Unterwerfung unter einen Herrn ist die Erscheinung, in welcher das Zusammenleben der Menschen, als ein Beginnen der Staaten, hervorgegangen ist. Die Gewalt, welche in dieser Erscheinung Grund ist, ist darum nicht Grund des Rechts, obgleich das notwendige und berechtigte Moment im Übergange des Zustandes des in die Begierde und Einzelnheit versenkten Selbstbewußtseins in den Zustand des allgemeinen Selbstbewußtseins. Es ist der äußerliche oder erscheinende Anfang der Staaten, nicht ihr substantielles Prinzip. (431) 352 k
656 Der subjektive Geist 431 f. Hegel spricht hier nicht von einem Kampf um Anerkennung, sondern von einem Kampf des Anerkennens. Der Kommentar wendet dabei den Blick von der Anwendung der Metapher auf deren Urbild, und zwar in der Form der schon genannten Alternative »Freiheit oder Tod!«. In der »Unterwerfung unter einen Herrn« sehen wir nicht nur, dass Sklaven das Leben der Freiheit vorziehen, sondern auch, dass ein vernünftiges Zusammenleben von Menschen nicht ohne Anerkennung von Herrschaftsstrukturen möglich ist. Am Beginn der Staaten gibt es daher immer auch reale Gewalt. Für ihren Bestand bleibt Gewaltandrohung immer ein Moment. Das gilt noch in der modernen Strafjustiz. Die Struktur von Herrschaft und Knechtschaft bleibt aber auch in jeder anerkannten Unterordnung unter eine gemeinsame Vernunft erhalten. Gewaltandrohungen bis zur Gefährdung des Lebens sind aber nur »der äußerliche oder erscheinende Anfang der Staaten, nicht ihr substantielles Prinzip«. 352 352 f . § 434 Dies Verhältnis ist einerseits, da das Mittel der Herrschaft, der Knecht, in seinem Leben gleichfalls erhalten werden muß, Gemeinsamkeit des Bedürfnisses und der Sorge für dessen Befriedigung. (431 f.) In Staat und Gesellschaft – dem Urbild unserer Analogie – muss aber bei aller Unterordnung der ›Untertanen‹ (›subjects‹) unter die Herrschaft der Regierenden immer auch dafür gesorgt sein, dass eine gewisse freie Anerkennung der Hierarchie der Macht durch die vielen Subjekte auf hinreichend gute Weise nachhaltig erhalten wird. Die »Gemeinsamkeit des Bedürfnisses und der Sorge für dessen Befriedigung« samt einer ausreichenden ›demokratischen‹ Mitbestimmung, wie von heute her hinzuzufügen ist, ist Bedingung einer nachhaltigen sozialen Ordnung. An die Stelle der rohen Zerstörung des unmittelbaren Objekts tritt die Erwerbung, Erhaltung und Formier[ung] desselben als des Vermittelnden, worin die beiden Extreme der Selbständigkeit und Unselbständigkeit sich zusammenschließen; – die Form der Allgemeinheit in Befriedigung des Bedürfnisses ist ein daurendes
432 Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 657 Mittel und eine die Zukunft berücksichtigende und sichernde Vorsorge. (432) In Anwendung der Analogie der Beherrschung eines Knechtes, der auf einen Herrn zu hören hat (also nicht einfach hörig ist), geht es um die Beherrschung von momentanen Begierden, Neigungen und Gefühlen, auch Intuitionen und Gewissheiten. Sie sind Objekte kontrollierender Reflexion – und bleiben doch auch wesentlich angesichts der unaufhebbaren Subjektivität von allem Urteilen und Tun. Daher sagt Hegel in extrem dichter Weise, dass deren ›rohe Zerstörung‹ sinnlos wäre. Nötig ist eine Formierung, also eine Umformung aller Antriebe und Gewissheitsgefühle. Das präferierende Begehren und das Gefühl der Gewissheiten und Befriedigungen vermitteln nämlich nach wie vor zwischen Denken und Tun, Reden und Handeln. Hegel hat nun sowohl Urbild als auch Bild der Analogie im Blick, wenn er über eine »die Zukunft berücksichtigende und sichernde Vorsorge« spricht. Es geht hier also um die Di=erenz zwischen einem bloß durch präsentische Begierden gesteuerten mehr oder weniger bloß erst animalischen Leben und einem zukunftso=enen, auch vorsorgenden Dasein von Menschen. Animalisches Leben bleibt gebunden an den Augenblick, wie Nietzsche diesen reinen Gegenwartsbezug im Perzipieren und Begehren etwas dramatisch ausdrückt. Unser Interesse an einem instrumentellen Denken und planenden Handeln mit der damit ermöglichten besseren Daseinsvorsorge ist schon ein wesentlicher Grund, warum die unmittelbare Verfolgung bloß einzelner Begehrungen als nicht vernünftig einsehbar wird. Dass dabei das instrumentelle Denken und Handeln auf einem sittlichen und moralischen Denken und gemeinsamen Handeln aufruht, ist bei Hegel erst später Thema, passt aber zu allem, was gesagt wurde. Das Leben und Handeln in einer Gemeinschaft und im Staat beruht ja auf einer immer auch relativ freien Anerkennung von Herrschaft. Das macht den begri=lich fundamentalen Unterschied aus zwischen Herrschaft und reiner Gewalt, dann auch zwischen einem strukturell immer auch monarchischen Staat und einer Despotie: Der Bürger ist nie rein knechtischer Untertan, wohl aber subject, und das heißt, den Gesetzen und Erlassen unterworfen. Aber sogar ein Sklave oder Knecht anerkennt seinen
658 Der subjektive Geist 432 Herrn frei, wenn er seinen Befehlen nachkommt, also auf ihn hört und gehorcht. Das zu leugnen wäre nur Unverstand. Die Nachhaltigkeit des freien Willens steht also in beiden Fällen gegen eine bloß momentane Neigung und Willkür. Ab jetzt geht es darum, dass gerade in der ›Unterwerfung‹ unter allgemeine Geltungen die leiblich je präsenten Subjekte mit ihren Begierden und Befriedigungen im Sein und Tun bzw. die Staatsbürger mit ihren Interessen und Anerkennungen am Ende doch auch die Herren bleiben. Eine bloß verbale Herrschaft, ein bloß abstrakter Herrschaftsanspruch bliebe machtlos. Alle Entscheidungen und Entschlüsse brechen eine unendlich fortsetzbare Reflexion ab. In einem solchen Abbruch heben wir die Spannung zwischen ›Pflicht‹ und ›Neigung‹ bzw. Willkür so auf, dass ein gewisses Maß an Willkür immer zu tolerieren ist. Wer mit Kant alle Neigungen bekämpfen möchte, endet am Ende als entschlusslose schöne Seele reinen Geredes, eine Gefahr, die in unseren Medien heute massiv unterschätzt wird. 353 353 § 435 Zweitens nach dem Unterschiede hat der Herr in dem Knechte und dessen Dienste die Anschauung des Geltens seines einzelnen Fürsichseins; und zwar vermittelst der Aufhebung des unmittelbaren Fürsichseins, welche aber in einen Andern fällt. – (432) Das bloße Denken und Reden hätte keine Macht über das reale Tun ohne die Einflussnahme auf Entschlüsse durch die Antriebe des Gefühlslebens. Das einzelne Fürsichsein des personalen Individuums ist ja in allem seinem wirklichen Tun konkret leiblich. Die Aufhebung des unmittelbaren Fürsichseins des unmittelbaren Gefühls ist also in der Tat immer eine begrenzte Art der denkenden Selbstkontrollen. Dieser, der Knecht, aber arbeitet sich im Dienste des Herrn seinen Einzel- und Eigenwillen ab, hebt die innere Unmittelbarkeit der Begierde auf und macht in dieser Entäußerung und der Furcht des Herrn den Anfang der Weisheit, – den Übergang zum allgemeinen Selbstbewußtsein. (432) Die Furcht des Herrn ist in folgendem Sinn der Anfang der Weisheit: Die Unterwerfung des Selbst unter das Ich, des Gefühls unter das Denken, der momentanen Willkürfreiheit unter einen nachhaltig freien Willen, einer bloßen Gewissheit unter das Wissen und damit
Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 659 des Ich unter das Wir, des Einzelwillens unter die volonté générale besteht gerade darin, dass der allgemeine Inhalt, nicht die unmittelbare Intuition unser Überlegen, Urteilen, Entscheiden und Handeln leitet. Das analogische Pendant zum Knecht ist das leibliche Tun. Im Dienst des Herrn, der als Wille die Richtlinienkompetenz hat, ›arbeitet‹ der Knecht. Das heißt hier schlicht, dass sein Tun ein Handeln ist im Sinn eines tätigen Sorgens dafür, dass eine Absicht verwirklicht wird. Es ist damit nicht nur ein Verhalten gemäß meiner bloß akzidentellen und momentanen Neigung. So wie der Einzel- und Eigenwille in einer Gemeinschaft zur Teilnahme an einer kooperativen Handlung durch die Übernahme von Rollen und Aufgaben umzuformen ist, so hebt auch das bewusst willentliche Handeln die »innere Unmittelbarkeit der Begierde auf«. Dass dies der Übergang zum allgemeinen Selbstbewusstsein ist, ist jetzt wohl klar: Nachdem wir uns zu Personen gebildet haben, schieben uns gegenwärtige Begehrungen nicht mehr wie natürliche Motive so an, wie das noch Spinoza darstellt. Denn schon längerfristig zweckrational handeln kann jemand nur, wenn er seine unmittelbaren Begehrungen hemmen und umformen kann. Im Kampf des Anerkennens geht es also nicht um eine nur verbale, sondern um eine tätige Anerkennung der mir in gewissem Sinn gegenüberstehenden Normen des Richtigen, nicht etwa um eine in dieser Form ohnehin immer nur abstrakte Anerkennung eines zweiten oder dritten Menschen ›als Person‹. Im Falle des Urteilens geht es um den Übergang von einer bloßen Gewissheit zum Wissen, im Fall des Handelns um den Übergang von einer bloßen Begierde zum geplanten Handeln, aber dann auch wie zu zeigen sein wird, von bloß subjektiver Redlichkeit der Erfüllung der Bedingungen kantischer Moralität zur gewissenhaften Rechtschaffenheit in einer gemeinsam verfassten Sittlichkeit mit gemeinsamen, dabei selten einhelligen, ethischen Beurteilungen. Immer geht es um den Übergang von einer bloß unmittelbaren Befriedigung zu einer nachhaltigen Erfüllung. Die Aufhebung des Kampfes und die Versöhnung der beiden ›Parteien‹ oder Momente bestehen in der Einsicht, dass wir Leibwesen sind, welche durch Selbstformation von einem bloß individuellen zu einem allgemeinen Selbstbewusstsein übergehen können.
660 Der subjektive Geist 432 Wer also ist Kontrolleur des Richtigen? In einem Sinn bin ich es selbst, in einem anderen nicht. Denn ich müsste mich nicht selbst kontrollieren, wenn das unmittelbare Selbstgefühl wie im Fall der Befriedigung einer Begierde ausreichen würde. Andererseits bin ich es immer auch selbst, der ich mich in der con-scientia selbst kontrolliere, zumal auch die Urteile anderer Personen noch daraufhin zu überprüfen sind, ob sie die relevanten Erfüllungs- oder Geltungsbedingungen auch wirklich erfüllen, ob also wir als reflektierende Beurteiler, nicht bloß die Urteilenden selbst zufrieden sein können. Dabei sind die bloß erst theoretisch (verbal) anerkannten idealen (Selbst-)Verpflichtungen an das real Machbare und damit auch an unsere Leiblichkeit anzupassen. Es gibt kein Sollen über das Können hinaus. Die schöne Seele verbleibt dagegen im leeren Reden über Utopien. γ) Das allgemeine Selbstbewußtsein 353 § 436 Das allgemeine Selbstbewußtsein ist das a;rmative Wissen seiner selbst im andern Selbst, deren jedes als freie Einzelnheit absolute Selbständigkeit hat, aber, vermöge der Negation seiner Unmittelbarkeit oder Begierde, sich nicht vom Andern unterscheidet, [a]llgemeines [Selbstbewußtsein] und objektiv ist und die reelle Allgemeinheit als Gegenseitigkeit so hat, als es im freien Andern sich anerkannt weiß und dies weiß, insofern es das Andere anerkennt und es frei weiß. (432) Der Satz ist eine definitorische Erläuterung dessen, was es heißt, dass jemand in ausreichender Perfektion selbstbewusst ist. Dazu bedarf es eines tätig-a;rmativen Wissens um sich selbst als Leib- und Gefühlswesen und um die Beziehung dieses unmittelbaren Selbst der momentanen Gefühle und Begierden zum Ich des Denkens und Planens der Person. Die Person ist damit sozusagen das ›andere Selbst‹ des bloß momentanen Subjekts. Nur in logischen Reflexionen können wir Selbst und Ich, Leibseele und Geist als Momente voneinander unterscheiden. Das Wort »absolut« verweist gerade auf den Vollzug im Ganzen, das Wort »Selbständigkeit« auf die Spannung zu vorgegebenen Orientierungsformen des Tuns.
Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 661 Wenn im frei gewollten Handeln die Unmittelbarkeit der Begierde aufgehoben ist, unterscheidet sich das Wollen und das Begehren kaum mehr. Die Erfüllungen der Handlungspläne werden ohnehin immer durch Befriedigungsgefühle kontrolliert. Die Folge ist, dass mein Tun, wenn es einer von mir anerkannten Form oder Norm des guten Handelns widerspricht, zu widersprüchlichen Gefühlen führt: Ein Begehren mag befriedigt sein, aber indem die anerkannte Absicht es nicht ist, spüre ich das Unerfüllte dennoch. Die Folge ist, dass die Orientierung des Tuns und Lebens nur an momentanen Begierden schon wegen dieses Widerspruchs für ein personales Subjekt eine sichere Anleitung zum Unglücklichsein darstellt.85 In eben diesem Sinn schädigt sich ein rein begierdegeleitetes Verhalten selbst. Die gegenseitige Anerkennung der Momente Begierde und Absicht, Befriedigung und Erfüllung, Gewissheit und (wahres) Wissen samt der immer verbleibenden Spannung zwischen ihnen führt daher allein zu realer Selbstbestimmung. Es wäre ebenso falsch, nur seinen Neigungen zu folgen, wie diese immer radikal zu unterdrücken oder zu bekämpfen. Arbeit ist gehemmte Begierde. Handlung ist umgeformtes Triebverhalten. Das allgemeine Selbstbewusstsein steht damit in gewisser Analogie zu einer Gemeinschaft. Auch in ihr führt ein Tun, das sich nur an den akzidentellen Einzelbegehrungen der Einzelnen orientiert, mit einiger Sicherheit zum kollektiven Unglück. Das reelle Allgemeine der gegenseitigen Anerkennung bedeutet hier, dass man nicht nur die objektiven Erfüllungen, sondern auch die subjektiven Befriedigungen ernst nehmen muss – und umgekehrt. Freiheit ist daher weder nur die Freiheit des prinzipiellen Denkens oder idealen Redens mit sich selbst, wie die Stoa lehrte, noch die bloß pragmatisch-technische Verfolgung zufällig gesetzter Zwecke, wie man sie einem antiken Skeptizismus zuschreiben könnte. Schon das instrumentelle Denken und Handeln setzt nämlich allgemeines Wissen voraus. Das gilt noch mehr für ein Wissen von mir selbst. Es ist eine Beziehung von mir zu mir, welche »die reelle Allgemeinheit 85 Paul Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein (1983), München: Piper 2021.
662 353 k Der subjektive Geist 433 der Gegenseitigkeit« hat: Mein Wissen von mir muss so sein, dass ich so bin, wie das Wissen sagt. Ich bin zwar je das reale Sprechersubjekt, das formale Subjekt des Inhalts aber ist ein Man oder Wir. Wir beide, ich als das erkennende und anerkennende Selbst im Vollzug des Aussagens und ich als der erkannte oder anerkannte Inhalt der Aussagen, müssen sozusagen übereinstimmen. Im Handeln muss ich dazu die »Unmittelbarkeit der Begierde« bzw. der reinen Subjektivität einklammern, also wenigstens formal ›negieren‹. Das ist noch unabhängig von der konkreten Frage, ob das Begehren am Ende doch befriedigt werden darf. Dies allgemeine Widerscheinen des Selbstbewußtseins, der Begri=, der sich in seiner Objektivität als mit sich identische Subjektivität und darum allgemein weiß, ist die Form des Bewußtseins der Substanz jeder wesentlichen Geistigkeit, der Familie, des Vaterlandes, des Staats; sowie aller Tugenden, der Liebe, Freundschaft, Tapferkeit, der Ehre, des Ruhms. Aber dies Erscheinen des Substantiellen kann auch vom Substantiellen getrennt und für sich in gehaltleerer Ehre, eitlem Ruhm usf. festgehalten werden. (433) Während das individuelle Selbstbewusstsein sich die Formen des performativen Ich-Seins und des reflexiven Nachdenkens über mich bewusst zu machen hat, ist für das allgemeine Selbstbewusstsein die unser Leben tragende »Substanz jeder wesentlichen Geistigkeit« relevant, nämlich Familie, Vaterland, Staat. Hinzu kommen im Blick auf den Einzelnen, ganz parallel zu Platons Politeia, die entsprechenden ›Tugenden‹. Das Wort »Substanz« nennt hier, wie bei Hegel zumeist, die zweite Ousia als das stabile und nachhaltige Artwesen. Jede höhere Wertorientierung wie Liebe, Freundschaft oder Ehre kann aber auch nur zum Schein verfolgt werden. Wir wissen das aus Fällen geheuchelter Liebe und Freundschaft. Wir kennen auch eine Ruhmsucht, die sich um wahres Ehrgefühl nicht schert, zumal dieses immer auch das Risiko eingeht, von anderen nicht anerkannt zu werden. Im Fall der Tapferkeit wäre eine Tollkühnheit privativ, die sich weder um sich noch um andere kümmert. Ein Hasardeur ist nicht mutig oder tapfer.
433 Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 663 § 437 Diese Einheit des Bewußtseins und Selbstbewußtseins enthält zunächst die Einzelnen als ineinander scheinende. Aber ihr Unterschied ist in dieser Identität die ganz unbestimmte Verschiedenheit oder vielmehr ein Unterschied, der keiner ist. Ihre Wahrheit ist daher die an und für sich seiende Allgemeinheit und Objektivität des Selbstbewußtseins, – die Vernunft. (433) Die Einheit des (Begri=s des) Bewusstseins und des Selbstbewusstseins besteht darin, dass sie sich nur als Momente unterscheiden: Was wir als Bewusstsein ansprechen, enthält das gesamte ProtoBewusstsein der Wachheit und des Gewahrseins, der Gefühle und Selbstgefühle, Begehrungen und Befriedigungen, samt Versprachlichungen im reflektierenden Bewusstseinsstrom. Wenn wir über Selbstbewusstsein sprechen, meinen wir nicht nur das in allem Vollzug vorausgesetzte Ich als präsentisches Subjekt in seinem Sein. Wir meinen das personale Ich, das die Erfüllung anerkannter normativer Bedingungen kontrolliert. Dabei gibt es, wie gesehen, immer einen potentiell unendlichen Progress aufsteigender Reflexion. Wenn wir daher Hegel in den Kontext von Dieter Henrichs so genannten Konstellationen setzen wollten, so wäre das nur in entsprechender Gegnerschaft zu Fichte und zur Romantik möglich. Das gilt auch für Hölderlin. Es ist ganz irreführend zu glauben, von Hegel würde dessen Programm ausgearbeitet. Die Vernunft ist das Wahre als das Ganze. Das heißt immer auch: Es ist eine Ausweitung der Teilnehmer an der Reflexion über Geltungen nicht nur auf einzelne andere Personen, sondern potentiell auf die gesamte Menschheit nötig. Nicht zuletzt zur Vermeidung der Provinzialität eines bloßen Gruppenkonsenses oder des Man eines generischen Durchschnittsmenschen stellt man sich sozusagen einen Gott vor, der zwar gerade als Geist immer nur ›die Menschheit‹ in ihrer Vielstimmigkeit auf ideale Weise vertritt, aber eben damit auch Kants transzendentales Ich als bloß erst generisches personales Subjekt längst schon transzendiert. Die Vernunft als die Idee (§ 213) erscheint hier in der Bestimmung, daß der Gegensatz des Begri=s und der Realität überhaupt, deren Einheit sie ist, hier die nähere Form des für sich existierenden Be- 353 f . 354 k
664 Der subjektive Geist 433 gri=s, des Bewußtseins und des demselben gegenüber äußerlich vorhandenen Objektes gehabt hat. (433) Die Vernunft ist die Idee der vollen Erfüllung begri=licher Bedingungen wahren Urteilens und Schließens und guten Handelns. Der »Gegensatz des Begri=s und der Realität« wird als ausreichend gut aufgehoben gedacht. c. Die Vernunft 354 354 § 438 Die an und für sich seiende Wahrheit, welche die Vernunft ist, ist die einfache Identität der Subjektivität des Begri=s und seiner Objektivität und Allgemeinheit. (433) Abstrakt gesagt, sind Gott (theos) und Geist, als Einheit von Verstand und Vernunft (logos und nous), identisch, nämlich als »an und für sich seiende Wahrheit« und damit als »Identität der Subjektivität des Begri=s und seiner Objektivität und Allgemeinheit«. Es geht um die konkrete Erfüllung begri=licher Bedingungen in den Bewertungssphären zunächst des Wahren, dann aber auch des Guten und Perfekten, also des Schönen. Nach Hegel gehört das von Kant überschätzte Naturschöne nur erst zum Angenehmen – es sei denn, es ginge um das Schöne der Natur, für das wir Sorge tragen. Denn das Gute und Schöne bewertet in erster Linie die prāxis und poiēsis der Menschen, ihre Kunst (technē, ars) und ihre Selbstformung oder Perfektionierung im ethisch-ästhetischen, nicht im technischen Sinn. Die Allgemeinheit der Vernunft hat daher ebensosehr die Bedeutung des im Bewußtsein als solchem nur gegebenen, aber nun selbst allgemeinen, das Ich durchdringenden und befassenden Objekts, als des reinen Ich, der über das Objekt übergreifenden und es in sich befassenden reinen Form. (433 f.) Wir sprechen auch von der Vernunft der Einzelpersonen – und meinen damit ihr bestmögliches Urteilen, Schließen und Handeln.
434 Die Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein 665 § 439 Das Selbstbewußtsein so die Gewißheit, daß seine Bestimmungen ebensosehr gegenständlich, Bestimmungen des Wesens der Dinge, als seine eigenen Gedanken sind, ist die Vernunft, welche als diese Identität nicht nur die absolute Substanz, sondern die Wahrheit als Wissen ist. Denn sie hat hier zur eigentümlichen Bestimmtheit, zur immanenten Form den für sich selbst existierenden reinen Begri=, Ich, die Gewißheit seiner selbst als unendliche Allgemeinheit. – Diese wissende Wahrheit ist der Geist. (434) Gott bzw. der göttliche Geist ist seit der Antike ideal so vorgestellt, dass wir als personale Einzelsubjekte an dessen Wissen der Wahrheit trotz aller Mängel im Konkreten so gut teilhaben können wie eine geometrisch geformte Figur an einer geometrischen Idealform. Wir müssen dabei immer nur die Urteile über eine hinreichende Formerfüllung beachten. Der Geist ist also ideales Subjekt von allem Wissen; der Begri= ist das System idealer Erfüllungsbedingungen. Hegel glaubt also keineswegs, Gott oder der Geist, der Begri= oder die Idee täten allerlei Dinge in der Welt. Auch geometrische Formen tun nichts, selbst wenn sie – genauer; unsere Aussagen über sie – uns in unseren Orientierungen helfen. Der Grundgedanke in Kants Transzendentalphilosophie besteht, so kann man jetzt Hegels Argumentationsskizze in der Phänomenologie des Geistes der Enzyklopädie abschließen, darin, die Rede von einer Transzendenz als weltabgewandtes jenseitiges Endziel, wie wir es aus der mittelalterlichen Tradition kennen, umzuwandeln in eine transzendentale Formenanalyse. Analysiert werden dabei die dem je Einzelnen traditional vorgegebenen Voraussetzungen zunächst des Verstandes und dann auch theoretischer und praktischer Vernunft. Hegel erkennt dabei folgende Dialektik: Der Verstand hat sich den impliziten Normen und expliziten Regeln einer kompetenten Teilnahme an einer gemeinsam geprägten menschlichen Erfahrung selbständig unterzuordnen. Aber auch die praktische Vernunft ist nicht einfach autonom. Sie hat erstens darauf zu hören, was andere sagen und wollen, zweitens darauf, was in einem tradierten Ethos als funktionstüchtige Kooperationsform und Norm des Richtigen schon gegeben ist. Bei Hegel geht es dabei um eine noch radikalere Anerkennung der Endlichkeit und Immanenz unserer Erfahrungswelt als bei Kant. So 354
666 Der subjektive Geist 434 hat es z. B. keinen Sinn, von der Perspektivität und Subjektivität eines Geltungsanspruchs zu reden, ohne dass wir uns schon auf das Gemeinschaftsprojekt überindividuellen und transperspektivischen, also transsubjektiven Wissens beziehen. Eben darin liegt die höchst moderne Grundeinsicht Hegels: Objektivität ist weltinterne, immanente, aber eben immer schon begri=lich reflektierte Transsubjektivität. Die positive Bedeutung der subjektiven Wendung der Reflexion besteht darin, die Unaufhebbarkeit der Subjektivität des Einzelnen und der bloßen Intersubjektivität einer Menge übereinstimmender Leute ins Gedächtnis zu rufen. Nur im Einzelnen finden wir die Anbindung des Allgemeinen und Geistigen an die reale Welt. Das Problem ist, dass die Wendung zum einzelnen Subjekt und seiner Selbstreflexion selbst wieder Ursache für eine Mystifizierung des Geistigen werden kann. Das geschieht in jeder Mystifizierung der res cogitans, aber auch im Empirismus des empfindenden Ich und in der Hypostasierung der Leistungen des je einzelnen Gehirns. C. 355 Psychologie. Der Geist § 440 Der Geist hat sich zur Wahrheit der Seele und des Bewußtseins bestimmt, jener einfachen unmittelbaren Totalität und dieses Wissens, welches nun als unendliche Form von jenem Inhalte nicht beschränkt, nicht im Verhältnisse zu ihm als Gegenstand steht, sondern Wissen der substantiellen, weder subjektiven noch objektiven Totalität ist. Der Geist fängt daher nur von seinem eigenen Sein an und verhält sich nur zu seinen eigenen Bestimmungen. (434) Wir haben jetzt die Rede über den Geist als das wahre Ganze von Seele und Bewusstsein explizit gemacht und dabei zwischen seiner unendlichen, ›göttlichen‹ Idealform und seinen endlichen Instanziierungen in der Vernunft der einzelnen, individuellen Subjekte unterschieden. Der Unterschied betri=t das von anderen Autoren »absolut« statt »ideal« genannte Wissen eines Gottes auf der einen Seite, die realen Instanziierungen von Wissen auf der anderen. Anders als die übliche Vorstellung von Begri=en als prädikativen Aussonderungen in sortalen Klassen sind Begri=e artikulierte
Psychologie. Der Geist 667 Unterscheidungen von Arttypen mit materialbegri=lichen Normalfallinferenzen bzw. Defaulterwartungen eines Normalfallverhaltens. Wahrheit an sich besteht im allgemein richtigen Unterscheiden und Schließen, das aber dann wie alle Sätze über analoge Modellstrukturen je auf konkrete Bezugnahmen für sich in der Welt anzupassen ist. Dabei kann man leider nie fein säuberlich zwischen Ausdruck und Sache, Erscheinung und Wesen, auch Vorstellung und Darstellung bzw. Repräsentation und Präsentation unterscheiden. Daher ist wahres Wissen eine Angelegenheit der Subjekt- und der Objektebene zugleich. Formal können wir am Wissen oder im Geist die subjektiven und die objektiven Momente dennoch unterscheiden. In diesem Sinn fängt der Geist mit sich an »und verhält sich nur zu seinen eigenen Bestimmungen«. Unmittelbare Leser könnten daraus schließen wollen, dass Hegel ein absoluter Idealist vielleicht sogar im Sinne von George Berkeleys sei. Demzufolge wären alle einzelnen Dinge im Geist Gottes bzw. in der Supermonade aufgehoben und würden nicht selbständig existieren. Richtig ist aber nur, dass es keinen Bezug auf ein Ding oder eine Sache, auf Atome oder Materie gibt ohne die Vermittlung ›gesetzter‹ Artformen. Hegel sieht nämlich, dass in der Identitätsbestimmung jeder Sache längst schon ein artgemäßes prozessuales Verhältnis zu vielem anderen und dabei insbesondere auch zu dem von uns entworfenen idealen Wissen enthalten ist. Insbesondere aber kann man in diesem Holismus relationaler Bestimmung aller Sachen ihren Bezug zu uns und dann auch unseren Weltzugang nicht einfach ausklammern. Subjektive Aspekte des Relationalen zu uns lassen sich vom Objektiven der Relationen der Dinge unter sich gar nicht fein säuberlich trennen. Das ist eine der tiefsten empirismus- und damit idealismuskritischen Einsichten in Hegels robustem, aber eben holistischem und keineswegs metaphysischem Realismus. Er nennt ihn objektiven Idealismus, aber nur wegen der Idealität des Begri=s an sich und der Absolutheit aller subjektiven Vollzüge. In der Psychologie geht es nun aber nur um unseren je eigenen, endlichen, menschlichen Geist, die Geistseele als Einheit oder Ganzes der sensitiven Seele und des (Selbst-)Bewusstseins. Die Psychologie betrachtet daher die Vermögen oder allgemeinen Tätigkeitsweisen des Geistes als solchen, Anschauen, Vorstellen, Erinnern usf., Begierden usf., teils ohne den Inhalt, der nach der 355 k
668 Der subjektive Geist 434 f. Erscheinung sich im empirischen Vorstellen, auch im Denken wie in Begierde und Willen findet, teils ohne die Formen, in der Seele als Naturbestimmung, in dem Bewußtsein selbst als ein für sich vorhandener Gegenstand desselben zu sein. Dies ist jedoch nicht eine willkürliche Abstraktion; der Geist ist selbst dies, über die Natur und natürliche Bestimmtheit, wie über die Verwicklung mit einem äußerlichen Gegenstande, d. i. über das Materielle überhaupt erhoben zu sein; wie sein Begri= sich ergeben hat. Er hat jetzt nur dies zu tun, diesen Begri= seiner Freiheit zu realisieren, d. i. nur die Form der Unmittelbarkeit, mit der er wieder anfängt, aufzuheben. Der Inhalt, der zu Anschauungen erhoben wird, sind seine Empfindungen, wie seine Anschauungen [es sind], welche in Vorstellungen, und so fort Vorstellungen, die in Gedanken verändert werden usw. (434 f.) Die Psychologie als Wissenschaft von der Geistseele betrachtet die Vermögen des Anschauens, Vorstellens, Erinnerns, auch des Begehrens und Wollens usf. im Detail, während die Philosophie des Psychologischen sich die grundbegri=lichen Unterscheidungen zum Thema macht und dabei immer logisch-phänomenologisch vorgeht. Wenn die philosophische Reflexion von Inhalten absieht, geht es nicht darum, sich aller »Verwicklung mit einem äußerlichen Gegenstande« zu entziehen, sondern auf allgemeine Formen mit variablen besonderen Inhalten zu fokussieren. Mehr sagt der Absatz nicht. 355 § 441 Die Seele ist endlich, insofern sie unmittelbar oder von Natur bestimmt ist; das Bewußtsein, insofern es einen Gegenstand hat; der Geist, insofern er zwar nicht mehr einen Gegenstand, aber eine Bestimmtheit in seinem Wissen hat, nämlich durch seine Unmittelbarkeit und, was dasselbe ist, dadurch, daß er subjektiv oder als der Begri= ist. (435) Die Endlichkeit der Bewusstheit ergibt sich schon aus der Endlichkeit ihres Gegenstandsbezugs. Was Hegel unter dem Titel »Geist« thematisiert, ist, wie er später klar sagt, das Personsein des personalen Subjekts, vermittelt durch den Begri= und damit das allgemeine Wissen der Menschheit – das aber auch je nur auf die gegenwärtige Epoche beschränkt und damit ebenfalls endlich ist.
435 f. Psychologie. Der Geist 669 Und es ist gleichgültig, was als sein Begri= und was als dessen Realität bestimmt wird. (435) Es ist im Grunde gleichgültig, ob wir über den Begri= des Geistes oder generisch über seine Idee als Realität in ausreichend guten Instanziierungen sprechen. Die schlechthin unendliche, objektive Vernunft als sein Begri= gesetzt, so ist die Realität das Wissen oder die Intelligenz; oder das Wissen als der Begri= genommen, so ist dessen Realität diese Vernunft und die Realisierung des Wissens, sich dieselbe anzueignen. (435) In der Rede über die »schlechthin unendliche, objektive Vernunft« geht es um die Möglichkeiten, sich zu einem geistigen Wesen mit der Fähigkeit zu einem vernünftigen Urteilen und Handeln zu entwickeln, deren Unendlichkeit nicht zeitlich gemeint ist. Sie liegt vielmehr wesentlich in der Zeitallgemeinheit, wie sie nur Begri=e an sich aufgrund der Reproduzierbarkeit ihrer Formen in Präsentationen und Repräsentationen haben können. Hegel gebraucht die Wörter »ewig« und »unendlich« wie wir im Alltag für eine indefinite Vielheit. Eine Unendlichkeit im wörtlichen Sinn gibt es nur in der Mathematik. Daher ist auch die Frage sinnlos, ob das Weltall zeitlich und räumlich wirklich unendlich ist: Es ist nur indefinit groß. Die Endlichkeit des Geistes besteht daher darin, daß das Wissen das An- und Fürsichsein seiner Vernunft nicht erfaßt, oder ebensosehr, daß diese sich nicht zur vollen Manifestation im Wissen gebracht hat. (435 f.) Dass unser Geist endlich ist, liegt nicht an besonderen Schwächen des Wissens der Einzelsubjekte, wie Hegels Wortlaut suggerieren mag. Niemand kann je die ganze Wahrheit erfassen, weil wir alle hochgradig endlich in unserem Sein und Wissen sind. Kein konkretes Wissen erfasst daher »das An- und Fürsichsein seiner Vernunft«. Das heißt, wir wissen um die Möglichkeiten der Di=erenz zwischen einer gewissenhaft geprüften Deklaration der Form »ich weiß, dass p« und der Möglichkeit, dass p, aus anderer Warte betrachtet, sich ›nicht ganz‹ als wahr erweist. Mancher Wissensanspruch muss im Nachhinein unter Umständen auf ein subjektiv berechtigtes Überzeugtsein heruntergestuft werden. Dennoch wäre es falsch, alle Wissensansprüche zu einem bloßen Glauben zu erklären, wie das ein Skeptizist für notwendig hält. Denn das würde bedeuten, dass man keinen Unterschied 355 355 f . 356
670 356 Der subjektive Geist 436 mehr machen würde zwischen »ich weiß« und »ich glaube« bzw. »er weiß« und »er glaubt«. Kants Fehler ist ganz verwandt. Er meint, alle konkreten Erkenntnisansprüche gingen nur auf Erscheinungen. Man müsse daher einem Glauben an eine intelligible Hinterwelt des Dings an sich Platz machen. Doch damit wird eine angeblich von uns unerkennbare Wahrheit nicht anders als in naiven Theologien hypostasiert. Kant sieht nicht, dass jede so genannte absolute Wahrheit nur unser Ideal ist, das wir zu Zwecken der Reflexion auf die Formen des Wissens und des Wahren sprachlich entwerfen und kommentieren. Die Vernunft ist zugleich nur insofern die unendliche, als sie die absolute Freiheit ist, daher sich ihrem Wissen voraussetzt und sich dadurch verendlicht und die ewige Bewegung ist, diese Unmittelbarkeit aufzuheben, sich selbst zu begreifen und Wissen der Vernunft zu sein. (436) Wenn wir sagen, dass der Geist ewig und die Vernunft unendlich sei, so wollen wir, wie Hegel jetzt präzisiert, damit nur hervorheben, dass es sich um Vollzugsformen handelt, die wir beliebig instanziieren können. Das Stichwort »absolut« verweist im rechten Verständnis und Gebrauch immer auf instanziierte Vollzugsformen, also Ideen, nicht, wie man üblicherweise meint, auf die von uns formal verfassten Ideale des Begri=s an sich wie in einer mathematisierten Geometrie oder einem ausgemalten Himmel, den man der realen Welt gegenüberstellt. Das Wort »Freiheit« signalisiert nun gerade die freie Aktualisierung geistiger bzw. begri=licher Formen in angemessenen Margen relevanter Erfüllung. Die idealen Bedingungen werden dabei natürlich ›verendlicht‹. Diese ›Entidealisierung‹ spricht die Di=erenz zwischen dem Begri= an sich und seinen Realisierungen an. In der zweiten Hälfte der Passage dreht Hegel die Blickrichtung um. Denn nur in der Teilnahme am gemeinsamen geistigen Leben des verständigen Denkens als Beherrschung gelernter Schemata oder Defaultregeln und des vernünftigen Denkens als dialektischer Prüfung konkreter Anwendbarkeiten hebe ich die Unmittelbarkeit meines bloß erst gewohnheitsförmigen Seins und Verhaltens auf. Ich beginne so, mich »selbst zu begreifen« und dabei selbstbewusstes »Wissen der Vernunft zu sein«.
436 Psychologie. Der Geist 671 § 442 Das Fortschreiten des Geistes ist Entwicklung, insofern seine Existenz, das Wissen, in sich selbst das an und für sich Bestimmtsein, d. i. das Vernünftige zum Gehalte und Zweck hat, also die Tätigkeit des Übersetzens rein nur der formelle Übergang in die Manifestation und darin Rückkehr in sich ist. (436) Häufig spricht Hegel gleichzeitig über je meine und je unsere Entwicklung des Geistes, also über die ›Ontogenese‹ der Geistigkeit des einzelnen Subjekts in Bildung und Selbstbildung und die ›Phylogenese‹ im Fortschreiten von allgemeiner Forschung und Wissenschaft bzw. von allen anderen institutionellen Arbeiten am Wissen und am Begri=. Bei Kant ist die Anwendung begri=lichen Wissens nach bestimmender Urteilskraft rein formell, also schematisch. Hegels Dialektik besteht im Grunde darin, dass wir jede Prima-facie-Bestimmung einer Sache immer noch einmal der Kontrolle reflektierender Urteilskraft unterwerfen können und oft auch müssen. Hegel spricht etwas blumig von einer »Rückkehr in sich«. Gemeint ist die Suche nach einem Begri=, der u. U. genauer oder besser ist als der, von dem wir zunächst ausgegangen sind. Das Tier erweist sich dann vielleicht als Kuh, nicht als Reh, das Tun als (moralische) Selbsttäuschung, obwohl der Akteur es zunächst ehrlich für richtig hielt, usf. Insofern das Wissen mit seiner ersten Bestimmtheit behaftet, nur erst abstrakt oder formell ist, ist das Ziel des Geistes, die objektive Erfüllung und damit zugleich die Freiheit seines Wissens hervorzubringen. (436) Der obskure Satz sagt wohl nur, dass rein subsumierende Anwendungen begri=lichen Wissens schematisch sind, so dass Vernunft immer noch eine freie Prüfung objektiver Erfüllungen verlangt, zumal alles konkrete Wissen in seiner immer bloß generischen Richtigkeit und damit intrinsischen Fallibilität zu begreifen ist. Es ist hiebei nicht an die mit der anthropologischen zusammenhängende Entwicklung des Individuums zu denken, nach welcher die Vermögen und Kräfte als nacheinander hervortretend und in der Existenz sich äußernd betrachtet werden, – ein Fortgang, auf dessen Erkenntnis eine Zeitlang (von der Condillacschen Philosophie) ein großer Wert gelegt worden ist, als ob solches vermeintliches natürli- 356 356 356 k
672 356 f . k Der subjektive Geist 436 ches Hervorgehen das Entstehen dieser Vermögen aufstellen und dieselben erklären sollte. (436) Bei der Entwicklung von Begri=, Wissen und Geist, wie sie in der Philosophie thematisch wird, ist nicht an eine anthropologisch-ethnologische Entwicklung der Völkerpsychologie, der Sprachen und dann auch der Individuen zu denken, wie sie von Étienne Bonnot de Condillac über James George Frazer und Sigmund Freud bis zu Wilhelm Wundt führt. Solche genealogisch-erzählenden Erklärungen gehören in ein anderes Genre. Es ist hierin die Richtung nicht zu verkennen, die mannigfaltigen Tätigkeitsweisen des Geistes bei der Einheit desselben begreiflich zu machen und einen Zusammenhang der Notwendigkeit aufzuzeigen. Allein die dabei gebrauchten Kategorien sind überhaupt dürftiger Art. Vornehmlich ist die herrschende Bestimmung, daß das Sinnliche zwar mit Recht als das Erste, als anfangende Grundlage genommen wird, aber daß von diesem Ausgangspunkte die weitern Bestimmungen nur auf a;rmative Weise hervorgehend erscheinen und das Negative der Tätigkeit des Geistes, wodurch jener Sto= vergeistigt und als Sinnliches aufgehoben wird, verkannt und übersehen ist. Das Sinnliche ist in jener Stellung nicht bloß das empirische Erste, sondern bleibt so, daß es die wahrhaft substantielle Grundlage sein solle. (436 f.) Hegel erklärt, er habe nichts gegen die Versuche, die ganz unterschiedlichen Teilkompetenzen geistigen Vermögens begreiflich zu machen und konkrete notwendige Bedingungen wie in einer hypothetisch rekonstruierten evolutionären Anthropologie auf der Basis der Beobachtungen einer pädagogischen Entwicklungspsychologie und vergleichenden Ethnologie aufzuzeigen. Aber das dabei bis damals Geleistete hat ihn nicht wirklich überzeugt. Er hebt insbesondere den Mangel an Klarheit der gebrauchten logischen Kategorien hervor. Man sagt etwa im Empirismus, dass man alles aus sinnlicher Erfahrung lerne. Das ist zwar irgendwie wahr, aber auch irgendwie falsch. Lernen über Sätze ist kein Lernen aus sinnlicher Erfahrung. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Lernen von Tieren und Menschen geht verloren, wenn man vage mit dem Wort »empirisch« hantiert. Hegels Rede von einer a;rmativen Weise des Hervorgehens meint gerade, dass im Empirismus etwa von Condillac oder Locke nur im
Psychologie. Der Geist 673 Modus der Behauptung erzählt und aufgezählt wird, was die Menschen so alles lernen und dann können. Er selbst bringt dagegen »das Negative der Tätigkeit des Geistes« in Stellung. Gemeint ist erstens die Einsicht in die fundamentale Rolle gemeinsamen Unterscheidens und Nichtunterscheidens, also Identifizierens, wie sie aller begri=lichen Erschließung einer gemeinsamen Welt zugrunde liegen, zweitens die Form der Reflexion. Das Unterscheiden als negatio und der Verzicht auf mögliche Unterscheidungen als Negation der Negation ermöglichen allererst ein Aussagen über etwas, erst recht über Sachen, die nicht präsent sind, sondern durch symbolische Repräsentationen vergegenwärtigt werden müssen. Das wiederum scha=t erst einen Zugang zu Möglichkeiten, Zukünften und Vergangenheiten. Nur so wird ein empirischer Sto= ›vergeistigt‹. Obwohl schon Locke und Condillac, nicht erst die ›Sprachphilosophen‹ Hamann, Herder und Humboldt, auf die Sprache als besonderes Kommunikationsmedium achten, wird das Begri=liche und seine Form »verkannt und übersehen«. Das Problem liegt an der Di=erenz zwischen der Sprache (langage) und den Sprachen (langues). Es gibt immer verschiedene Ausdrucksformen des gleichen Inhalts. Daher erreichen die bloß historischen und philologischen Betrachtungen der Einzel- oder Nationalsprachen und sprachvergleichende Ethnologien sozusagen nur die Erscheinungen. Die Inhalte sprachlich vermittelten Wissens im Unterscheiden und Begri=sverstehen sind am Ende des Tages weltweit universal. Es lässt sich alles in alle Sprachen übersetzen. Im Extremfall muss man dazu die Sprachen syntaktosemantisch oder morphologisch erweitern. Im Laufe der Geschichte ist das mit allen Sprachen geschehen. Die Di=erenzen der Einzelsprachen sind daher für die immer groben Inhaltsäquivalenzen im gemeinsamen Unterscheiden so wenig relevant wie die Unterschiede der einzelnen Sprecher. Hegels Begri= an sich ist am Ende dasselbe wie Sprache an sich. Man muss dazu nur die gesamte logische Semantik der allgemeinen Formen der Weltbezugnahme zu den Konfigurationen der Ausdrucksformen hinzunehmen. Dialektik ist das Gesamt der Formen kommunikativen Handelns in den Instanziierungen von Sprache im Sprechen. Dialektik gehört da-
674 357 k Der subjektive Geist 437 mit bei Hegel zum Realbegri=, also zur Idee vernünftigen Begreifens und Kooperierens. Erst mit dieser Übersetzung der terminologischen Titel und zugehörigen Identifikationen und Unterscheidungen von Teilthemen (wie z. B. Sprecherabsichten, Metaphern und Formen ihres angemessenen Verstehens) kann man begreifen, wie der Begri= bei Hegel als allgemeine Praxis des Gebrauchs von Ausdrucksformen mit Syntax und Semantik, die Idee aber und ihre Dialektik mit der Pragmatik und den Sprechhandlungsanalysen der neueren Sprachphilosophie zusammenhängen. Ebenso wenn die Tätigkeiten des Geistes nur als Äußerungen, Kräfte überhaupt, etwa mit der Bestimmung von Nützlichkeit, d. h. als zweckmäßig für irgendein anderes Interesse der Intelligenz oder des Gemüts betrachtet werden, so ist kein Endzweck vorhanden. Dieser kann nur der Begri= selbst sein und die Tätigkeit des Begri=s nur ihn selbst zum Zwecke haben, die Form der Unmittelbarkeit oder der Subjektivität aufzuheben, sich zu erreichen und zu fassen, sich zu sich selbst zu befreien. Auf diese Weise sind die sogenannten Vermögen des Geistes in ihrer Unterschiedenheit nur als Stufen dieser Befreiung zu betrachten. (437) Theorien, welche über geistige Vermögen der einzelnen Individuen sprechen, sind sozusagen immer viel zu schnell fertig. Sie erhellen nichts wirklich. Man kann nämlich für jedes Geschehen oder jede Äußerung rein verbal eine Fähigkeit, Kraft oder Disposition erfinden, die sich gerade so äußert, wie sie sich äußert – nach dem Muster von Molières vis dormitiva: Man schläft ein, weil die ›Schlafkraft‹ einen dazu bringt. Man spricht verständlich und versteht Inhalte, weil man sprechen und verstehen kann und diese Kompetenz aktualisiert. Ganze Bibliotheken von Büchern und Texten kommen über derartige ›Erklärungen‹ nicht hinaus. Auf analoge Weise naiv sind Erklärungen, die zu allem, was es in der geistigen Welt gibt, aber auch schon zu allen Formen des Lebens, auf deren ›Nützlichkeit‹ abstellen. Doch der ›Nutzen‹ z. B. des Sto=wechsels oder dann auch eines vorplanenden Verstandes erklärt weder, was er ist, noch, wie er in die Welt kommt. Das soll nicht heißen, dass es gar keine sinnvollen Reden über Kräfte, Dispositionen und Erklärungen durch Nützlichkeiten gäbe. Es ist aber die Gefahr
437 Psychologie. Der Geist 675 der leeren oder falschen Anwendung dieser Kategorien zu erkennen und zu vermeiden. Was meint nun aber die obskure Rede davon, dass nur der Begri= selbst Endzweck sein könne »und die Tätigkeit des Begri=s nur ihn selbst zum Zwecke haben, die Form der Unmittelbarkeit oder der Subjektivität aufzuheben, sich zu erreichen und zu fassen, sich zu sich selbst zu befreien«? Zeigt der Satz nicht etwa, dass Hegel doch an ein geradezu göttliches Tun des Begri=s glaubt? – Diese Lesart passt absolut nicht dazu, dass Hegel sofort zur Gliederung einer philosophischen Psychologie übergeht, deren besonderes Interesse er explizit nennt: Die unterschiedlichen »Vermögen des Geistes«, also eines personalen Subjekts, sind dort »Stufen« einer »Befreiung« zu sich. Es geht also weiterhin darum, zu begreifen, wie es möglich ist, dass wir Menschen welto=ene Wesen sind, die etwas wissen, was weit über das bloße enaktive Unterscheiden von präsentischen Sachen hinausreicht. Hegels dunkler Satz liest sich jetzt so: Handeln ist im Einzelfall Erfüllung selbstgesetzter oder anerkannter begri=licher Bedingungen und eben so Verfolgung eines endlichen Zwecks. Hegels Formel »Tätigkeit des Begri=s« steht dann aber wohl nicht nur für die rechte Anwendung von Sprache im besonderen Einzelfall, sondern auch für die Entwicklung von Sprache im Allgemeinen. Unsere Teilnahme an einer solchen Entwicklung von allgemein lehrbarem Wissen hat daher den Begri=, die Verbesserung von Sprache, als indefiniten und unendlichen Zweck. Es ist dabei immer »die Form der Unmittelbarkeit oder der Subjektivität« im Urteilen transsubjektiv aufzuheben. Mein bloßes enaktives Perzipieren oder schon empraktisches Wahrnehmen zu vertiefen und ein bloßes Begehren zu hemmen, um frei zu urteilen, frei etwas zu wollen und handelnd erreichen zu können, bedeutet gerade, mich als Subjekt (der bloßen Präsenz) zu mir selbst als Person zu befreien. Person bin ich als paradigmatisches Mitglied der Personengemeinschaft. Und dies ist allein für die vernünftige Betrachtungsweise des Geistes und seiner verschiedenen Tätigkeiten zu halten. (437) Der Satz betont nur das besondere Vernunftinteresse in der philosophischen Reflexion auf die verschiedenen geistigen Tätigkeiten und 357 k
676 Der subjektive Geist 437 Fähigkeiten, wobei jetzt schon klar ist, dass es um uns geht, nicht um einen transzendenten Gott. 357 § 443 Wie das Bewußtsein zu seinem Gegenstande die vorhergehende Stufe, die natürliche Seele hat (§ 413), so hat oder macht vielmehr der Geist das Bewußtsein zu seinem Gegenstande; d. i. indem dieses nur an sich die Identität des Ich mit seinem Andern ist (§ 415), so setzt sie der Geist für sich, daß nun Er sie wisse, diese konkrete Einheit. (437) Das »Bewußtsein« war als Titel für den Bereich mitwissender Reflexion und mitdenkender Kontrolle gefühlsförmiger Intuitionen im Erkennen und enaktiver Begehrungen im Wollen erläutert worden. In diesem Sinn ist die ›animalische‹ oder natürliche Seele sensitiver Reaktionen, besonders aber des (Selbst-)Gewahrseins und der (Selbst-) Aufmerksamkeit, bloß erst Vorstufe der conscientia (syneidesis, synderesis) und sogar ihr ›Gegenstand‹. Als geistige Wesen (mit nous oder intellectus) reflektieren wir auf das selbst zunächst nur empraktische Bewusstsein und machen es so zu unserem Gegenstand. Von Fichtes viel zu einfachem und formalem Modell der Selbstvergegenständlichung des Ich in selbstbezüglichen Aussagen der Form »Ich bin von der Form E « oder auch »Ich spreche mir die Eigenschaft E zu« unterscheidet sich Hegels Hervorhebung der potentiell unendlichen und dabei jeweils dreigliedrigen Stufungen in Selbstbezugnahmen so: 1. Basis ist immer ein enaktives und präsentisch-intuitives Gefühlsleben. 2. Es folgt ein empraktisches, aber schon Begri=e repräsentierendes (Selbst-)Bewusstsein. 3. Am Ende, sozusagen ganz oben, steht der Geist als Streben nach Allgemeinheit des Wahren im Wissen und des Guten im Handeln. 4. Dieses ist aber immer notwendigerweise im subjektiven Gefühl und Bewusstsein fundiert: Niemand kann aus seiner Haut heraus. So viel bleibt an der Monadologie wahr und an den metaphorischen Vorstellungen eines unmittelbaren Perspektivenwechsels etwa in einem wörtlich verstandenen Mitfühlen oder Mitwissen immer falsch.
Psychologie. Der Geist 677 5. Es geht ›dem Geist‹, also der vollen Person, immer nur darum, die allzu subjektive und regionale Perspektive unmittelbaren Vollzugs, so gut es geht, zu transzendieren. Das geschieht für das Wissen und Erkennen im theoretischen Denken, für das Handeln in der praktischen Vernunft. 6. Ohne ein wirklich schon gemeinsames Ethos, also die selten recht verstandene Sittlichkeit, bleibt jede Moral nur erst autonomistisch und damit selbstgerecht. 7. Theoretische und praktische Vernunft gibt es nicht nur wie bei Kant und seinen Nachfolgern bloß aus der Sicht des Ich, sondern des Wir, auch wenn alle Formen eines Gemeinwissens und Gemeinwillens angesichts der Vielstimmigkeit des Wir prekär sind. Ein bloß generisches Bewusstsein und Selbstbewusstsein des Ich ist nur erst »an sich die Identität des Ich mit seinem Andern«. Das heißt, in einem unmittelbaren Selbstbewusstsein und in einer bloß erst ›autonomen‹ moralischen Gesinnung orientiere ich mich nur erst subjektiv an dem, was ich für allgemein wahr und gut halte, ohne mich schon auf die zu erwartenden ›Widersprüche‹ zwischen meiner eigenen Beurteilung des Wahren und Guten und den Urteilen anderer Personen konkret einzulassen. Erst mit dieser Einsicht beginnt die Sphäre gemeinsamer Sittlichkeit. Die Gemeinsamkeit der Vernunft ist Gemeinsamkeit des objektiven Geistes, der Wissenschaft und des Ethos. Zentrale Instanz ist das Gemeinwesen. Es ist nicht nur Schutz des Systems des Rechts als Rahmen jeder Gesellschaft, damit von Freiheit und prinzipieller personaler Gleichheit, sondern aller Institutionen als normativ ›geregelter‹ und kanonisch gesetzter Formen des kooperativen Zusammenlebens, in welchen wir eine bloß erst rhetorische, gefühlige und damit nur sporadische Brüderlichkeit oder Solidarität allererst in die Tat umsetzen. In diesem weiten Sinn von Gemeinwesen der res publica ist ›der Staat‹ der objektive Geist schlechthin. Er bildet eine konkrete Einheit von Praxisformen und Institutionen. Erst der Staat im engeren Sinn besteht aus den besonderen Statusrollen der personalen Führung seiner Regierung und Administration, unter Einschluss besonders auch aller Sicherheitskräfte der Polizei und des Militärs.
678 357 357 357 f . Der subjektive Geist 437 Seine Produktionen sind nach der Vernunftbestimmung, daß der Inhalt sowohl der an sich seiende, als nach der Freiheit der seinige sei. (437) Immer wieder ist gegen die Missverständnisse eines methodologischen Individualismus empirischer Gesellschaftstheorie zu betonen, dass zwar weder der Geist noch der Staat, weder die Gesellschaft noch ›die Leute‹ etwas unmittelbar tun, wenn institutionell gehandelt wird, wir aber dennoch generisch so sprechen müssen, wenn wir die allgemeinen (Wirkungen von) Formen gemeinsamen Verhaltens und Handelns explizit machen wollen.86 Auf der Ebene des Geistes geht es nun darum, einzusehen, inwieweit die geistigen Produktionen oder Formen des individuellen und gemeinsamen Urteilens und Handelns sowohl an sich oder allgemein vernünftig als auch je von mir als meine Formen und Normen anerkennbar sind. Somit, indem er in seinem Anfang bestimmt ist, ist diese Bestimmtheit die gedoppelte, die des Seienden und die des Seinigen; nach jener etwas als seiend in sich zu finden, nach dieser es nur als das Seinige zu setzen. (437) Hegels doppeltes Spiel der dichten Bestimmung des Geistes »in seinem Anfang«, also im Prinzip, und jeweils für uns heute sollte uns nicht allzu sehr verwirren. Denn er sagt hier nur noch einmal, dass die Formen und Normen des Vernünftigen insgesamt oder an sich schon da sind, wir sie aber jeweils tätig zu den unsrigen machen müssen. Der Weg des Geistes ist daher: a) theoretisch zu sein, es mit dem Vernünftigen als seiner unmittelbaren Bestimmtheit zu tun zu haben und es nun als das Seinige zu setzen; oder das Wissen von der Voraussetzung und damit von seiner Abstraktion zu befreien und die Bestimmtheit subjektiv zu machen. Indem das Wissen so als in 86 Die Vermeidung generischer Ausdrucksformen wie auch von Metaphern und Analogien macht uns theoretisch sprachlos und reflexionslogisch denktot. Jede flächendeckende Kritik der Sprache an figurativen und generischen Ausdrucksformen wie schon bei Thomas Hobbes ist daher verfehlt. Das gilt besonders auch für Max Stirner, Friedrich Nietzsche und Fritz Mauthner. Noch die ›Selbstkritik‹ des jungen Wittgenstein, nach welcher die in der Tat spekulativen Sätze des Tractatus ›sinnlos‹ seien, nur weil sie keine empirischen Konstatierungen sind, ist ganz irreführend.
437 f. Psychologie. Der Geist 679 sich an und für sich bestimmt, die Bestimmtheit als die seinige gesetzt, hiemit als freie Intelligenz ist, ist es b) Wille, praktischer Geist, welcher zunächst gleichfalls formell ist, einen Inhalt als nur den seinigen hat, unmittelbar will und nun seine Willensbestimmung von ihrer Subjektivität als der einseitigen Form seines Inhalts befreit, so daß er c) sich als freier Geist wird, in welchem jene gedoppelte Einseitigkeit aufgehoben ist. (437 f.) Der Weg des Geistes besteht immer auch aus Pfaden der Begri=sentwicklung selbst und der reflektierenden Begri=sanalyse. Zu unterscheiden ist dabei die theoretische, die ethisch-praktische und die jeweils selbstbewusst handelnde Vernunft. a) Im Erkennen und in konkreten Wissensansprüchen aktualisieren wir theoretisches Wissen autonom, im Wissen um die allgemeine und ideale Normativität des Wahren, so dass mein Wissen immer nur das für mich in meiner typischen Lage beste Wissen sein kann. b) Schon wegen der Abhängigkeit meines Erkennens und Wissens von dem, was mir wesentlich ist, wird meine freie theoretische Intelligenz zu einem Moment praktischer Vernunft. Diese Vernunft ist autonomer Wille mit subjektiv beschränkten inhaltlichen Zwecken. Der Wille weist aber immer auch über sich hinaus, insofern das Tun als allgemein gut bewertet wird, obwohl das Urteil subjektiv bleibt. c) Jedes freie Handeln ›muss‹ daher im personalen Leben die Einseitigkeiten subjektiven Erkennens und subjektiven Strebens nach Befriedigung oder Genuss überwinden. Denn mein Wille sorgt seinem Begri= gemäß sozusagen insgesamt dafür, wer ich gewesen sein werde. Man ›wünscht‹ sozusagen immer, dass die eigene Person respektiert wird, leider häufig ohne die Bedingungen des Wunsches ausreichend zu erfüllen, nämlich dadurch, dass man in seinem Tun und Leben als Person respektiert zu werden verdient. § 444 Der theoretische sowohl als praktische Geist sind noch in der Sphäre des subjektiven Geistes überhaupt. Sie sind nicht als passiv und aktiv zu unterscheiden. Der subjektive Geist ist hervorbringend; aber seine Produktionen sind formell. Nach innen ist die Produktion des theoretischen nur seine ideelle Welt und das Gewinnen der abstrakten Selbstbestimmung in sich. Der praktische hat es zwar nur mit Selbstbestimmungen, seinem eigenen, aber ebenfalls noch 358
680 358 k Der subjektive Geist 438 formellen Sto=e und damit beschränkten Inhalte zu tun, für den er die Form der Allgemeinheit gewinnt. Nach außen, indem der subjektive Geist Einheit der Seele und des Bewußtseins, hiemit auch seiende, in Einem anthropologische und dem Bewußtsein gemäße Realität ist, sind seine Produkte im theoretischen das Wort und im praktischen (noch nicht Tat und Handlung) Genuß. (438) Wovon will sich Hegel hier abheben? Ich vermute hier und im Folgenden einen polemischen Subtext, der sich gegen Kant richtet. Per definitionem ist »der subjektive Geist Einheit der Seele und des Bewusstseins«. In welchem Sinn sind aber seine »Produktionen« nur »formell«? Hegel scheint sagen zu wollen, dass der theoretische Geist eine innere ideelle Welt im Sinn einer modellförmigen Topographie des Wirklichen entwirft und über diese Weltkarte qua Planaufriss seine abstrakte Selbstbestimmung in sich findet. Der praktische Geist entwerfe zwar Handlungs- und Lebensziele, komme dabei aber zunächst nicht über rein subjektive Befriedigungen im innerweltlichen Genussstreben hinaus. Die Psychologie gehört, wie die Logik, zu denjenigen Wissenschaften, die in neuern Zeiten von der allgemeinern Bildung des Geistes und dem tiefern Begri=e der Vernunft noch am wenigsten Nutzen gezogen haben, und befindet sich noch immer in einem höchst schlechten Zustande. Es ist ihr zwar durch die Wendung der Kantischen Philosophie eine größere Wichtigkeit beigelegt worden, sogar daß sie, und zwar in ihrem empirischen Zustande, die Grundlage der Metaphysik ausmachen solle, als welche Wissenschaft in nichts anderem bestehe, als die Tatsachen des menschlichen Bewußtseins, und zwar als Tatsachen, wie sie gegeben sind, empirisch aufzufassen und sie zu zergliedern. Mit dieser Stellung der Psychologie, wobei sie mit Formen aus dem Standpunkte des Bewußtseins und mit Anthropologie vermischt wird, hat sich für ihren Zustand selbst nichts verändert, sondern nur dies hinzugefügt, daß auch für die Metaphysik und die Philosophie überhaupt, wie für den Geist als solchen, auf die Erkenntnis der Notwendigkeit dessen, was an und für sich ist, auf den Begri= und die Wahrheit Verzicht geleistet worden ist. (438 f.) Die Psychologie als theoretische Wissenschaft und ihre Philosophie als grundbegri=liche Reflexion auf sie thematisieren die menschliche Geistseele in ihrer realen Umsetzung im Leben. Im Zentrum stehen
439 Psychologie. Der Geist 681 die Überformungen von enaktiven Perzeptionen, Begehrungen und Befriedigungsgefühlen durch höhere Reflexionen auf ein je unmittelbareres Bewusstsein. Nicht nur die Philosophie der Psychologie, auch die Psychologie als Sachwissenschaft selbst mit ihren konkreteren Themen der Stimmungen und des Gemüts, den Bedingungen des Bewusst-Seins und den Fähigkeiten der Psyche als Geistseele ist nach Hegel in einem schlechten Zustand. Kants Philosophie macht zwar klar, dass eine Erneuerung von Logik und Psychologie nötig ist. Dabei rückt die empirische Psychologie des Bewusstseins, obwohl das zunächst gar nicht den Anschein hat, sogar in die Position einer Art Grundlegung der Metaphysik. Denn deren Themen sind bei Kant »die Tatsachen des menschlichen Bewußtseins, und zwar als Tatsachen, wie sie gegeben sind«. Kants Psychologisierung der Metaphysik habe nun aber weder für die philosophische noch für die empirische Anthropologie, Phänomenologie des Bewusstseins und Psychologie einen wirklichen Fortschritt gebracht. Der einzige E=ekt sei der gewesen, dass man die Metaphysik und die Philosophie überhaupt nicht mehr methodisch streng betreibe, weil ihre spekulativen bzw. ganzheitlichen Themen zur Glaubenssache geworden seien, nachdem man den Begri= des Wissens und der Erkenntnis nur auf eine pragmatische Orientierung in den endlichen, empirischen Einzelheiten der gegenwärtigen Umgebungswelt reduziert habe. Man meint jetzt, darauf verzichten zu müssen, über den Geist selbst, die Freiheit und die Rolle des Begri=s bzw. der Wahrheit etwas zu wissen; man dürfe nur vage daran glauben, dass es so etwas wie Wahrheit an sich und Freiheit hinter oder neben der materiellen, physikalischen Welt geben könne. a. Der theoretische Geist § 445 Die Intelligenz findet sich bestimmt; dies ist ihr Schein, von dem sie in ihrer Unmittelbarkeit ausgeht, als Wissen aber ist sie dies, das Gefundene als ihr eigenes zu setzen. (439) Wir können die Aussage über die Intelligenz zum Anlass nehmen, die Form der in solchen Ausdrucksweisen bei Hegel klarerweise inten- 359
682 359 359 Der subjektive Geist 439 dierten Transpositionen in die erste Person noch einmal vorzuführen: Je ich finde wie jeder von uns als denkendes Wesen je meine Intelligenz als gegeben und bestimmt vor. Sie ist mein Vermögen des begri=lichen Inhaltsverstehens. Dieses intellegere ist immer auch ein Zwischen-den-Zeilen-Lesen, also ein Begreifen von Implikaturen und figurativen Redeformen. Die Unmittelbarkeit des Geistigen, der Intelligenz im Vollzug ist aber bloßer Schein. Das heißt, wir identifizieren uns zunächst ganz naiv mit unserer Geistseele und begreifen eben damit ihre geschichtliche und institutionelle Konstitution nicht. Das gilt gerade auch für den methodologischen Individualismus, den subjektiven Sinn in der Soziologie und jede intentionale Semantik einer vermeintlich unmittelbaren Sprecherbedeutung. In Wahrheit haben nur vom Sprecher unabhängige, weil reproduzierbare, Äußerungstypen eine verstehbare Bedeutung. Es gibt sozusagen keine ›Sprecherbedeutung‹, keine ›utterer’s meaning‹ wie bei Paul Grice.87 Grice hat zwar recht, dass gerade die Implikaturen einer Äußerung nicht konventionell, genauer: nicht kanonisch und schon gar nicht auf der rein syntaktischen Ausdrucksebene geregelt sind. Aber man versteht sie wie Witze auf der Basis reflektierender Urteilskraft, indem man von der konkreten Äußerung her eine passende (saliente) Form ›abduktiv‹ ermittelt, nicht etwa dadurch, dass man eine mentale ›Intention‹ des Sprechers errät, etwa indem man sich in diesen intuitiv einfühlt. Ihre Tätigkeit hat es mit der leeren Form zu tun, die Vernunft zu finden, und ihr Zweck ist, daß ihr Begri= für sie sei, d. i. für sich Vernunft zu sein, womit in Einem der Inhalt für sie vernünftig wird. (439) Mit dem Wort »Intelligenz« meinen wir eigentlich nur die subjektive Form der Suche nach einem vernünftigen Verstehen, Urteilen und dann auch einer Handlungsorientierung, wobei wir aber die Alertheit im schnellen Verstehen und vernünftigen Urteilen gleich hinzunehmen. Diese Tätigkeit ist Erkennen. Das formelle Wissen der Gewiß87 Paul Grice, Studies in the Way of Words, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1989, S. 86 =. (»Utterer‹s Meaning and Intentions«) und 117= (»Utterer‹s Meaning, Sentence-Meaning, and Word-Meaning«).
440 Psychologie. Der Geist 683 heit erhebt sich, da die Vernunft konkret ist, zum bestimmten und begri=gemäßen Wissen. (439) Obwohl wir mit den Wörtern »Wissen«, »Kennen« und »Erkennen« wie auch mit den Wörtern »Subjekt«, »Individuum« und »Person« keineswegs immer konsequent terminologisch umgehen, ist Erkennen vernünftig verstehende Anwendung von allgemeinem Wissen auf besondere reale Fälle jetzt und hier. Dieses Erkennen ist als besonderes Wissen Folge einer konkreten Prüfung der Erfüllung normativer Richtigkeiten. Der Gang dieser Erhebung ist selbst vernünftig und ein durch den Begri= bestimmter, notwendiger Übergang einer Bestimmung der intelligenten Tätigkeit (eines sogenannten Vermögens des Geistes) in die andere. (439 f.) Vernunft verlangt eine Art von Aufstieg oder Erhebung nicht nur über das Gefühl, sondern auch über eine nur erst kohärente Intuition als Ergebnis einer bloß ersten Prüfung des (Selbst-)Bewusstseins. Die Widerlegung des Scheins, das Vernünftige zu finden, die das Erkennen ist, geht [aus] von der Gewißheit, d. i. dem Glauben der Intelligenz an ihre Fähigkeit, vernünftig zu wissen, an die Möglichkeit, sich die Vernunft aneignen zu können, die sie und der Inhalt an sich ist. (440) Hegels verschraubte Formulierung steht dem zu artikulierenden Gedanken eher im Weg. Er will hier nur sagen, dass die subjektive Gewissheit, etwas unmittelbar zu verstehen und selbst zu denken, ambivalent ist. Einerseits ist sie ein aufzuhebender oder zu widerlegender Schein. Andererseits ist sie selbst ein Vertrauen in die eigene Vernunft. Im ersten Fall ist der Gefahr zu entgehen, dass man mit den Prüfungen der Erfüllungen begri=licher Bedingungen zu schnell fertig ist. Man kann ja mit einem unmittelbaren Anschein zufrieden bleiben und auf jede weitere dialektische Kontrolle unter Einsatz von reflektierender Urteilskraft in einem potentiell unendlichen Progress kritischer Reflexion verzichten. Im zweiten Fall besteht die Gefahr darin, dass die Angst vor einem Irrtum der wahre Irrtum sein kann. Man zweifelt dann an den eigenen Gewissheiten ohne zureichenden Grund. Man verzweifelt also an der Möglichkeit, sich die Vernunft aneignen zu können. 359 359
684 359 k 359 k Der subjektive Geist 440 Konkret besteht Vernunft darin, dass man nach bestem Wissen und Gewissen urteilt und handelt, so aber, dass man nicht nur auf die eigene Intuition vertraut, wie ich hier für eine unmittelbar subjektive Anschauung mit bloß erst kohärentem Selbstbewusstsein sage. Die Unterscheidung der Intelligenz von dem Willen hat oft den unrichtigen Sinn, daß beide als eine fixe, von einander getrennte Existenz genommen werden, so daß das Wollen ohne Intelligenz oder die Tätigkeit der Intelligenz willenlos sein könne. Die Möglichkeit, daß, wie es genannt wird, der Verstand ohne das Herz und das Herz ohne den Verstand gebildet werden könne, daß es auch einseitigerweise verstandlose Herzen und herzlose Verstande gibt, zeigt auf allen Fall nur dies an, daß schlechte, in sich unwahre Existenzen statthaben, aber die Philosophie ist es nicht, welche solche Unwahrheiten des Daseins und der Vorstellung für die Wahrheit, das Schlechte für die Natur der Sache nehmen soll. – (440) Dass es keine getrennten Entitäten oder Module des Verstehens und Urteilens der Intelligenz und des zweckorientierten Handelns des Wissens gibt, haben wir schon mehrfach gesagt. Es sind Momente einer einzigen geistigen Gesundheit. Es lassen sich dann privative Fälle angeben, in denen eine Person einen scharfen Verstand zu haben scheint, aber vielleicht ohne Herz, Mut und Willen, eine andere Person im vernünftigen Urteilen nicht ausreichend gebildet sein mag, etwa dann, wenn sie nicht weiß, welche möglichen Zweifel aufgrund der Fallibilität unserer immer subjektiven Urteile einfach zu übergehen und daher weitere kritische Reflexionen einfach abzubrechen sind. Eine Menge sonstiger Formen, die von der Intelligenz gebraucht werden, daß sie Eindrücke von außen empfange, sie aufnehme, daß die Vorstellungen durch Einwirkungen äußerlicher Dinge als der Ursachen entstehen usf., gehören einem Standpunkte von Kategorien an, der nicht der Standpunkt des Geistes und der philosophischen Betrachtung ist. Eine beliebte Reflexionsform ist die der Kräfte und Vermögen der Seele, der Intelligenz oder des Geistes. – (440) Methodische Ordnungen werden auch schon für das einfache Wahrnehmen relevant. Denn die Rede über Eindrücke von außen präsupponiert schon ein Wissen über verursachende Dinge, ihre sinnliche Aufnahme und deren begri=liche Verarbeitung qua Information,
440 Psychologie. Der Geist 685 wie man in vier metaphorischen Ausdrucksformen sagt.88 Für die ›Verarbeitung‹ interessiert sich eine Fach- und Sachwissenschaft wie die Neurophysiologe des Wahrnehmens oder besser: des enaktiven Perzipierens. Hegel denkt aber o=enbar auch darüber nach, wie wir über Verstand und Vernunft, Seele und Geist als Kräfte und Vermögen, auch Neigungen und Dispositionen reflektieren und dabei aufgrund der Sprachform des Etwas-über-etwas-Sagens, also der Grundsatzform ›N ist P ‹, dazu geführt werden, die Seele, Intelligenz oder den Geist verbal als punktförmigen Gegenstand vorzustellen.89 Das Vermögen ist wie die Kraft die fixierte Bestimmtheit eines Inhalts, als Reflexion-in-sich vorgestellt. (440) Ein Vermögen V wird einem Ding oder dann auch einem personalen Individuum X eines bestimmten Typs T allgemein als Wirkmöglichkeit zugeschrieben. Dabei gehen wir häufig gleich in die Reflexionsform des Gesetztseins über. Wir sagen nämlich, dass ein X nach Art von T die dispositionelle Wirkeigenschaft PV hat. Das bedeutet, dass wir die Zuschreibung als richtig bewerten, sie also nicht nur deklarativ setzen, sondern sagen, dass andere uns darin folgen sollten. Hegels Ausdruck für diese sich selbst bewertende Redeform ist »Reflexion-in-sich«. Es wird dann die betre=ende Eigenschaft oder Fähigkeit PV für eine nur erst verständige oder schon vernünftige Person allgemein unterstellt oder vorausgesetzt. 88 Eine naturalisierte Epistemologie (Quine) vermischt die Ebenen nicht anders als schon Lockes Physiologie der Erkenntnis (wie sie schon Kant kritisch nennt). Man redet über »Einwirkungen äußerlicher Dinge«, also über Impressionen, beim Menschen von stimulus meanings. Vom »Standpunkt des Geistes und der philosophischen Betrachtung« sind solche ›Verursachungen‹ begri=lich verwirrt, erstens, weil schon die behavioralen Reaktionen der Tiere auf Perzeptionen nicht einfach ›kausal determiniert‹ sind und, zweitens, weil jedes Verstehen von Bedeutung eine freie Auswahl aus einem Möglichkeitsraum ist. 89 Wer den Text nicht als Begri=sanalyse psychologischer Rede- und Denkformen lesen möchte oder kann, müsste seine Entscheidung für eine alternative, z. B. ›metaphysische‹, Lesart begründen. 359 k
686 359 f . k 360 k 360 k Der subjektive Geist 440 Die Kraft (§ 136) ist zwar die Unendlichkeit der Form, des Innern und Äußern, aber ihre wesentliche Endlichkeit enthält die Gleichgültigkeit des Inhalts gegen die Form (ebendas. Anm.). (440) Die ›Unendlichkeit‹ von Kraft besteht wohl in der indefiniten Zeitallgemeinheit des Formenwissens: Wenn eine Situation so und so ist, erwarten wir normalerweise, dass ein X das und das tut. Dabei ist der Übergang von Erwartungen zu allgemein gesetzten Erwartbarkeiten zu beachten, wie wir sie von allen Dispositionsprädikaten her kennen. Höchst bedeutsam ist nun noch Hegels weitere Bemerkung zur wesentlichen Endlichkeit jeder Kraft oder Disposition aufgrund der immer groben Gleichgültigkeit des Inhalts gegen die Form: Inhaltsgleichheiten sind, wie ich schon ausgeführt habe, immer gröber als äußere Formäquivalenzen. Hier wird das dadurch relevant, dass die äußeren Formen, wie sich ein Vermögen, z. B. das des Verstehens, äußert, sehr variieren können. Wir sind uns häufig nicht sicher, ob eine Äußerung ein Vermögen oder ein Unvermögen zeigt. Es sind die Inhalte selbst endlich. Das ist deswegen so, weil sie selbst immer Grobunterscheidungen sind. Man muss daher das Identische, Allgemeine, Abstrakte in vielen verschiedenen Äußerungen und Erscheinungen erkennen können. Nur Unterschiede zu lehren, reicht bei Weitem nicht. Hierin liegt das Vernunftlose, was durch diese Reflexions-Form und die Betrachtung des Geistes als einer Menge von Kräften in denselben sowie auch in die Natur gebracht wird. (440) Die unvermeidliche Reflexionsform der Rede über Kräfte, Vermögen und Tätigkeiten der Seele wird gerade dann vernunftlos, wenn man die Form der zugehörigen Schematisierungen übersieht. Man spricht dann so, als gäbe es für sich viele voneinander getrennte Kraftmodule des Geistes. Was an seiner Tätigkeit unterschieden werden kann, wird als eine selbständige Bestimmtheit festgehalten und der Geist auf diese Weise zu einer verknöcherten, mechanischen Sammlung gemacht. Es macht dabei ganz und gar keinen Unterschied, ob statt der Vermögen und Kräfte der Ausdruck Tätigkeiten gebraucht wird. (440 f.) Nicht alles, was man an einem geistigen Vollzug unterscheiden kann, verdient es, allgemein unterschieden zu werden. Beachtet man das nicht, gelangt man zu unendlich vielen selbständigen Bestimmt-
441 Psychologie. Der Geist 687 heiten. Man stellt sich den Geist dann als komplexe Mechanik innerer Tätigkeiten und Wirkkräfte vor. Das Isolieren der Tätigkeiten macht den Geist ebenso nur zu einem Aggregatwesen und betrachtet das Verhältnis derselben als eine äußerliche, zufällige Beziehung. (441) Hegel ist keineswegs gegen ein Unterscheiden von Teilkompetenzen, sondern nur gegen Hypostasierungen eigenständiger Module des Geistes, also gegen das Bild eines quasimechanischen Aggregatwesens. Das Tun der Intelligenz als theoretischen Geistes ist Erkennen genannt worden, nicht in dem Sinne, daß sie unter anderem auch erkennt, außerdem aber auch anschaue, vorstelle, sich erinnere, einbilde usf.; eine solche Stellung hängt zunächst mit dem soeben gerügten Isolieren der Geistestätigkeiten, aber ferner hängt damit auch die große Frage neuerer Zeit zusammen, ob wahrhaftes Erkennen, d. i. die Erkenntnis der Wahrheit möglich sei; so daß, wenn wir einsehen, sie sei nicht möglich, wir dies Bestreben aufzugeben haben. (441) Es wurde schon in holistischer Weise vom Erkennen als der Tätigkeit der Intelligenz bzw. des theoretischen Geistes gesprochen. Diesen Geist gibt es nur als Vollzugsform des Erkennens. Daher ist es schon falsch zu sagen, dass er unter anderem auch erkenne. Es ist bis heute ›die große Frage neuerer Zeit‹ nach der Ära der ›wissenschaftlichen‹ Aufklärung und der skeptischen Kritiken Humes und Kants, »ob wahrhaftes Erkennen« möglich ist oder nur ein pragmatisches Glauben. Das Ideal der Wahrheit transzendiert zwar das Einzelerkennen immer, aber nur auf eine Weise, wie auch die perfekt vorgestellten Formen der Geometrie jede Realisierung durch gestaltete Körper oder Figuren transzendieren. Einem Glauben Platz zu machen, wie Kant das erklärtermaßen tut, ist hier keine gute Idee, sondern Folge eines falschen Verständnisses der Floskel »an sich«. Die vielen Seiten, Gründe und Kategorien, womit eine äußerliche Reflexion den Umfang dieser Frage anschwellt, finden ihre Erledigung an ihrem Orte; je äußerlicher der Verstand sich dabei verhält, desto di=user wird ihm ein einfacher Gegenstand. (441) 360 k 360 k 360 k
688 360 k 360 k 360 k 360 k Der subjektive Geist 441 Der Verzicht auf eine spekulative Reflexion auf das Allgemeine zugunsten der Pluralität von Einzelerscheinungen mit ihren vielen ›Seiten, Gründen und Kategorien‹ lässt den Wald vor lauter Bäumen verschwinden. Je empirischer sich der Verstand dabei verhält – etwa in Fragebögen, in denen man Selbstverständliches abfragt –, »desto di=user wird ihm ein einfacher Gegenstand«, ohne dass dabei irgendetwas genauer oder exakter würde. Hier ist die Stelle des einfachen Begri=s des Erkennens, welcher dem ganz allgemeinen Gesichtspunkt jener Frage entgegentritt, nämlich dem, die Möglichkeit des wahrhaften Erkennens überhaupt in Frage zu stellen und es für eine Möglichkeit und Willkür auszugeben, das Erkennen zu treiben oder aber es zu unterlassen. (441) Es gibt keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen einem ›einfachen‹ Erkennen, etwa der Art, dass Milch im Kühlschrank ist, und einem ›wahren‹ Erkennen. Ob es sich ›wirklich‹ um Milch handelt, ist selbst nur immanent bestimmt. Ein unerkennbares Wesen der Milch an sich im Sinn von Kants Ding an sich gibt es nicht. Das gilt für alle Dinge und Sachen. Der Begri= des Erkennens hat sich als die Intelligenz selbst, als die Gewißheit der Vernunft ergeben; die Wirklichkeit der Intelligenz ist nun das Erkennen selbst. (441) Intelligenz ist gute Teilnahme an der Praxisform (am ›Begri=‹) des Erkennens, wobei eine gewisse Restsubjektivität und damit die immer möglichen privativen Fallibilitäten im Vollzug immer schon eingerechnet sind. Es folgt daraus, daß es ungereimt ist, von der Intelligenz und doch zugleich von der Möglichkeit oder Willkür des Erkennens zu sprechen. (441) Es ergibt sich, dass es begri=lich verwirrt wäre, dem Erkennen auch im guten Fall noch eine Willkür der Dezision zuzusprechen – selbst wenn im faktischen Verlauf des Urteilens Entscheidungen zu fällen und manchmal zurückzunehmen sind. Wahrhaft aber ist das Erkennen, eben insofern sie es verwirklicht, d. i. den Begri= desselben für sich setzt. (441) Wahrhaft erkenne ich etwas nur, indem ich die Verwirklichung der vorausgesetzten und anerkannten relevanten begri=lichen Bedingungen (für uns) ausreichend gewissenhaft prüfe und als erfüllt bewerte.
441 f. Psychologie. Der Geist 689 Das liegt zwar nicht ganz weit von Kants Ergebnissen entfernt, erhält aber die wichtigen Unterscheidungen zwischen mir und uns, meiner Welt und der Welt, auch zwischen Glauben und Wissen. Diese formelle Bestimmung hat ihren konkreten Sinn in demselben, worin das Erkennen ihn hat. Die Momente seiner realisierenden Tätigkeit sind Anschauen, Vorstellen, Erinnern usf.; die[se] Tätigkeiten haben keinen andern immanenten Sinn; ihr Zweck allein ist der Begri= des Erkennens (s. Anm. § 445).90 (441) Dass Anschauen, Vorstellen, Erinnern Momente des Erkennens sind, haben wir schon gesagt und wird gleich noch näher untersucht werden. Nur wenn sie isoliert werden, so wird teils vorgestellt, daß sie für etwas anderes als für das Erkennen nützlich sein [können], teils [daß sie] die Befriedigung desselben für sich selbst gewähren, und es wird das Genußreiche des Anschauens, der Erinnerung, des Phantasierens usf. gerühmt. Auch isoliertes, d. i. geistloses Anschauen, Phantasieren usf. kann freilich Befriedigung gewähren; was in der physischen Natur die Grundbestimmtheit ist, das Außersichsein, die Momente der immanenten Vernunft außereinander darzustellen, das vermag in der Intelligenz teils die Willkür, teils geschieht es ihr, insofern sie selbst nur natürlich, ungebildet ist. Die wahre Befriedigung aber, gibt man zu, gewähre nur ein von Verstand und Geist durchdrungenes Anschauen, vernünftiges Vorstellen, von Vernunft durchdrungene, Ideen darstellende Produktionen der Phantasie usf., d. i. erkennendes Anschauen, Vorstellen usf. Das Wahre, das solcher Befriedigung zugeschrieben wird, liegt darin, daß das Anschauen, Vorstellen usf. nicht isoliert, sondern nur als Moment der Totalität, des Erkennens selbst, vorhanden ist. (441 f.) Hegel wendet sich hier gegen eine intuitive Trennung kontemplativen Anschauens von einem zugehörigen Wissen und Erkennen. Erinnerung und Einbildungskraft haben rein für sich keinen Wert. Reines Gedächtnistraining ist bestenfalls therapeutische Hilfsübung. Dabei soll nicht geleugnet werden, dass neugieriges Betrachten, spannende Erzählungen und sogar drogenerzeugte Halluzinationen eine gewisse »Befriedigung gewähren«. Wahre Erfüllungen aber gibt es 90 In GW 20 steht richtig: »s. Anm. §. 442«. 360 k 360 f . k
690 Der subjektive Geist 442 nur im Erkennen wirklicher Formen. Das Wahre ist dabei wieder das Ganze, so dass sich Hegel bestätigt sieht, dass »das Anschauen, Vorstellen usf. . . . nur als Moment der Totalität, des Erkennens selbst«, relevant und im Normalfall nur in diesem Kontext vorhanden ist. α) Anschauung 361 361 361 k § 446 Der Geist, der als Seele natürlich bestimmt, als Bewußtsein im Verhältnis zu dieser Bestimmtheit als zu einem äußern Objekte ist, als Intelligenz aber 1) sich selbst so bestimmt findet, ist sein dumpfes Weben in sich, worin er sich sto=artig ist und den ganzen Sto= seines Wissens hat. (442) Die fühlende Seele war in unserer Reflexionssprache durch natürliche Empfindungsreaktionen bestimmt, das Bewusstsein durch Bezugnahmen auf äußere Objekte, aber intuitiv eingelassen in gelernte Unterscheidungsformen. Die Intelligenz als geistiges Vermögen eines sich selbst objektivierenden Nachdenkens über sich selbst findet sozusagen Gefühle und Intuitionen oder Anschauungsformen in sich selbst – zunächst als ein dumpfes Weben. Dieses wird zum Thema des Nachdenkens. Um der Unmittelbarkeit willen, in welcher er so zunächst ist, ist er darin schlechthin nur als ein einzelner und gemein-subjektiver und erscheint so als fühlender. (442) Qua unmittelbares Sein bin ich auch noch im Erkennen subjektives Gefühlswesen. Wenn schon früher (§ 399 =.) das Gefühl als eine Existenzweise der Seele vorkam, so hat das Finden oder die Unmittelbarkeit daselbst wesentlich die Bestimmung des natürlichen Seins oder der Leiblichkeit, hier aber nur abstrakt der Unmittelbarkeit überhaupt. (442) Das Gefühl war immer schon als die reale Existenzweise der Seele dargestellt worden. Das Finden des Empfindens hat dabei jenseits bloßer Metaphorik den wesentlichen Sinn meines natürlichen, unmittelbaren Seins in meiner Leiblichkeit. Wer an der Korrektheit dieser sprachphänomenologisch abgesicherten Kommentare zweifelt, weiß wohl nicht, wovon er spricht.
443 Psychologie. Der Geist 691 § 447 Die Form des Gefühls ist, daß es zwar eine bestimmte A=ektion, aber diese Bestimmtheit einfach ist. Darum hat ein Gefühl, wenn sein Inhalt doch der gediegenste und wahrste ist, die Form zufälliger Partikularität, außerdem daß der Inhalt ebensowohl der dürftigste und unwahrste sein kann. (443) Alles Sein, also der Vollzug des Lebens, hat in seiner Unmittelbarkeit immer die Form des Gefühls, z. B. eines Begehrens oder Unbefriedigtseins oder der Befriedigung, der Furcht oder ho=enden Erwartung. Das gilt gerade auch dann, wenn es um Erfüllungen wichtiger Inhalte geht. Hegel spricht hier etwas dunkel von bestimmten A=ektionen, deren Bestimmtheit relativ einfach sei. Die Rede von der Einfachheit verweist wohl auf basale Gefühle wie Lust und Befriedigung, Unlust und Begehren, auch Ho=nung und ängstliche Furcht. In seiner Abhängigkeit vom Gefühl ist jeder Vollzug im Urteilen und Verhalten immer subjektiv und bleibt es auch. Gefühle hängen in ihrer durchaus engen Beziehung zu Stimmungen von allerlei Zufälligkeiten und akzidentellen Besonderheiten ab. Daß der Geist in seinem Gefühle den Sto= seiner Vorstellungen hat, ist eine sehr allgemeine Voraussetzung, aber gewöhnlicher in dem entgegengesetzten Sinne von dem, den dieser Satz hier hat. Gegen die Einfachheit des Gefühls pflegt vielmehr das Urteil überhaupt, die Unterscheidung des Bewußtseins in ein Subjekt und Objekt, als das Ursprüngliche vorausgesetzt zu werden; so wird dann die Bestimmtheit der Empfindung von einem selbständigen äußerlichen oder innerlichen Gegenstande abgeleitet. Hier in der Wahrheit des Geistes ist dieser seinem Idealismus entgegengesetzte Standpunkt des Bewußtseins untergegangen und der Sto= des Gefühls vielmehr bereits als dem Geiste immanent gesetzt. (443) Das geistige Denken findet in den Gefühlen »den Sto= seiner Vorstellungen« keineswegs unmittelbar. Diese sind ja schon, anders als bei Stimmungen und Empfindungen (i. e. S.) begri=lich bestimmt. Im Unterschied zu einem unmittelbaren Zustand der Angst als Stimmung ist z. B. das Gefühl der Furcht intentional auf eine bestimmte Möglichkeit gerichtet. Wenn jemand etwa fürchten sollte, dass ein Wolf im Garten sei, endet, wie schon gesagt, seine Furcht sofort, wenn er sicher erfährt, dass kein Wolf da ist. Im Unterschied zu Stimmungen 361 361 f . k
692 Der subjektive Geist sind in komplexen Gefühlen die intentionalen bzw. propositionalen Inhalte p sozusagen abtrennbar. Die ›reine Empfindungsform‹ der Furcht wäre aber von der Stimmung der Angst gar nicht unterschieden. Hegel scheint damit schon lange vor Kierkegaard, Franz Brentano, Husserl und Heidegger zwischen Stimmungen und Empfindungen als den unmittelbaren und damit bloß erst formellen ›Gefühlen‹ einerseits, den inhaltlich bestimmten und damit allererst echten Gefühlen andererseits zu unterscheiden. Begri=lich handelt es sich um einen außerordentlich wichtigen Sachverhalt. In Umgehung der »Einfachheit des Gefühls«, das wir jetzt auch als Trennung einer leibseelischen Haltung etwa der Ablehnung oder Zustimmung, des Begehrens oder des Abscheus von ihren möglichen inhaltlichen Bestimmungen auffassen können, verbindet man üblicherweise die behauptende Kraft und den Inhalt so, dass man im Urteil das Subjekt des Vollzugs vom Objekt des Bezugs unterscheidet: Ich spreche z. B. über mich, indem ich mir ein Prädikat zuspreche oder mich unter einen Begri= subsumiere. Der Nachteil dieser nur erst nominalen und relationalen Darstellung besteht darin, dass die Inhalte allzu unmittelbar als gegebene Gegenstände betrachtet werden. Echte Gefühle sind wie performative Haltungen keine bloßen Relationen zwischen einem Subjekt und einem Objekt oder einem Sachverhalt, sondern intentional oder propositional bestimmte Haltungen z. B. des Befriedigtseins oder Unbefriedigtseins, die in ihrer leiblichen Formalität aber durchaus auch für sich betrachtet werden können. Die Gefühle sind also nicht etwa durch selbständige äußere Gegenstände kausal verursacht, sondern hängen von einem impliziten Urteilen ab. Die Annahme rein äußerer Verursachungen von Stimmung (mood) und Empfindung (sensation) legt eine methodische Verwirrung in der Form einer petitio principii nahe. Denn wahre kausale Erklärungen sind solche, die uns befriedigen sollten. Andere Formen der Überprüfung der Erfüllungen von Geltungsbedingungen gerade auch im Reden über kausale Ursachen gibt es nicht. Das gilt sowohl im Prinzip oder im Allgemeinen als auch im Besonderen konkreter Fälle. Damit wird klarer, worin die »Wahrheit des Geistes« und Hegels Idealismus besteht. Denn der »entgegengesetzte Standpunkt des Bewusstseins«, der sogenannte Materialismus, ist in sich verwirrt
443 Psychologie. Der Geist 693 und inkohärent. Man sagt zwar formal richtig, aber auf leere Weise, dass die Welt so ist, wie sie ist. Und man sagt, wir würden sie anschauend und denkend nur in gewisser Färbung erfahren. Dabei sei die objektive, materielle, physische Wirklichkeit dem subjektiven Geist entgegengesetzt. Doch eben damit übersieht man schon die Abstraktionen in jeder bloß formalen Rede und die Ideationen in allen konkreten Bestimmungen als hinreichend guten Instanziierungen generischer Bedingungen. Damit wird schon von aller konkreten Wahrheit und Wirklichkeit abgesehen – und es ist von gar keinen bestimmten Materien oder bestimmten Ursachen mehr die Rede. Rein von der Seite eines Gottes gesprochen gibt es nur das Ganze der Welt. Das immerhin hatte Spinoza schon erkannt und daher die ›unendliche Substanz‹ als das ewig Bleibende mit Gott als dem Ganzen aller idealen Wahrheit bzw. der Natur oder besser: der Welt als dem Ganzen des Seins identifiziert. Hegel fügt in diese Reihe von Gleichsetzungen nun gerade auch noch Kants Ding an sich hinzu. Was Spinoza trotz seiner Kenntnisse der Texte von Descartes von diesem nicht übernommen hat, sind die Überlegungen zur Absolutheit des jeweils präsentischen Subjektseins, nicht nur im Vollzug des Denkens. Der Empirismus unterschlägt sozusagen die abstraktiven Perspektivenwechsel, in denen wir objektive Inhalte und den Begri= des Wirklichen konstituieren: Objektiv wirklich ist eine von uns repräsentierte Möglichkeit, welche bestehende Erscheinungen ausreichend erklärt und daher als ihr Wesen, ihre Natur, ihr Grund bzw. Ursache anerkennbar ist. Anders gesagt, die Reflexionsworte »wirklich« und »objektiv« tre=en eine Unterscheidung in einem Bereich theoretisch modellierter allgemeiner Möglichkeiten und Erklärungen. Die Wörter »real« und »existent« unterscheiden im Bereich der entsprechend begri=lich gefassten und ›erklärten‹ je präsentischen Erscheinungen bzw. subjektiven und perspektivischen Konstatierungen zwischen dem, was zunächst so und so zu sein scheint, und dem, was wirklich so ist – wie wir in reflektierender Evaluation von Aussagen über eine Ursache (bei Hegel auch: einen ›Grund‹) einer Erscheinung sagen. In Betre= des Inhalts ist es gewöhnliches Vorurteil, daß im Gefühl mehr sei als im Denken; insbesondere wird dies in Ansehung der moralischen und religiösen Gefühle statuiert. (443) 362 k
694 362 k 362 k Der subjektive Geist 443 Inhalte sind nie feiner als äußere Formen, sondern gröber und allgemeiner. Gefühle sind auch nicht inhaltsvoller als unser Reden und Denken. Richtig ist zwar, dass allgemeine Inhalte als abstrakte Unterscheidungsformen bzw. ihre symbolischen Ausdrücke oder Repräsentationen wie Variablen je konkret über Sprech- und Bezugssituationen zu belegen sind. Die so konkret belegten Inhalte unterscheiden trivialerweise feiner als die Variablen. Aber als Inhalte bleiben sie gemeinsame Unterscheidungen und transzendieren als solche meine subjektiven Gefühle. Überzeugungen bewerte ich ja nicht nur für mich als wahr. Die Inhalte der Gefühle sind eigentlich die gleichen wie die von Gedanken. Der Inhalt der Furcht vor einem Löwen ist der Gedanke, dass Gefahr von einem Löwen droht. Der Inhalt der Trauer, wenn ein geliebter Mensch gestorben ist, ist derselbe wie der des entsprechenden Wissens. Der Sto=, der sich der Geist als fühlend ist, hat sich auch hier als das an und für sich Bestimmtsein der Vernunft ergeben; es tritt darum aller vernünftige und näher auch aller geistige Inhalt in das Gefühl ein. (443) Die Inhalte von schon komplexen geistigen Gefühlen wie z. B. der Furcht vor einem schweren nächsten Jahr sind allgemeine Bestimmtheiten allgemeiner Vernunft. Aber die Form der selbstischen Einzelnheit, die der Geist im Gefühle hat, ist die unterste und schlechteste, in der er nicht als Freies, als unendliche Allgemeinheit, – sein Gehalt und Inhalt vielmehr als ein Zufälliges, Subjektives, Partikuläres ist. Gebildete, wahrhafte Empfindung ist die Empfindung eines gebildeten Geistes, der sich das Bewußtsein von bestimmten Unterschieden, wesentlichen Verhältnissen, wahrhaften Bestimmungen usf. erworben [hat], und bei dem dieser berichtigte Sto= es ist, der in sein Gefühl tritt, d. i. diese Form erhält. (443 f.) Die Form unmittelbar gefühliger Haltungen zu propositionalen Gehalten ist die der »selbstischen«, also solipsistischen Einzelheit des momentanen Subjekts. Sie ist in der Tat »die unterste und schlechteste«, noch ohne jede selbstkritische Reflexion und ohne jedes freie Urteil über alternative Möglichkeiten. Damit verstehen wir auch die »unendliche Allgemeinheit« des freien Urteils besser. Die Inhalte
444 Psychologie. Der Geist 695 eines reinen Gefühlsdenkens können am Ende so zufällig, subjektiv und partikulär sein wie der noch unkontrollierte Bewusstseinsstrom eines Menschen, der auf beliebige Perzeptionen und Einfälle nach Art unseres obigen Beispiels aus der Straßenbahn fast rein zufällig reagiert. Demgegenüber hebt Hegel die Rolle von Empfindung und Gefühl »eines gebildeten Geistes« hervor: Sie verbindet das reflektierte Denken mit einem Antrieb zu passenden Tätigkeiten. Das Gefühl ist die unmittelbare, gleichsam präsenteste Form, in der sich das Subjekt zu einem gegebenen Inhalte verhält; es reagiert zuerst mit seinem besondern Selbstgefühle dagegen, welches wohl gediegener und umfassender sein kann als ein einseitiger Verstandesgesichtspunkt, aber ebensosehr auch beschränkt und schlecht; auf allen Fall ist es die Form des Partikulären und Subjektiven. (444) Hegel ist weit davon entfernt, die Bedeutung des Gefühls rationalistisch zu unterschätzen Denn es ist die »gleichsam präsenteste Form, in der sich das Subjekt zu einem gegebenen Inhalte verhält«. Man kann es nicht besser sagen. Im Gefühl reagieren wir relativ unmittelbar auf Perzeptionen und Einfälle. Dabei sind wir unserer selbst im Selbstgefühl gewahr. Da Gefühle holistische Haltungen sind, können sie sogar »gediegener und umfassender sein« als »ein einseitiger Verstandesgesichtspunkt«. So viel Rationalismuskritik muss sein. Wir haben aber auch die Beschränktheit intuitiver Unmittelbarkeit und das Schlechte des schlichten Gemüts schon gesehen. Auf jeden Fall ist das Gefühl nur erst subjektiv. Wenn ein Mensch sich über etwas nicht auf die Natur und den Begri= der Sache oder wenigstens auf Gründe, die Verstandesallgemeinheit, sondern auf sein Gefühl beruft, so ist nichts anderes zu tun, als ihn stehenzulassen, weil er sich dadurch der Gemeinschaft der Vernünftigkeit verweigert, sich in seine isolierte Subjektivität, die Partikularität, abschließt. (444) Hegel kommt nun selbst zu dem Punkt, den ich oben schon vorgezogen habe: Wenn man sich weigert, sich über das Wesentliche einer konkreten Sache und daher über ihren Begri= zu unterhalten (sagen wir über das rechte Verständnis des Wortes »Gott« in vielen verschiedenen Kontexten) und dabei noch nicht einmal auf allgemeine Gründe oder auf das in solchen Fällen prima facie Normale, also auf ein gene- 362 k 362 k
696 Der subjektive Geist 444 risches Wissen, sondern nur auf ein Gefühl beruft, so hat man sich schon ipso facto der »Gemeinschaft der Vernünftigkeit verweigert« und sich in seine isolierte Subjektivität oder die bloße Konventionalität angelernter Schemata eingeschlossen. Wir können am Ende gar nichts anderes tun, als solche Leute bedauernd stehenzulassen. 362 362 f . 363 § 448 2) In der Diremtion dieses unmittelbaren Findens ist das eine Moment die abstrakte identische Richtung des Geistes im Gefühle wie in allen andern seiner weitern Bestimmungen, die Aufmerksamkeit, ohne welche nichts für ihn ist; – die tätige Erinnerung, das Moment des Seinigen, aber als die noch formelle Selbstbestimmung der Intelligenz. (444) In der Unterscheidung verschiedener Arten eines immer noch relativ unmittelbaren Empfindens in der Anschauung hält eine schon sach- und gegenstandsbezogene Aufmerksamkeit den Fokus stabil. Ohne eine teils implizite, teils explizite Artbestimmung und Gerichtetheit auf Instanzen der Art verschwimmt sozusagen alles. Es gibt kein ›Etwas‹, auf das ein ›rein‹ empfindendes Anschauen sich beziehen könnte. In tätiger Erinnerung geht es um ein Wiedererkennen von (Instanzen von) Arttypen, wobei die Wahrheit der erinnerten Inhalte zumeist noch zu bewerten ist. Das andere Moment ist, daß sie gegen diese ihre Innerlichkeit die Gefühlsbestimmtheit als ein Seiendes, aber als ein Negatives, als das abstrakte Anderssein seiner selbst setzt. (444) Ohne Platzierung eines angeschauten Dings oder einer Sache ›als ein Seiendes‹ in eine gemeinsame Raum-Zeit-Ordnung von Körpern und Prozessen blieben alle bloß internen Gegenstände einer ›Vorstellung‹ oder ›Erinnerung‹ sozusagen bloß subjektive ›Intuition‹. Objektive Gegenstände ›negieren‹ in diesem Sinn eine bloße ›Innerlichkeit‹. Die Intelligenz bestimmt hiemit den Inhalt der Empfindung als außer sich Seiendes, wirft ihn in Raum und Zeit hinaus, welches die Formen sind, worin sie anschauend ist. (444) Das Denken, keineswegs das perzipierende Anschauen allein, bestimmt den gegenständlichen Inhalt der Empfindung – nämlich als ihren Gegenstand und dann auch als ihre ›Ursache‹. Die etwas allzu
444 f. Psychologie. Der Geist 697 dramatische Metapher, nach der ich denkend den Gegenstand in Raum und Zeit hinauswerfe, ist natürlich nicht wörtlich zu lesen. Sie muss dennoch genau ausgelegt werden. Alle wirklichen Dinge und Sachen stehen in bestimmten raumzeitlichen Relationen zu allen anderen wirklichen Dingen und Sachen, nicht etwa nur zu uns, wie ich schon mehrfach gegen Hume und Kant betont habe. Die Intelligenz als Objektbezugnahme ist zwar anschauend, so aber, dass Raum und Zeit nicht, wie bei Kant, bloße Formen der Sinnlichkeit, sensation oder Empfindung sind. Sie sind Formen der globalen Ordnung von allem konkreten Einzelnen in der einen und einzigen globalen Welt der empirischen und damit raumzeitlich endlichen Sachen. Daher haben auch nur denkende Menschen Zugang den räumlichen und zeitlichen Formen eines Perspektivenwechsels auf ein und dasselbe Objekt oder objektive Ereignis. Ohne Repräsentationen von Möglichkeiten gäbe es keinen Begri= des in der Welt Vorhandenen, das sich dann freilich je konkret, wenn auch über beliebig komplexe Vermittlungen, in unserer Anschauung irgendwie zeigen muss, um als wirklich beurteilt zu werden. Das ist eine Art verbesserte Ausführung einer der Grundeinsichten Kants, bei dem der Holismus der Vermittlungen allerdings unterbelichtet bleibt. Nach dem Bewußtsein ist der Sto= nur Gegenstand desselben, relatives Anderes; von dem Geiste aber erhält er die vernünftige Bestimmung, das Andre seiner selbst zu sein (vgl. § 247, 254). (444 f.) Dass wir uns tatsächlich in einer impliziten Auseinandersetzung mit Kant befinden, signalisiert schon das Wort »Bewusstsein«. Nach Kants transzendentaler Reflexion, die am Ende doch bloß reflektierende Introspektion ist, ist aller »Sto= nur Gegenstand« des Bewusstseins und als nur »relatives Anderes« noch kein wirklich vorhandenes Objekt in der Welt. Hegels Wort »Geist« verweist hier darauf, dass das personale Subjekt als geistiges Wesen in die Lage gekommen ist, das Objektive eines Dinges oder einer Sache S zu begreifen. Es kann damit unterscheiden zwischen je seinen Präsentationen und Repräsentationen von S und äquivalenten Zugängen zum ›gleichen‹ S nicht nur durch andere personale Subjekte, sondern auch durch andere Wesen, Dinge und Sachen je von ihren Orten oder Zeiten her. Eine solche Unterscheidung wird weder im subjektiven Empirismus Humes noch in Kants subjektivem Idealismus ausreichend diskutiert. 363
698 363 363 Der subjektive Geist 445 § 449 3) Die Intelligenz als diese konkrete Einheit der beiden Momente, und zwar unmittelbar in diesem äußerlich-seienden Sto=e in sich erinnert und in ihrer Erinnerung in sich in das Außersichsein versenkt zu sein, ist Anschauung. (445) Wir müssen den Satz, wie bei Hegel fast immer, drehen: Anschauung als intentionale Apperzeption oder auf Gegenstände in der Raumzeit gerichtete Wahrnehmung mit begri=lichem Urteil ist eine geistige, nicht nur sensitiv vermittelte Weltbezugnahme. Sie setzt Artbestimmungen und raumzeitliche Platzierungen der Bezugsgegenstände voraus. Die beiden Momente, die dabei zu einer Einheit verbunden werden, sind gemeinsame Attention und Perspektivenwechsel. Die Attention ist eine sich an Arttypen erinnernde und auf den Gegenstand gerichtete Aufmerksamkeit. Was ich Perspektivenwechsel nenne, definiert das raumzeitliche Objekt durch kovariante bzw. gegenstandsgleiche Variationen der Bezugnahmen. § 450 Auf und gegen dies eigene Außersichsein richtet die Intelligenz ebenso wesentlich ihre Aufmerksamkeit und ist das Erwachen zu sich selbst in dieser ihrer Unmittelbarkeit, ihre Erinnerung in sich in derselben; so ist die Anschauung dies Konkrete des Sto=s und ihrer selbst, das Ihrige, so daß sie diese Unmittelbarkeit und das Finden des Inhalts nicht mehr nötig hat. – (445) Das eigene Außersichsein ist die eigene Körperlichkeit. Das Wort »Intelligenz« meint jetzt o=enbar weiterhin je mich in apperzeptiver Bezugnahme auf die äußere Welt. Erst jetzt, als anschauende Intelligenz und in einer durch Denken begleiteten Anschauung erwachen wir zur Geistseele. Ab jetzt haben wir es sozusagen nicht mehr nötig, wie Kleinstkinder oder Gemütskranke alle Bestimmungen nur in uns selbst zu finden. Anders als bei Kant ist bei Hegel daher volle Anschauung immer schon durch Denken geformt. Sie präsupponiert die Unterscheidung von Innen und Außen, begreift Zeit und Raum als Formen der äußeren Dinge und Sachen und nicht etwa bloß je meiner Sinnlichkeit, kennt das Konkrete des Sto=s und ihrer selbst als das Ihrige, so aber, dass im raumzeitlichen Außen der objektive Zugang von anderen oder von anderer Stelle her zum Gleichen schon
445 f. Psychologie. Der Geist 699 bestimmt ist. Anschauungen setzen entsprechende Urteile implizit oder empraktisch voraus. β) Die Vorstellung § 451 Die Vorstellung ist als die erinnerte Anschauung die Mitte zwischen dem unmittelbaren Bestimmt-sich-finden der Intelligenz und zwischen derselben in ihrer Freiheit, dem Denken. (445) Obwohl das Wort »Vorstellung« eigentlich das lateinische Wort »praesentatio« übersetzt, so wie »Darstellung« das Wort »repraesentatio«, gebrauchen wir es im Deutschen für eine »erinnerte Anschauung«, wie Hegel ganz passend definiert. Auch der Kommentar ist ganz richtig, dass eine Vorstellung eine Art Mittelstellung einnimmt zwischen einer schon relativ freien Produktion möglicher Denkinhalte im leisen Reden mit sich selbst, wenn auch nur als relativ schnelles verbal planning, und einer noch relativ unmittelbaren Anschauungserinnerung im Vollzug. Man denke dabei nicht nur an Bilder im Kopf oder an Reden bzw. Musik im Ohr, da es auch Erinnerungen an Handlungsabläufe gibt, an denen der ganze Leib beteiligt ist. Jeder Wanderer oder Radfahrer kennt so ein Terrain ohne Worte und ohne Bild. Die Vorstellung ist das Ihrige der Intelligenz noch mit einseitiger Subjektivität, indem dies Ihrige noch bedingt durch die Unmittelbarkeit, nicht an ihm selbst das Sein ist. (445) Wenn wir die überkomplexe, allzu dichte Formulierung in die erste Person und aus der generischen Form im Singular in einen generischen Plural transponieren, wird sie schon verständlicher: Unsere Vorstellungskraft gehört zu unserer Intelligenz und zu unserer Subjektivität. Dabei sind unsere Vorstellungen »noch bedingt durch die Unmittelbarkeit« ihres Auftretens. Sie garantieren auch im Erinnerungsfall noch nicht, dass es so war, wie wir uns das erinnernd vorstellen. Der Weg der Intelligenz in den Vorstellungen ist, die Unmittelbarkeit ebenso innerlich zu machen, sich in sich selbst anschauend zu setzen, als die Subjektivität der Innerlichkeit aufzuheben und in ihr selbst ihrer sich zu entäußern, und in ihrer eigenen Äußerlichkeit in sich zu sein. (445 f.) 363 363 363
700 363 f . Der subjektive Geist 446 Hegel verlangt hier von uns fast zu viele Interpolationen. Er spricht zwar von einem »Weg der Intelligenz in den Vorstellungen«, sagt uns aber nicht, dass er von einem gedoppelten bzw. mehrfachen Ablauf spricht. In der Anschauung mag sich z. B. ein Schi= an mir, der ich stromabwärts radle, so vorbeibewegen, dass es mir so scheint, als ob es sich stromaufwärts bewegte – obwohl es nur langsamer als ich den Strom hinunterfährt. Bei Kant findet sich eben diese Überlegung, deren Details ich übergehe. Die Unmittelbarkeit der Anschauung kann ich auf mehrere Weisen innerlich machen: Ich stelle mir die Situation so vor, wie sie mir erscheint, oder so, wie ich sie gerade beschrieben habe. Dann kann ich mich fragen, welches der beiden Vorstellungsbilder das wahre ist. Die Subjektivität der Innerlichkeit im Vollzug wird damit in einem ersten Schritt vergegenständlicht und so versuchsweise aufgehoben. In diesem Sinn versuche ich, in meiner eigenen Äußerlichkeit in mir zu sein. Aber indem das Vorstellen von der Anschauung und deren gefundenem Sto=e anfängt, so ist diese Tätigkeit mit dieser Di=erenz noch behaftet, und ihre konkreten Produktionen in ihr sind noch Synthesen, die erst im Denken zu der konkreten Immanenz des Begri=es werden. (446) Mein Vorstellen ist in seinem Unterscheiden und besonders in den vorgestellten Prozessabläufen an die in meinen partiell zufälligen Anschauungen vorgefundenen Sachen gebunden. Obwohl man manche Vorstellung konkret produzieren kann, ist es eher ein Abrufen aus dem Gedächtnis als eine freie Synthese, wie sie erst im Denken möglich wird. 1) Die Erinnerung 364 § 452 Als die Anschauung zunächst erinnernd, setzt die Intelligenz den Inhalt des Gefühls in ihre Innerlichkeit, in ihren eigenen Raum und ihre eigene Zeit. (446) Wenn ich mich an eine Anschauungssituation erinnere, ›erfahre‹ ich sozusagen innerlich einen Inhalt. Im Vorstellen platziere ich das Erinnerte in meinen eigenen Raum und gebe den erinnerten Abfolgen meine eigene Zeitordnung. Im Unterschied zur Anschauung bin ich
446 Psychologie. Der Geist 701 dabei frei, so dass es präsentisch noch keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür geben mag, wie die Dinge und Sachen räumlich und zeitlich richtig zu ordnen sind. So ist er αα) Bild, von seiner ersten Unmittelbarkeit und abstrakten Einzelnheit gegen anderes befreit, als in die Allgemeinheit des Ich überhaupt aufgenommen. (446) Inhalte von Vorstellungen sind zunächst von der Art eines Bildes. In ihrer partiellen Spontaneität sind sie erstens frei von der unmittelbaren Gegebenheit rezeptiver Anschauung und zweitens frei von den Bedingungen ihrer gemeinsamen Platzierung in einer einheitlichen Raumzeitordnung. Diese verlangt schon die prinzipielle Zugänglichkeit des Gegenstands für andere Perspektiven. Die schwierige Rede von der »Allgemeinheit des Ich überhaupt« drückt m. E. aus, dass bei Hume, Kant und Fichte die Analysen von Wahrnehmung, Anschauung, auch Erinnerung eines Ich generisch bleibt, so dass die Formen der Perspektivenwechsel zu anderen Personen schon längst aus dem Skopus der Analysesprache herausgefallen sind. Das Bild hat nicht mehr die vollständige Bestimmtheit, welche die Anschauung hat, und ist willkürlich oder zufällig, überhaupt isoliert von dem äußerlichen Orte, Zeit und dem unmittelbaren Zusammenhang, in dem sie stand. (446) Wie in einem Roman alle benannten Figuren und auch im Film oder Theater alle auftretenden ›Personen‹ nur Typen sind, denen »die vollständige Bestimmtheit« der Einzelgegenstände fehlt, so ist es auch in allen inneren Vorstellungen. In der vollen Anschauung dagegen sind die Einzelsachen schon so bestimmt, dass ihre weitere Darstellung anders als im Roman oder Film oder einer Vorstellung nicht willkürlich neue Eigenschaften setzen kann. Überhaupt sind alle erinnerten oder fingierten Vorstellungen für sich »isoliert von dem äußerlichen Orte, [der] Zeit und dem unmittelbaren Zusammenhang«, in dem sie gestanden haben mögen. 364 364
702 364 364 Der subjektive Geist 446 § 453 ββ) Das Bild für sich ist vorübergehend, und die Intelligenz selbst ist als Aufmerksamkeit die Zeit und auch der Raum, das Wann und Wo, desselben. (446) Vorstellungsbilder sind im Allgemeinen weit weniger stabil als reale Anschauungen von Dingen und Sachen, obgleich diese sich bewegen bzw. verändern. Dass »die Intelligenz selbst« als Aufmerksamkeit »die Zeit und auch der Raum, das Wann und Wo« einer Sache sein soll, ist, wörtlich genommen, Unsinn. Nur im Fall von eigenproduzierten Vorstellungsbildern, also von inneren Filmen, ist klar, dass die filminterne zeitliche und räumliche Ordnung der Gegenstände in der Vorstellungswelt von mir oder meinetwegen meiner Vorstellungskraft erzeugt ist. Dabei bestimme ich im Bild relative Orte und Zeiten der Gegenstände. Das tue ich auch dann, wenn ich das Vorstellungsbild aufmerksam mit der realen Anschauung vergleiche. Man denke dabei etwa an Fälle, in denen ich die Bewegung eines Dinges verfolge, das einige Zeit lang meiner Sicht entzogen ist und dann wiederauftaucht. Normalerweise passen unsere Normalfallvorstellungen zum realen Geschehen. Wir wissen aber auch, dass Zauberkünstler uns hereinlegen können. Das liegt zum Teil gerade an Interpolationen von nicht perzipierten Bewegungsbestandstücken. Unsere vermeintlich direkte Anschauung ist also nie unmittelbar. Die Intelligenz ist aber nicht nur das Bewußtsein und Dasein, sondern als solche das Subjekt und das Ansich ihrer Bestimmungen; in ihr erinnert, ist das Bild nicht mehr existierend, bewußtlos aufbewahrt. (446) Wir sollten uns nicht allzu lange darüber aufhalten, ob Hegels Titel »Intelligenz« für ein gutes und schnelles Begreifen der Objekte der Anschauung gut gewählt ist. Jedenfalls gehört zur Intelligenz ein gewisses Maß an attentiver Aufmerksamkeit, Vorstellungskraft, Erinnerung und Gedächtnis, die als solche schon weit über Reaktionen auf Perzeptionen in der Gegenwart des Daseins hinausgehen, damit auch über das präsentische Bewusstsein bloßen Gewahrseins. Unter den Titel »Intelligenz« subsumiert Hegel hier explizit »das Subjekt«, also je mich jetzt, und dann auch »das Ansich«, also die generisch-begri=lichen Bestimmungen der Sachen als den notwendigen
446 f. Psychologie. Der Geist 703 Bedingungen inhaltsverstehender und zusammen mit konstativen Wahrnehmungsurteilen apperzeptiver Anschauung. Die Intelligenz als bloßes Teilmoment unterscheidet Hegel vom vollen Geist besonders dadurch, dass der Geist potentiell unendliche Formen dialogisch-dialektischer Reflexion enthält. Die imaginatio als spontane Produktion von Vorstellungsbildern gerade auch in Begleitung von Anschauungen bleibt präsentisch, schematisch oder akzidentell. Erinnerung sind ebenfalls sozusagen bewusstlos aufbewahrt und noch nicht einmal nach Belieben abrufbar. Kausal bzw. physiologisch-psychologisch ›erklärt‹ wird hier gar nichts. Vielmehr werden Erklärungen in den psychologischen Sachwissenschaften unter Einschluss von Physiologie und (evolutionärer) Anthropologie erst möglich auf der Grundlage einer solchen Phänomenologie und dem dabei erarbeiteten Vokabular, mit dem wir Momente im Erkennen und Verstehen di=erenzierend explizit machen. Die Intelligenz als diesen nächtlichen Schacht, in welchem eine Welt unendlich vieler Bilder und Vorstellungen aufbewahrt ist, ohne daß sie im Bewußtsein wären, zu fassen, ist einerseits die allgemeine Forderung überhaupt, den Begri= als konkret, wie den Keim z. B. so zu fassen, daß er alle Bestimmtheiten, welche in der Entwicklung des Baumes erst zur Existenz kommen, in virtueller Möglichkeit, a;rmativ enthält. (446 f.) Mein Lesevorschlag zu Hegels Rede von der Intelligenz bewährt sich besonders in dieser Passage. Denn die Rede vom nächtlichen Schacht der Erinnerung, in dem allerlei Bilder und Bildsequenzen mal auftauchen, mal nicht, wobei wir manchmal intentional etwas auftauchen lassen können, häufig aber das, was wir im Chaos des unbewusst Erinnerten suchen, gerade nicht finden, ist eine phänomenologisch ausnehmend angemessene Metapher für tatsächliche Verhältnisse beim Erinnern. Die elektromechanischen Metaphern von einem Speicher im Gehirn sind weder der Art nach anders noch irgend besser oder genauer formuliert.91 91 Es gibt Gehirnkrankheiten, die das Erinnerungsvermögen und damit die Intelligenz beeinträchtigen, und es gibt chemische Substanzen wie Alkohol oder Co=ein, welche negative bzw. positive Einflüsse auf Vigilanz, Gewahrsein, Aufmerksamkeit und damit auf unsere Selbstkontrolle haben 364 k
704 364 k 364 f . k 365 k Der subjektive Geist 447 Hegels Formulierungen sind freilich auch ambig. Ich lese sie so, dass ihr Kern darin besteht, die Vorstellung zurückzuweisen, man könne Intelligenz und Begri=sverstehen in ihrer Entwicklung in Analogie zum Wachsen einer Eiche aus einer Eichel bei guten Umweltbedingungen verstehen. Die Unfähigkeit, dies in sich konkrete und doch einfach bleibende Allgemeine zu fassen, ist es, welche das [Gerede vom] Aufbewahren der besondern Vorstellungen in besondern Fibern und Plätzen veranlaßt hat; das Verschiedene soll wesentlich nur eine auch vereinzelte räumliche Existenz haben. – (447) Die Polemik gegen das mechanische Speicherbild besagt nicht, dass es keine physischen Träger für Erinnerungen gibt, sondern nur, dass diese noch gar keine Inhalte speichern, sondern nur äußere Formen wie Bilder und Wörter. Die Urteile über Inhaltsäquivalenzen sind keineswegs schon fest gespeicherte äußere Schemata, sondern geformte präsentische Vollzüge. Der Keim aber kommt aus den existierenden Bestimmtheiten nur in einem Andern, dem Keime der Frucht, zur Rückkehr in seine Einfachheit, wieder zur Existenz des Ansichseins. Aber die Intelligenz ist als solche die freie Existenz des in seiner Entwicklung sich in sich erinnernden Ansichseins. (447) Zum Wachsen aus einer Anlage oder einem Samen wie im Fall einer Eichel sagt Hegel, dass hier die Existenz des Ansichseins die Art ist, die sich in verschiedenen Exemplaren im arttypischen Lebenszyklus instanziiert. Dagegen ist die Intelligenz gerade auch wegen der zugehörigen Erziehung und Selbstbildung eine freie Existenz. Hier ist nur ein Teilmoment von der Art einer ›natürlichen Entwicklung‹. Das Ansichsein der Gattungsform der Intelligenz bzw. dann auch des vollen Geistes des Personseins besteht darin, dass wir uns an die Entwicklung eben dieser unserer Gattungsform des Geistes erinnern.92 Es ist also andrerseits die Intelligenz als dieser bewußtlose Schacht, (können). Das gehört in die Pharmazie und Medizin. Aber auch das Lesen ist für geistige Wachheit im Allgemeinen weit hilfreicher als jedes therapeutische Erinnerungstraining. 92 Die prototypischen Texte der klassischen mediterranen und vorderasiatischen Antike aus dem Lehrplan der höheren Schulen zu nehmen, hat
447 Psychologie. Der Geist 705 d. i. als das existierende Allgemeine, in welchem das Verschiedene noch nicht als diskret gesetzt ist, zu fassen. Und zwar ist dieses Ansich die erste Form der Allgemeinheit, die sich im Vorstellen darbietet. (447) Die Intelligenz als bewusstloser Schacht, also als verleiblichtes Wissen, ist phänomenologisch etwas genauer zu explizieren. Wir können nach Hegel nicht erwarten, dass wir das Allgemeinwissen und die Allgemeinformen des gebildeten Personseins schon »als diskret gesetzt«, das heißt als voll expliziert, erfassen können. Das Ansich des Geistes oder begri=lichen Allgemeinwissens zeigt sich zunächst nur empraktisch und in groben Vorstellungen. Das gilt gerade auch bei eingeschränkter, nur erst oberflächlich angelernter Intelligenz. § 454 γγ) Solches abstrakt aufbewahrte Bild bedarf zu seinem Dasein einer daseienden Anschauung; die eigentliche sogenannte Erinnerung ist die Beziehung des Bildes auf eine Anschauung, und zwar als Subsumtion der unmittelbaren einzelnen Anschauung unter das der Form nach Allgemeine, unter die Vorstellung, die derselbe Inhalt ist; so daß die Intelligenz in der bestimmten Empfindung und deren Anschauung sich innerlich ist und sie als das bereits Ihrige erkennt, so wie sie zugleich ihr zunächst nur inneres Bild nun auch als unmittelbares der Anschauung, und an solcher als bewährt weiß. – (447) Hegel greift hier noch einmal das aristotelische Prinzip auf, dass es im Intellekt oder der Intelligenz nichts gibt, was nicht vorher sinnlich in der Anschauung gegeben war, wie man es auch bei Leibniz oder im Empirismus findet: Jedes »abstrakt aufbewahrte Bild bedarf zu seinem Dasein einer daseienden Anschauung«. Man muss also basale Urbilder bzw. Urlaute oft sehen bzw. hören, um sie als Formen wiederzuerkennen bzw. leise und laut zu reproduzieren. Sich an etwas zu erinnern, ist aber faktiv: Erinnerungen sind, anders als Vorstellungsbilder, im Allgemeinen schon als richtig oder wahr bewertet. Das ist keineswegs selbstverständlich, da wir Erinnerungsbilder sozusagen dauernd teils unbewusst, teils bewusst sich als ein sehr erfolgreiches Verfahren eines downgrading allgemeiner Intelligenz erwiesen. 365
706 365 365 365 Der subjektive Geist 447 manipulieren. Das normalerweise richtige Wiedererkennen von Form und Inhalt gehört zur Intelligenz. Wir wissen z. B., dass und wie sich ein inneres Bild etwa einer gesehenen Landschaft in erneuter Anschauung bewähren kann. Wir wissen aber auch, dass wir uns manchmal und manche sich häufig an Sachen zu erinnern meinen, die nie erfahren wurden oder sogar nie geschehen sind. Das Bild, das im Schachte der Intelligenz nur ihr Eigentum war, ist mit der Bestimmung der Äußerlichkeit nun auch im Besitze derselben. (447) Der Schacht der Intelligenz ist zunächst nur das bloß vage und dunkle Zufallsgedächtnis oder eine bloß implizite, noch nicht bewusste oder mit einiger Gewissheit als wahr beurteilte Erinnerung. Hegel spielt jetzt mit der Analogie zu einem latenten, aber dauernden Eigentum in Relation zu einem aktualen Besitz. Ich bin im Besitz eines richtig reproduzierbaren Vorstellungsbildes und damit der durch es repräsentierten Form nur über die Bestimmung der Äußerlichkeit, also etwa die Zuordnung von Anschauung und reproduzierbarem Bilddiagramm in einer Landschaftsskizze. Das gilt auch für die – durchaus robusten, aber eben daher auch groben – Zuordnungen von Anschauungen und Wörtern. Es ist damit zugleich unterscheidbar von der Anschauung und trennbar von der einfachen Nacht, in der es zunächst versenkt ist, gesetzt. (447) Subjektiv als richtig beurteilbare Vorstellungen qua Repräsentationen einer Anschauung unterscheiden sich von den dunklen Erinnerungsbildern aus der »einfachen Nacht« des unbewussten Gedächtnisses. Die Intelligenz ist so die Gewalt, ihr Eigentum äußern zu können und für dessen Existenz in ihr nicht mehr der äußern Anschauung zu bedürfen. (447 f.) Hegel sagt hier nicht nur, dass die Intelligenz die Fähigkeit, das Vermögen und damit die Macht ist, manche meiner dunklen Vorstellungen äußerlich darzustellen oder in der präsentischen Anschauung wiederzuerkennen, sondern dass sie auch eine Gewalt ist. Das heißt, dass sie erstens eine gewisse Willkür oder einen Zufall enthält, die dann zweitens unser Tun und unsere Haltungen real beherrschen. Das liegt daran, dass in der Fähigkeit zu spontaner, damit partiell
448 Psychologie. Der Geist 707 akzidenteller, partiell willkürlicher Artikulation symbolischer Formen die zentrale Basis jedes begri=lichen Verstehens und Könnens liegt. In der Reproduktion symbolischer Repräsentationen – von Bildund Melodieskizzen bis zu sprachlichen Akten beliebiger Komplexität – machen wir uns unabhängig von zufällig gegebenen äußeren Anschauungssituationen, indem wir die anschaubaren ›Bilder‹ selbst äußerlich und nach einiger Erfahrung immer auch in stiller Vorstellung scha=en. Das gilt gerade auch für Modelle als Repräsentanten für Strukturen oder Formen vermöge einer kommentierenden Beurteilung von Äquivalenzen oder dann auch von Inhaltsgleichheiten. Die Einsicht in die Bedeutung selbsterscha=ener Figuren für die Anschauung geht auf Kant zurück. Er unterscheidet aber zu wenig zwischen innerer Vorstellung und den äußeren Bildern und Diagrammen z. B. in geometrischen Demonstrationen. Hegel sieht genauer als Kant, dass alles symbolische Handeln sozusagen erst laut und dann auch leise, damit auch alles Sprach- und Denkhandeln, von dieser Form ist. Diese Synthese des innerlichen Bildes mit dem erinnerten Dasein ist die eigentliche Vorstellung ; indem das Innere nun auch an ihm die Bestimmung hat, vor die Intelligenz gestellt werden zu können, in ihr Dasein zu haben. (448) Erst die ›Synthese‹, also eine Zusammenstellung und ein Formvergleich von innerlich erzeugten Bildern mit einem erinnerten Dasein, ist das, was wir im Unterschied zu reiner Phantasie etwa in fiktiven Romanen eigentlich unter einer Vorstellung verstehen. Nur eine solche Synthese ist wirklich Repräsentation von etwas, dessen Folgen sich möglicherweise in der Anschauung immer noch zeigen lassen. Jede Repräsentation hat ›die Bestimmung‹, formgleich mit entsprechenden präsentischen Sachen jetzt, damals oder in einer möglichen Zukunft zu sein. 365
708 Der subjektive Geist 448 2) Die Einbildungskraft 365 365 365 f . § 455 αα) Die in diesem Besitz tätige Intelligenz ist die reproduktive Einbildungskraft, das Hervorgehen der Bilder aus der eigenen Innerlichkeit des Ich, welches nunmehr deren Macht ist. (448) Einbildungskraft und Vorstellungskraft sind weitgehen dasselbe. Auch sonst lassen sich die Momente der Intelligenz nicht fein säuberlich voneinander trennen, etwa die reproduktive Einbildungskraft von reiner Phantasie. Sowohl bei der Verfertigung von Reden als auch bei der Herstellung von Bildern oder Klangformen gehen die Repräsentationen »aus der eigenen Innerlichkeit des Ich« hervor. Das leicht Passivische der Formulierung liegt daran, dass das Ich oder die Intelligenz dabei nur ganz allgemein betrachtet frei ›handelt‹. Vieles Einzelne hängt jeweils noch von momentanen Einfällen ab, so dass unsere eigene Phantasie eine eigentümliche Macht über uns darstellt, da sie sozusagen den Rahmen je meiner Vorstellungen und damit meiner Handlungsoptionen und Haltungen absteckt. Die nächste Beziehung der Bilder ist die ihres mit aufbewahrten äußerlichen unmittelbaren Raums und Zeit. – (448) Räumliche Lagen von Stellen und Linien in Bildern sind relativ einfach zu vergleichen bzw. so einander zuzuordnen, dass man eine gemeinsame geometrische Form oder Struktur erkennt, sofern eine solche ausreichend ›ins Auge springt‹ oder ›salient‹, also ›hervorstechend‹ ist. Das gilt auch für viele zeitlichen Abfolgen von Bildsequenzen, so dass wir innere ›Filme‹ mit äußeren ›Prozessen‹ als formgleich im raumzeitlichen Sinn beurteilen können. Hegel spricht von einer Art der Aufbewahrung des unmittelbaren Raums und der äußeren Zeit. Aber das Bild hat im Subjekte, worin es aufbewahrt ist, allein die Individualität, in der die Bestimmungen seines Inhalts zusammengeknüpft sind; seine unmittelbare, d. i. zunächst nur räumliche und zeitliche Konkretion, welche es als Eines im Anschauen hat, ist dagegen aufgelöst. (448) Erinnerungs- oder Vorstellungsbilder ›im Subjekt‹ oder seinem Gedächtnisschacht sind oft nur sehr vage. Wir erinnern uns, wie schon gesagt, selten wörtlich oder photographisch, sondern inhaltlich. Das heißt es wohl, wenn Hegel sagt, dass »die unmittelbare, d. i. zunächst
448 Psychologie. Der Geist 709 nur räumliche und zeitliche Konkretion« einer erinnerten Anschauung aufgelöst sei. Allerdings sind auch die Inhalte zumeist erst im Kontext des Redens und Urteilens über sie genauer bestimmt. Dabei variieren die Techniken und Fähigkeiten eines wörtlichen bzw. photographischen und eines inhaltlichen Gedächtnisses. Der reproduzierte Inhalt, als der mit sich identischen Einheit der Intelligenz angehörend und aus deren allgemeinem Schachte hervorgestellt, hat eine allgemeine Vorstellung zur assoziierenden Beziehung der Bilder, der nach sonstigen Umständen mehr abstrakten oder mehr konkreten Vorstellungen. (448) Wenn die Reproduktion von Formen aus dem ›Schacht‹ des Gedächtnisses und der Intelligenz stammt, sind zumeist akzidentelle Konnotationen, bloße Assoziationen von Bildern und willkürliche Einfälle von inhaltliche Relevantem auszusondern. Kanonisch gesetzte Assoziationen und explizit erlaubte Konnotationen gehören dennoch zur allgemeinen Normalbedeutung. Aber im konkreten Fall kontextrelativen Verstehens müssen unpassende Assoziationen ausgeschlossen werden. Wenn man an ihnen partout festhält, wie etwa wenn sich einer am grammatischen Geschlecht des Wortes »Gott« oder auch von »jemand« stört, hat man wie im Fall einer Metaphernund Ironieresistenz ein Intelligenzproblem. Die sogenannten Gesetze der Ideen-Assoziation haben besonders in der mit dem Verfall der Philosophie gleichzeitigen Blüte der empirischen Psychologie ein großes Interesse gehabt. (448) Ein Verfall nicht nur von Philosophie und Geisteswissenschaften, sondern des Denkens selbst findet in der Liebe zu Ideenassoziationen sein klarstes Zeichen und in der Erfindung von angeblichen Gesetzen für sie in Zeiten der »Blüte der empirischen Psychologie« ihren Höhepunkt. Fürs erste sind es keine Ideen, welche assoziiert werden. (448) Hegel bemerkt zunächst recht trocken, dass es nie Ideen sind, welche assoziiert werden, da Ideen reale Prototypen für Formen sind. Assoziiert werden bloße Wörter, Bildchen (eidola). Es handelt sich um halb willkürliche, halb unwillkürliche ›Schlüsse‹ vom Hölzchen aufs Stöckchen, wie wenn man z. B. das akzidentelle Femininum der Göttinnen Sonne, Welt und Erde im Germanischen oder das Maskulinum in Helios und Sol überschätzt. 366 366 k 366 k
710 366 k 366 k 366 k Der subjektive Geist 448 f. Fürs andere sind diese Beziehungsweisen keine Gesetze, eben darum schon, weil so viele Gesetze über dieselbe Sache sind, wodurch Willkür und Zufälligkeit, das Gegenteil eines Gesetzes, vielmehr statthat; es ist zufällig, ob das Verknüpfende ein Bildliches oder eine Verstandes-Kategorie, Gleichheit und Ungleichheit, Grund und Folge usf., ist. (448 f.) Für Wortbildassoziationen nach Art des Übergangs von »history« zu »his story« gibt es keine Gesetze. Wie bei aller Kontingenz müsste man sozusagen viel zu viele Gesetze postulieren. Zufälle von Wortklängen sind als solche das »Gegenteil eines Gesetzes«. Sowohl die lautlich naheliegenden als auch die kanonisch ausgesonderten und eingeübten Assoziationen werden falsch begri=en, wenn man sie ›kausal‹ erklärt und nicht als Teil einer normativen Praxis im Rahmen unserer Kooperationsformen begreift. Manche bildlichen Assoziationen sind kanonisiert, wie der goldene Heiligenschein. Wer die kanonischen Formen missachtet und etwa von einem Führer beim Wandern oder eines Wagens assoziativ zum Duce oder zu Hitler springt, ist nur erst ungebildet. Das Fortgehen an Bildern und Vorstellungen nach der assoziierenden Einbildung ist überhaupt das Spiel eines gedankenlosen Vorstellens, in welchem die Bestimmung der Intelligenz noch formelle Allgemeinheit überhaupt, der Inhalt aber der in den Bildern gegebene ist. – (449) Zwar sind die Einfälle im Fortspinnen von Bildern und Vorstellungen auch blühender Phantasie durchaus wichtig. Sie verlangen aber eine aufmerksame, sach- und begri=sbezogene Selbstkontrolle, um nicht gedankenlos und oberflächlich zu bleiben. Bild und Vorstellung sind, insofern von der angegebenen genauern Formbestimmung abgesehen wird, dem Inhalte nach dadurch unterschieden, daß jenes die sinnlich-konkretere Vorstellung ist; Vorstellung, der Inhalt mag ein Bildliches oder Begri= und Idee sein, hat überhaupt den Charakter, obzwar ein der Intelligenz Angehöriges, doch ihrem Inhalte nach Gegebenes und Unmittelbares zu sein. Das Sein, das Sich-bestimmt-Finden der Intelligenz klebt der Vorstellung noch an, und die Allgemeinheit, welche jener Sto= durch das Vorstellen erhält, ist noch die abstrakte. (449) Einbildungskraft erzeugt als Phantasie irgendwelche Bilder, Vor-
449 Psychologie. Der Geist 711 stellungskraft aber Abbilder oder Repräsentationen von möglichen Sachen. Weil eine Vorstellung eine (Re-)Präsentation von Arten in einer manifesten Instanz ist, hat sie den Charakter, »ihrem Inhalte nach Gegebenes und Unmittelbares zu sein«. Das gilt gerade auch für Einfälle. Die aktive Seite bewusster Produktion symbolischer Repräsentationen bleibt in dieser Reflexion erst einmal ausgeblendet. Dabei hat Hegel recht, dass nach unserem Sprachgefühl jeder Rede von einer Vorstellung eben dieses eher passive Bild ›noch anklebt‹. Er bestätigt meine Lesart der Problemlage auch dadurch, dass er dem Wort »Empfindung« den Ausdruck »Sich-bestimmt-Finden« zuordnet. Die Allgemeinheit des ›Sto=es‹ (qua Plot oder Thema) von Vorstellungen ist insbesondere deswegen abstrakt, als noch nicht klar ist, welche der Repräsentationen und Präsentationen in realer Anschauung als gleich gültig, also als form- bzw. inhaltsgleich, welche als wesensverschieden zu werten sind, so dass der Sachbezug noch ebenso variabel ist wie im Falle eines bloßen Zahlausdrucks der ›äußeren‹ Form »11«, die nur im Zehnersystem die Zahl Elf darstellt. Die Vorstellung ist die Mitte in dem Schlusse der Erhebung der Intelligenz; die Verknüpfung der beiden Bedeutungen der Beziehungauf-sich, nämlich des Seins und der Allgemeinheit, die im Bewußtsein als Objekt und Subjekt bestimmt sind. (449) Hegels drei Schlussfiguren verknüpfen das Einzelne mit dem Besonderen (A) oder mit dem Allgemeinen (B) oder das Besondere mit dem Allgemeinen (E). Das Allgemeine A, Besondere B und Einzelne E sind dabei jeweils die ›Vermittler‹. Hier verbindet die Vorstellung als besondere Mitte der Intelligenz das Einzelne der Anschauung mit der Allgemeinheit vollen geistigen Begreifens. Dabei werden, meint Hegel, zwei ›Bedeutungen der Beziehung-auf-sich‹ miteinander verknüpft. Die eine Selbstbeziehung ist das Sein im Vollzug des Fühlens, Vorstellens und Tuns, die andere ist die Allgemeinheit in einer bewussten Selbst-Beurteilung, SelbstKontrolle und Selbst-Bestimmung. In der conscientia des (Selbst-)Bewusstseins auch des Gewissens bin ich Subjekt und Objekt zugleich: Ich spreche und urteile über mich; ich sorge im bewussten und willentlichen Tun dafür, dass ich so und nicht anders sein werde oder, bei noch o=enen Alternativen, so oder anders sein oder werden kann. 366 k
712 366 k 366 f . k Der subjektive Geist 449 Die Intelligenz ergänzt das Gefundene durch die Bedeutung der Allgemeinheit, und das Eigne, Innere, durch die des aber von ihr gesetzten Seins. – Über den Unterschied von Vorstellungen und Gedanken vergl. Einl. § 20 Anm. (449) Hegel erläutert hier noch einmal, was Intelligenz ist: Sie ergänzt Empfindungen und Einfälle der Phantasie durch den Fokus auf allgemeine und relevante Strukturformen und Inhalte unter Ausschluss von Unwesentlichem und Oberflächlichem. Das ›von ihr gesetzte Sein‹ ist eben dieser jeweilige Inhalt. Im § 20 der Einleitung zur Enzyklopädie hatte Hegel zunächst das Denken »das tätige Allgemeine« genannt und die res cogitans des Descartes so erläutert: »Das Denken als Subjekt vorgestellt ist Denkendes«, mit »ich« als einfachem Ausdruck »des existierenden Subjekts« im Vollzug des Denkens. Ich denke also, indem ich als momentanes Subjekt einen Denk- oder, wie Hegel im selben Paragraphen in der Anmerkung klarmacht, einen Sprechakt aktualisiere. Dieser ist im Unterschied zu einer bloßen Vorstellung als allgemeine Form einer Sprechhandlung allgemein verstehbar, d. h. so, dass z. B. klar sein muss, welcher Unterschied als bestehend mit welchen relationalen Inferenzen ausgesagt wird. Die Abstraktion, welche in der vorstellenden Tätigkeit stattfindet, wodurch allgemeine Vorstellungen produziert werden – und die Vorstellungen als solche haben schon die Form der Allgemeinheit an ihnen –, wird häufig als ein Aufeinanderfallen vieler ähnlicher Bilder ausgedrückt und soll auf diese Weise begreiflich werden. Damit dies Aufeinanderfallen nicht ganz der Zufall, das Begri<ose sei, müßte eine Attraktionskraft der ähnlichen Bilder oder desgleichen angenommen werden, welche zugleich die negative Macht wäre, das noch Ungleiche derselben aneinander abzureiben. Diese Kraft ist in der Tat die Intelligenz selbst, das mit sich identische Ich, welches durch seine Erinnerung ihnen unmittelbar Allgemeinheit gibt und die einzelne Anschauung unter das bereits innerlich gemachte Bild subsumiert (§ 453). (449) Ich behaupte nicht, dass Hegel alle Einzelheiten der Abstraktion von allgemeinen Formen im Ausgang von Anschauungen, Bildern und Worten im Vorstellen und Repräsentieren schon voll durchschaut oder gar schon ausreichend expliziert. Aber er erkennt verschiedene
Psychologie. Der Geist 713 Arten der Abstraktion, etwa die, in der nur erst Variablen und damit eine ganze Gattung oder eine Art bestimmt werden. Ein anderer Fall ist der, in dem ein Bild oder ein Prototyp für eine Form steht, indem analogische Relationen zu anderen Bildern oder Anschauungen als mitgesetzt gelten. Eben dadurch werden »in der vorstellenden Tätigkeit«, wie sich Hegel ausdrückt, allgemeine Vorstellungen produziert. Die entsprechende Allgemeinheit heißt heute »Struktur«. Hegel hat daher ganz recht, dass unsere Vorstellungen schon als solche »die Form der Allgemeinheit« haben. Wir stellen uns selten oder nie nackte Bilder oder wörtliche Texte ohne zugehörige Äquivalenzen und Inferenzen vor. Diese sind als solche schon allgemein nachvollziehbar. Wir stellen uns also immer nur strukturierte Inhalte vor, vermittelt durch relationale und prozessuale Formen. Einzelnes gibt es nur in Verbindung mit einer Manifestation eines Typs, einem Beispiel oder einer Instanziierung, etwa als dieser Hase da oder als dieses Skelett eines Tyrannosaurus. Daher ist z. B. auch eine Taufe oder Namensgebung schon eine begri=lich höchst komplexe Angelegenheit. Denn sie setzt das begri=lich Wesentliche, die Identität des getauften Gegenstandes, schon implizit voraus. Die damals übliche Ausdrucksform, die von einem Aufeinanderfallen vieler ähnlicher Bilder spricht, um den Übergang vom Bild zur Struktur oder einem einzelnen Vorstellungs-Modell zur (ggf. prozessualen) Relationsform darzustellen, illustriert nur erst grob die Formenäquivalenz oder Struktur-Isomorphie. Hegel betont, dass dieses Aufeinanderfallen nicht zufällig sein kann, sondern zur normativen Form des Begri=s bzw. der Formstruktur selbst gehört. Metaphorisch spricht er von einer »Attraktionskraft der ähnlichen Bilder« und erläutert durchaus richtig, dass wir in der Lage sein müssen, »das noch Ungleiche derselben« als unwesentliche Variationen zu lesen, indem wir auf die wesentlichen relationalen Formen und Strukturen achten, gerade so, wie wir mit Analogien umgehen (lernen). Die Kraft der ideativen Abstraktion »ist in der Tat die Intelligenz selbst«. Wer sie nicht hat, sondern auf bloße Äußerlichkeiten und beliebige Unterschiede achtet, hat, wie oben schon gesagt, ein Intelligenzproblem. Demgegenüber muss jedes »mit sich identische Ich« als volle Person abstrakt denken, also allgemeine Formen wiedererken-
714 Der subjektive Geist 450 nen und dadurch ihrer Erinnerung ›Allgemeinheit geben‹ können. Das geschieht durch Urteile über strukturelle Formgleichheiten. 367 367 § 456 Auch die Assoziation der Vorstellungen ist daher als Subsumtion der einzelnen unter eine allgemeine, welche deren Zusammenhang ausmacht, zu fassen. (450) Auch das, was man üblicherweise höchst vage als »Assoziation der Vorstellungen« anspricht, ist keineswegs beliebige Verknüpfung von Vorstellungen oder auch schon von gemeinsam in der Anschauung perzipierten Sachen und Abfolgen, sondern längst Subsumtion unter eine allgemeine Form. Die jeweilige Form scha=t erst den Zusammenhang. Sie ist nur selten allein durch die äußere Welt nahegelegt, sondern zumeist schon durch Erziehung, Bildung, gemeinsames Wissen und Sprache kanonisch geformt. Im Empirismus meint man, durch wiederholte ›Erfahrung‹ stellten sich Assoziationen von selbst ein. Doch man unterschlägt damit den Fakt, dass wir aktiv für viele Assoziationen und Normalfallerwartungen auf der Basis von Formunterscheidungen sorgen. Das tun wir kanonisch, nicht ›dogmatisch‹, im Lehren und Lernen von Begri=en. Daher ist auch noch Kants Meinung, es handele sich beim Wiedererkennen von Hunden angesichts der verschiedenartigen Gestalten und Größen der Hunderassen um eine unerklärlich tiefe subjektive Fähigkeit der Seele, keineswegs sachgerecht. Sie zeigt vielmehr, dass Kant diese Fähigkeit noch nicht als gemeinsam etablierte und stabilisierte Abstraktionstechnik versteht, in welcher z. B. schon für Kinder das Tun der Hunde und Katzen und die schematisierten und reproduzierbaren Wörter und Laute wie Wau und Miau mindestens so wichtig werden wie das Aussehen. Die Intelligenz ist aber an ihr nicht nur allgemeine Form, sondern ihre Innerlichkeit ist in sich bestimmte, konkrete Subjektivität von eigenem Gehalt, der aus irgend einem Interesse, ansichseiendem Begri=e oder Idee stammt, insofern von solchem Inhalte antizipierend gesprochen werden kann. (450) Die Intelligenz als Vermögen des Erkennens allgemeiner Formen nach Art von Kants reflektierender Urteilskraft und damit am Ende auch das Begreifen von Begri=en und Ideen ist dann aber in der Tat
450 Psychologie. Der Geist 715 eine freie Vollzugsform, die sich nicht so einfach unmittelbar erwerben und schematisch ausführen lässt wie das Zählen oder dann auch die rekursiven syntakto-semantischen Regeln der formalen Logik oder die Rechenregeln beliebiger Computerprogramme. Vielmehr ist Intelligenz als dialektisch-vernünftige Urteilskraft freie Subjektivität. Sie zeigt sich im freien Begreifen des guten Sinns figurativer Rede, von der Metapher und Metonymie über katachrestische Bildbrüche bis zu allen Formen der Ironie. Insbesondere gibt es ohne praktisches Begreifen von Analogien kein Formwissen und kein Strukturerkennen.93 Hegel selbst ›antizipiert‹ hier das System der ansichseienden Begriffe, also des allgemeinen begri=lichen Wissens, soweit es symbolisch repräsentiert ist, und der Ideen, die sich dann auch in ganzen Praxisformen, z. B. der realen Begri=sanwendungen, zeigen müssen: Ideen sind ja prototypisch oder gar schon stereotypisch realisierte Begri=e. Die Intelligenz ist die Macht über den Vorrat der ihr angehörigen Bilder und Vorstellungen und so ββ) freies Verknüpfen und Subsumieren dieses Vorrats unter den eigentümlichen Inhalt. (450) Noch einmal wird die Intelligenz als Macht des subjektiven Geistes bestimmt, über einen Vorrat an formendefinierenden Bildern und strukturbestimmenden Vorstellungen zu verfügen. Ähnlich wie im Fall syntaktischer Bildung komplexer Ausdrücke werden so auch rekursive Verknüpfungen möglich. Formal gesehen sind z. B. Zusammenlegungen von Bildelementen wie in Comics oder Diagrammen von der gleichen Art wie sprachliche Ausdrucksbildungen. Es gibt in allen drei Fällen auch kanonische Vorfilter dafür, was zusammenpassen könnte. Im wörtlichen Sinn gibt es nie ›unendlich‹ viele Kombinationen von Buchstaben, Wörtern und Sätzen. Aber es gibt ein indefinites »und so weiter«.94 93 Wichtigste Beispiele sind Huygens’ Übertragung der Wellenausbreitung im Wasser (oder im Fall von Schall in der Luft) auf die Phänomene des Lichts, Ørstedts Übertragungen aus der Wasserwirtschaft in die Elektrizitätslehre und die Reden von Sättigungen und Bindungen, früher auch Wahlverwandtschaften, in der Chemie. 94 Unendliches tritt also auch in der Grammatik, wie in der Arithmetik und Geometrie, nur im Rahmen theoretischer Rede über Formen auf den Plan. 367
716 367 367 Der subjektive Geist 450 Die Subsumtion einer Klasse von Bildern oder Ausdrücken »unter den [ihr] eigentümlichen Inhalt« besteht konkret im empraktischen Erkennen einer relevanten Formäquivalenz, Strukturgleichheit und eben damit einer inhaltlichen Identität der ›Elemente‹ der Klasse. So ist sie in jenem in sich bestimmt erinnert und ihn diesem ihrem Inhalt einbildend, – Phantasie, symbolisierende, allegorisierende oder dichtende Einbildungskraft. (450) Wir kommen jetzt dem symbolischen Handeln und damit der Rolle der Zeichen und Sprache, also der Semiotik und Semantik, für die Intelligenz des Formen- und Begri=sverstehens immer näher. Als produktive Kreation prototypischer Modelle für wichtige Inhalte ist die Intelligenz Phantasie. Hegel fasst sie als »symbolisierende, allegorisierende oder dichtende Einbildungskraft« auf. Es sind also drei Arten der Arbeit an der Sprache und damit am Begri=, die hier genannt werden: die Artikulationskraft der Symbolisierung, die Darstellungskraft der Analogie (auch Allegorie und Metapher, samt allen wissenschaftlichen Modellbildungen) und die Verdichtungskraft generischer Sprachkunst. Diese mehr oder weniger konkreten, individualisierten Gebilde sind noch Synthesen, insofern der Sto=, in dem der subjektive Gehalt [sich] ein Dasein der Vorstellung gibt, von dem Gefundenen der Anschauung herkommt. (450) Zunächst freilich beginnen Symbolisierung, Allegorie und Dichtung mit »mehr oder weniger konkreten, individualisierten Gebilden«. Am Anfang sind diese nur erst »Synthesen«, zusammengestellte Sto=e. Wir sind hier ja noch nicht so weit, die Kanonisierungen von Strukturmodellen im objektiven Geist selbst zu betrachten. Im Fall des bloß erst subjektiven Geistes kommen die Vorstellungen von »dem Gefundenen der Anschauung« her, selbst dann noch, wenn diese Anschauung wie in Kinderbüchern und anderen Praktiken der Erziehung, etwa in Liedern und Geschichten, fixiert oder wenigstens gesteuert wird.
450 f. Psychologie. Der Geist 717 § 457 Die Intelligenz ist in der Phantasie zur Selbstanschauung in ihr insoweit vollendet, als ihr aus ihr selbst genommener Gehalt bildliche Existenz hat. Dies Gebilde ihres Selbstanschauens ist subjektiv, das Moment des Seienden fehlt noch. (450) Die Passage reflektiert auf die transzendental-phänomenologische Methode der Reflexion selbst und damit auf den Weg der Argumentation: Unter dem Titel der Intelligenz sind wir von den Überlegungen zum subjektiven Geist über die Vorstellungs- und Einbildungskraft zur Phantasie gelangt, die einen Gehalt durch bildliche Prototypen in seine Existenz bringt. Die dabei konstruierten oder produzierten Gebilde oder Modelle stammen aus Anschauung, Erinnerung und eigenen Kombinationen. Daher ist eine allgemeine, freilich immer bloß praktische, endliche, nie ideale ›Isomorphie‹ zu einer sich wiederholenden Anschauung noch keineswegs sicher etabliert. Das wohl meint Hegel, wenn er sagt, das Moment des Seienden fehle noch. Aber in dessen Einheit des innern Gehalts und des Sto=es ist die Intelligenz ebenso zur identischen Beziehung auf sich als Unmittelbarkeit an sich zurückgekehrt. Wie sie als Vernunft davon ausgeht, sich das in sich gefundene Unmittelbare anzueignen (§ 445, vgl. § 455 Anm.), d. i. es als Allgemeines zu bestimmen, so ist ihr Tun als Vernunft (§ 438) von dem nunmehrigen Punkte aus [dies], das in ihr zur konkreten Selbstanschauung Vollendete als Seiendes zu bestimmen, d. h. sich selbst zum Sein, zur Sache zu machen. In dieser Bestimmung tätig, ist sie sich äußernd, Anschauung produzierend, – γγ) Zeichen machende Phantasie. (450 f.) Entwickelte Phantasie ist wesentlich Erfindung von Symbolen und Zeichen. Es geht ihr nicht darum, konkrete Anschauungen zu reproduzieren oder zu erinnern, sondern komplexe Gebilde zu konstruieren, die man in einem je zu bestimmenden Sinn als struktur- und damit am Ende als inhaltsgleich neben gegebene Anschauungen stellen und dadurch deren Formen, als etwas Allgemeines an ihnen, tätig repräsentieren kann. Das ist der allgemeine Sinn und Witz konventioneller Zeichen. Hegels obskure Rede von einer Rückkehr zu einer »identischen Beziehung auf sich als Unmittelbarkeit an sich« hilft nur dann weiter, wenn man die Gedankenführung neu fasst, etwa so: Das Verstehen 367 367 f .
718 368 k 368 k Der subjektive Geist 451 versucht »sich das in sich gefundene Unmittelbare anzueignen«. Geleistet wird das durch Vergegenständlichung – und zwar der relevanten allgemeinen Form von Empfindungsinhalten, Anschauungen, Erinnerungen, Vorstellungen. Eben diese Form wird nun in selbsterzeugten Zeichensystemen dargestellt. Sie ist planmäßig, also willentlich reproduzierbar, so dass man unabhängig vom präsentisch Gegebenen wird. Die Phantasie ist der Mittelpunkt, in welchem das Allgemeine und das Sein, das Eigene und das Gefundensein, das Innere und Äußere vollkommen in eins gescha=en sind. (451) Aus der Perspektive des subjektiven Lebensvollzugs wird die Phantasie deswegen so zentral, weil es ohne sie keinen Zugang zum Gemeinsamen und Allgemeinen von Formen und Inhalten gibt, wie sie für das Denken über Möglichkeiten unabdingbar sind. Das denkende Subjekt muss Repräsentationen für relationale Strukturen selbständig produzieren und diese durch Zuordnungen, auch Subsumtionen, in gegebenen Anschauungen wiedererkennen. Nur so verbinden sich angeschautes Sein, das Eigene der symbolischen Explikationen und das Gefundensein, also das Innere und Äußere. Mangelnde Phantasie ist daher ein Intelligenzproblem. Die vorhergehenden Synthesen der Anschauung, Erinnerung usf. sind Vereinigungen derselben Momente; aber es sind Synthesen; erst in der Phantasie ist die Intelligenz nicht als der unbestimmte Schacht und das Allgemeine, sondern als Einzelnheit, d. i. als konkrete Subjektivität, in welcher die Beziehung auf sich ebenso zum Sein als zur Allgemeinheit bestimmt ist. (451) In der Anschauung und Erinnerung gibt es zwar auch schon die relationalen Formmomente, aber noch nicht in explizit kontrollierbarer Form wie im Fall eigener Produktionen von Repräsentanten. Erst die Phantasie als wahrhaft produktive Einbildungs- und Vorstellungskraft, wie wir sie gerade auch im kindlichen Symbol- und Rollenspiel einüben, verwandelt die Intelligenz bloßer Erinnerung. Diese Spiele sind nur scheinbar ein So-tun-als-ob. Kinder unterscheiden nicht anders als wir Erwachsene Wort und Sache, Repräsentation und das Repräsentierte. Ihr Sehen und Behandeln von etwas als etwas hat die Form von Deklarationen: Das »ist« im Satz »Das ist ein Bär« steht für »vertritt«. Es tauchen hier also nicht mehr bloß unzusammenhängende Bilder wie zufällig aus dem ›unbestimmten Schacht‹ des unbewusst
451 Psychologie. Der Geist 719 ›Gespeicherten‹ auf, sondern das personale Subjekt verbindet ein reproduzierbares Allgemeines mit der Einzelheit seiner konkreten Subjektivität des Empfindens und Perzipierens. Interessant ist, dass Hegel in dieser Analyse des Übergangs zum begri=lichen Verstehen explizit darauf besteht, dass »die Beziehung auf sich« in der Selbstkontrolle vorgestellter Formen, auch sprachlicher Repräsentationen, untrennbar ist von dem in der Anschauung ggf. gegebenen »Sein als zur Allgemeinheit bestimmt«. Auch daher ist – ich wiederhole den wichtigen Punkt – die Vorstellung von einer scharfen Trennbarkeit von Wort, Begri= und Sache unhaltbar. Dass man die klar objektstufigen Relationen des Für-Anderes-Seins wie im Fall 5 < 6 nicht von den klar metastufigen Beziehungen des Fürsichseins wie im Fall 5 + 1 = 6 säuberlich trennen will und kann, zeigt sich schon an der o=enbar hybriden Beziehung x ≤ y , also an allen so genannten reflexiven Relationen R , für die aus x = y folgt, dass x R y gilt.95 Alle Wahrheit ist Erfüllung von Bedingungen. Erfüllung ist Befriedigung, die nicht bloß als akzidentell oder subjektiv bewertet ist. Für solche Vereinigungen des Eigenen und Innern des Geistes und des Anschaulichen werden die Gebilde der Phantasie allenthalben anerkannt; ihr weiter bestimmter Inhalt gehört andern Gebieten an. Hier ist diese innere Werkstätte nur nach jenen abstrakten Momenten zu fassen. – (451) Wer nachdenkt, gibt das alles am Ende zu. Man streitet sich daher bestenfalls über die Ausdrucksformen der Reflexion auf diese Tatsachen. Die diversen Inhalte der Phantasie gehören schon nicht mehr zu den Themen der Philosophie. Als die Tätigkeit dieser Einigung ist die Phantasie Vernunft, aber die formelle Vernunft nur, insofern der Gehalt der Phantasie als solcher gleichgültig ist, die Vernunft aber als solche auch den Inhalt zur Wahrheit bestimmt. (451) 95 Man erinnere sich: Für Relationen R der Kategorie des Für-AnderesSeins gilt, dass x , y aus x R y folgt, für Relationen der Kategorie des Fürsichseins folgt dagegen x = y aus x R y . Nur wenige Leser Hegels haben bisher die Signifikanz dieser Analyse für die gesamte Logik begri=en, nicht nur die Hegels. 368 k 368 k
720 368 k 368 k Der subjektive Geist 451 Wegen der »Tätigkeit dieser Einigung«, die ich als Formbildung lese, »ist die Phantasie Vernunft«. Hegel sagt aber auch gleich genauer, dass bisher von jedem konkreten Inhalt abgesehen wurde. Es ist nur erst das Formelle der Vernunft analysiert worden. Es ging nur erst um die Strukturbildung und das Formenerkennen überhaupt. Anders gesagt, die variablen Inhalte und die Verschiedenheiten diverser prozessualer Relationen wie z. B. Dingbewegungen oder chemische Prozesse waren uns bisher gleichgültig. Wir werden daher noch zu sehen haben, dass und wie »die Vernunft«, und das heißt: das vernünftige Urteilen und Handeln, inhaltlich bestimmt ist. Das gilt natürlich auch für alle Wahrheiten bzw. Erfüllungen. Es ist noch dies besonders herauszuheben, daß, indem die Phantasie den innern Gehalt zum Bild und zur Anschauung bringt und dies ausgedrückt wird, daß sie denselben als seiend bestimmt, der Ausdruck auch nicht auffallend scheinen muß, daß die Intelligenz sich seiend, sich zur Sache mache; denn ihr Gehalt ist sie selbst, und ebenso die ihm von ihr gegebene Bestimmung. (451) Indem sie einen impliziten ›inneren Gehalt‹ explizit vergegenständlicht, macht sich die Intelligenz, die ich im guten Fall im Vollzug selbst bin, partiell selbst zum Thema. Das ist keine Selbstverdinglichung, sondern gerade das Gegenteil. Es ist Moment meiner und unserer geistigen Selbstkontrolle und der nur durch sie erst möglichen Selbstermächtigung und Selbstbestimmung. Wir finden hier zwar Fichtes allgemeine Form wieder, nach welcher ich in Selbstbeurteilungen mich auf mich beziehe. Jetzt geht es aber um eine Präzisierung dessen, inwiefern der Gehalt der symbolisch vermittelten Selbstvergegenständlichung ich selbst (als Intelligenz) bin. Das ist so vermöge der beurteilten partiellen, nie totalen ›Isomorphie‹ zwischen Selbstbild bzw. Selbstdarstellung, auch Selbstbeschreibung, und meinem realen (geistigen) Sein. Das von der Phantasie produzierte Bild ist nur subjektiv anschaulich; im Zeichen fügt sie eigentliche Anschaulichkeit hinzu; im mechanischen Gedächtnis vollendet sie diese Form des Seins an ihr. (451) Solange Phantasie nur erst innere Bilder produziert, sind diese noch instabil und bloß subjektiv anschaulich. Erst in äußerer Repräsentation durch Zeichen werden sie für uns alle und damit im vollen
452 Psychologie. Der Geist 721 Sinn zu Gegenständen wirklicher Anschauung, also zu Trägern fassbarer und übermittelbarer Gedanken. Das mechanische Gedächtnis ermöglicht schon dem Kleinkind wörtliche Kopien von Ausdrucksfolgen. Es wird entwickelt in Rezitationen längerer Texte, wobei die gebundene Sprache von Volksepen wie auch von Liedern enorme Hilfe leistet. Dabei variiert die eiserne Ration auswendig gelernter Gedichte und gnomischer Merksprüche heute natürlich sehr zwischen verschiedenen Leuten. Und doch hängt volle Sprachkompetenz und damit das Denken davon ab, dass die genannte Ration nicht zu schmalbrüstig oder konventionell bleibt. Man muss dazu nur betrachten, wie begrenzt das Repertoire ist, das Menschen z. B. in Nordkorea und nicht nur dort über das Politische lernen und sagen – so dass sie kaum über zentral gesteuerte Konventionen hinausdenken können. Nur in einer internationalen Schriftkultur wird man in ausreichender Weise von einem zu engen Kanon unabhängig, etwa von bloß nationalen oder von religiös geheiligten Texten. Sie vollendet daher allererst das sich selbst objektivierende Selbstbewusstsein höherer Intelligenz. § 458 In dieser von der Intelligenz ausgehenden Einheit selbständiger Vorstellung und einer Anschauung ist die Materie der letztern zunächst wohl ein Aufgenommenes, etwas Unmittelbares oder Gegebenes (z. B. die Farbe der Kokarde u. dgl.). (451 f.) Die ›Einheit‹ bzw. Zuordnung von »selbständiger Vorstellung« eines Symbols »und einer Anschauung« als dem Symbolisierten ist zunächst durch eine allgemeine Konvention gesetzt. Hegels Beispiel ist das eines militärischen bzw. nationalen Abzeichens, das eine Zugehörigkeit signalisiert. Die Anschauung gilt aber in dieser Identität nicht als positiv und sich selbst, sondern etwas anderes vorstellend. (452) Das Zeichen ist der beim Symbolisieren gebrauchte und in der Anschauung allgemein zugängliche Gegenstand – unter Absehung von seiner konkreten Bedeutung, also nur in der abstrakten Hinsicht, dass er im Symbolisieren überhaupt gebraucht wird. Trotz seiner 368 368
722 368 369 k 369 k Der subjektive Geist 452 etwas schwierigen Ausdrucksweise sollte klar sein, dass Hegel hier zentrale Reflexionstermini terminologisch-definitorisch erläutert. Das Zeichen für sich interessiert dabei nur in seiner Entgegensetzung zu anderen Zeichen und in seinem ›repräsentativen‹ Gebrauch – etwa als Signal der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Menge von Personen unter einer Flagge von Dingen, deren Herkunft z. B. auf einem Aufkleber benannt sein kann, oder von Sachen wie im Fall von Verkehrszeichen, Warntafeln und Wegweisern. Sie ist ein Bild, das eine selbständige Vorstellung der Intelligenz als Seele in sich empfangen hat, seine Bedeutung. Diese Anschauung ist das Zeichen. (452) Zeichen sind Bilder. Das gilt für Wörter als Lautbilder genauso wie für die Tastzeichen einer Blindensprache, für Verkehrszeichen oder Wegweiser und so fort. Die blumige Rede von einer Beseelung der Zeichen ist profaner durch die Rede von ihrer Gebrauchsform zu ersetzen – auf die Hegels Metapher freilich gerade abzielt. Die Erinnerung an die »selbständige Vorstellung der Intelligenz« hält fest, dass Zeichen tätig hergestellt und wiedererkannt werden müssen – samt der Zuordnung zu anderen Sachen oder Tätigkeiten, die Hegel so formuliert, dass sie das Zeichen »als Seele in sich empfangen hat«. Das Zeichen ist irgend eine unmittelbare Anschauung, die einen ganz anderen Inhalt vorstellt, als den sie für sich hat; – die Pyramide, in welche eine fremde Seele versetzt und aufbewahrt ist. (452) Mit einem Zeichen repräsentieren wir – konventionell – einen ganz anderen Inhalt als die Form, die wir am Zeichen selbst als wiederholbare Spur einer sogenannten symbolischen Handlung anschauen oder ›erfahren‹. Hegel benutzt das statische Bild einer Pyramide, die einen Leichnam birgt, um deutlich zu machen, dass, wer den Inhalt nicht schon kennt, ihn allein aufgrund der äußeren Gestalt nicht wird erraten können. Das Zeichen ist vom Symbol verschieden, einer Anschauung, deren eigene Bestimmtheit ihrem Wesen und Begri=e nach mehr oder weniger der Inhalt ist, den sie als Symbol ausdrückt; beim Zeichen als solchen hingegen geht der eigene Inhalt der Anschauung und der, dessen Zeichen sie ist, einander nichts an. Als bezeichnend beweist daher die Intelligenz eine freiere Willkür und Herrschaft im Gebrauch der Anschauung, denn als symbolisierend. (452)
452 Psychologie. Der Geist 723 Der Unterschied zwischen Zeichen und Symbol ergibt sich, wie oben schon gesagt, eigentlich nur dadurch, dass man von einem Zeichen sprechen kann, ohne schon zu wissen, was es symbolisiert. In der Beschreibung des Zeichens sehen wir von seinem Gebrauch ab – obwohl etwas nur dann ein nicht natürliches Zeichen qua bloßes Anzeichen ist, wenn es einen symbolischen Zeichengebrauch hat. Man kann aber auch das Symbolische so auffassen, als läge der Inhalt hier schon von der Sache her nahe. Ein Zeichen wäre dann sozusagen ein rein konventionelles Symbol. Auf diese Unterscheidung zwischen einem rein konventionellen Gebrauch von sprachförmigen Zeichen (wie »Hund«) und in ihrem Sinn naheliegenden Symbolen (wie ein Pfeil oder Fingerzeig an einem Wegweiser) verweist Hegel, wenn er von der freieren Willkür der Zeichen und unserer Herrschaft über ihren Gebrauch in einer von uns produzierten Anschauung spricht und von Symbolisierungen unterscheidet, wie wir sie auch im Fall des Heiligen etwa von dem goldenen Heiligenschein oder von Demutsgesten des Gebets oder des Kotau (von Persien bis China) her kennen. Gewöhnlich wird das Zeichen und die Sprache irgendwo als Anhang in der Psychologie oder auch in der Logik eingeschoben, ohne daß an ihre Notwendigkeit und Zusammenhang in dem Systeme der Tätigkeit der Intelligenz gedacht würde. (452) Üblicherweise meinen die Leute, Zeichen und Sprache drückten schon fertige Inhalte oder Gedanken aus, die im Subjekt als unmittelbar vorhanden angenommen werden. Daher kommen der Zeichengebrauch und das Sprechen häufig nur in einem Appendix der Psychologie vor, manchmal auch in Fußnoten der Logik. Man verkennt dabei, dass es gar kein bewusstes Denken ohne die produktive Einbildungskraft und Phantasie im leisen verbal planning und den Darstellungen von Formen der Anschauung oder des Tuns durch Zeichenkomplexe gibt. Das gerade meint Hegels Rede von ihrer Notwendigkeit im System »der Tätigkeit der Intelligenz«. Auf einen linguistic turn muss man nicht mehr warten, wenn man das liest und versteht. Die wahrhafte Stelle des Zeichens ist die aufgezeigte, daß die Intelligenz, welche als anschauend die Form der Zeit und des Raums erzeugt, aber den sinnlichen Inhalt als aufnehmend und aus diesem Sto=e sich Vorstellungen bildend erscheint, nun ihren selbständigen 369 k 369 k
724 Der subjektive Geist 452 Vorstellungen ein bestimmtes Dasein aus sich gibt, den erfüllten Raum und Zeit, die Anschauung als die ihrige gebraucht, deren unmittelbaren und eigentümlichen Inhalt tilgt und ihr einen andern Inhalt zur Bedeutung und Seele gibt. – (452) Die Formulierung ist in ihrer Stenographie nicht so recht geglückt. Das liegt wohl an der gesuchten Nähe zu Kants Transzendentaler Ästhetik. Bei Kant erzeugt das anschauende Bewusstsein die Anschauungsformen der Zeit in Folgen von Vorstellungen und des Raumes über die räumliche Platzierung der Bezugsgegenstände. Indem Hegel hier Kants »Anschauung« durch »Intelligenz« ersetzt, hebt er m. E. hervor, dass die Ordnung der Dinge und Sachen nach Zeit und Raum ein symbolisches bzw. sprachliches Denken voraussetzt. Es werden ja alle realen Dinge und Sachen in einer einzigen Raum-Zeit-Ordnung platziert. Raum und Zeit sind nicht etwa nur meine Ordnungen der von mir angenommenen Gegenstände meiner Perzeptionen. Mit anderen Worten, alle irgendwo und irgendwann vorhandenen Dinge oder Sachen, Lebewesen oder Personen gibt es nur an je ihrem Ort im Raum und zu ihrer Zeit – in Relation zu allen anderen Dingen, Sachen, Orten und Zeiten. Daher sind Raum und Zeit weder bloß subjektive noch auch nur intersubjektive Form meiner oder unserer Koordinierung sensueller Phänomene. Hier widerspricht Hegels Realismus der raumzeitlichen Verhältnisse der Dinge (wenn man diese Einsicht so nennen darf) dem subjektiven Idealismus in Kants Transzendentaler Ästhetik hinlänglich klar und scharf. In Repräsentationen von möglichen Anschauungen von Sachen werden vom »sinnlichen Inhalt« Formen aufgenommen und mit neuen Vorstellungen verbunden. Der Gebrauch konventioneller Zeichen, Zeichenfolgen, substitutioneller und inferentieller Strukturen erlaubt es erst, sich im Raum Vorhandenes über das in präsentischer Anschauung Zuhandene hinaus vorzustellen und sich so ein Bild von einem durch Dinge und Sachen (auch Bewegungen und Prozesse) »erfüllten Raum und Zeit« zu machen. Es gibt lautlich-akustische, visuell-optische und dann auch taktilhaptische Zeichengebilde. Ihr Gebrauch verlangt Formenerkennung, Formen(re)produktion, und Formenzuordnung. Wie im Fall von Metaphern werden durch kanonische Normen die »unmittelbaren und eigentümlichen« Inhalte getilgt; es zählen nur
453 Psychologie. Der Geist 725 noch die erlaubten ›Projektionen‹ von Analogien oder Formgleichheiten im Unterscheiden und Folgern als semantisch relevant. Dadurch gibt die Intelligenz (also wir als personale Subjekte, wenn wir ausreichend gebildet und intelligent sind) den Zeichen oder Symbolen »einen anderen Inhalt zur Bedeutung und Seele«, als er sich im Urbild der Metapher zeigt. Im Fall des Sprechens muss man dazu eine gewisse Technik der Projektion der Ausdrücke lernen, also die Sprache. Diese Zeichen erscha=ende Tätigkeit kann das produktive Gedächtnis (die zunächst abstrakte Mnemosyne) vornehmlich genannt werden, indem das Gedächtnis, das im gemeinen Leben oft mit Erinnerung, auch Vorstellung und Einbildungskraft verwechselt und gleichbedeutend gebraucht wird, es überhaupt nur mit Zeichen zu tun hat. (452 f.) Im Unterschied zur Erinnerung von angeschauten ›Bildern‹ produziert das Gedächtnis vorzugsweise sprachliche Zeichen für Vergangenes. Der Form nach ist dieses Gedächtnis also produktiv. Hegel spricht von einer abstrakten Mnemosyne und unterscheidet diese von der reproduktiven Erinnerung. § 459 Die Anschauung, als unmittelbar zunächst ein Gegebenes und Räumliches, erhält, insofern sie zu einem Zeichen gebraucht wird, die wesentliche Bestimmung, nur als aufgehobene zu sein. (453) Wir verstehen die Inhalte im Zeichen- und Sprachgebrauch durch deren Anschauung hindurch. D. h., man fokussiert bei der Notenschrift nicht auf das Räumliche, sondern auf die Abfolge und den Zusammenklang der repräsentierten Töne. An der Buchstabenschrift interessieren Größe und Schriftvarianten nicht, sondern nur die Darstellung der zugehörigen Lautsprache. An der Lautsprache aber interessieren nicht die Realfolgen der Wörter, sondern zunächst nur die Strukturen des Etwas-über-etwas-Aussagens. Dass Sokrates kleiner als Simmias ist, ist dann natürlich schon eine Aussage über Sokrates und über Simmias. Quantoren wie »ein x « und »alle x « signalisieren, dass über einen ganzen Bereich G gesprochen wird, usf. Die Intelligenz ist diese ihre Negativität; so ist die wahrhaftere Gestalt der Anschauung, die ein Zeichen ist, ein Dasein in der Zeit, – ein Verschwinden des Daseins, indem es ist, und nach seiner wei- 369 k 369 369
726 369 f . Der subjektive Geist 453 tern äußerlichen, psychischen Bestimmtheit ein von der Intelligenz aus ihrer (anthropologischen) eigenen Natürlichkeit hervorgehendes Gesetztsein, – der Ton, die erfüllte Äußerung der sich kundgebenden Innerlichkeit. (453) Hegel bringt das ›neue‹ Thema »Ton« (die Lautsprache) wieder erst im Nachklapp ins Spiel. Die Formel, dass Intelligenz »diese ihre Negativität« ist, bedeutet gerade, dass wir bei hinreichender Intelligenz den Unterschied einer Fokussierung auf die Zeichen und auf das Bezeichnete – samt Mischformen wie im Fall von reflexiven Relationen wegen der Gleichungen – beherrschen. Dabei liegt die besondere Bedeutung einer linearen Folge von Zeichen natürlich an der extrem einfachen und schnellen (Re-)Produktion und (Re-)Kognition von Lautfolgen. Auch die Rede von einem »Verschwinden des Daseins« müssen wir nicht überinterpretieren. Sie sagt nur, dass im Sprachdenken die präsentische räumliche Anschauung kaum eine Rolle spielt, so wie Farben und Sehgestalten für unseren gegliederten Weltzugang weit weniger wichtig sind, als man meinen mag. Wieder erinnert Hegel daran, dass hier alles aus unserer eigenen anthropologischen Natürlichkeit hervorgeht. Das Gesetztsein beginnt in gemeinsamen Urformen wie im Gefühlsausdruck. Der Ausdruck »erfüllte Äußerung der sich kundgebenden Innerlichkeit« mag dabei schon wieder auf die Unterscheidung zwischen gemeinsam prüfbaren Erfüllungen von Geltungsbedingungen und bloß subjektiv zum Ausdruck gebrachten Gefühlen und Vorstellungen verweisen. Der für die bestimmten Vorstellungen sich weiter artikulierende Ton, die Rede, und ihr System, die Sprache, gibt den Empfindungen, Anschauungen, Vorstellungen ein zweites, höheres als ihr unmittelbares Dasein, überhaupt eine Existenz, die im Reiche des Vorstellens gilt. (453) Bloße Gefühlsausdrücke durch Töne wären bloß erst Teil einer Signalsprache. Bestimmungen von Gegenständen lassen sich nur in gegliederter Rede artikulieren. Das allgemeine System dieser Gliederungen ist die Sprache, ihre Anwendungen heißen Rede. Im Gebrauch sprachlicher Formen ändern sich die ausgedrückten Empfindungen, Anschauungen, Vorstellungen grundsätzlich: Als reflektierte und vergegenständlichte sind sie sozusagen verdoppelt im Bereich der Repräsentationen, der neben dem Bereich der präsentischen Vollzüge steht.
453 f. Psychologie. Der Geist 727 Die Sprache kommt hier nur nach der eigentümlichen Bestimmtheit als das Produkt der Intelligenz, ihre Vorstellungen in einem äußerlichen Elemente zu manifestieren, in Betracht. (453) Solange wir hier nur erst auf den subjektiven Geist bzw. die Intelligenz der Individuen reflektieren, ist die Sprache nur insoweit Thema, als wir sie als Produkt der Entwicklung des Vorstellens bis in die äußeren Manifestationen von verbalen Repräsentationen betrachten. Die Bedeutung des Begri=lichen und des nur durch Begri=e möglichen Etwas-über-etwas-Sagens war schon in der Begri=slogik behandelt worden. Wenn von der Sprache auf konkrete Weise gehandelt werden sollte, so wäre für das Material (das Lexikalische) derselben der anthropologische, näher der psychisch-physiologische (§ 401) Standpunkt zurückzurufen, für die Form (die Grammatik) der des Verstandes zu antizipieren. Für das elementarische Material der Sprache hat sich einerseits die Vorstellung bloßer Zufälligkeit verloren, andererseits das Prinzip der Nachahmung auf seinen geringen Umfang, tönende Gegenstände, beschränkt. Doch kann man noch die deutsche Sprache über ihren Reichtum wegen der vielen besondern Ausdrücke rühmen hören, die sie für besondere Töne (Rauschen, Sausen, Knarren usf., man hat deren vielleicht mehr als hundert gesammelt; die augenblickliche Laune erscha=t deren, wenn es beliebt, neue) besitzt; ein solcher Überfluß im Sinnlichen und Unbedeutenden ist nicht zu dem zu rechnen, was den Reichtum einer gebildeten Sprache ausmachen soll. Das eigentümlich Elementarische selbst beruht nicht sowohl auf einer auf äußere Objekte sich beziehenden, als auf innerer Symbolik, nämlich der anthropologischen Artikulation gleichsam als einer Gebärde der leiblichen Sprech-Äußerung. Man hat so für jeden Vokal und Konsonanten wie für deren abstraktere Elemente (Lippengebärde, Gaumen-, Zungengebärde) und dann ihre Zusammensetzungen die eigentümliche Bedeutung gesucht. Aber diese bewußtlosen dumpfen Anfänge werden durch weitere so Äußerlichkeiten als Bildungs-Bedürfnisse zur Unscheinbarkeit und Unbedeutenheit modifiziert, wesentlich dadurch, daß sie als sinnliche Anschauungen selbst zu Zeichen herabgesetzt [werden] und dadurch ihre eigene ursprüngliche Bedeutung verkümmert und ausgelöscht wird. (453 f.) 370 k 370 k
728 370 k 370 k Der subjektive Geist 454 Konkretes Wissen über konkrete Sprachen entwickeln die Sprachwissenschaften. Als Material kann man dabei Phoneme, Morpheme und Wörter des Lexikons ansehen. Die Syntax wird in Verbindung mit generisch-allgemeinen bzw. formalen semantischen Rahmenregeln zur Grammatik. An diese schließt sich die kontextuelle Logik implikativer Rede samt allen Tropen figurativer Ausdrucksformen an. Angesichts des Überwiegens konventioneller Bedeutungen spielt in den Sprachen die Onomatopoietik oder Lautmalerei fast keine Rolle mehr. Die Bedeutungen lassen sich grob als kanonische Verbindungen des Beitrags der Ausdrücke für das Unterscheiden mit ihrer Rolle bei der Bestimmung entsprechender Normalfallinferenzen verstehen. Der »Reichtum einer gebildeten Sprache« besteht damit in der Artikulation wichtiger Unterscheidungen und der Verdichtung von Wissen durch Titelwörter, die dann sofort in das weitere Ausdrucksystem integriert werden, also zu Namen oder dann auch Prädikaten werden, so dass man über Themen wie über Gegenstände sprechen, sie allgemein kommentieren kann. Der Beginn bei Gebärden der leiblichen Sprechäußerung ist bestenfalls ein ganz und gar rudimentärer und ganz unwichtiger Anfang. Das Formelle der Sprache aber ist das Werk des Verstandes, der seine Kategorien in sie einbildet; dieser logische Instinkt bringt das Grammatische derselben hervor. (454) Da die Grammatik einer Sprache ein zunächst empraktisch erlerntes System von im Grunde logischen Schemata ist, gehört sie zum Verstand. Das ist so im Unterschied zur Dialektik kontextabhängigen Rede-Verstehens. Diese besteht im jeweils guten, kooperativen Umgang mit Tropen und Implikaturen im Sinn von H. P. Grice und gehört, wie übrigens auch Moralität und subjektive Sittlichkeit, zu den Fähigkeiten freier Vernunft. Das Studium von ursprünglich gebliebenen Sprachen, die man in neuern Zeiten erst gründlich kennen zu lernen angefangen hat, hat hierüber gezeigt, daß sie eine sehr ins Einzelne ausgebildete Grammatik enthalten und Unterschiede ausdrücken, die in Sprachen gebildeterer Völker mangeln oder verwischt worden sind; es scheint, daß die Sprache der gebildetsten Völker die unvollkommnere Grammatik, und dieselbe Sprache bei einem ungebildetern
454 f. Psychologie. Der Geist 729 Zustande ihres Volkes eine vollkommnere als bei dem höher gebildeten hat. Vergl. Hrn. W. v. Humboldt, Über den Dualis I. 10, 11. (454) Hegels Bemerkung zu den »ursprünglich gebliebenen Sprachen« ist fragwürdig. Dass sich im Sachgebrauch der Sprechsprachen die früher komplexere Flexionsgrammatik abschleift, wie wir sie aus dem klassischen Latein oder Griechisch kennen, könnte an den immer größer werdenden Sprachgemeinschaften der kanonisierten Nationalsprachen liegen. Auch die Schrift, welche mehr oder weniger wörtlich rezitierte epische Langtexte absterben lässt, könnte dazu beigetragen haben, während sich die Zahl der Wörter und der zusammengesetzten Konstruktionen wie z. B. »hat getan« und »ist gegangen« vermehrt. Bei der Tonsprache, als der ursprünglichen, kann auch der Schriftsprache, jedoch hier nur im Vorbeigehn, erwähnt werden; sie ist nur eine weitere Fortbildung im besondern Gebiete der Sprache, welche eine äußerlich praktische Tätigkeit zu Hülfe nimmt. Die Schriftsprache geht zum Felde des unmittelbaren räumlichen Anschauens fort, in welchem sie die Zeichen (§ 454) nimmt und hervorbringt. Näher bezeichnet die Hieroglyphenschrift die Vorstellungen durch räumliche Figuren, die Buchstabenschrift hingegen Töne, welche selbst schon Zeichen sind. Diese besteht daher aus Zeichen der Zeichen, und so, daß sie die konkreten Zeichen der Tonsprache, die Worte, in ihre einfachen Elemente auflöst und diese Elemente bezeichnet. – (454 f.) Die Bemerkungen zur Entwicklung der Schriftsprachen interessieren nicht weiter, weder zur Hieroglyphenschrift noch zur Buchstabenschrift, auch wenn deren Vorteile unverkennbar sind. Leibniz hat sich durch seinen Verstand verführen lassen, eine vollständige Schriftsprache, auf hieroglyphische Weise gebildet, was wohl partiell auch bei Buchstabenschrift (wie in unsern Zeichen der Zahlen, der Planeten, der chemischen Sto=e u. dgl.) stattfindet, als eine allgemeine Schriftsprache für den Verkehr der Völker und insbesondere der Gelehrten für sehr wünschenswert zu halten. Man darf aber dafür halten, daß der Verkehr der Völker (was vielleicht in Phönizien der Fall war und gegenwärtig in Kanton geschieht – s. Macartneys Reise von Staunton) vielmehr das Bedürfnis der Buchstabenschrift und deren Entstehung herbeigeführt hat. Ohnehin ist nicht an eine umfassende fertige Hieroglyphen-Sprache zu denken; 371 k 371 k
730 371 k 371 k 371 f . k Der subjektive Geist 455 sinnliche Gegenstände sind zwar festbleibender Zeichen fähig, aber für Zeichen von Geistigem führt der Fortgang der Gedankenbildung, die fortschreitende logische Entwicklung veränderte Ansichten über ihre innern Verhältnisse und damit über ihre Natur herbei, so daß damit auch eine andere hieroglyphische Bestimmung einträte. (455) Die Kritik an einer Begri=sschrift, wie sie Leibniz und dann auch Frege konzipiert haben, ist zwar völlig korrekt, da man dabei über ein Notationssystem für mathematische Relationssysteme nicht hinauskommen kann, aber hier ist das nicht weiter relevant. Geschieht dies doch schon bei sinnlichen Gegenständen, daß ihre Zeichen in der Tonsprache, ihre Namen häufig verändert werden, wie z. B. bei den chemischen, auch mineralogischen. Seitdem man vergessen hat, was Namen als solche sind, nämlich für sich sinnlose Äußerlichkeiten, die erst als Zeichen eine Bedeutung haben, seit man statt eigentlicher Namen den Ausdruck einer Art von Definition fordert und dieselbe sogar häufig auch wieder nach Willkür und Zufall formiert, ändert sich die Benennung, d. i. nur die Zusammensetzung aus Zeichen ihrer Gattungsbestimmung oder anderer charakteristisch sein sollender Eigenschaften, nach der Verschiedenheit der Ansicht, die man von der Gattung oder sonst einer spezifisch sein sollenden Eigenschaft faßt. – (455 f.) Interessant ist Hegels Betonung der flexiblen und relativ schnellen Entwicklung der Wortbedeutungen in den Sprechsprachen – häufig parallel zu einer Vertiefung von Wissen und ethischer Reflexion. Nur dem Statarischen der chinesischen Geistesbildung ist die hieroglyphische Schriftsprache dieses Volkes angemessen; diese Art von Schriftsprache kann ohnehin nur der Anteil des geringern Teils eines Volkes sein, der sich in ausschließendem Besitze geistiger Kultur hält. – (456) Die Kritik an der chinesischen Sprech- und Schriftsprache ist zeitbedingt und kann als partiell irregeführt übergangen werden. Es ist eine Frage nationaler Kulturpolitik, nicht der Philosophie, wie eine Änderung des Schriftsystems zu bewerten wäre. Die Ausbildung der Tonsprache hängt zugleich aufs genaueste mit der Gewohnheit der Buchstabenschrift zusammen, durch welche die Tonsprache allein die Bestimmtheit und Reinheit ihrer Artikulation gewinnt. Die Unvollkommenheit der chinesischen Tonsprache ist
456 Psychologie. Der Geist 731 bekannt; eine Menge ihrer Worte hat mehrere ganz verschiedene Bedeutungen, selbst bis auf zehn, ja zwanzig, so daß im Sprechen der Unterschied bloß durch die Betonung, Intensität, leiseres Sprechen oder Schreien bemerklich gemacht wird. Europäer, welche anfangen, chinesisch zu sprechen, ehe sie sich diese absurden Feinheiten der Akzentuation zu eigen gemacht haben, fallen in die lächerlichsten Mißverständnisse. (456) Die Bemerkung zur Rolle der phonematischen Schrift für die Entwicklung und Kanonisierung von Hochsprachen ist durchaus korrekt. An der Bemerkung zur angeblichen Unvollkommenheit der chinesischen Lautsprache ist die Kritik merkwürdig, dass viele ihrer Worte »mehrere ganz verschiedene Bedeutungen« haben, die erst im Kontext der Rede, also im Sprechen »durch die Betonung, Intensität, leiseres Sprechen oder Schreien bemerklich gemacht« werden. Denn Hegel selbst liebt Mehrdeutigkeiten, aber o=enbar nur solche, welche eine frei aufzuhebende Spannung und damit einen einheitlichen Zusammenhang ausdrücken. Die Vollkommenheit besteht hier in dem Gegenteil von dem parler sans accent, was mit Recht in Europa für ein gebildetes Sprechen gefordert wird. Es fehlt um der hieroglyphischen Schriftsprache willen der chinesischen Tonsprache an der objektiven Bestimmtheit, welche in der Artikulation durch die Buchstabenschrift gewonnen wird. (456) Das Sprechen ohne Akzent, das Hegel hier als positive Eigenschaft europäischer Zivilisation hervorhebt, meint nicht die Unterdrückung von Dialekten zugunsten einer Rede nach der Schrift, sondern den Verzicht auf allzu große Betonungen im Reden, samt der zugehörigen Kontrolle oder gar Unterdrückung von Gefühlen in der Intonation. Das Missverständnis ist wohl o=enkundig: Wenn konventionelle Betonungen zur ›Grammatik‹ der Sprechsprache gehören, drücken sie längst schon keine individuellen Emotionen mehr aus. Richtig ist nur, dass es in einer ›Begri=sschrift‹ wie der chinesischen, die Hegel leicht polemisch eine »hieroglyphische Schriftsprache« nennt, nicht die gleichen kanonisierenden Wechselwirkungen zwischen Lautsprache und Schrift gibt wie in einer phonematischen Sprache. Außerdem bedarf es keiner expliziten Reflexion auf den Aus- 372 k
732 372 k 372 k Der subjektive Geist 456 drucksaufbau, wie er im Lese-, Schreib- und Grammatikunterricht für phonematische Schriftsprachen immer schon erforderlich ist. Die moderne strukturalistische Sprachwissenschaft macht am Ende ›nur‹ die längst schon empraktisch etablierte Methode grammatischer Analyse und ›Objektivierung‹ von Formen für phonematische Schriftsprachen explizit. Die Buchstabenschrift ist an und für sich die intelligentere; in ihr ist das Wort, die der Intelligenz eigentümliche würdigste Art der Äußerung ihrer Vorstellungen, zum Bewußtsein gebracht, zum Gegenstande der Reflexion gemacht. (456) Das Lob der Buchstabenschrift ist durchaus in Ordnung, sollte aber insofern relativiert werden, als sich am Ende in allen Sprachen alles ausdrücken lässt. Bemerkenswert für uns ist eher die Betonung der Bedeutung der Worte und Sätze für die Intelligenz und die vergegenständlichenden Äußerungen oder bewussten Explikationen ihrer Vorstellungen. Es wird in dieser Beschäftigung der Intelligenz mit demselben analysiert, d. i. dies Zeichenmachen wird auf seine einfachen, wenigen Elemente (die Urgebärden des Artikulierens) reduziert; sie sind das Sinnliche der Rede, auf die Form der Allgemeinheit gebracht, welches in dieser elementarischen Weise zugleich völlige Bestimmtheit und Reinheit erlangt. (456) Völlig korrekt ist Hegels Hinweis, dass das grammatische Bewusstsein einer Schriftsprache wie Latein im Grunde ein tieferes logisches Sprachbewusstsein besonders im Blick auf eine Modal-, Zeit-, und Verlaufslogik liefert als jede bloß formale oder mathematische Relationslogik. Der bloß gebrauchstechnische Sprachunterricht in einer bloßen Sprechsprache, der eigenen oder einer fremden, ist dazu nicht ausreichend. Mit der Beendigung der Bildung in antiker Kultur ist daher durchaus eine allgemeine zivilisatorische Lücke im Blick auf das Sprachbewusstsein und sogar auf die religiöse und politische Intelligenz entstanden. Das Innere, Implizite, Enaktive und Empraktische wird erst durch explizite äußere Artikulation in eidetischen Sätzen oder generischen, nicht notwendig exakten resp. schematischen Regeln bewusst. Daher ist das Sinnliche der Rede so wichtig, auch wenn »die Form der Allgemeinheit« sich durch Gleichgültigkeitsbewertungen per Abstraktion
456 f. Psychologie. Der Geist 733 ergibt. Jedenfalls sieht Hegel, dass die Wortsprache allein »völlige Bestimmtheit und Reinheit erlangt«. Die Buchstabenschrift behält damit auch den Vorteil der Tonsprache, daß in ihr wie in dieser die Vorstellungen eigentliche Namen haben; der Name ist das einfache Zeichen für die eigentliche, d. i. einfache, nicht in ihre Bestimmungen aufgelöste und aus ihnen zusammengesetzte Vorstellung. (456) Man mag Hegels Analyse für veraltet halten, dass Worte der Sprechsprache für Vorstellungen stehen. Und doch liefern sie in der Tat den Goldstandard aller Repräsentation und aller strukturellen Zusammensetzung von Repräsentationen. Die Hieroglyphensprache entsteht nicht aus der unmittelbaren Analyse der sinnlichen Zeichen wie die Buchstabenschrift, sondern aus der voranzugehenden Analyse der Vorstellungen, woraus dann leicht der Gedanke gefaßt wird, daß alle Vorstellungen auf ihre Elemente, auf die einfachen logischen Bestimmungen zurückgeführt werden könnten, so daß aus den hiefür gewählten Elementarzeichen (wie bei den chinesischen Koua der einfache gerade und der in zwei Teile gebrochene Strich) durch ihre Zusammensetzung die Hieroglyphensprache erzeugt würde. (456 f.) Den Zusammenhang von phonematischer Schrift und grammatischer Analyse habe ich schon skizziert. Praktisch waren dabei nach den Sumerern und Ägyptern zunächst die Phönizier führend, in der theoretischen bzw. expliziten Grammatikschreibung dann aber natürlich die Griechen. Der Gedanke einer hieroglyphischen Begri=sschrift drückt seit Leibniz den Traum davon aus, »dass alle Vorstellungen auf ihre Elemente, auf die einfachen logischen Bestimmungen zurückgeführt werden könnten«. Dabei erkennt Hegel mit der Analogie zur chinesischen Schrift auch die Probleme dieser Utopie.96 96 In der Tat führt alle rein formale Logik seit Aristoteles und der mittelalterlichen Scholastik auch bei Frege, Peirce, Schröder, Peano, Russell, Heyting oder Lorenzen immer nur zu Notationen für eine Relations- und Funktionslogik, deren schematischen Inferenzen nur in rein mathematischen Modellen immer gültig sind. Vgl. dazu und zur Syllogistik als mathematischer Logik: Pirmin Stekeler-Weithofer, Grundprobleme der Logik, Elemente einer Kritik der formalen Vernunft, Berlin: de Gruyter 1986. 372 k 372 k
734 372 f . k 373 k Der subjektive Geist 457 Dieser Umstand der analytischen Bezeichnung der Vorstellungen bei der hieroglyphischen Schrift, welcher Leibniz verführt hat, diese für vorzüglicher zu halten als die Buchstabenschrift, ist es vielmehr, der dem Grundbedürfnisse der Sprache überhaupt, dem Namen, widerspricht, für die unmittelbare Vorstellung, welche, so reich ihr Inhalt in sich gefaßt werden möge, für den Geist im Namen einfach ist, auch ein einfaches unmittelbares Zeichen zu haben, das als ein Sein für sich nichts zu denken gibt, nur die Bestimmung hat, die einfache Vorstellung als solche zu bedeuten und sinnlich vorzustellen. (457) Über jede Polemik hinaus geht die Beobachtung, dass das ›Grundbedürfnis der Sprache überhaupt‹ darin besteht, Themen und thematische Aspekte, damit ganze Gegenstandsbereiche mit Namen oder Worten zu umreißen, und zwar so, dass der Kontext und die Situation das Besondere und Einzelne der konkreten Bezugnahme bestimmen. Kurz: Begri=sworte benennen sozusagen immer nur Variable und deren Bereiche, keineswegs feste Elemente in einem rekursiven Aufbau wie die Notationen für reine Zahlen, Relationen und Funktionen in der Mathematik. Eben das heißt es, dass nur die ›Namen‹ (Wörter) einfach sind, ihnen aber ganze Klassen diverser (unmittelbarer) Vorstellungen und Anschauungen (eines Seins) korrespondieren. Diese sind gerade auch (oder nur) deswegen reich an Inhalt, weil es je nach Kontext verschiedene Inhaltsäquivalenzen für sie gibt. Ohne ein Absehen von gleich Gültigem im Fokus auf eine allgemeine Form oder Begri= gibt es kein Denken, so dass eine reine Anschauung gedankenfrei, ein fester Begri= aber gar kein Begri= wäre, da Begri=e allgemein, daher formal sind. Praktisch alle Wörter stehen für Variable, die auf einen semantischen Arttypus als Bereich ihrer Belegungen verweisen. Erst im konkreten Kontext einer Rede und ggf. unter Beachtung der konkreten Sprechsituation sind sie so ›zu belegen‹, dass wir Gegenstände als empirische Instanziierungen der Arten durch sie gemeinsam benennen oder klassifizieren können. So steht z. B. das Wort »Hase« keineswegs unmittelbar für eine Menge realer oder gar möglicher Hasen, so wenig wie das Wort »dies« für eine Menge zeigbarer Dinge. Nicht nur tut die vorstellende Intelligenz dies, sowohl bei der Einfachheit der Vorstellungen zu verweilen, als auch sie aus den
457 Psychologie. Der Geist 735 abstrakteren Momenten, in welche sie analysiert worden, wieder zusammenzufassen, sondern auch das Denken resumiert den konkreten Inhalt aus der Analyse, in welcher derselbe zu einer Verbindung vieler Bestimmungen geworden, in die Form eines einfachen Gedankens. (457) Intelligenz ist die Fähigkeit zu einem freien Umgang mit Ausdrücken für variabel anzuwendende Begri=e. Wie Variablen auf Gegenstandsbereiche verweisen, so sind Begri=e an sich Strukturen. Denken ist das Zusammenstellen von Begri=en, wobei die Kopula als Zeichen dieser Synthesis immer eine partielle Gleichheit artikuliert. Welche dies ist, muss jeweils konkret im Kontext bestimmt werden. Es gibt daher keineswegs eine allgemeine Bedeutung der Kopula.97 Für beide ist es Bedürfnis, auch solche in Ansehung der Bedeutung einfache Zeichen, die, aus mehrern Buchstaben oder Silben bestehend und auch darein zergliedert, doch nicht eine Verbindung von mehrern Vorstellungen darstellen, zu haben. – (457) Das Bedürfnis, unterhalb der Morpheme und Wörter eine phonologische Linearanalyse für einen allgemeinen Aufbau der semantischen Grundbausteine, eben der Wörter, zu haben, ist o=enkundig. Diese Wortbestandteile haben, wie oben schon gesagt, keinen eigenen Sinn. Phoneme di=erenzieren nur die Morpheme und Wörter, die als solche semantisch basal sind. Das Angeführte macht die Grundbestimmung für die Entscheidung über den Wert der Schriftsprachen aus. Alsdann ergibt sich auch, daß bei der Hieroglyphenschrift die Beziehungen konkreter geistiger Vorstellungen notwendig verwickelt und verworren werden müssen, und ohnehin die Analyse derselben, deren nächste Produkte ebenso wieder zu analysieren sind, auf die mannigfaltigste und abweichendste Weise möglich erscheint. Jede Abweichung in der Analyse brächte eine andere Bildung des Schriftnamens hervor, 97 Wenn man mit Frege sagt, dass die Kopula die Anwendung einer Funktion, ausgedrückt durch ein G -Prädikat, auf einen Gegenstand g eines Bereiches G darstelle, bedeutet das nur, dass man ein zu einer Gleichheit g = g ∗ passendes Leibnizprinzip als Substitutionsprinzip unterstellt. Dieses Prinzip besagt, dass alle Relationen der Kategorie der Fürsichseins feiner unterscheiden als alle G -Prädikate. 373 k 373 k
736 373 k 373 k Der subjektive Geist 457 wie in neuern Zeiten nach der vorhin gemachten Bemerkung sogar in dem sinnlichen Gebiete die Salzsäure auf mehrfache Weise ihren Namen verändert hat. Eine hieroglyphische Schriftsprache erforderte eine ebenso statarische Philosophie, als es die Bildung der Chinesen überhaupt ist. (457) Das eigentliche Problem jeder begri=lichen Hieroglyphenschrift, die nicht nur mathematische Notation ist und die bis heute sogar als »formale Sprache« angesprochen wird, besteht erstens darin, dass die so scheinbar benannten Begri=e und Vorstellungen nur nebeneinandergestellt sind. Die relevante Relation ist dann wie in einer Metapher frei zu erraten. Das ist zu viel an Freiheit und zu wenig an di=erentiellinferentiellem Kanon. Zweitens wäre eine fixierte Begri=sschrift nicht flexibel genug, um mit dem Sprachwandel der Belegungen der Wörter zurecht zu kommen, wie er für eine wissensbasierte Sprachentwicklung immer nötig ist und bleibt. Es folgt noch aus dem Gesagten, daß Lesen- und Schreibenlernen einer Buchstabenschrift für ein nicht genug geschätztes, unendliches Bildungsmittel zu achten ist, indem es den Geist von dem sinnlich Konkreten zu der Aufmerksamkeit auf das Formellere, das tönende Wort und dessen abstrakte Elemente, bringt und den Boden der Innerlichkeit im Subjekte zu begründen und rein zu machen ein Wesentliches tut. – (458) Zum Lesen- und Schreibenlernen einer Buchstabenschrift und zum Grammatikunterricht als Mittel zur Bildung von sprachlichem und damit logischem Selbstbewusstsein wurde schon das Nötige gesagt. Den »Boden der Innerlichkeit im Subjekte zu begründen und rein zu machen« bedeutet gerade, dass man nicht rein schematisch, sondern kontextbezogen vernünftig zu denken lernt – vor dem Hintergrund generischer Defaultnormen, also eines allgemeinen, aber je mit Urteilskraft anzuwendenden Wissens. Die erlangte Gewohnheit tilgt auch später die Eigentümlichkeit der Buchstabenschrift, im Interesse des Sehens als ein Umweg durch die Hörbarkeit zu den Vorstellungen zu erscheinen, und macht sie für uns zur Hieroglyphenschrift, so daß wir beim Gebrauche derselben die Vermittlung der Töne nicht im Bewußtsein vor uns zu haben bedürfen; Leute dagegen, die eine geringe Gewohnheit des
458 Psychologie. Der Geist 737 Lesens haben, sprechen sich das Gelesene laut vor, um es in seinem Tönen zu verstehen. (458) Die Gewohnheit des schnellen Lesens in einer Sprache, die wir ausreichend verstehen, tilgt den Umweg des Verstehens über das Hören des laut Vorgelesenen oder über ein stilles Hören, so dass man praktisch eine unmittelbare Isomorphie von Schrift, Rede, Denken und Verstehen herstellt. Es ist völlig richtig beobachtet, dass eben damit auch eine phonematische Schrift »für uns zur Hieroglyphenschrift« wird, welche die Inhalte ›unmittelbar‹ darstellt. Außerdem, daß bei jener Fertigkeit, die die Buchstabenschrift in Hieroglyphen verwandelt, die durch jene erste Einübung gewonnene Abstraktions-Fähigkeit bleibt, ist das hieroglyphische Lesen für sich selbst ein taubes Lesen und ein stummes Schreiben; das Hörbare oder Zeitliche und das Sichtbare oder Räumliche hat zwar jedes seine eigene Grundlage zunächst von gleichem Gelten mit der andern; bei der Buchstabenschrift aber ist nur Eine Grundlage, und zwar in dem richtigen Verhältnisse, daß die sichtbare Sprache zu der tönenden nur als Zeichen sich verhält; die Intelligenz äußert sich unmittelbar und unbedingt durch Sprechen. – (458) Die Gewohnheitstechnik des stummen Lesens beschleunigt das Lesen. Noch Augustinus hat sich gewundert, dass sein Lehrer Ambrosius leise lesen konnte, während wir uns darüber wundern mögen, wie lange mancher braucht, um eine Tageszeitung zu lesen. – Hegels Überlegung zur genannten Isomorphie von Schrift- und Sprechsprache ist weiterhin bemerkenswert: Das »Hörbare oder Zeitliche und das Sichtbare oder Räumliche« haben zwar jeweils ihre eigenen äußeren Formen. Aber das gleiche Gelten oder die Gleichgültigkeit äquivalenter Zuordnungen scha=en eine einzige Struktur. Dabei hatte Platon durchaus recht, den Vorrang der Rede zu betonen, so dass sich alles Verstehen »unmittelbar und unbedingt durch Sprechen« äußert. In den in Buchstabenschrift geschriebenen Texten sind die Inhalte der Sätze daher sekundär zu den gesprochenen Aussagen und ihren kontextuellen Erläuterungen. Die Vermittlung der Vorstellungen durch das Unsinnlichere der Töne zeigt sich weiter für den folgenden Übergang von dem Vorstellen zum Denken – das Gedächtnis – in seiner eigentümlichen Wesentlichkeit. (458) 373 f . k 374 k
738 Der subjektive Geist 459 Hegel kündigt hier an, dass er die Bedeutung der linearen Lautsprache im Gegensatz zu zweidimensionalen Bildern oder dreidimensionalen Ausdehnungen der visuellen Sinnlichkeit gleich noch genauer herausarbeiten wird. 374 § 460 Der Name als Verknüpfung der von der Intelligenz produzierten Anschauung und ihrer Bedeutung ist zunächst eine einzelne vorübergehende Produktion, und die Verknüpfung der Vorstellung als eines Innern mit der Anschauung als einem Äußerlichen ist selbst äußerlich. Die Erinnerung dieser Äußerlichkeit ist das Gedächtnis. (459) Zunächst ist das Gedächtnis als Erinnerung an kanonische Zuordnungen zwischen Wort und Form bzw. Begri=, also logos und eidos, definiert. Das Titelwort »Name« steht dabei für ein Nomen wie »Turm« und »Löwe«, nicht nur für »Cäsar« oder »Sonne«. Dabei verknüpfen wir eine »von der Intelligenz produzierte Anschauung«, nämlich die Namen qua Titel- oder Begri=swörter, mit »ihrer Bedeutung«. Die Lautformen der Wörter sind zunächst einzelne vorübergehende Produktionen. Die Verknüpfungen »der Vorstellung als eines Innern mit der Anschauung als einem Äußerlichen« sind äußerlich. Das heißt, wir lernen die Verknüpfung systematisch, indem wir fast automatisch zwischen passenden, nicht passenden und bloß unter Umständen vielleicht passenden Zuordnungen unterscheiden. Dabei mögen Beispiele und Gegenbeispiele eine Rolle spielen. Die Zuordnung von Wort (logos) und Bild (eidolon) als veranschaulichende Vorstellung, Gestalt oder prototypisches Beispiel mag helfen, die intendierte Klasse, Art oder Form des zum logos gehörigen Begri=s (eidos) im Unterschied zu anderen Arten, Klassen oder Inhalten zu bestimmen. Wir gehen dabei idealiter davon aus, dass ein Wort für einen allgemeinen Begri= steht. Ausdi=erenzierungen kommen später. ›Zufällige‹ Homonyme werden eigens behandelt.
459 Psychologie. Der Geist 739 3) Gedächtnis § 461 Die Intelligenz durchläuft als Gedächtnis gegen die Anschauung des Worts dieselben Tätigkeiten des Erinnerns, wie als Vorstellung überhaupt gegen die erste unmittelbare Anschauung (§ 451 =.). – (459) In seiner Unternehmung einer Phänomenologie der Intelligenz will Hegel hier ganz o=enbar zeigen, dass alles innere Denken nicht anders als das leise Lesen vermittelt ist durch das äußere Sprechen und Verstehen. Das laute Sprechen wird wie das laute Lesen durch Gewohnheit so internalisiert, dass wir gar nicht mehr merken, wie das Denken vom Sprechen abhängt. Das ist radikalster linguistic turn. Dennoch verfällt Hegels Phänomenologie des Denkens nicht in die Fehler des Behaviorismus. Zunächst parallelisiert Hegel das Verhältnis von Anschauung und Erinnerungsvorstellung – wie wir es auch bei Tieren kennen – mit dem Verhältnis von Worterinnerung und Bilderinnerung. Schon das Gedächtnis der Wortlaute verhält sich zu deren ›Anschauung‹ beim Hören wie das Erinnern als Vorstellung »überhaupt gegen die erste unmittelbare Anschauung«. Dann lernt man Zuordnungen von Wort, Bild und Sache so, wie Kinder eben Sprechen lernen und dabei Bilderbücher, Comics und Beispiele im wirklichen Leben anschauen. Das Basale von Wort und Bild passt freilich nur für bestimmte Sach- und Artwörtern, wie man an den Einträgen von Bilderduden und bebilderten Lexika sehen kann. Manche Wörter werden auch kommentiert oder sogar »definiert«, also verbal erläutert. Damit wird klar, dass Hegel alles andere als einen naiven Mentalismus vertritt, als hätten wir einen unmittelbaren Zugang zu geistigen Inhalten und damit zu nicht präsentischen Möglichkeiten. Als der erste große Gegner aller naiven Unmittelbarkeit erkennt und nennt er die folgenden zentralen Vermittlungsstufen: Empfindung und Selbstgefühl etwa der Befriedigung und des Unbefriedigtseins, Erinnerung des Wiedererkennens und der Vorstellung, reproduktive Einbildungskraft und die produktiven Einfälle der Phantasie und jetzt deren Kanalisierung und Kanonisierung zunächst durch Titelworte und Wortfolgen im halbautomatisierten Bewusstseinsstrom. 374
740 374 Der subjektive Geist 459 Wichtig ist, dass die Formierung in Erziehung und Bildung natürlich ein Gemeinschaftsunternehmen ist. Die Meinung des Empirismus grenzt ans Absurde, es würden vom Einzelsubjekt zunächst nur eigene Anschauungen erinnert. Aus ihnen sollen Formen abstrahiert werden, die sich dann mit Worten benennen lassen. Dieses Bild teilt noch Kant weitgehend mit Locke. Darin wird erstens die Rolle des tätigen Kopierens von Formen unterschätzt, zweitens die der je einzelnen Einfälle oder Produktionen von Worten und Urbildern, drittens die gelernten Zuordnungen zum Dargestellten, viertens die zunächst bloße erst gefühlsförmige Eigenkontrolle des jeweils Passenden und fünftens die unendlichen Möglichkeiten kanonisch-normativ wertender und kommentierender Reflexion. Daher kann von einer bloßen Abrichtung trotz aller halbautomatisierten Gewohnheit nicht die Rede sein. Vorausgesetzt ist vielmehr, sechstens, die längst schon gemeinsame Praxis des parallelen Unterscheidens von Worten und Sachen. Siebtens besteht individuelle Intelligenz darin, an einer regionalen Sprachgemeinschaft gut teilzunehmen und durch ihre Vermittlung schon implizit oder nur erst virtuell, achtens, am Wissen aller anderen Sprachgemeinschaften. αα) Jene Verknüpfung, die das Zeichen ist, zu dem Ihrigen machend, erhebt sie durch diese Erinnerung die einzelne Verknüpfung zu einer allgemeinen, d. i. bleibenden Verknüpfung, in welcher Name und Bedeutung objektiv für sie verbunden sind, und macht die Anschauung, welche der Name zunächst ist, zu einer Vorstellung, so daß der Inhalt, die Bedeutung, und das Zeichen identifiziert, Eine Vorstellung sind und das Vorstellen in seiner Innerlichkeit konkret, der Inhalt als dessen Dasein ist; – das Namen behaltende Gedächtnis. (459) Ein Zeichen oder ein Wort ist nicht nur die Spur einer Zeichenträgerhandlung für sich, die man z. B. zu Übungszwecken außerhalb eines realen Gebrauchs aktualisieren kann, sondern steht in Verknüpfung mit der angezeigten oder repräsentierten Sache an sich. Diese aber kann nur ein Typ oder eine Form sein bzw. eine relational strukturierte Klasse von Gegenständen, also ein Begri= an sich. Als solcher ist dieser immer ein allgemeiner Bereich möglicher Gegenstände. Das ist schon deswegen so, weil von den konkreten Instanzen, den Bezugsgegenständen in präsentischer Anschauung, abgesehen wird.
459 Psychologie. Der Geist 741 Die bleibenden Verknüpfungen von Wort, Bild, Vorstellungsbild und Sache, wie man sie in der Tat am besten im vagen generischen Singular ausdrückt, kennen wir alle. In ihr und über explizite oder kontextuelle Gebrauchsdefinitionen – wie schon im Fall von Relationen wie »zwischen« oder Präpositionen wie »am«, »auf« und »in« – erhalten die ›Namen‹, also die Basiswörter einer Sprache, ihre ›objektive‹, also sachbezogene, und eben damit ihre transsubjektive Bedeutung. So wird der Name »zu einer Vorstellung«, also zu einer Repräsentation eines Sachtyps oder Begri=s an sich. Im gewohnheitsförmigen Gebrauch hören und sehen wir sozusagen durch das Wort hindurch die Sache an sich qua Form, Inhalt, Begri= oder Bedeutung und identifizieren diese über das Zeichen oder Wort als ihre kanonische Repräsentation – so wie etwa Dezimalzahlterme kanonisch für natürliche Zahlen stehen, die man dann aber, wie alle Formen und Begri=e, auch auf andere Weise darstellen kann. So wird das »Vorstellen in seiner Innerlichkeit konkret«. Im Bewusstseinsstrom von Wortfolgen repräsentieren diese fast unmittelbar ihren jeweiligen Inhalt als das Dasein der Vorstellung. Insgesamt geschieht das auf der Grundlage des die Basisworte in ihrer Unterscheidungsform erinnernden Gedächtnisses. § 462 Der Name ist so die Sache, wie sie im Reiche der Vorstellung vorhanden ist und Gültigkeit hat. (459) Wer zu schnell liest, wird nicht verstehen, was es heißt, dass das Wort die Sache ist. Es bedeutet keineswegs, dass Hegel Wort und Sache verwechseln würde. Hegel sagt vielmehr, dass die Sache qua Arttyp oder Begri= im Reich der Vorstellung wesentlich (und am Ende fast nur noch) durch die vorgestellten Worte (oder Zeichenfolgen, wenn man etwa an musikalische Kompositionen denkt) vertreten ist. Hegels Rede von ihrer Gültigkeit ist nicht mehr unsere. Er meint nämlich sowohl die Gleichgültigkeit äquivalenter Worte als auch die Geltungsbedingungen der Zuordnung zu Unterscheidungen in präsentischen Anschauungen. Das ββ) reproduzierende Gedächtnis hat und erkennt im Namen die Sache, und mit der Sache den Namen, ohne Anschauung und Bild. (459) 374 374 f .
742 375 375 k Der subjektive Geist 459 f. Wenn mir ein Name einfällt, reproduziere ich im Gedächtnis auch eine Sache. Man denke als Beispiel an den Fall, dass mir mit dem Wort »Trocadero« das Gebäude in Paris oder seine Gestalt einfällt. Der Name als Existenz des Inhalts in der Intelligenz ist die Äußerlichkeit ihrer selbst in ihr, und die Erinnerung des Namens als der von ihr hervorgebrachten Anschauung ist zugleich die Entäußerung, in der sie innerhalb ihrer selbst sich setzt. (459 f.) Im Namen oder Wort äußert sich ein Inhalt real. In der Sprache, wie wir heute weit großzügiger und damit ungenauer sagen, zeigt sich die wesentliche Äußerlichkeit der Intelligenz. Diese ist ›innerlich‹ nur vermöge eines leisen Vorstellens von Wortfolgen und einer halbautomatisierten Verknüpfung mit anderen, etwa bildlichen Vorstellungen und dann auch mit bedingten Befriedigungen als den Erfüllungsgefühlen, wenn das Wort unserem Urteil zufolge auf eine in der präsentischen Anschauung gegebene Einzelsache zutri=t. Hegel kann natürlich an der Dialektik von Innen und Außen in der Rede von einem Auswendiglernen eines Textes nicht vorbeigehen. Denn das Innen der Erinnerung besteht gerade in der Repräsentation von Inhalten durch äußere Formen. Diese sind Worte, die als solche zwar leise erinnert werden, aber dann auch laut geäußert werden können oder könnten. Manchmal freilich schwebt uns eine Sache ohne Wort vor. Manchmal liegen Worte, wie wir sagen, auf der Zunge, wollen aber nicht aus dem Mund heraus. Allerdings interessieren sich Hegel und die Philosophie fast ausschließlich für die allgemeinen Normalfälle und außer zur Illustration nicht, wie etwa die Sachwissenschaft Psychologie, dafür, was bloß manchmal so und so ist. In diesem Sinn ist alles begri=liche Erinnern in Worten längst schon Entäußerung der Inhalte. Zumeist erinnern wir uns daher als Erwachsene an Titelwörter und verbale oder diagrammatische Beschreibungsskizzen einer vergangenen Anschauung und keineswegs an ein photographisches Situationsbild mit allen Details. Die Assoziation der besondern Namen liegt in der Bedeutung der Bestimmungen der empfindenden, vorstellenden oder denkenden Intelligenz[,] von denen sie Reihen als empfindend usf. in sich durchläuft. Bei dem Namen Löwe bedürfen wir weder der Anschauung eines solches Tieres, noch auch selbst des Bildes, sondern der Name, in-
460 Psychologie. Der Geist 743 dem wir ihn verstehen, ist die bildlose einfache Vorstellung. Es ist in Namen, daß wir denken. (460) Auch inferentielle Normalfallabläufe werden mit besonderen ›Namen‹ oder Wörtern assoziiert. Daher durchlaufen wir im Verstehen (als intelligente Personen in Hegels Sinn des subjektiven Geistes) ganze Reihen oder Folgen von inneren Vorstellungen – samt den Schattenbildern entsprechender Empfindungen. Hegel selbst erläutert das am Beispiel des Wortes »Löwe«. Ein Kleinstkind kann schon wissen und sogar sagen können, dass ein Löwe brüllt, ohne ein Bild oder eine reale Anschauung eines Löwen zu haben – wenn man ihm Entsprechendes von den Löwen erzählt. Es sind ja weitestgehend (nur) die Wörter, in denen wir denken. Die vor einiger Zeit wieder aufgewärmte und billig wieder vergessene Mnemonik der Alten besteht darin, die Namen in Bilder zu verwandeln und hiemit das Gedächtnis wieder zur Einbildungskraft herabzusetzen. Die Stelle der Kraft des Gedächtnisses vertritt ein in der Einbildungskraft befestigtes, bleibendes Tableau einer Reihe von Bildern, an welche dann der auswendig zu lernende Aufsatz, die Folge seiner Vorstellungen, angeknüpft wird. Bei der Heterogeneität des Inhalts dieser Vorstellungen und jener permanenten Bilder, wie auch wegen der Geschwindigkeit, in der es geschehen soll, muß dies Anknüpfen nicht anders als durch schale, alberne, ganz zufällige Zusammenhänge geschehen. Nicht nur wird der Geist auf die Folter gesetzt, sich mit verrücktem Zeuge zu plagen, sondern das auf solche Weise auswendig Gelernte ist eben deswegen schnell wieder vergessen, indem ohnehin dasselbe Tableau für das Auswendiglernen jeder andern Reihe von Vorstellungen gebraucht [wird] und daher die vorher daran geknüpften wieder weggewischt werden. Das mnemonisch Eingeprägte wird nicht wie das im Gedächtnis Behaltene auswendig, d. h. eigentlich von innen heraus, aus dem tiefen Schachte des Ich hervorgebracht und so hergesagt, sondern es wird von dem Tableau der Einbildungskraft sozusagen abgelesen. – Die Mnemonik hängt mit den gewöhnlichen Vorurteilen zusammen, die man von dem Gedächtnis im Verhältnis zur Einbildungskraft hat, als ob diese eine höhere, geistigere Tätigkeit wäre als das Gedächtnis. Vielmehr hat es das Gedächtnis nicht mehr mit dem Bilde zu tun, welches aus dem unmittelbaren, ungeistigen Bestimmtsein 375 k
744 Der subjektive Geist 460 f. der Intelligenz, aus der Anschauung, hergenommen ist, sondern mit einem Dasein, welches das Produkt der Intelligenz selbst ist, – einem solchen Auswendigen, welches in das Inwendige der Intelligenz eingeschlossen bleibt und nur innerhalb ihrer selbst deren auswendige, existierende Seite ist. (460 f.) Es folgt eine Polemik gegen das schon oben kurz angesprochene Trockenschwimmen abstrakter Mnemonik oder Mnemotechnik. Sie richtet sich nicht gegen das Auswendiglernen einer eisernen Ration von Texten – z. B. der für diesen Zweck verfertigten Gedichte wie etwa Goethes Prometheus, Schillers Resignation, Die Bürgschaft oder Die Glocke, wie sie früher noch zum Standard gymnasialer Bildung gehörten. Hegel geht es darum, dass das wahre Gedächtnis an der Sache orientiert bleibt. Reine Gedächtniskunststückchen taugen nur für einfachste Formen der Abendunterhaltung. Zwar braucht man, um intelligent zu sein, ein ausreichend gutes Gedächtnis. Aber ein Maß der Intelligenz, das bloß messen würde, wie viel und schnell sich Gedächtniskünstler etwas merken können, hat mit Verstehen und Denken und damit mit voller Intelligenz oder gar Vernunft im Urteilen und Handeln noch sehr wenig zu tun. Nur im unteren Bereich des Mangels könnte es aussagekräftig sein. Hegel zweifelt entsprechend an der Rede von einer Kraft des Gedächtnisses und kommt darauf zurück, dass das auswendig im Gedächtnis Behaltene »eigentlich von innen heraus, aus dem tiefen Schachte des Ich hervorgebracht« ist und nicht rein wörtlich, sozusagen ohne Inhalt und daher wie abgelesen rezitiert wird. Dabei bricht Hegel hier durchaus eine Lanze für das denkende Gedächtnis. Das wertet die rein reproduktive Vorstellungs- oder Einbildungskraft etwas ab. Daher sagt er auch, das wahre Gedächtnis habe nicht bloß etwas »mit dem Bilde zu tun, welches aus dem unmittelbaren, ungeistigen Bestimmtsein der Intelligenz, aus der Anschauung, hergenommen ist«, sondern mit einem präsentischen Dasein im Vollzug, »welches das Produkt der Intelligenz selbst ist«. Dieser Vollzug ist in einem ganz anderen Sinn auswendig als die gedankenlose Rezitation eines wörtlichen Textes. Denn es ist Äußerung des Inwendigen des Geistes und entäußert dieses Innere nicht bloß auf oberflächliche Weise. Am Ende ist alles Innere reflektiertes Äußeres und alle Äußerung des Geistes eine Folge theoretischen und praktischen Denkens.
461 Psychologie. Der Geist 745 § 463 γγ) Insofern der Zusammenhang der Namen in der Bedeutung liegt, ist die Verknüpfung derselben mit dem Sein als Namen noch eine Synthese und die Intelligenz in dieser ihrer Äußerlichkeit nicht einfach in sich zurückgekehrt. Aber die Intelligenz ist das Allgemeine, die einfache Wahrheit ihrer besondern Entäußerungen und ihr durchgeführtes Aneignen ist das Aufheben jenes Unterschiedes der Bedeutung und des Namens; diese höchste Erinnerung des Vorstellens ist ihre höchste Entäußerung, in der sie sich als das Sein, den allgemeinen Raum der Namen als solcher, d. i. sinnloser Worte setzt. Ich, welches dies abstrakte Sein ist, ist als Subjektivität zugleich die Macht der verschiedenen Namen, das leere Band, welches Reihen derselben in sich befestigt und in fester Ordnung behält. Insofern sie nur seiend sind und die Intelligenz in sich hier selbst dies ihr Sein ist, ist sie diese Macht als ganz abstrakte Subjektivität, – das Gedächtnis, das um der gänzlichen Äußerlichkeit willen, in der die Glieder solcher Reihen gegeneinander sind, und das selbst diese obgleich subjektive Äußerlichkeit ist, mechanisch (§ 195) genannt wird. (461) Hegel spielt sozusagen mit den Wörtern »Gedanken« und »Gedenken« und der Dialektik des Innerlichen der Inhalte von bloß erst wörtlich oder auswendig reproduzierbaren Texten. Inhalte sind zunächst di=erentiell bedingte Normalfallinferenzen oder Normalerwartungen. Sie machen so die allgemeine Bedeutung der Ausdrücke aus. Diese ergeben sich aus verbal gelernten und kanonisch gesetzten Unterscheidungen, terminologischen Regeln bzw. Allsätzen nach Art sogenannter Prädikatorenregeln wie ›Wale sind Säugetiere‹ und Defaultregeln wie ›Berglöwen fressen Kleinnager‹. Die Verknüpfung von Wort und Sache ist in gerade diesem Sinn allgemein gesetzte bzw. vorausgesetzte ›Synthese‹. Solange wir diese bloß erst schematisch oder gewohnheitsmäßig gebrauchen, sind wir von der angelernten Oberflächlichkeit eines bloß naheliegenden Urteils noch nicht zu einem bewusst von uns selbst geprüften Urteilen und Schließen gelangt. Das meint die Metapher von der Rückkehr der Intelligenz, also des personalen Subjekts, von den angelernten synthetischen Urteils- und Inferenzschemata a priori oder an sich zu einem authentischen Unterscheiden und Handeln. 376
746 Der subjektive Geist Voraussetzung für jede Intelligenz ist der Verstand, also das Vermögen, Schemata und allgemeines Wissen formal richtig oder regelkonform, sogar gewohnheitsmäßig zu reproduzieren. Erst auf einer zweiten, aber für die Vernunft wesentlichen Reflexionsebene bedarf es einer Art dialektischer Selbstkontrolle. Es muss das generisch Gelernte angemessen angewendet werden. Das setzt z. B. immer einen gewissen Ausschluss privativer Ausnahmen voraus, also ein besonderes praktisches Wissen über die konkrete Situation. Der Form nach geschieht die Anwendung generischen Wissens und semantischer Formen, Normen und Regeln gerade so wie die Anwendungen figurativer Redeformen. Man sortiert unpassende Kriterien des Unterscheidens oder unangemessene Formen des Defaultschließens aus und fokussiert auf den ›wesentlichen‹ Inhalt. Im empraktischen Verstehen tun wir das längst schon ›unbewusst‹. Wir verfangen uns in den dialektischen Problemen häufig erst, wenn wir das Vorgehen als schematisches Verfahren darstellen wollen, was nie ganz geht. Die übliche formale Logik des bloßen Verstandes übersieht eben dieses Problem und damit den wesentlichen Unterschied zwischen Sprache und Sprechen, Rechnen und Begründen, Verstehen im Sinne eines bloß erst formalen Nachvollzugs und Begreifen. Das bloß formale Verstehen ist daher auch die »höchste Erinnerung des Vorstellens« in ›ihrer höchsten Entäußerung‹. Das heißt, es ist nur erst schematischer Umgang mit gelernten di=erentiell bedingten Inferenzen wie im deduktiven Rechnen mit Axiomen oder Prädikatorenregeln. Diese sind das rein für sich »leere Band«, von welchem Hegel hier metaphorisch spricht. In der Praxis einer vernünftigen, an Situation, Kontext und Sache angemessenen Anwendung wird das bloß erst angelernte System verbaler Schemata und Regeln, explizit ausgedrückt in Sätzen, »in sich befestigt«. Indem ich als Subjekt frei mit Regeln umgehe, habe ich Macht über sie, auch wenn diese dabei ihre relativ feste Ordnung behalten – aber eben nur ›im Prinzip‹. Worte, Sätze, Texte, Di=erenzund Inferenzformen sind in diesem Sinn zunächst »nur seiend«. Das heißt, sie sind dem lernenden Subjekt als zu beherrschende Basisformen gegeben. Sie ›tun‹ selbst gar nichts. Dass die Intelligenz »ihr Sein« ist, heißt wohl nur, dass sie in einem vernünftigen Gebrauch
461 f. Psychologie. Der Geist 747 in Anpassung an Relevanz oder Interesse angemessen aktualisiert werden müssen. Man weiß bekanntlich einen Aufsatz erst dann recht auswendig, wenn man keinen Sinn bei den Worten hat; das Hersagen solches Auswendiggewußten wird darum von selbst akzentlos. Der richtige Akzent, der hineingebracht wird, geht auf den Sinn; die Bedeutung, Vorstellung, die herbeigerufen wird, stört dagegen den mechanischen Zusammenhang und verwirrt daher leicht das Hersagen. Das Vermögen, Reihen von Worten, in deren Zusammenhang kein Verstand ist, oder die schon für sich sinnlos sind (eine Reihe von Eigennamen), auswendig behalten zu können, ist darum so höchst wunderbar, weil der Geist wesentlich dies ist, bei sich selbst zu sein, hier aber derselbe als in ihm selbst entäußert, seine Tätigkeit als ein Mechanismus ist. (461 f.) Das Interesse ist ein Bei-sich-Sein in der Form des Bei-der-SacheSeins. Was man gedankenfrei rezitieren kann, weiß man auswendig. Bei voller Beherrschung des Textes kann ein guter Schauspieler den Sinn durch Akzentuierungen so hervortreten lassen, als spräche er unmittelbar, während Anfänger sozusagen auf der Suche nach dem wörtlichen Text gerade auch die sinngemäßen Betonungen vergessen. Hegel erinnert an diese Allgemeinerfahrung wohl aus dem folgenden Grund: Einerseits bin ich als geistiges Wesen wesentlich bei mir selbst. Das heißt gerade, dass ich normalerweise auf die wesentlichen Inhalte fokussiere, also bei der Sache bin, so dass alle Besonderheiten der Form, auch die meiner eigenen Vollzüge, aus dem Fokus der Aufmerksamkeit fallen. Das erklärt folgende gegenläufige Momente des Selbstbewusstseins: Gemäß der Normalbedeutung von »selfconsciousness« im Englischen achtet ein self-conscious subject allzu sehr auf sich und ist daher unsicher, während im Deutschen eine selbstbewusste Person souverän und manchmal sogar ›rücksichtslos‹ auf die Sache und nicht auf sich selbst und die anderen Handelnden als Subjekte achtet. Man kann den Gedankengang noch einmal so kommentieren: Die ›entäußerte‹ Tätigkeit des wörtlichen Erinnerns und das schematische Folgern »als ein Mechanismus« scha=en allererst gemeinsame Inhalte. Das intelligente Subjekt »ist nur bei sich als Einheit der Sub- 376 k
748 376 k 376 k Der subjektive Geist 462 jektivität und der Objektivität«. Das Objektive beruht dabei immer auf einem formellen Lernen, das allererst die Transsubjektivität eines sogenannten Perspektivenwechsels in der Vorstellung durch Repräsentation der Sicht von anderen Orten, Zeiten und Subjekten her ermöglicht. Im sogenannten Mitgefühl und Mitleiden wird bestenfalls eine entsprechend automatisierte Gewohnheit mehr oder weniger unbewusst abgerufen. Sie verlassen die Ebene des bloß subjektiven Empfindens, etwa der Rührung im je präsentischen Vollzug, nur über die Denkinhalte. Der Geist aber ist nur bei sich als Einheit der Subjektivität und der Objektivität; und hier im Gedächtnis, nachdem er in der Anschauung zunächst als Äußerliches so ist, daß er die Bestimmungen findet, und in der Vorstellung dieses Gefundene in sich erinnert und zu dem Seinigen macht, macht er sich als Gedächtnis in ihm selbst zu einem Äußerlichen, so daß das Seinige als ein Gefunden-werdendes erscheint. (462) Alles, was wir erinnern und formal im Gedächtnis behalten, ist in gewisser Weise Reproduktion von Schemata des Anschauens. In diesem Sinn ist es zunächst etwas Äußerliches. Es wird ›innerlich‹ im inhaltlichen Fokus auf die Sache. Wie ein guter Schauspieler finde ich die entsprechenden formalen Bestimmungen in mir und verflüssige sie im Licht von Relevanz und Interesse, also durch wesensbestimmende Gleichgültigkeiten und Betonungen. ›Lebendiges‹ Denken als inhaltliches Sinnverstehen geht in diesem Sinn frei mit gelernten Textbausteinen um, die gerade nicht unmittelbar rezitiert werden. Ein Denken und Reden kommt ironischerweise gerade dann unmittelbar aus dem Inneren, wenn man nur eingeübte Schemata gedankenfrei reproduziert. Alles ›romantische Lob‹ des Innerlichen, des Gefühls oder des ›Herzens‹ tendiert dazu, diese Dialektik massiv zu unterschätzen, mit Folgen bis zu den häufig ebenso folgenreichen wie gedankenlosen kollektiven Gefühlen nationaler Erhebung. Das eine der Momente des Denkens, die Objektivität, ist hier als Qualität der Intelligenz selbst in ihr gesetzt. – (462) Die Objektivität des Denkens liegt also nur zum Teil im rein verbal gelernten ›begri=lichen‹ Allgemeinwissen. Denn dieses muss je konkret gemäß den praktischen Formen nachdenkender Vernunft immer
462 Psychologie. Der Geist 749 noch in Anpassung an konkrete Interessen und Relevanzgesichtspunkte einerseits, Kontext und Situation andererseits ausreichend gut aktualisiert werden. Die »Qualität der Intelligenz« hängt dennoch vom erinnerten Wissen wesentlich ab. Es liegt nahe, das Gedächtnis als eine mechanische, als eine Tätigkeit des Sinnlosen zu fassen, wobei es etwa nur durch seinen Nutzen, vielleicht seine Unentbehrlichkeit für andere Zwecke und Tätigkeiten des Geistes gerechtfertigt wird. Damit wird aber seine eigene Bedeutung, die es im Geiste hat, übersehen. (462) Hegel bestätigt die von mir hervorgehobene Ambivalenz aller bloßen Erinnerung, auch äußerlicher kulturellen Traditionen etwa in der philologischen Textpflege vom Humanismus bis zum Historismus. Der gewöhnlichen Auffassung erscheint das Gedächtnis als bloß mechanische Tätigkeit der Reproduktion verbaler Formeln, manchmal als staunenswerte Fähigkeit von Gedächtniskünstlern. Der konkrete Nutzen eines guten Gedächtnisses z. B. eines Kellners liegt darin, dass er Bestellungen schnell aufnehmen und schnell im Kopf rechnen kann. Weit fundamentaler aber ist, dass für das inferentielle Inhaltsverstehen und damit das Urteilen und Schließen begri=liche Setzungen zu lernen sind. Auf der Ebene des Gemeinschaftlichen ist das geschichtliche und philologische Wissen ebenfalls notwendige, aber nie schon ausreichende Bedingung kollektiver Vernunft. § 464 Das Seiende als Name bedarf eines Andern, der Bedeutung der vorstellenden Intelligenz, um die Sache, die wahre Objektivität, zu sein. Die Intelligenz ist als mechanisches Gedächtnis in Einem jene äußerliche Objektivität selbst und die Bedeutung. Sie ist so als die Existenz dieser Identität gesetzt, d. i. sie ist für sich als solche Identität, welche sie als Vernunft an sich ist, tätig. (462) Worte, Sätze und Texte sind Formen der Laut- oder Schriftsprache. Diese existieren als solche nur in Aktualisierungen. Sie sind aber als erlernte Vollzugsformen bloß erst ›seiend‹. Das heißt, dass ich sie mir gegenständlich zum Thema machen und damit in eine bloße Möglichkeit verwandeln kann und muss. Als derartige Reflexionsgegenstände haben die Formen kein eigenes ›Sein‹ und können z. B. 376 f . k 377
750 377 377 k 377 k Der subjektive Geist 462 selbst nichts tun. Sie haben eine Bedeutung nur in unserem Gebrauch, der sich dann aber als typisch gute, damit normativ richtige Instanziierung des Begri=lichen von bloß faktischen Verwendungen der Worte unterscheidet. Jemand ist intelligent, wenn sein »mechanisches Gedächtnis« im ›verständigen‹ Umgang mit gesetzten Regeln gut genug ist; vernünftig wird ein solcher Umgang erst über die souveräne Beherrschung der freien Dialektik guten Gebrauchs. Dazu lernen im guten Fall schon kleinste Kinder die freien Formen der Ironie und des Humors in kalkulierten Regelbrüchen. Vernunft kann also durchaus systematisch, nur nie rein schematisch, gelehrt und gelernt werden. Das Gedächtnis ist auf diese Weise der Übergang in die Tätigkeit des Gedankens, der keine Bedeutung mehr hat, d. i. von dessen Objektivität nicht mehr das Subjektive ein Verschiedenes ist, so wie diese Innerlichkeit an ihr selbst seiend ist. (462) Hegels allzu dichte Formulierung soll wohl sagen, dass das mechanische Gedächtnis als Vermögen schematischen Regelfolgens Voraussetzung ist für den »Übergang in die Tätigkeit des Gedankens«, also in das freie Nachdenken über den zu fassenden aktualen Sinn der eigenen Rede. Dieser ist nicht einfach die allgemeine oder formale Bedeutung einer rein schematischen Gebrauchsform, sondern ergibt sich aus Modifikationen durch Kontext und Situation, die ich den anderen und sogar mir selbst zu verstehen gebe. Schon unsere Sprache gibt dem Gedächtnis, von dem es zum Vorurteil geworden ist, verächtlich zu sprechen, die hohe Stellung der unmittelbaren Verwandtschaft mit dem Gedanken. – (463) Hegel wiederholt nur noch einmal die Bedeutung des Gedächtnisses, auch des Auswendiglernens und des schematischen Regelfolgens. Dazu verweist er auf den morphematischen Zusammenhang von Gedächtnis, Gedenken und Gedanken – und weist alle Unterschätzung bloß äußerer Schemata zurück, aber ohne das Sinnverstehen oder vernünftige Urteilen und Schließen auf sie und ein bloß erst formales Regelfolgen zu reduzieren. Die Jugend hat nicht zufälligerweise ein besseres Gedächtnis als die Alten, und ihr Gedächtnis wird nicht nur um der Nützlichkeit willen geübt, sondern sie hat das gute Gedächtnis, weil sie sich noch nicht nachdenkend verhält, und es wird absichtlich oder unabsichtlich darum geübt, um den Boden ihrer Innerlichkeit zum reinen
463 Psychologie. Der Geist 751 Sein, zum reinen Raume zu ebnen, in welchem die Sache, der an sich seiende Inhalt ohne den Gegensatz gegen eine subjektive Innerlichkeit, gewähren und sich explizieren könne. (463) Schon Platon betont, dass die Jugend »nicht zufälligerweise ein besseres Gedächtnis als die Alten« hat und dass es von ihnen »nicht nur um der Nützlichkeit willen geübt« wird, sondern z. B. auch des Scharfsinns mathematischen Denkens wegen. Wie sonst auch häufig, kehrt Hegel sozusagen mitten im Satz die Blickrichtung um, indem er sagt, die Jugend habe auch deswegen »das gute Gedächtnis«, weil sie nur erst begeistert sei über die Leistungen eines schematischen Könnens, ohne schon über die Grenzen von dessen sinnvollen Anwendungen nachzudenken. Halbautomatisches Schließen ist in der Tat Voraussetzung schneller Auffassungsgabe, die wiederum Voraussetzung ist für komplexeres Nachdenken. Es sind aber Sinnverdichtungen allgemeiner Übersichten, die im Blick auf die inferentiellen Inhalte ein bei Weitem schnelleres Sprechen, Verstehen, auch Lesen erlauben, als wenn man nur schnell spricht oder liest. Lakonische Sprache von Sparta und Rom bis Bern oder Friesland zeigt, wie das geht und was das Motto »non multa!«, »nicht zuviel!«, dabei bedeutet: Ein Vielredner langweilt den Vielhörer. Der Vielleser langweilt sich bei fast allen normalen narrativen Texten. Daher ziehen fortgeschrittene Leser dichte Kurztexte und Gedichte einer Flut von Romanen vor, deren ausgewalzte Denkschemata und Inhalte man schon kennt. Wie die kurzen Texte des Heraklit, die auch ›nur‹ einige wichtige Bücher kommentieren, könnten auch die relativ wenigen verö=entlichten Texte Hegels gerade aufgrund der Schwierigkeit ihrer Lektüre einen Skopus an Themen umfassen, wie er durch die Lektüre ganzer Bibliotheken voller ›philosophischer Literatur‹ nicht erfasst werden kann. Das gilt allerdings nur, wenn man die Artikulationstechnik ihrer sprachlichen Kommentierungen und Verdichtungen beherrscht. Die Rede vom reinen Sein, reinen Raum, »in welchem die Sache« sich »ohne den Gegensatz gegen eine subjektive Innerlichkeit« zeigt oder explizieren lässt, ist etwas dunkel, meint aber wohl die Aufhebung allgemeiner Schemata in einem urteilskräftigen Gebrauch.
752 377 k Der subjektive Geist 463 Ein gründliches Talent pflegt mit einem guten Gedächtnisse in der Jugend verbunden zu sein. Aber dergleichen empirische Angaben helfen nichts dazu, das zu erkennen, was das Gedächtnis an ihm selbst ist; es ist einer der bisher ganz unbeachteten und in der Tat der schwersten Punkte in der Lehre vom Geiste, in der Systematisierung der Intelligenz die Stellung und Bedeutung des Gedächtnisses zu fassen und dessen organischen Zusammenhang mit dem Denken zu begreifen. Das Gedächtnis als solches ist selbst die nur äußerliche Weise, das einseitige Moment der Existenz des Denkens, der Übergang ist für uns oder an sich die Identität der Vernunft und der Weise der Existenz; welche Identität macht, daß die Vernunft nun im Subjekte existiert, als seine Tätigkeit ist; so ist sie Denken. (463) Dass ein hinreichend gutes Gedächtnis notwendig ist für geistige Exzellenz, ist jetzt zwar klar, aber Hegel findet, dass er es zurecht so betont. Es sei nämlich einer »der schwersten Punkte in der Lehre vom Geiste«, die Bedeutung der Disziplin des Erinnerns und der Fingerfertigkeit des Gedächtnisses als Voraussetzung für eine entwickelte Intelligenz zu erfassen. Denn ein zu frühes ›inhaltliches‹ Denken bleibe bloß intuitiv, während ein bloß schematisch-scharfsinniges Rechnen und Argumentieren bloß erst exakt bleibe und nicht streng genug mit dem bloß Generischen aller gesetzten Allgemeinheit und aller formalen begri=lichen und logischen Regeln im realen Weltbezug und aktualer Kommunikation umgehe. Der ›organische Zusammenhang mit dem Denken‹, von dem Hegel spricht, besteht nämlich in der Gesamtorganisation freier Reflexion und ihrer Stufen.98 Das heißt, zur bestimmenden Urteilskraft im Regelfolgen der Begri=sverwendung kommt immer noch die dialektische Prüfung der Reichweite der Schemata und die reflektierende Urteilskraft der Suche nach besten Darstellungen der Inhalte hinzu. Ohne diese jeweils zweiten, dialektischen, Ebenen des reflektierenden Nachdenkens gibt es keine Vernunft. 98 Das Wort »organisch« ist bei Hegel vom heutigen Verstehen her gesehen fast überall durch »organisatorisch« oder meinetwegen auch »systematisch« zu ersetzen.
464 Psychologie. Der Geist . 753 γ) Das Denken § 465 Die Intelligenz ist wiedererkennend; – sie erkennt eine Anschauung, insofern diese schon die ihrige ist (§ 454); ferner im Namen die Sache (§ 462); nun aber ist für sie ihr Allgemeines in der gedoppelten Bedeutung des Allgemeinen als solchen und desselben als Unmittelbaren oder Seienden, somit als das wahrhafte Allgemeine, welches die übergreifende Einheit seiner selbst über sein Anderes, das Sein, ist. (463 f.) Wir können jetzt genauer sagen, was Intelligenz als notwendiges Moment des Denkens, damit der Vernunft und des Geistes insgesamt ist. Sie ist zunächst die Fähigkeit der Wiedererkennung und partiell auch Reproduktion von Formen. Die Intelligenz erkennt eine erinnerte oder reproduzierbare Anschauungsform als »die ihrige«; wobei, wie der Verweis auf § 454 klarmacht, das Wissen um die relevante Formgleichheit von Anschauung und Vorstellung, Präsentation und Repräsentation vorausgesetzt ist. Ein weiteres Wiedererkennen findet sich in der Zuordnung von Name oder Wort und Sache – samt der Formenerkennung der Ausdrücke und der Fähigkeit, sie beliebig zu reproduzieren. In selbstproduzierten Ausdrücken die benannten Sachen an sich qua Formen, Begri=en, Arten oder Typen zu erkennen, bedeutet gerade, das Allgemeine im Ausdruck zum Gegenstand zu machen und durch diesen hindurch sich explizit auf den Arttyp zu beziehen. – Wir sehen hier noch einmal die zentrale Stelle des linguistic turn in Hegels Philosophie. Denn er sagt, dass alle generischen Allgemeinheiten und damit alle Begri=e durch Systeme von Ausdrücken auf die eine oder andere Weise wenigstens partiell verbal explizit zu machen sind. Die »übergreifende Einheit seiner selbst über sein Anderes, das Sein« meint gerade die Bestimmung der Arttypen oder Begri=e durch Worte. So ist die Intelligenz für sich an ihr selbst erkennend; – an ihr selbst das Allgemeine, ihr Produkt, der Gedanke ist die Sache; einfache Identität des Subjektiven und Objektiven. (464) Hegel erscheint dem uninformierten Leser in solchen Sätzen als ho=nungsloser Idealist, der glaube, dass das, was es gibt, das Produkt des Denkens der Intelligenz sei. Manche stellen sich die Intelligenz 378 378
754 Der subjektive Geist gleich als Geist und Gott vor. Für diese falschen Verständnisse ist Hegels beschränkte Formulierungskunst wohl zum Teil selbst verantwortlich. Aber der Satz ist genauer lesen. Dass »die Intelligenz für sich an ihr selbst« etwas erkennt, bedeutet, dass eine Person, die in Hegels Sinn intelligent ist, und das heißt, etwas als etwas in Anschauung, Vorstellung oder im Sprechen versteht, eine selbstbezügliche kognitive Beziehung zu sich beherrschen muss. Das »für sich« bedeutet logisch gerade, dass diese Beziehung ›feiner‹ ist als die Ich-Identität nicht nur des Individuums oder der Person insgesamt, sondern sogar des präsentischen Vollzugssubjekts. Eine bloße logische, freilich metaphorische Ausdrucksvariante dafür ist, dass ich mich auf mein Inneres beziehe und dabei konkrete Tendenzen in meinem Empfinden, meinen Gefühlen, meinem halbautomatischen verbal planning oder Bewusstseinsstrom und meinen enaktiven bzw. empraktischen Gewohnheiten erkenne, diese auf Kontext und Situation hin prüfe, sie gegebenenfalls umsteuere oder aber ihren gewohnheitsförmigen Lauf bestehen lasse. Intelligenz ist damit sozusagen die Vermittlerin des Allgemeinen in meinem besonderen Dasein hier und jetzt als Einzelsubjekt. Das bedeutet, dass ich nur dann intelligent urteile und handle, wenn ich, soweit nötig, das Einzelne und Besondere meines leibseelischen, also ›mentalen‹, und selbstbewusst-intelligenten, also schon geistig-psychologischen ›inneren Daseins‹ vergegenständliche bzw. objektiviere und so distanzierend aus einem allgemeinen Gesichtspunkt beurteile und steuere, das aber, wie gesagt, unter allgemeiner Berücksichtigung des besonderen Kontextes, der einzelnen (realen, ›empirischen‹) Situation und natürlich von mir als Subjekt, das je jetzt etwas tun oder unterlassen muss, also etwa meinen Gefühlen und Gewohnheiten ihren Lauf lassen – oder eben nicht. Erst das Produkt eines Nachdenkens über erinnerte Vorstellungen aus dem Gedächtnis heraus, wozu auch alles schematische Regelfolgen gehört, ist der Gedanke. Hegels Leser irritiert immer wieder, dass er die Sache mit dem Gedanken identifiziert, so wie schon in der Logik den Gegenstand als Bereich mit dem Begri=. Man meint, dass Hegel dadurch klarerweise Zeichen und Bezeichnetes, das Subjektive mit dem Objektiven verwechsle oder kontaminiere. Nun ist aber der Witz seiner Analyse
464 Psychologie. Der Geist 755 und Überlegung gerade der, dass die reflexionslogische Unterscheidung zwischen Ausdruck und Bedeutung, auch Begri= und Sache (zunächst qua Typ oder Klasse) erst dann möglich ist, nachdem man ihre Einheit im gemeinsamen Gebrauch schon kennt. Die zunächst mysteriöse »einfache Identität des Subjektiven und Objektiven« wird im konkreten Gebrauch von artikulierten Unterscheidungen allererst verständlich. Denn dieser Gebrauch ist intelligent, also verstehend und erkennend, nur im Blick auf das Allgemeine, also nur als kontrollierter Gebrauch. Ohne diese Unterscheidung zwischen einem normativ bewerteten Gebrauch, einem bloßen Brauch konventionellen Verhaltens oder einer bloß akzidentellen Verwendung der Worte können Bedeutung und Inhalt nicht als Gebrauch begri=en werden. Sie weiß, daß, was gedacht ist, ist; und daß, was ist, nur ist, insofern es Gedanke ist (vergl. § 5, 21); – für sich; das Denken der Intelligenz ist Gedanken haben; sie sind als ihr Inhalt und Gegenstand. (464) Es ist nur ein bedingter Reflex erster Lektüre, wenn man leicht aufgebracht zu fragen geneigt ist, was es denn heißen soll, dass die Intelligenz wisse, dass das, was gedacht ist, ist; und dass das, was ist, nur ist, insofern es Gedanke ist. Das scheint doch klarer idealistischer Unsinn zu sein: Vieles, an das wir denken, gibt es nicht. Hegel sagt hier aber in Wahrheit (also im Ganzen) lediglich, dass es Denkgegenstände nur dadurch gibt, dass sie als Gegenstände bestimmt sind. Das gilt zunächst auch für alle fiktionalen Gegenstände, von Pegasus bis Sherlock Holmes, aber auch für alle abstrakten, idealen und spekulativen Gegenstände wie Zahlen, geometrische Formen oder die Wahrheit als das Ganze des Seins bzw. der Welt. In der zweiten Hälfte des Satzes sagt er daher, dass es etwas für mich nur gibt, insofern ich es denkend erfasse. Von einer rein ›objektiven‹ Existenz im Sinn eines ›es gibt‹ von der Seite eines Gottes ist hier noch gar nicht die Rede. Es geht nur erst darum, dass »das Denken der Intelligenz« so aufzufassen ist, dass ich mich zu einem von mir gegenständlich gefassten Gedanken reflektierend verhalte, etwa indem ich ihn als weitere Orientierung anerkenne oder ablehne. So ist m. E. auch der Bezug auf den § 5 und § 21 der Enzyklopädie zu verstehen, wo Hegel sagt, dass die Gegenstände der Wahrnehmung 378
756 Der subjektive Geist 464 und Erfahrung als Gegenstände schon gedacht sein müssen, also gar keine unmittelbaren Bezugnahmen in einer bloß erst animalischen Perzeption sind. Eine solche Perzeption ist nur erst subjektiv und enaktiv. Das Gegenständliche und Objektive in enaktiver Perzeption ist nur im Kontext der je aktualen Verfolgung fest vorgegebener Ziele wie Fressen, Paarung oder Aufzucht von Nachwuchs bestimmt. Das Gedachtwerdenkönnen ist notwendige, obzwar noch lange keine hinreichende Bedingung für das Vorhandensein eines in seiner Art und Identität bestimmten Objekts. Aber auch die Erfüllung von Bedingungen, die wir als hinreichend für das Vorhandensein ansehen, kann nicht nur anschauend, rein sinnlich, rein empirisch kontrolliert werden, zumal wir vieles in der gegenwärtigen und vergangenen Welt als existent oder vorhanden anerkennen, was niemand von uns je unmittelbar angeschaut hat. Das Reich des von Menschen empirisch Erfahrenen oder der Erscheinungen ist, wenn wir es wörtlich verstehen, einfach viel zu klein. Das ist es selbst dann, wenn wir die gesamte bisherige Menschheit zum Subjekt machen. Das macht die unvermeidliche Schwierigkeit des Vorgri=s auf alle Zukunft in der Vorstellung eines kontrafaktischen Gottes als Gesamt-Geist mit seinem ›Allwissen‹ vollkommener Wahrheit aus. 378 378 § 466 Das denkende Erkennen ist aber gleichfalls zunächst formell; die Allgemeinheit und ihr Sein ist die einfache Subjektivität der Intelligenz. (464) Denkendes Erkennen ist zunächst allerdings zumeist nur erst verbale Bezugnahme auf den gedachten Gegenstand, der damit bloß erst allgemein bestimmt ist. Die Angabe seiner möglichen Instanziierung als Einzelgegenstand der Art verlangt im Prinzip eine Raumzeitangabe im System der vorhandenen Sachen. Seine Wirklichkeit erkennen wir nur über den Nachweis, dass das Mögliche auch wirklich existiert(e). Obwohl Hegels Ausdrucksweise keineswegs perfekt ist, kann man jetzt verstehen, in welchem Sinn das Sein allgemeiner Denkgegenstände »die einfache Subjektivität der Intelligenz« selbst ist, nämlich schlicht deswegen, weil es ein Gedachtsein ist. Die Gedanken sind so nicht als an und für sich bestimmt und die
464 f. Psychologie. Der Geist 757 zum Denken erinnerten Vorstellungen insofern noch der gegebene Inhalt. (464) Wir dürfen freilich die Gedanken als innere oder subjektive Gegenstände an sich nicht schon mit äußeren Objekten an und für sich (also mit ihrem transsubjektiven Fürsichsein konkreter Identität) verwechseln. Die »zum Denken erinnerten Vorstellungen« sind noch keine ›realen Objekte‹ wie der Ei=elturm oder ein reales Geschehen, sondern nur erst ein je mir in der Anschauung ›gegebener‹ oder von mir ausgemalter und im Nachdenken zum Thema gemachter Inhalt. § 467 An diesem Inhalte ist es 1) formell identischer Verstand, welcher die erinnerten Vorstellungen zu Gattungen, Arten, Gesetzen, Kräften usf., überhaupt zu den Kategorien verarbeitet, in dem Sinne, daß der Sto= erst in diesen Denkformen die Wahrheit seines Seins habe. (464) In Hegels Stenographie meint die Rede von einem identischen Verstand die Identifizierungen, die ich vornehme, wenn ich verständig »die erinnerten Vorstellungen zu Gattungen, Arten, Gesetzen, Kräften usf., überhaupt zu den Kategorien« verarbeite. Das geschieht, indem ich von den von mir apperzipierten qualitativen Unterscheidungen in meiner Anschauung oder Vorstellung übergehe zu Dingen und Sachen, auch Kräften oder Dispositionen eines Arttyps, die ich als objektive Ursache meiner Empfindungen ansehe. Wir haben uns längst angewöhnt, über derartige Denkformen eine perzipierte Sache in ihrem Sein zu bestimmen. Wir führen unser geistiges Leben eben dadurch schon im Rahmen bewerteter Möglichkeiten, nicht bloß in Reaktion auf die Aktualitäten präsentischer Erscheinungen. Als in sich unendliche Negativität ist das Denken 2) wesentlich Diremtion, – Urteil, das den Begri= jedoch nicht mehr in den vorigen Gegensatz von Allgemeinheit und Sein auflöst, sondern nach den eigentümlichen Zusammenhängen des Begri=s unterscheidet, und 3) hebt das Denken die Formbestimmung auf und setzt zugleich die Identität der Unterschiede; – formelle Vernunft, schließender Verstand. – (464 f.) Man kann potentiell unendlich viele Unterscheidungen tre=en. Zunächst besteht das Denken sogar wesentlich in der ›Negativität‹ 378 378
758 378 f . Der subjektive Geist 465 des unterscheidenden Urteilens. Derartige ›Diremtionen‹ gliedern die Welt, wobei die allgemeinsten Unterscheidungen den jeweils relevanten Begri= qua Themen- und Gegenstandsbereich betre=en. Jede Rede über Primzahlen unterstellt z. B. die natürlichen Zahlen als Bereich. Jede Rede über Richter unterstellt ein Rechtssystem und dieses inzwischen den Staat usw. Die Aufhebung der Formbestimmung, von der Hegel hier spricht, besteht wohl in einer urteilskräftigen Modifikation des explizit aufgerufenen Defaultfalls, der zugleich als Rahmen für das Verstehen erhalten bleibt. Hegel spricht von einer formellen Vernunft bzw. einem schließenden Verstand, wobei wir nicht (nur) an schematische Schlüsse (apagogische Deduktionen) der einfachen Subsumtionen E -B-A zu denken haben (Sokrates ist ein Mensch, Menschen sind sterblich, also ist Sokrates sterblich), sondern (auch schon) an abduktive Schlüsse auf beste Erklärungen E -A-B (»die roten Punkte bedeuten wohl, dass das Kind Masern hat«), während man als ein Beispiel für einen ›induktiven‹ oder auch prototypisch-analogischen Schluss der Form B-E -A die Begründung der (generischen!) Unbedenklichkeit und Wirksamkeit eines Impfsto=s nach systematischen Tests und dann auch millionenfachen Erfahrungen ansehen kann. Die Intelligenz erkennt als denkend; und zwar erklärt 1) der Verstand das Einzelne aus seinen Allgemeinheiten (den Kategorien), so heißt er sich begreifend; 2) erklärt er dasselbe für ein Allgemeines (Gattung, Art), im Urteil; in diesen Formen erscheint der Inhalt als gegeben; 3) im Schlusse aber bestimmt er aus sich Inhalt, indem er jenen Formunterschied aufhebt. (465) Eine intelligente Person ist ein Mensch in Ausübung seines intellectus. Sie ›erkennt‹ etwas, indem sie eine Möglichkeit als bestehend oder als erwartbar bewertet – was nie bloß ein unmittelbares Anschauen ist. Was Tiere in bloß enaktiver Perzeption erkennen, ist von ganz anderem Typ als das Wahrnehmen von etwas: Kein Tier lebt in einem Raum vergegenständlichter Möglichkeiten. Der Verstand als die ratio ist zunächst Umgang mit schematischen Regeln. Im Subsumieren von etwas unter einen Begri= erkenne ich Einzelnes ›aus seinen Allgemeinheiten (den Kategorien)‹ – und zwar zunächst so, wie man sie auffasst, wie ich es gelernt habe und als was man sie behandelt. Damit erkläre ich das Ding oder die Sache zu
465 Psychologie. Der Geist 759 einer Instanz einer allgemeinen Gattung oder Art und artikuliere das ggf. in einem expliziten Urteil. Der Inhalt erscheint mir dabei aber zunächst als vorgegeben. Ich sehe damit davon ab, dass auch die gewohnheitsmäßige Anwendung der Kategorien, also des Etwas-über-etwas-Sagens oder -Denkens, schon mein frei handelndes Tun ist, das ich in sogenannten Begründungen prüfen kann und manchmal muss. Im begründenden Schließen bestimme ich je konkret den relevanten Inhalt so, dass sich der Formunterschied des bloß rezeptiven Gegebenseins und meiner spontanen Setzung in gewisser Weise – ho=entlich ›gut und richtig‹ – aufhebt. In der Einsicht in die Notwendigkeit ist die letzte Unmittelbarkeit, die dem formellen Denken noch anhängt, verschwunden. (465) Die Rede von einer Einsicht in die Notwendigkeit ist generell eine Hommage an Spinoza. Sie bedeutet hier speziell, dass ich im begründeten Erschließen eines von der Sache her notwendigen Urteils »die letzte Unmittelbarkeit« des bloßen Reagierens zum Verschwinden gebracht habe. Das heißt, ich habe ein bloß erst angelerntes formelles Denken überwunden. In der Logik ist das Denken, wie es erst an sich ist und sich die Vernunft in diesem gegensatzlosen Elemente entwickelt. (465) Die Logik reflektiert auf das Denken an sich, also auf seine Formen, ohne konkrete Belegungen der Begri=swörter, was bei Hegel auch heißen kann: ohne Bestimmung der konkreteren Gegenstandsbereiche, in denen sich sogenannte Prädikatkonstanten und Variablen allererst generisch bzw. an sich und dann empirisch als Einzelnes belegen lassen.99 99 Die Konstitution der jeweils relevanten Begri=e qua Gegenstandsbereiche G durch eine gegenstandsbestimmende Gleichheit N = M wird in allen formalen Logiken ohne Bewusstsein präsuppponiert. Hegel fragt, wann benennungsförmige Ausdrücke oder Sprechakte N , M zu G gehören und wann sie ein einziges g in G benennen, wie also z. B. durch eine Äquivalenz verschiedener Erscheinungen E die Rede über eine (wesentliche) UrSache g (bzw. ein ›Grund‹) eben dieser ›seiner‹ Erscheinungen verfasst ist. In den diversen metaphysisch-ontologischen Theorien der sogenannten Analytischen Philosophie verzichtet man auf diese Analyse der Gegenstandbereiche und ›beschreibt‹ sie nur durch Listen von Axiomen. 379 379 k
760 379 k 379 k 379 Der subjektive Geist 465 Im Bewußtsein kommt es gleichfalls als eine Stufe vor (s. § 437 Anm.). Hier ist die Vernunft als die Wahrheit des Gegensatzes, wie er sich innerhalb des Geistes selbst bestimmt hatte. – (465) In der Phänomenologie des Geistes, die zunächst nur Reflexion auf das Bewusstsein ist, kommt das Denken zwar »gleichfalls als eine Stufe vor«, aber jeweils nur im Kontext der Entgegensetzung von Begehren und Wollen, intuitivem Meinen und gewissenhaftem Urteilen, Verstand und Vernunft. Nach der eben geführten Überlegung wird der Gegensatz zwischen einem bloß erst schematischen und einem vernünftigen Urteilen und Schließen noch klarer: Das Wahre des Verstandes ist im vollen Begreifen die im Ganzen ›unendliche‹ Dialektik reflektierender Vernunft. Das Denken tritt in diesen verschiedenen Teilen der Wissenschaft deswegen immer wieder hervor, weil diese Teile nur durch das Element und die Form des Gegensatzes verschieden, das Denken aber dieses eine und dasselbe Zentrum ist, in welches als in ihre Wahrheit die Gegensätze zurückgehen. (465) In keiner Sachwissenschaft ist das Denken Thema. Es wird ungeklärt als gegeben und bekannt vorausgesetzt. Das gilt sogar in der formalen Logik und Mathematik. Denn man muss auch hier frei nachdenken können, um zu begreifen, dass Axiome und ableitbare Sätze als zulässige Regeln in so genannten Modellen der Axiome zu verstehen sind. In den Teildisziplinen der Philosophie tritt das Nachdenken selbst als Thema »deswegen immer wieder hervor«, weil verschiedene Momente des Wissens bzw. Erkennens hervorzuheben sind. § 468 Die Intelligenz, die als theoretische sich die unmittelbare Bestimmtheit aneignet, ist nach vollendeter Besitznahme nun in ihrem Eigentume; durch die letzte Negation der Unmittelbarkeit ist an sich gesetzt, daß für sie der Inhalt durch sie bestimmt ist. (465) Hier schließt Hegel die Gedankenführung auf eine für ihn typische Weise ab: Ich bin ein intelligentes Wesen im theoretischen Sinn des erkennenden Unterscheidens, indem ich präsentische Anschauungen, vorstellende Erinnerungen und ein wesentlich sprachlich vermitteltes Gedächtnis habe. Es bedarf aber erfahrener Urteilskraft und dialektisch-kritischer Reflexion, um auf dieser Grundlage die Vernunft eines
466 Psychologie. Der Geist 761 selbständigen Umgangs mit allgemeinen Inhalten an sich zu entwickeln. Die »letzte Negation der Unmittelbarkeit« besteht dabei darin, dass ich meine subjektiven Einfälle im teils verbalen, teils bildlichen Bewusstseinsstrom vor dem Hintergrund allgemeinen Wissens in einem konkreten, damit im Vollzug zwar subjektiven, der Form nach aber die Sache möglichst gut objektivierenden Begründen und Urteilen autonom kontrolliere. Das Denken, als der freie Begri=, ist nun auch dem Inhalte nach frei. Die Intelligenz sich wissend als das Bestimmende des Inhalts, der ebenso der ihrige, als er als seiend bestimmt ist, ist Wille. (465) Das Denken wird so zu einem freien Begreifen, der Wille zur tätigen Selbstbestimmung der Person. 379 b. Der praktische Geist § 469 Der Geist als Wille weiß sich als sich in sich beschließend und sich aus sich erfüllend. (466) Die Rede vom Geist und vom Willen ist nicht etwa so zu verstehen, dass irgendwie neben mir als leiblich fühlendem und allerlei Sachen begehrendem Wesen mein Geist als Kontrolleur meiner Neigungen schwebt. Er ist als Intellekt kein Wagenlenker wie bei Platon im Phaidros, der mithilfe eines gut abgerichteten Pferdes meine Neigung in Schach hält, die, wie ein noch nicht gezähmtes Pferd, dauernd vom richtigen Weg abweicht und sich sozusagen in die Büsche schlagen will. Im Fall von Platons Bild, das eine weltweite Vorstellung darstellt, ist das abgerichtete Pferd der thymos. Er ist eine Art Knecht, der dem Wagenlenker als dem Intellekt dient, indem er das Begehren und die Leidenschaften hemmt. Hegel übernimmt von Platons Bild, dass es der Geist ist, der im guten Fall sozusagen beschließt, was zu tun ist. Der Wille ist der durch den Beschluss bestimmte Entschluss im Tun. Ich bin identisch mit meinem Willen, also meiner handelnden Selbstformung als Person, die ich am Ende gewesen sein werde, indem ich die von mir selbstbewusst gefassten und geprüften Vorsätze und Absichten qua Erfüllungsbedingungen nach meinen Möglichkeiten entschlossen im Tun zu erfüllen suche. Die eigentliche Form des 379
762 379 Der subjektive Geist 466 Wollens etwa im Unterschied zum Begehren und Wünschen ist daher diese: Ich will, dass p, wenn ich bewusst und tätig nach meinen Möglichkeiten dafür sorge, dass p – so dass ich es im guten Normalfall auch gewesen sein werde, der p erfüllt hat. Echtes Wollen sorgt so am Ende immer dafür, wer wir als Person gewesen sein werden. Dies erfüllte Fürsichsein oder Einzelnheit macht die Seite der Existenz oder Realität von der Idee des Geistes aus; als Wille tritt der Geist in Wirklichkeit, als Wissen ist er in dem Boden der Allgemeinheit des Begri=s. – (466) Die Rede vom erfüllten Fürsichsein bezieht sich auf die tätige Selbstbeziehung von mir auf mich in einem Handeln, das eine ho=entlich vernünftigen Beschluss umsetzt. Das Tun beginnt im Entschluss. Der Wille als willentliches Tun macht so »die Seite der Existenz oder Realität von der Idee des Geistes aus«. Das heißt, der Begri= des Geistes an sich und die zugehörige allgemeine Form des Willens an sich werden zur Idee des Geistes und des Willens nur durch die konkrete Vollzugsform ihrer realen Instanziierungen. Das Wort »empirisch« markiert im Unterschied zum Wort »real« nur etwas Beobachtetes, kein Tun im Vollzug und auch kein Sein für sich. Der Geist wird nur als Wille wirklich. Das normative Sollen des tätigen Schließens gemäß den von mir anerkannten Formen des di=erentiell bedingten Inferierens bliebe leer, wenn ich mich nicht real an ihm orientieren würde. Daher zeigt sich nur im realen Tun bzw. seiner Gesamtform die Wirklichkeit des Geistes. Der Wille ist, das sagt Hegels Analyse, nur eine façon de parler, eine freilich extrem wichtige Art des Redens über mögliche und wirkliche Formen bedingter Folgen im freien Handeln, so wie die Rede von natürlichen Kräften und Dispositionen bedingte Folgen im noch unfreien natürlichen Verhalten je nach Art der Wesen und der Typen der Situationen artikuliert. Der theoretische Geist als (Teilnahme am) Wissen und Erkennen verbleibt wie die Intelligenz nur erst auf »dem Boden der Allgemeinheit des Begri=s« – so wie jemand, der bloß klug spricht, aber nicht klug handelt oder lebt. Andererseits gibt es kein freies Handeln ohne Wissen über Möglichkeiten und über die Mittel, durch ein Tun die Erfüllung eines beabsichtigten Zwecks wenigstens zu befördern oder
466 Psychologie. Der Geist 763 sogar dafür zu sorgen, dass eine Bedingung guten Handelns oder Tuns erfüllt wird. Als sich selbst den Inhalt gebend, ist der Wille bei sich, frei überhaupt; dies ist sein bestimmter Begri=. – (466) Der Wille ist jeweils mein Wille. Das Wollen betri=t aber immer mich als ganze Person, nicht nur als Subjekt im Tun hier und jetzt. Wollend gebe ich mir als Person den Inhalt p, für den ich tätig sorge. Mein Wille also sorgt dafür, dass p – da er nichts ist als das vorsätzlichabsichtlich Tun selbst, das non-p (mehr oder weniger sicher) ausschließt. In diesem Sinn ist der Wille an sich immer bei sich und frei. Seine Endlichkeit besteht in dessen Formalismus, daß sein durch sich Erfülltsein die abstrakte Bestimmtheit, die seinige überhaupt, mit der entwickelten Vernunft nicht identifiziert ist. (466) Die Endlichkeit des Willens besteht darin, dass unser Tun nur im Normalfall dafür sorgt, dass der Inhalt p erfüllt wird. Manchmal scheitern nicht nur erste Versuche, dafür zu sorgen, dass p. Das Wünschen oder Präferieren eines guten Ausgangs q für je mich und uns ist logisch von ganz anderer Art. Hegel spricht dunkel von der Di=erenz zwischen der Erfüllung der Bedingungen »der entwickelten Vernunft« und meinen Wunschbestimmungen. Die Bestimmung des an sich seienden Willens ist, die Freiheit in dem formellen Willen zur Existenz zu bringen, und damit der Zweck des letztern, sich mit seinem Begri=e zu erfüllen, d. i. die Freiheit zu seiner Bestimmtheit, zu seinem Inhalte und Zwecke wie zu seinem Dasein zu machen. (466) Hegel will wohl sagen, dass wir alle – aber leider nur an sich – wollen, dass das, wofür wir im realen bzw. je aktualen Tun tätig sorgen, mit dem übereinstimmt, was wir eigentlich oder wahrhaft im Ganzen zu sein wünschen. Dass »der Begri= hiemit zur Idee vollendet sei« (§ 484), bezieht sich auf den Begri= des freien Willens an sich. Seine Vollendung zur Idee des freien Willens besteht in seiner Realisierung. Die Idee von etwas ist ja immer der zugehörige realisierte Begri=, also das, was in der realen, zeitlichen und räumlichen Welt endlicher Sachen nach Maßgabe der Methexis, einer Bewertung je ›ausreichender‹ FormenErfüllungen, die begri<ich-allgemeinen, daher immer bloß erst generisch-idealen begri=lichen Bedingungen instanziiert oder manifestiert. 379 379 f . 380
764 380 380 k Der subjektive Geist 466 Es gibt, so kann man Hegel verstehen, keine Freiheit außer in unseren frei handelnden Formungen der Welt, die, wenn wir ihren holistischen Rahmen nach dem Slogan »Das Wahre ist das Ganze« berücksichtigen, die »Wirklichkeit einer Welt gestaltet«. Am Ende sorge ich also durch mein frei handelndes Tun und Unterlassen dafür, welche Person ich insgesamt gewesen sein werde, wie meine Welt und dann auch die Welt von mir mitgeformt sein wird, und sogar, wie ich mich zu diesem Gesamtsachverhalt im Leben und Seinsvollzug verhalte. Dieser Begri=, die Freiheit, ist wesentlich nur als Denken; der Weg des Willens, sich zum objektiven Geiste zu machen, ist, sich zum denkenden Willen zu erheben, – sich den Inhalt zu geben, den er nur als sich Denkendes haben kann. (466) Während die Spielräume eines sich ›frei bewegenden‹ Tieres von der äußeren Umgebung (im Raum), der eigenen Beweglichkeit und den eigenen Begehrungen und Antrieben je hier und jetzt abhängen, besteht die Freiheit des Willens wesentlich im Denken über den Zustand p, für den wir handelnd sorgen (können) – manchmal aber leider auch im Nichtdenken qua Unterlassung oder Verzicht. Die metaphysische These des Determinismus, man könne angesichts einer angeblichen kausalen Geschlossenheit der Welt nicht frei denken und wollen, ist erstens selbst ein spekulativer Satz und liefert zweitens eine Art Entschuldigung der Selbstprivation im Blick auf sich selbst. Anhänger des Satzes halten freilich seinen Inhalt irgendwie für klar und wahr. Der Satz ist aber eher unendlich falsch, also von der sinnlosen Art »Mich und die Welt gibt es nicht«. Die wahre Freiheit ist als Sittlichkeit dies, daß der Wille nicht subjektive[n], d. i. eigensüchtige[n], sondern allgemeinen Inhalt zu seinen Zwecken hat; solcher Inhalt ist aber nur im Denken und durchs Denken; es ist nichts Geringeres als absurd, aus der Sittlichkeit, Religiosität, Rechtlichkeit usf. das Denken ausschließen zu wollen. (466) Wir sollten im Leben nicht nur unsere momentanen Wünsche zu erfüllen suchen. Wahre Freiheit besteht in der Beförderung des allgemeinen Ethos des objektiven Geistes. Es reicht z. B. nicht, je aktual meine stärkste Präferenz mir zum Zwecke zu machen. Vielmehr ›muss‹ ich, soweit ich nach meinem eigenen Gesamtwissen über mich und die Welt frei handelnde Person sein will, den objektiven Geist des gemein-
467 Psychologie. Der Geist 765 samen Wissens und begri=lichen Denkens zur Orientierung nehmen. Hegels Polemik gegen alle unmittelbaren Gefühlsorientierungen in »Sittlichkeit, Religiosität, Rechtlichkeit« bestätigt diese Lesart. Es geht hier nicht um einen ohnehin unbegründbaren utilitaristischen Altruismus und weltumspannenden Sozialkollektivismus, vielleicht sogar samt angeschlossener Tierethik, sondern um eine Kritik an der Enge des Blicks und der Denkschwäche eines bloßen homo sentimentalis samt seiner Abhängigkeit von aktualen Stimmungen und seiner Unfähigkeit im reflexiven Umgang mit der eigenen Subjektzentriertheit. § 470 Der praktische Geist enthält zunächst als formeller oder unmittelbarer Wille ein gedoppeltes Sollen, 1) in dem Gegensatze der aus ihm gesetzten Bestimmtheit gegen das damit wieder eintretende unmittelbare Bestimmtsein, gegen sein Dasein und Zustand, was im Bewußtsein sich zugleich im Verhältnisse gegen äußere Objekte entwickelt. 2) Jene erste Selbstbestimmung ist als selbst unmittelbare zunächst nicht in die Allgemeinheit des Denkens erhoben, welche daher an sich das Sollen gegen jene sowohl der Form nach ausmacht, als dem Inhalte nach ausmachen kann; – ein Gegensatz, der zunächst nur für uns ist. (467) Der Ausdruck »praktischer Geist« steht für das durch Denken bestimmte Handeln. Es hat die im Grunde einfache Form, dass ich selbstbewusst dafür sorge und in diesem Sinn will, dass p. Als »formeller oder unmittelbarer Wille« im aktualen Vollzug enthält jedes derartige Handeln »ein gedoppeltes Sollen«. Ich sollte erstens überlegen, in welchem Zustand ich mich insgesamt befinde und wie ich diesen und damit auch mich selbst zu verändern wünsche, zweitens aber auch, was ich im Ganzen wirklich als Zweck meines Tuns anerkenne und von einem bloßen Wunsch unterscheide. 380
766 Der subjektive Geist 467 α) Das praktische Gefühl 380 380 f . 381 k § 471 Der praktische Geist hat seine Selbstbestimmung in ihm zuerst auf unmittelbare Weise, damit formell, so daß er sich findet als in seiner innerlichen Natur bestimmte Einzelnheit. Er ist so praktisches Gefühl. (467) Unmittelbare Antriebe haben nun aber immer auch wesentlich die Form eines praktischen Gefühls. Hegel unterschätzt keineswegs die Bedeutung aktueller Neigungen, subjektiver Wünsche und individueller Gefühle. Er wehrt sich nur gegen ihre Verabsolutierung. Darin hat er, da er an sich mit der Vernunft einfach identische Subjektivität ist, wohl den Inhalt der Vernunft, aber als unmittelbar einzelnen, hiemit auch als natürlichen, zufälligen und subjektiven Inhalt, der ebensowohl aus der Partikularität des Bedürfnisses, des Meinens usf. und aus der gegen das Allgemeine sich für sich setzenden Subjektivität sich bestimmt, als er an sich der Vernunft angemessen sein kann. (467) Das Problem des reinen Urteilens und Handelns nach Gefühl besteht einfach in einem möglichen Mangel an gewissenhaftem Nachdenken über die Inhalte p, für die man im Tun sorgt. Deren Kontrolle ist ja für ein nicht fahrlässiges Handeln ganz o=enbar nötig. Wenn an das Gefühl von Recht und Moralität wie von Religion, das der Mensch in sich habe, an seine wohlwollenden Neigungen usf., an sein Herz überhaupt, d. i. an das Subjekt, insofern in ihm alle die verschiedenen praktischen Gefühle vereinigt sind, appelliert wird, so hat dies 1) den richtigen Sinn, daß diese Bestimmungen seine eigenen immanenten sind, 2) und dann, insofern das Gefühl dem Verstande entgegengesetzt wird, daß es gegen dessen einseitige Abstraktionen die Totalität sein kann. Aber ebenso kann das Gefühl einseitig, unwesentlich, schlecht sein. Das Vernünftige, das in der Gestalt der Vernünftigkeit als Gedachtes ist, ist derselbe Inhalt, den das gute praktische Gefühl hat, aber in seiner Allgemeinheit und Notwendigkeit, in seiner Objektivität und Wahrheit. (467 f.) Meine Lesart der Gedankenführung wird hier voll bestätigt. Im guten Fall ist ein Urteilen und Handeln nach eigenen immanenten Gewissheiten trivialerweise erlaubt. Dabei kann sogar »das Gefühl
468 Psychologie. Der Geist 767 dem Verstande entgegengesetzt« sein, wenn dieser allzu schematisch denkt, während das Gefühl wie die Erfahrung manchmal schon besser für eine Anpassung an die reale Situation im Ganzen sorgen mag. Es gibt aber auch Fahrlässigkeit im bloß erst gefühlsmäßigen Urteilen und Handeln. Hegels Rede von der Allgemeinheit, Notwendigkeit, Objektivität und Wahrheit nennt die allgemeinen Dimensionen, die wir als notwendige Bedingungssphären für ein gewissenhaft reflektiertes Urteilen und Handeln anerkennen. Deswegen ist es einerseits töricht, zu meinen, als ob im Übergange vom Gefühl zum Recht und der Pflicht an Inhalt und Vortre=lichkeit verloren werde; dieser Übergang bringt erst das Gefühl zu seiner Wahrheit. (468) Das Gefühl der Gerechtigkeit kann bei gewissenhafter Prüfung nie wirklich im Gegensatz zum Recht als dem allgemein anerkannten Richtigen stehen, wohl aber zu einem bloß formellen positiven Recht. Ebenso töricht ist es, die Intelligenz dem Gefühle, Herzen und Willen für überflüssig, ja schädlich zu halten; die Wahrheit und, was dasselbe ist, die wirkliche Vernünftigkeit des Herzens und Willens kann allein in der Allgemeinheit der Intelligenz, nicht in der Einzelnheit des Gefühles als solchen stattfinden. Wenn die Gefühle wahrhafter Art sind, sind sie es durch ihre Bestimmtheit, d. i. ihren Inhalt, und dieser ist wahrhaft nur, insofern er in sich allgemein ist, d. h. den denkenden Geist zu seiner Quelle hat. (468) Völlig abwegig ist es, Intelligenz und Denken etwa für Moral oder Religion als »überflüssig, ja schädlich« anzusehen und alles Gute dem Herzen, der Intuition oder dem Gefühl zuzuschreiben. Richtig ist nur, dass Verstand und Intelligenz nicht ausreichen. Es wäre z. B. auch verkehrt, alle Geltungen je aktual und eigenständig prüfen zu wollen. Wir bleiben immer auch auf ein gelerntes Wissen und auf eingeübte Gewohnheiten angewiesen. Entscheidend ist zu wissen, wie konventionell gerade das scheinbar unmittelbare Gefühl im Blick auf Inhalt und Geltung ist. Der Schein der Authentizität intuitiven Tuns kommt nur daher, dass aller Vollzug absolut ist. Die Schwierigkeit besteht für den Verstand darin, sich von der Trennung, die er sich einmal zwischen den Seelenvermögen, dem Gefühle, dem denkenden Geiste willkürlich gemacht hat, loszuma- 381 k 381 k 381 k
768 381 k Der subjektive Geist 468 chen und zu der Vorstellung zu kommen, daß im Menschen nur Eine Vernunft, im Gefühl, Wollen und Denken ist. (468) Das Problem betri=t nicht nur diejenigen, welche in dogmatischer Denkverweigerung ihren Gefühlen und Glaubensintuitionen freien Lauf lassen, sondern auch diejenigen, welche nur in schematischer Weise über ›modulare‹ Seelenvermögen nachdenken. Die bloß formale Rationalität bringt das eigene Nachdenken zum Schweigen und steht damit den ›Befriedigungsgefühlen‹ der Selbstkontrolle gegenüber, die wir immer auch positiv als vage Urteile über Erfüllungen zu begreifen haben. Es ist daher auch falsch, seine Gefühle nicht ernst zu nehmen. Sie liefern wie das Daimonion des Sokrates wenigstens eine Art Warnsignal. Freilich ist die vernünftige Einheit »im Gefühl, Wollen und Denken« nicht ganz leicht zu begreifen. Damit zusammenhängend wird eine Schwierigkeit darin gefunden, daß die Ideen, die allein dem denkenden Geiste angehören, Gott, Recht, Sittlichkeit, auch gefühlt werden können. Das Gefühl ist aber nichts anderes als die Form der unmittelbaren eigentümlichen Einzelnheit des Subjekts, in die jener Inhalt, wie jeder andere objektive Inhalt, dem das Bewußtsein auch Gegenständlichkeit zuschreibt, gesetzt werden kann. (468) Heinrich Heine und Sören Kierkegaard werden, wie viele andere auch, Hegels Vorstellung von Gott und Religion als zu abstrakt, als angeblich verkopft ablehnen. Hegel spreche das Gefühl zu wenig an, meint man. Heine kehrt sogar, wie andere Romantiker, in den Schoß der katholischen Kirche zurück. Kierkegaard wird für eine absolute Radikalisierung des Gefühlsprotestantismus kämpfen und steht damit im Grunde auf der Linie der Ansätze Friedrich Schleiermachers. Hegel distanziert sich hier schon relativ lakonisch so: Die Titelwörter »Gott, Recht, Sittlichkeit« sind Reflexionstermini. Sie gehören immer schon zum reinen und allgemeinen Denken. Ihre Inhalte können gar nicht gefühlt werden. Wohl aber lässt sich eine Form des Umgangs mit ihnen für die ›unmittelbare eigentümliche Einzelheit des Subjekts‹ etablieren, nämlich in symbolischen Narrationen, in denen ihr objektiver Inhalt vergegenständlicht wird. Das führt zu der allbekannten religiösen Praxis des fingierten Zwiegesprächs, dem Ich-Du (Martin Buber) des teils nachdenkenden, teils nachempfindenden Gebets, in welchem sich religiöses Denken mit religiösem Gefühl verbindet.
469 Psychologie. Der Geist 769 Hegel stellt sich insgesamt keineswegs gegen diese teils individuellen, teils in einem gemeinsamen Gottesdienst ritualisierten Praxisformen, im Gegenteil. Er besteht nur darauf, sie zu entmystifizieren. Andererseits ist es verdächtig, und sehr wohl mehr als dies, am Gefühle und Herzen gegen die gedachte Vernünftigkeit, Recht, Pflicht, Gesetz, festzuhalten, weil das, was Mehr in jenen als in dieser ist, nur die besondere Subjektivität, das Eitle und die Willkür, ist. – (468 f.) Wer im Urteilen und Handeln an seinen gefühlsförmigen Intuitionen festhält, ohne sich auf Fragen nach der allgemeinen Geltung oder ›Vernünftigkeit‹ der Inhalte einzulassen, tritt den Geist der Menschheit und damit sein eigenes Personsein mit Füßen. Wir können uns dann nur noch vor seiner Willkür in Acht nehmen und ansonsten die mangelnde Intelligenz des Individuums bedauern. Aus demselben Grunde ist es ungeschickt, sich bei der wissenschaftlichen Betrachtung der Gefühle auf mehr als auf ihre Form einzulassen und ihren Inhalt zu betrachten, da dieser als gedacht vielmehr die Selbstbestimmungen des Geistes in ihrer Allgemeinheit und Notwendigkeit, die Rechte und Pflichten, ausmacht. (469) Hegel bestätigt hier noch einmal die Unterscheidung zwischen Vollzug und Inhalt einer Rede oder einer Handlung. Er erkennt, dass die Gefühle zu den Vollzügen und zu den Haltungen gehören. Diese sind als solche nur erst ›formelle‹ leibseelische Formen wie Furcht und Ho=nung, deren Inhalte durch symbolische, vorzüglich sprachliche Repräsentationen explizit bestimmt werden. Das macht die Arbeitsteilung zwischen wissenschaftlicher Psychologie und einer Ethik des Guten so prekär. In der Psychologie geht es um Stimmungen und Gefühle sozusagen auf der Antriebsebene mit variablen Inhalten. In der Ethik geht es um eine Bestimmung der Inhalte und die Wertungen nach wahr, gut und schön bzw. ausreichend perfekt. Die Inhalte aller Rechte und Pflichten, der allgemeinen Sittlichkeit und der Perfektion, sind objektiv zu beurteilen. Sie sind keineswegs nur eine Sache subjektiver Gefühle. Für die eigentümliche Betrachtung der praktischen Gefühle wie der Neigungen blieben nur die selbstsüchtigen, schlechten und bösen; denn nur sie gehören der sich gegen das Allgemeine festhaltenden Einzelnheit; ihr Inhalt ist das Gegenteil gegen den der 381 f . k 382 k 382 k
770 Der subjektive Geist 469 Rechte und Pflichten, eben damit erhalten sie aber nur im Gegensatze gegen diese ihre nähere Bestimmtheit. (469) Inhalte von Neigungen oder Gefühle nur für mich gibt es nur als autistische, damit nur als schlechte oder gar böse. 382 382 382 k § 472 Das praktische Gefühl enthält das Sollen, seine Selbstbestimmung als an sich seiend, bezogen auf eine seiende Einzelnheit, die nur in der Angemessenheit zu jener als gültig sei. (469) Das praktische Gefühl ist nichts als die Prüfung einer Erfüllung durch eine relativ unmittelbare Befriedigung, in der ein Begehren nach Erfüllung oder Befriedigung zur Ruhe kommt. Die Selbstbestimmung an sich ist dann seiend in dem Sinn, dass sich für je mich das Sollen und die Erfüllung unmittelbar im subjektiven Erfüllungsbegehren und in der zugehörigen Befriedigung real zeigt. Das geschieht im aktualen Bezug auf eine wirkliche Einzelheit. Dabei können die Angemessenheit der Befriedigung und die Richtigkeit der Erfüllung je neu zu beurteilen sein. Man denke z. B. schon an so einfache Fälle, in denen das Trinken einer Flüssigkeit den Durst nur scheinbar und nicht nachhaltig stillt. Da beiden in dieser Unmittelbarkeit noch objektive Bestimmung fehlt, so ist diese Beziehung des Bedürfnisses auf das Dasein das ganz subjektive und oberflächliche Gefühl des Angenehmen oder Unangenehmen. (469) Gefühle des Angenehmen sind unmittelbare Befriedigungen. Sie sind per se noch nicht Erfüllungen von nachhaltigen Bedingungen des Guten und Schönen. Ein angenehm süßes Nichtstun kann z. B. das Gefühl der Unerfülltheit oder Langeweile hinterlassen. Das muss freilich nicht so sein. Vergnügen, Freude, Schmerz usf., Scham, Reue, Zufriedenheit usw. sind teils nur Modifikationen des formellen praktischen Gefühls überhaupt, teils aber durch ihren Inhalt, der die Bestimmtheit des Sollens ausmacht, verschieden. (469) Hegel kommentiert hier eigentlich nur den di=erentiellen Gebrauch der Wörter und damit die begri=lichen Bestimmungen der positiven Gefühle wie Vergnügen, Freude, Zufriedenheit bzw. der negativen Empfindungen wie Schmerz, Scham und Reue. Er sagt, dass diese primär nur »Modifikationen des formellen praktischen Gefühls überhaupt«,
469 Psychologie. Der Geist 771 also von Befriedigungen bzw. einem Unbefriedigtsein ausdrücken, dabei aber auch schon die inhaltliche Sphäre umreißen. Scham ist z. B. ein soziales Gefühl. Es hängt eng mit dem Ansehen bei anderen zusammen. Reue bezieht sich je nur auf mein früheres Handeln. Ein Vergnügen unterscheidet sich als Bezug auf ein aktuales Ereignis oder Tun von der Behaglichkeit, die einen Bezug auf einen Zustand enthält. Die berühmte Frage nach dem Ursprunge des Übels in der Welt tritt, wenigstens insofern unter dem Übel zunächst nur das Unangenehme und der Schmerz verstanden wird, auf diesem Standpunkte des formellen Praktischen ein. Das Übel ist nichts anderes als die Unangemessenheit des Seins zu dem Sollen. Dieses Sollen hat viele Bedeutungen, und da die zufälligen Zwecke gleichfalls die Form des Sollens haben, unendlich viele. In Ansehung ihrer ist das Übel nur das Recht, das an der Eitelkeit und Nichtigkeit ihrer Einbildung ausgeübt wird. Sie selbst sind schon das Übel. – (469) Hegel lässt hier auf ebenso überraschende wie trockene Weise die Luft aus der Frage, warum es in der Welt Übel gibt. Denn das Unangenehme und der Schmerz signalisieren dem Subjekt Nichterfüllungen und sind daher notwendig. Gäbe es keine Schmerzempfindungen, keinen Hunger und keinen Durst, könnten wir uns als Lebewesen nicht erhalten. Wir ›wüssten‹ dann nicht um die »Unangemessenheit des Seins zu dem Sollen«, das unser Tun schon im einfachen Selbsterhalt empfindungs- und gefühlsförmig anleitet, das aber in jeder Kontrolle komplexerer Erfüllungsbedingungen ebenfalls als Unbefriedigtsein oder Befriedigung sozusagen vorkommt. Manchen mögen weniger heftige Empfindungen als stechende Schmerzen lieber sein und auf Kopfschmerzattacken können wir alle verzichten. Bei genauerer Betrachtung sind das aber nur nette Vorstellungen zu einer gemütlicheren Welt. Wie die Endlichkeit aller Dinge ist die Unvermeidbarkeit von Schmerz und von Leid eine allgemeine Grundtatsache des Lebens, die als solche nicht kontaminiert werden darf mit dem völlig berechtigten Bemühen, unnötiges Leid zu vermeiden oder zu verringern. Hegels Bemerkung ist staubtrocken: Die vielen netten Wünsche an eine verbesserte Welt sind selbst das eigentliche Übel. Die meisten Klagen über die Unerfülltheit von Wünschen sind eitle Zeugnisse nichtiger Einbildung. 382 k
772 382 k 382 f . k 383 k Der subjektive Geist 469 f. Die Endlichkeit des Lebens und des Geistes fällt in ihr Urteil, in welchem sie das von ihnen abgesonderte Andere zugleich als ihr Negatives in ihnen haben, so als der Widerspruch sind, der das Übel heißt. Im Toten ist kein Übel noch Schmerz, weil der Begri= in der unorganischen Natur seinem Dasein nicht gegenüber tritt und nicht in dem Unterschiede zugleich dessen Subjekt bleibt. (469 f.) Hegel fährt in vollends sarkastischer Weise so fort: Wer sich über die Endlichkeit des Lebens überhaupt beklagt, muss nur daran denken, dass er sich ja umbringen kann. Der dann erreichte schmerzund leidfreie Zustand ändert sich nicht mehr. Im Leben schon und noch mehr im Geiste ist diese immanente Unterscheidung vorhanden und tritt hiemit ein Sollen ein; und diese Negativität, Subjektivität, Ich, die Freiheit, sind die Prinzipien des Übels und des Schmerzens. – (470) Das Leben selbst, erst recht das geistige Leben, besteht in der Unterscheidung von Erfüllungen und Unerfülltheiten. Es gibt also schon ein ganz basales Sollen des Lebens – das man durchaus zu Recht als Basis aller Normativität ansehen kann, wenn man nur nicht darauf verzichtet, zwischen ganz verschiedenen Formen des Normativen zu unterscheiden. Besonders ist zwischen den Befriedigungen individueller leibseelischer Begehrungen und den Erfüllungen von Bedingungen eines guten personalen Lebens im Gesamtrahmen des Lebens von Menschen auf der Erde zu unterscheiden – freilich zusammen mit ›allen anderen Lebewesen‹. – Die etwas zu groß geratenen Titelsätze zu »Negativität, Subjektivität, Ich, die Freiheit« als Ursache von allem Übel und Schmerz sind wohl nur als Zusammenfassung des schon dargestellten Gedankens lesen. Jakob Böhme hat die Ichheit als die Pein und Qual und als die Quelle der Natur und des Geistes gefaßt. (470) Hegel anerkennt, dass Jacob Böhme wie die große Tradition religiöser Mystik spätestens seit Meister Eckhart tiefe und wahre Gedanken zu artikulieren versucht. Aber er ist mit den Formulierungen keineswegs zufrieden. Die Ichheit des Subjektseins erscheint in Böhmes Sprachspiel als Pein und Qual. Das ist so, weil alle qualitativen Unterscheidungen auf gefühlsförmigen Unbefriedigtheiten und insofern auf ›Negativitäten‹ aufruhen. Wenn etwas zu hell, laut oder heiß ist, hat das eine
470 Psychologie. Der Geist 773 gewisse Strafe (poena) zur Folge. Nur so ist nach Hegel die gefühlte ›Qual‹ im Unterscheiden von Qualitäten und die ›Pein‹ des Schmerzes oder auch nur des Unbefriedigtseins Quelle lebendiger Natur und Ursprung geistigen Lebens. β) Die Triebe und die Willkür § 473 Das praktische Sollen ist reelles Urteil. (470) Was Hegel »reelles Urteil« nennt, ist als praktisches Sollen ausgerichtet auf eine implizit bestimmte Form der Befriedigung. Die unmittelbare, nur vorgefundene Angemessenheit der seienden Bestimmtheit zum Bedürfnis ist für die Selbstbestimmung des Willens eine Negation und ihr unangemessen. (470) Unmittelbare Befriedigungsgefühle signalisieren nur eine in der eigenen subjektiven Empfindung (›innerlich‹) ›vorgefundene Angemessenheit‹ oder Erfüllung einer Sollensbedingung. Damit bleibt noch o=en, ob das von der Seite der eigenen Reflexion oder durch andere Personen beurteilte Bedürfnis wirklich zureichend erfüllt ist oder nicht. Freilich muss man dazu begreifen, dass ein Bedürfnis ein formal von außen als berechtigt bewertetes Begehren ist und sich damit von dem üblichen Verständnis unserer Reden unterscheidet, in welchem zwischen einem bloß subjektiv gefühlten, behaupteten oder angemeldeten Bedürfnis und einem ›wahren‹ Bedürfnis zumeist noch nicht unterschieden wird. Hegels Unterscheidung ist dagegen für alle zukünftige Bedürfniskritik wegweisend. Hegels zunächst obskurer Satz besagt, dass wahres Selbstbewusstsein von einem bloßen Wünschen zu einem Wollen übergehen muss, das tätig für einen Zustand p sorgt, bzw. von einem bloßen Begehren und unmittelbar gefühlten zu einem nachhaltig anerkennbaren Bedürfnis. Daß der Wille, d. i. die an sich seiende Einheit der Allgemeinheit und der Bestimmtheit, sich befriedige, d. i. für sich sei, soll die Angemessenheit seiner innern Bestimmung und des Daseins durch ihn gesetzt sein. (470) Die schwierige Ausdrucksform, dass sich der Wille befriedige, wie er »für sich sei«, besagt wieder nur, dass man im willensbestimmten 383 383 383
774 383 Der subjektive Geist 470 Handeln dafür sorgt, dass der gewollte Zustand p in der Wirklichkeit erfüllt wird – und dabei immer zu beachten hat, dass der Inhalt des Wünschens und der Befriedigungen häufig nicht schon mit dem Inhalt des tätig Gewollten und Gesollten zusammenfällt. Dabei gibt es ein interessantes willensinternes begri=liches Sollen, das zunächst noch relativ unabhängig von einem sogenannten moralischen Sollen ist. Es soll die Erfüllung – Hegels Angemessenheit – übereinstimmen mit der inneren Bestimmung des Willens, also dem nachhaltigen und sich im Tun zeigenden Inhalt p, für dessen Erfüllung ich im Tun selbstbewusst sorge. Das Dasein von p, für das ich realiter tätig sorge und daher verantwortlich bin, sollte also nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv gewollt sein. Wenn also z. B. ein Verbrecher durch seine Tat dafür sorgt, dass er, wenn er gefasst wird, bestraft wird, sollte er als geistiges Wesen oder Person nach der Tat anerkennen, dass er die Strafe in der Tat immer schon gewollt hat – und vor der Tat nachdenken, ob er Tat und Tatfolge wirklich will. Das gilt auch für alles fahrlässige Handeln und Verhalten, also auch für die Folgen eines Drogenkonsums beliebiger Art. Der Wille ist der Form des Inhalts nach zunächst noch natürlicher Wille, unmittelbar identisch mit seiner Bestimmtheit, – Trieb und Neigung, insofern die Totalität des praktischen Geistes sich in eine einzelne der mit dem Gegensatze überhaupt gesetzten vielen beschränkten Bestimmungen legt, Leidenschaft. (470) Ein bloß ›natürlicher‹ Wille wäre bloß Trieb und ›unmittelbare‹ Neigung. Erst durch die Überformung im Nachdenken über erreichbare Möglichkeiten und über das Ganze des praktischen Denkens und Handelns entsteht der Unterschied zwischen einem wirklichen Wollen und einem bloß aktualen Präferieren, Begehren, Wünschen und neigungsbestimmten Verhalten. Die Passion der Leidenschaft ist zwar auch schon sprachlich so verfasst, dass das Passive von Neigung und Trieb zum Ausdruck kommt; und doch drücken diese Wörter inhaltlich gerade auch die Stärke des Antriebs des Willens im gewollten Handeln aus.
471 Psychologie. Der Geist 775 § 474 Die Neigungen und Leidenschaften haben dieselben Bestimmungen zu ihrem Inhalte als die praktischen Gefühle und gleichfalls die vernünftige Natur des Geistes einerseits zu ihrer Grundlage, andererseits aber sind sie als dem noch subjektiven, einzelnen Willen angehörig mit Zufälligkeit behaftet und erscheinen als besondere zum Individuum wie zueinander sich äußerlich und hiemit nach unfreier Notwendigkeit sich zu verhalten. (471) Triebe, Neigungen und Leidenschaften wirken in enaktiven Perzeptionen oder empfindungsbedingen Reaktionen in ihrer motivierenden ›Schubkraft‹ grundsätzlich nicht anders als im inhaltlich bestimmten Handeln. Hier aber werden sie wegen ihrer gedanklich bestimmten Inhalte als praktische Gefühle angesprochen. Diese haben das Denken und damit die Vernunft oder den Geist des Personseins zur Voraussetzung. In überschwänglicher Betrachtung von einem spekulativen Ideal perfekter Freiheit her erscheint das reale, endliche Wollen als rein äußerlich bedingt und durch meine leibliche Vorgeschichte und aktuale Umwelt prädeterminiert. Der logische Fehler dieses metaphysischen Glaubens an eine unfreie Notwendigkeit äußerer Antriebe und innerer Neigungen liegt darin, dass man die von uns selbst verfasste kontrafaktische Form spekulativer Reflexion als reale Möglichkeit oder gar Wirklichkeit missversteht oder gar als wissenschaftliches Wissen behauptet. Die Leidenschaft enthält in ihrer Bestimmung, daß sie auf eine Besonderheit der Willensbestimmung beschränkt ist, in welcher sich die ganze Subjektivität des Individuums versenkt, der Gehalt jener Bestimmung mag sonst sein, welcher er will. Um dieses Formellen willen aber ist die Leidenschaft weder gut noch böse; diese Form drückt nur dies aus, daß ein Subjekt das ganze lebendige Interesse seines Geistes, Talentes, Charakters, Genusses in einen Inhalt gelegt habe. (471) Alle unsere Passionen sind auf besondere Inhalte fokussiert. Wie das Kind, das in seinem Lieblingsspiel versinken kann, richtet sich unter Umständen »die ganze Subjektivität des Individuums« auf die Sache. Dabei gibt es ganz verschiedene Inhalte, die man sich so zu eigen machen kann. Man kann sich mit ihrer Verfolgung sogar so 383 383 k
776 383 f . k 384 k 384 k Der subjektive Geist 471 identifizieren, dass man ohne sie nicht mehr weiterleben will. Da Leidenschaft nur Form und Kraft bzw. Konzentration und Fokussierung einer Betätigung ausdrückt, ist sie per se weder gut noch schlecht oder böse. Es hängt hier alles am Inhalt. Es kann z. B. lächerlich sein, sich einem trivialen Inhalt mit allzu viel Leidenschaft zu widmen, so wie es falsch sein kann, sich für große Sachen nicht leidenschaftlich genug zu engagieren. Es ist nichts Großes ohne Leidenschaft vollbracht worden, noch kann es ohne solche vollbracht werden. (471) Großes kann im Allgemeinen nur durch große Kraft, Ausdauer und Begeisterung vollbracht werden, von ganz wenigen Zufällen abgesehen. Es ist nur eine tote, ja zu oft heuchlerische Moralität, welche gegen die Form der Leidenschaft als solche loszieht. (471) Dem passionslos-passiven Durchschnittsmenschen ist jede Leidenschaft verdächtig. Aber blasierte Langeweile nicht nur in Bezug auf Erotik und Liebe hat mit Moral nichts zu tun. Aber bei den Neigungen wird unmittelbar die Frage gemacht, welche gut und böse, ingleichen bis zu welchem Grade die guten gut bleiben, und, da sie Besondere gegeneinander und ihrer viele sind, wie sie sich, da sie sich doch in Einem Subjekte befinden und sich nach der Erfahrung nicht wohl alle befriedigen lassen, gegeneinander wenigstens einschränken müssen. Es hat mit diesen vielen Trieben und Neigungen zunächst dieselbe Bewandtnis, wie mit den Seelenkräften, deren Sammlung der theoretische Geist sein soll; – eine Sammlung, welche nun mit der Menge von Trieben vermehrt wird. (471 f.) Man sagt auch, es gäbe gute und schlechte Neigungen, oder redet metaphorisch davon, dass die Liebe zum guten Essen, zu Süßem, zu Alkohol, zur Behaglichkeit oder zu Ärger und Wut nur bis zu einem bestimmten Grad gut bleiben. Man müsse sie daher wie alle Tugenden gegeneinander abwägen und abmessen, zumal sich nicht alle unsere Wünsche befriedigen lassen. Wie die genannten Beispiele zeigen, sind es aber die Inhalte, welche diese Neigungen, Wünsche und Präferenzen untereinander und in ihrem Wert unterscheiden. Das ›nicht allzu sehr‹ (nequid nimis) ist daher ein Truismus, der in
472 Psychologie. Der Geist 777 manchen Fällen sogar falsch wird. Man kann kaum konsequent genug sein, wenn es um Wichtiges geht. Die formelle Vernünftigkeit des Triebes und der Neigung besteht nur in ihrem allgemeinen Triebe, nicht als Subjektives zu sein, sondern durch die Tätigkeit des Subjekts selbst die Subjektivität aufzuheben, realisiert zu werden. (472) Von einer guten Neigung sprechen wir dann, wenn wir nach Möglichkeit tätig und konsequent dafür sorgen, dass die bloß eigene Subjektivität je von mir und uns zugunsten des allgemein Richtigen aufgehoben wird. Ihre wahrhafte Vernünftigkeit kann sich nicht in einer Betrachtung der äußern Reflexion ergeben, welche selbständige Naturbestimmungen und unmittelbare Triebe voraussetzt und damit des Einen Prinzips und Endzwecks für dieselben ermangelt. (472) Eine bloß äußere Reflexion oder Betrachtung lässt es so erscheinen, als gäbe es auch beim Menschen unmittelbare Triebe, die ›immer‹ durch ›egoistische‹ Ziele der Befriedigung rein subjektiver und inhaltlich zufälliger Begehrungen bestimmt wären. Diese Sichtweise, die man in gewissem Sinn bei Spinoza findet, übersieht, dass es zu den Grundformen eines guten menschlichen Lebens gehört, dass dieses vor dem eigenen Gewissen bestehen kann und dass ›jeder‹ eine von den anderen respektierte und dabei anerkennenswerte Person sein will, wie das z. B. schon Augustinus hervorhebt. Der Mensch ist von Natur ein Gemeinschaftswesen. Was man Egoismus nennt, ist daher im Wesentlichen eine geistige Privation, die zwischen einem Mangel an Intelligenz und an praktischer Vernunft angesiedelt ist. Damit säkularisiert bzw. verweltlicht Hegel die noch ganz in mythischer Sprache artikulierte Analyse Schellings zum Ursprung des Bösen in der Freiheitsschrift – und zugleich das Denken der ›Mystiker‹ Jacob Böhme und Franz von Baader. Der Fortgang des Textes bestätigt diese Lesart. Es ist aber die immanente Reflexion des Geistes selbst, über ihre Besonderheit wie über ihre natürliche Unmittelbarkeit hinauszugehen und ihrem Inhalte Vernünftigkeit und Objektivität zu geben, worin sie als notwendige Verhältnisse, Rechte und Pflichten sind. (472) Immer wieder kehrt die Überlegung zur zentralen Einsicht zurück, dass keineswegs nur unmittelbare Gefühle auch der Gemeinschaftlichkeit zur Grundlage unseres geistigen Wesens gehören, sondern immer 384 k 384 k 384 k
778 Der subjektive Geist auch eine reflektierende Selbstkontrolle. Diese geht über alle Empfindung und damit die bloß momentane Partikularität des Individuums sowohl in seinen natürlichen als auch kultürlichen Selbstverständlichkeiten hinaus. Die Objektivität der Weltbeziehung ist durch das gemeinsame Unterscheiden vermittelt, bleibt aber im Vollzug immer von subjektiven Kontrollen vernünftiger Inhalte abhängig. – Der methodologische Individualismus100 in den Sozialwissenschaften und der Sozialphilosophie verkennt bis heute diese Unterscheidung zwischen den immer subjektiven Vollzügen und den immer allgemeinen Inhalten, indem er – wie Max Weber, Friedrich Nietzsche und schon alle Romantiker – aus den Inhalten einen subjektiven Sinn macht. Er unterstellt außerdem, dass die Individuen schon Personen bzw. geistige Wesen sind. Damit abstrahiert er – trotz aller Lernpsychologie und Sozialpädagogik, später dann auch trotz aller Sprachphilosophie – von den konkreten Konstitutionsbedingungen des Denkens mit einem erlernten Allgemeinwissen als transzendentaler, relativ apriorischer Basis. In seiner formalen Abstraktheit liegt die grundsätzliche Schwäche des im Grunde naturalistischen Sozialatomismus und Sozialbehaviorismus. Es wird die logische Form generischer Rede über gemeinschaftliche Formen kooperativen Lebens und die geschichtliche Tradition von Inhalten und Praxisformen selbst nicht mehr angemessen begri=en, wenn man nur vom individuellen Tun ausgeht. Kollektives Tun stellt sich hier als reines Aggregat dar. Die entsprechenden spe100 Der Titel »methodologischer Individualismus« stammt von Joseph Schumpeter. Die Sichtweise auf kollektives Verhalten ist praktisch identisch mit dem sozialphilosophischen Atomismus von Thomas Hobbes. Besonders publikumswirksam und polemisch vertreten wird die Position durch Ludwig von Mises, dann auch Karl Popper und Friedrich August v. Hayek. In der neueren Soziologie wird sie wissenschaftstheoretisch u. a. verteidigt durch Jon Elster. Bemerkenswert ist dabei die große Überlappung mit einer Kritik an generischer Sprache bei Jeremy Bentham, Max Stirner, Friedrich Nietzsche, Fritz Mauthner, sogar noch Max Weber. Die schon von Hegel vorgetragene Gegenkritik zeigt, dass und warum ein unmittelbares Verständnis generischer Rede nach dem Muster bloßer Narrationen, Behauptungen und kausaler Erklärungen im Sinn Humes zu einem naiven Verständnis von Wissenschaft, Wissen und Erkennen führt.
472 Psychologie. Der Geist 779 kulativen Theorien dieses individuellen Sozialkollektivismus prägen praktisch alle Gegenwartspositionen in der empirisch-statistischen Soziologie. Hegel zeigt dagegen, dass und wie sich im guten Fall gemeinsamer und normativ kontrollierter Kooperationsformen das Gemeinschaftshandeln im distributiven sozialen Verhalten und Handeln der Einzelindividuen niederschlägt. Es müssen nie alle mitmachen. Aber es bedarf einiger Protagonisten und hinreichend vieler Teilnehmer. Diese müssen die Formen und Normen praktisch kennen und anerkennen, ohne sie deswegen immer schon voll explizieren oder auch nur selbstbewusst begreifen zu müssen. Der Geist des Gemeinwesens ist sozusagen das System republikanischer Institutionen. Er existiert relativ unabhängig von expliziten Zustimmungsakten in je bloß aktualen Umfragen, Volksentscheiden oder Wahlen. Er ist damit glücklicherweise weit nachhaltiger als jeder demokratische Mehrheitskonsens. Die allgemein als gesetzt geltenden Normativitäten der Rechte und Pflichten ergeben sich aus implizit anerkannten Praxisformen kooperativen Lebens. Eremiten, Trapper und andere Aussteiger tragen dabei sozusagen wie Robinson Crusoe Formen des Lebens und das Wissen der Stadt auf ihre Insel oder in ihre Wüste. Diese Objektivierung ist es denn, welche ihren Gehalt, sowie ihr Verhältnis zueinander, überhaupt ihre Wahrheit aufzeigt; wie Plato, was die Gerechtigkeit an und für sich sei, mit wahrhaftem Sinne, auch insofern er unter dem Rechte des Geistes seine ganze Natur befaßte, nur in der objektiven Gestalt der Gerechtigkeit, nämlich der Konstruktion des Staates, als des sittlichen Lebens, darstellen zu können zeigte. (472) Eine rein empirische, das Tun der vielen Einzelnen aggregierend beschreibende Sozialwissenschaft kann die Objektivität der Normen bestenfalls als Mehrheitsmeinung in Reflexionsurteilen dingfest machen. Das ist der Grund, warum ihr das wahre Ganze von Gemeinschaft und Gesellschaft, Institutionen und Staat, auch Recht und Gerechtigkeit durchaus entgeht. Dabei hatte Platon schon gesehen, dass es objektive Gerechtigkeit nur im Staat gibt. Dieser ist die generisch-eidetische Gesamtform aller Praxisformen und Institutionen des sittlichen 384 k
780 384 k 384 f . Der subjektive Geist 472 Lebens. Die empirisch-induktive Methode, wie sie Platon den sogenannten Sophisten zuschreibt, bleibt im Blick auf das Ganze blind. Welches also die guten, vernünftigen Neigungen und deren Unterordnung sei, verwandelt sich in die Darstellung, welche Verhältnisse der Geist hervorbringt, indem er als objektiver Geist sich entwickelt; – eine Entwicklung, in welcher der Inhalt der Selbstbestimmung die Zufälligkeit oder Willkür verliert. Die Abhandlung der Triebe, Neigungen und Leidenschaften nach ihrem wahrhaften Gehalte ist daher wesentlich die Lehre von den rechtlichen, moralischen und sittlichen Pflichten. (472) Das Gute und Vernünftige bzw. Schlechte und Böse der Neigungen misst sich am objektiven Geist, am Inhalt der Selbstbestimmung im Gemeinwesen. Diese Inhalte betre=en erstens schon alle instrumentellen Techniken und Mittel, zweitens alle rechtlichen, moralischen und sittlichen Entitlements und Commitments, Berechtigungen und Verpflichtungen im Zusammenleben von Personen. Verpflichtungen der Pflanzen- und Tierwelt, der ›Erde‹ oder dem ›Klima‹ gegenüber gehören zu unserer gemeinsamen Verantwortung für gute Lebensbedingungen. Sie sind weder von einem Gott noch einer Natur gesetzt. § 475 Das Subjekt ist die Tätigkeit der Befriedigung der Triebe, der formellen Vernünftigkeit, nämlich der Übersetzung aus der Subjektivität des Inhalts, der insofern Zweck ist, in die Objektivität, in welcher es sich mit sich selbst zusammenschließt. (472 f.) Wenn ich über mich als Subjekt spreche, meine ich keinen ›seienden Gegenstand‹, sondern mich als Agens in einem Vollzug, in meinem Sein und Dasein. Daher identifiziert Hegel lange vor ähnlichen Ausdrucksformen bei Heidegger und Wittgenstein auf nur scheinbar ungrammatische Weise die res cogitans des Descartes mit dem Denken selbst. Das durch seine Leibidentität definierte Individuum ist je bloß für die Dauer des Prozesses begrenzt angesprochen. Daher sagt Hegel auch, dass das Subjekt eine Tätigkeit ist. Die Tätigkeit besteht jeweils konkret in der Doppelstruktur eines Strebens nach Erfüllung und dem Gefühl der Befriedigung als Beendigung der durch Triebe oder Neigungen strukturierten und in Befriedigungen erst einmal subjektiv an ein Ende kommenden Tätigkeit. Diese Struk-
473 Psychologie. Der Geist 781 tur ist die formelle Seite aller Vernunft. Sie übersetzt sozusagen einen zunächst rein verbalen und damit subjektiven Inhalt in ein objektives, zweckorientiertes Tun. Daß, insofern der Inhalt des Triebes als Sache von dieser seiner Tätigkeit unterschieden wird, die Sache, welche zu Stande gekommen ist, das Moment der subjektiven Einzelnheit und deren Tätigkeit enthält, ist das Interesse. (473) Das lateinische Wort »inter-esse« meint zunächst einfach das Beieiner-Sache-Sein. Ich habe subjektive Interessen, soweit ich die Sachen irgendwie zu den meinen gemacht habe, objektive, soweit ich das darf oder gar sollte. Dabei können Befriedigung und Erfüllung auseinanderfallen. Es kommt daher nichts ohne Interesse zustande. (473) So wie nichts Großes ohne Leidenschaft erreicht wird, kommt im wollenden Tun nichts ohne Interesse zustande. Das ist fast eine Tautologie, soweit wir Zufallsergebnisse etwa eines bloß gewohnheitsmäßigen Tuns ausklammern, an denen wir erst im Nachhinein Interesse nehmen. Eine Handlung ist ein Zweck des Subjekts, und ebenso ist sie seine Tätigkeit, welche diesen Zweck ausführt; nur durch dies, daß das Subjekt auf diese Weise [auch] in der uneigennützigsten Handlung ist, d. h. durch sein Interesse, ist ein Handeln überhaupt. – (473) Eine Handlung ist zusammen mit ihrer Zielerfüllung ein in seinem Inhalt irgendwie bestimmter und gesetzter Zweck des Subjekts, zu dem im Vollzug die Tätigkeit ausreichend passen muss. Das ist auch in jeder uneigennützigen Handlung so. Auch in ihr verfolge ich mein Interesse. Das ist schlicht eine Tautologie. Das Gerede von einem interesselosen Tun als angeblich moralisch gut ist daher ad acta zu legen. Für Kants und Schopenhauers Reden von einem interesselosen Wohlgefallen im Bereich der Ästhetik gilt das Gleiche. Alle relevanten Unterschiede ergeben sich aus der Güte der Sache, also aus dem Inhalt, nicht aus einer angeblich im guten Fall interesselosen Haltung des Subjekts zum Inhalt. Daher taugt eine ›Kritik‹ an einem Handeln aus Neigung und Eigeninteresse nicht. Im Gegenteil: Wenn ich gut handeln will, nehme ich an der Sache Interesse. Es mag sein, dass Kant das sagen möchte. Aber seine Rede von einer Pflicht passt dazu nicht. Um eine selbstauferlegte Pflicht aus Autonomie 385 385 385 k
782 385 k 385 k 385 k 385 k Der subjektive Geist 473 überhaupt verstehbar zu machen, brauchen wir die Unterscheidung zwischen mir hier und jetzt als Subjekt und mir als ganzer Person, die ich relational im Gesamt der Personen jetzt bin und dann gewesen sein werde. Den Trieben und Leidenschaften setzt man einerseits die schale Träumerei eines Naturglücks gegenüber, durch welches die Bedürfnisse ohne die Tätigkeit des Subjekts, die Angemessenheit der unmittelbaren Existenz und seiner innern Bestimmungen hervorzubringen, ihre Befriedigung finden sollen. (473) Einen anderen problematischen Gegensatz zu einem engagierten, an sich selbst und an der Welt interessierten Leben finden wir in der romantischen Bukolik des secundum naturam vivere, sozusagen von Arkadien, oder der Einsamkeit eines Seneca-Turms bis in die ›Natur‹ Rousseaus oder die ›Wildnis‹ eines Henry David Thoreau.101 Andererseits wird ihnen ganz überhaupt die Pflicht um der Pflicht willen, die Moralität entgegengesetzt. (473) Kants Krypto-Stoizismus ist das eigentliche Angri=sziel der Überlegung. Aber Trieb und Leidenschaft ist nichts anderes als die Lebendigkeit des Subjekts, nach welcher es selbst in seinem Zwecke und dessen Ausführung ist. (473) Einen Kampf gegen Trieb und Leidenschaft, Neigung und Interesse zu führen, ist nicht nur ho=nungslos, sondern begri=lich verwirrt. Denn diese Antriebe sind »nichts anderes als die Lebendigkeit des Subjekts« selbst. Das Gute und Schöne bzw. Perfekte liegt am sachlichen Gehalt des Tuns. Das Sittliche betri=t den Inhalt, der als solcher das Allgemeine, ein Untätiges, ist und an dem Subjekte sein Betätigendes hat; dies, daß er diesem immanent ist, ist das Interesse und, die ganze wirksame Subjektivität in Anspruch nehmend, die Leidenschaft. (473) Hegel bestätigt hier meinen Lesevorschlag voll und ganz. Insbesondere hebt er hervor, dass jeder Inhalt etwas Allgemeines ist. Inhalte tun 101 Der Unterschied zwischen Leben und stoischen Weisheitssprüchen war dem Kaiser Mark Aurel ebenso klar wie Seneca, einem der reichsten und einflussreichsten Männer Roms, Erzieher und Berater Neros, von diesem aber zur Selbsttötung gezwungen.
473 Psychologie. Der Geist 783 schon daher nie etwas. Nur wenn sie durch die Subjekte und deren Interesse das wollende Tun orientieren, wirken sie. Nicht Inhalte, sondern wir sorgen durch unser interessiertes oder gar leidenschaftliches Tun dafür, dass gewisse Bedingungen erfüllt werden – oder eben nicht. § 476 Der Wille als denkend und an sich frei, unterscheidet sich selbst von der Besonderheit der Triebe und stellt sich als einfache Subjektivität des Denkens über deren mannigfaltigen Inhalt; so ist er reflektierender Wille. (473) Der Ausdruck »der Wille« steht bei Hegel für das sich reflektiert und frei für ein Tun entscheidende Subjekt, das durch sein Tun dafür sorgt, dass p (und eben nicht non-p). Welcher Inhalt p das ist und sein kann, hängt vom Kontext ab. Falsch wäre es zu meinen, wir könnten für Beliebiges sorgen. Wofür einer tätig sorgen kann, wofür nicht, hängt besonders auch von der Situation, dem Können des Subjekts und dem institutionellen Status, also der Macht der Person ab. Völlig falsch wäre es zu sagen, niemand könne je frei handelnd für die Erfüllung irgendeines Inhalts p sorgen. Dass angeblich für jedes p in der Natur schon festgelegt sei, ob p oder non p geschehen werde, ist leeres Gerede. Man übersieht aber ebenfalls leicht, dass es reine Tautologie ist zu sagen, dass für jedes p ›die ganze Welt‹ dafür sorgt, dass p. Denn in jeder derartig ganzheitlich-spekulativen Betrachtung ist unser freies Wollen und Handeln und alle unsere Verantwortlichkeiten sozusagen im Ausdruck »die ganze Welt« schon tautologisch enthalten. Eben deswegen dürfen wir die Welt oder Gott nicht als einen ›neben uns‹ wirkenden ›Gegenstand‹ ansehen. Es gibt trivialerweise kein freies Handeln, wenn man dieses im Ganzen der Welt oder in Gott sozusagen verbal untergehen lässt. Wir und unser Handeln sind zwar Teil der Welt im Ganzen, damit aber keineswegs einfach kausale Folgen eines Gesamtgeschehens nichthandelnder Natur. Wer über Gott spricht, muss entsprechend mit Meister Eckhart oder Jacob Böhme beachten, dass wir in diesem Gott längst aufgehoben sind. Jede Prädestination eines rein für sich tätigen Gottes ist logischer Unfug. 385
784 Der subjektive Geist 474 Mit anderen Worten, im Nachhinein ist trivial klar, dass die Welt oder Gott für alles sorgt, was je gewesen sein wird. Das schließt aber ebenso trivialerweise nicht aus, dass ich durch mein vorbedachtes Tun für viele p dafür sorge und damit dafür verantwortlich bin, dass sie und nicht non-p geschehen werden. Freilich fällt das, wofür ich mich subjektiv verantwortlich halte, mit dem, wofür ich objektiv verantwortlich bin, keineswegs immer zusammen. Aber es gibt viele Fälle, in denen ich mir mit gutem Recht nicht nur subjektiv gewiss bin, sondern im generischen Normalfallsinn weiß, dass ich für p sorgen kann und sorge oder dann auch gesorgt habe. Wer von der Logik generischen Wissens nichts versteht, wird allerdings immer Probleme mit dieser Tatsache haben. Das beginnt schon damit, dass ich als Subjekt selbst Tätigkeit bin. Ich bin damit als Subjekt meines Lebens und Tuns keineswegs ein Gegenstand, auch wenn ich als Person am Ende das Gesamt des Getanen gewesen sein werde. Die Besonderheit der Triebe besteht in den Zielen, zu denen diese mich ohne meine denkende Reflexion und Kontrolle als meinen bloßen Prima-facie-Präferenzen in meinem Verhalten führen würden. 385 § 477 Eine solche Besonderheit des Triebs ist auf diese Weise nicht mehr unmittelbar, sondern erst die seinige, indem er sich mit ihr zusammenschließt und sich dadurch bestimmte Einzelnheit und Wirklichkeit gibt. Er ist auf dem Standpunkt, zwischen Neigungen zu wählen, und ist Willkür. (474) In Hegels Rede von einem Zusammenschluss geht es um meine tätigen Anerkennungen von Inhalten. Wenn ich die Wahl habe zwischen den reflektierten Neigungen, p zu tun oder non-p zu tun, und dabei sozusagen innerlich würfle, sprechen wir von Willkür. Die Institution der Erzeugung äußerer Zufallsentscheide etwa in einem Orakel ist übrigens keineswegs nur Aberglaube, sondern halbbewusster Umgang mit der Willkür von Subjekten. Wenn diese Orakel befragen müssen, wird z. B. Politikern und Heerführern die letzte Entscheidung im Übergang von einem möglichen Beschluss zum Entschluss aus der Hand genommen. So stellt es gerade auch Hegel dar.
474 Psychologie. Der Geist 785 Es ist aber am Ende eine vernünftigere Einrichtung, den Verantwortlichen auch schon mal intuitive Willkürentscheide nach Bauchgefühl zuzugestehen, gerade in Fällen, in denen auch nach gewissenhafter Reflexion nicht klar ist, welche Option die bessere ist. Man darf dann aber nicht, wie leider seit der Antike bis heute allzu oft, auch bei nicht fahrlässiger Entscheidung dem Subjekt deren Folgen anlasten. Nachher weiß man es immer besser. § 478 Der Wille ist als Willkür für sich frei, indem er als die Negativität seines nur unmittelbaren Selbstbestimmens in sich reflektiert ist. Jedoch insofern der Inhalt, in welchem sich diese seine formelle Allgemeinheit zur Wirklichkeit beschließt, noch kein anderer als der der Triebe und Neigungen ist, ist er nur als subjektiver und zufälliger Wille wirklich. (474) Es gibt ganze Bibliotheken, die Schellings Argument aus der Freiheitsschrift bewusst oder unbewusst wiederholen, dass ein Willkürentscheid noch keine Freiheit ist.102 Das ist für sich zwar korrekt. Doch Hegel betont, dass gerade das Willkürentscheiden zwischen Optionen, auch zwischen diversen Neigungen und Interessen, für sich oder real bzw. aktual frei ist. Voraussetzung ist die Bewusstheit der reflektiert vergegenständlichten Optionen, also der Inhalte, der Möglichkeiten. Als der Widerspruch, sich in einer Besonderheit zu verwirklichen, welche zugleich für ihn eine Nichtigkeit ist, und eine Befriedigung in ihr zu haben, aus der er zugleich heraus ist, ist er zunächst der Prozeß der Zerstreuung und des Aufhebens einer Neigung oder Genusses durch eine andere und der Befriedigung, die dies ebensosehr nicht ist, durch eine andere ins Unendliche. (474) Ein Leben, das in seinem Handeln nur durch präsentische Neigungen und subjektive Willkürentscheide bestimmt wäre, stünde im Widerspruch zu sich selbst insofern, als es noch kein Leben als Person unter Personen wäre. Alle bloß aktualen Befriedigungen sind ›nichtig‹, weil ephemer. Mein Wille, der dafür sorgt, dass p, ist dagegen personale Selbstbestimmung insofern, als es mir bewusst darum geht, 102 F. W. J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung und Anmerkungen von Horst Fuhrmans. Stuttgart: Reclam 1977, S. 100. 385 f . 386
786 386 Der subjektive Geist 474 dass ich die Person sein will, die für p sorgt bzw. gesorgt hat. Das ist geradezu die Begri=sbestimmung des Willens im Unterschied zum bloß präsentischen Begehren und Wünschen. Aber die Wahrheit der besondern Befriedigungen ist die allgemeine, die der denkende Wille als Glückseligkeit sich zum Zwecke macht. (474) Kant hatte die Glückseligkeit dadurch definiert, dass es uns am Ende nach ›Wunsch und Willen‹ gehe. Hier ist der Wille selbst nur ein starker Wunsch. Noch gravierender ist, dass eine Bewertung oder Stufung der wichtigeren bzw. nichtigeren Erfüllungen und Befriedigungen ganz fehlt. Das spekulative Bild kollektiver Glückseligkeit im Utilitarismus rückt dagegen, wie z. B. Nietzsche bemerken wird, in die Nähe eines sozialistischen Menschenzoos, in dem ›alle‹ irgendwie auf ausreichendem Niveau mit möglichst minimalem Aufwand unter allgemeiner Verhaltenskontrolle sozusagen gefüttert werden. Wir müssen dagegen zum wahren Ganzen übergehen. Dann ist die beatitudo der ›Glückseligkeit‹ die Erfüllung des allgemeinen Zwecks, eine nach Möglichkeit vollkommene Person zu werden und gewesen zu sein. Diesen Zweck hat sich der denkende freie Wille als allgemeiner Inhalt immer schon zu eigen gemacht. Das Problem besteht in den Fehlern der Besonderungen. γ) Die Glückseligkeit 386 § 479 In dieser durch das reflektierende Denken hervorgebrachten Vorstellung einer allgemeinen Befriedigung sind die Triebe nach ihrer Besonderheit als negativ gesetzt und sollen teils einer dem andern zum Behufe jenes Zwecks, teils direkt demselben ganz oder zum Teil aufgeopfert werden. (475) Hegels Rede von einer Aufopferung der Triebe und Lüste ist trockenste Ironie. Glückseligkeit im Sinne einer vollkommenen Befriedigung aller aktualen Wünsche gibt es nur in einem bildlich vorgestellten oder verbal ausgemalten Paradies. Aber auch dann haben Triebe und Begehrungen je nach ihrer Besonderheit als Hunger, Durst, Streben nach Befriedigung sexueller Lust usf. einen negativen Sinn, nämlich den eines aktual gespürten Mangels an Befriedigung. Im Paradies der
475 Psychologie. Der Geist 787 Glückseligkeiten werden also die Befriedigungen nur nicht allzu lang aufgeschoben. Man ho=t, dass sie sich nicht allzu sehr ins Gehege kommen. Wenn man mit Kant Glückseligkeit als möglichst umfassende Befriedigung zufälliger Begierden auffasst, landet man bei ihrer Verfolgung am Ende tatsächlich, wie auch in Benthams Utilitarismus, im Paradies für Tiere: Es wird wie in einem Zoo ›für alle‹ irgendwie gleichmäßig gesorgt. Ihre Begrenzung durcheinander ist einerseits eine Vermischung von qualitativer und quantitativer Bestimmung; andererseits, da die Glückseligkeit den a;rmativen Inhalt allein in den Trieben hat, liegt in ihnen die Entscheidung, und es ist das subjektive Gefühl und Belieben, was den Ausschlag geben muß, worein es die Glückseligkeit setze. (475) Die qualitativ verschiedenen leiblichen Triebe oder Neigungen erlauben je nur begrenzte Lustbefriedigungen. Es liegt im Belieben der Subjekte, welchem ›a;rmativen Inhalt‹ sie jeweils ihre Präferenz bei der Erfüllung geben. Schon das macht eine quantitative Nutzenaggregation unmöglich. Die Berechnungen der Größe des Nutzens in Benthams utilitaristischer Kollektiv-Ethik sind daher zunächst bloß formalistischer Schein. Sie sind maßtheoretisch nicht fundiert. Auch wenn man ein arbeitsteiliges Tausch- und Handelssystem mit Geld als universalem Maßstab schon unterstellt, taugt das keineswegs schon für alle Werte. § 480 Die Glückseligkeit ist die nur vorgestellte, abstrakte Allgemeinheit des Inhalts, welche nur sein soll. (475) Die Glückseligkeit sowohl von Einzelindividuen als auch von Kollektiven ist nur ein verbal vorgestelltes Ideal. Die Wahrheit aber der besondern Bestimmtheit, welche ebensosehr ist als aufgehoben ist, und der abstrakten Einzelnheit, der Willkür, welche sich in der Glückseligkeit ebensosehr einen Zweck gibt als nicht gibt, ist die allgemeine Bestimmtheit des Willens an ihm selbst, d. i. sein Selbstbestimmen selbst, die Freiheit. (475) Da die Subjekte selbst entscheiden müssen, welche Befriedigungen ihnen wichtig sind, kann eine kollektivistische Organisation einer Gesellschaft nach den Vorstellungen des Utilitarismus immer nur die 386 386 386
788 386 f . 387 Der subjektive Geist 475 Widersprüche erzeugen, die wir aus dem realexistierenden Sozialismus kennen. Jeder besondere Wunsch kann auch dadurch aufgehoben werden, dass sich die Individuen nach Belieben oder nach vernünftigem Nachdenken gegen sie entscheiden. Nur das Selbstbestimmen in Freiheit kann daher höchster Wert sein. Wir sehen hier vor John Stuart Mills abstrakt-dogmatischer ›Verteidigung‹ der Freiheit eine systematische Begründung für den relativen Vorrang der gesamten Werte-Dimension des freien Wollens und Handelns, damit der personalen Erlaubnisse oder Entitlements vor allen Verpflichtungen oder Commitments einem Kollektiv, einem Gott oder einer sogenannten Natur gegenüber. Die Willkür ist auf diese Weise der Wille nur als die reine Subjektivität, welche dadurch rein und konkret zugleich ist, daß sie zu ihrem Inhalt und Zweck nur jene unendliche Bestimmtheit, die Freiheit selbst, hat. (475) Wäre das Werten rein willkürlich, verbliebe es in reiner Subjektivität. Diese ist zwar in ihrer formalen Absolutheit anzuerkennen, aber ohne auf die Forderung zu verzichten, dass das Subjekt Person zu sein hat und die anderen als Personen zu respektieren sind. Nur in diesem Sinn ist die Person, nicht irgendein Kollektivnutzen, der höchste Wert. Sein »Inhalt und Zweck« besteht sogar nur in seiner Form. Diese hat, wie alle Formen, eine »unendliche Bestimmtheit«. Es ist die Form der Freiheit der selbstverantwortlichen Lebensführung selbst. Auch Nietzsches Willen zum Willen kann am Ende gar nichts anderes meinen. In dieser Wahrheit seiner Selbstbestimmung, worin Begri= und Gegenstand identisch ist, ist der Wille – wirklich freier Wille. (475) Im wahren Ganzen wollender Selbstbestimmung des personalen Subjekts besteht der wirkliche, also nicht bloß scheinbare freie Wille. In der tätigen Selbstbestimmung sind der begri=liche Inhalt des Personseins und der Gegenstand des Wollens identisch auch dann, wenn die Urteile und Handlungen als falsch im Blick auf die Mängel der entstehenden Person oder Persönlichkeit von uns selbst oder anderen im Vor- oder Rückblick bewertet werden. Identisch sind aber auch das aktuale Subjektsein und dessen wollendes Handeln, in dem wir dafür sorgen, wer wir gewesen sein werden.
476 Psychologie. Der Geist 789 c. Der freie Geist § 481 Der wirkliche freie Wille ist die Einheit des theoretischen und praktischen Geistes; freier Wille, der für sich als freier Wille ist, indem der Formalismus, Zufälligkeit und Beschränktheit des bisherigen praktischen Inhalts sich aufgehoben hat. (476) Wirklich freies Wollen und Handeln gibt es nur in der Einheit des Nachdenkens über mögliche Ziele, auch über technisches Können. Es steht immer im Rahmen eines Gesamturteils über die Güte der Form des Handelns pro tanto. Für mich bin ich freier Wille, indem ich alle bloßen Schemata des Urteilens und Verhaltens ebenso wie die Zufälligkeiten momentaner Neigungen konkret im Blick auf eine freie Selbstbestimmung als Person aufhebe. Durch das Aufheben der Vermittlung, die darin enthalten war, ist er die durch sich gesetzte unmittelbare Einzelnheit, welche aber ebenso zur allgemeinen Bestimmung, der Freiheit selbst, gereinigt ist. Diese allgemeine Bestimmung hat der Wille nur als seinen Gegenstand und Zweck, indem er sich denkt, diesen seinen Begri= weiß, Wille als freie Intelligenz ist. (476) Hegels Redeform bleibt hier etwas abstrakt. Die Aufhebung der Vermittlungen betri=t wohl die freie Urteilskraft, die für einen guten Umgang mit allgemeinen Formen des Wissens und Handelns im Kontext immer notwendig ist. Dabei muss je ich als Einzelperson urteilen und handeln, so aber, dass die allgemeinen Bestimmungen im Blick auf mein eigenes freies Sorgen für mich und uns in der gemeinsamen Welt ›gereinigt‹ sind. Ich als frei wollend muss ja Unterscheidungen tre=en, Formen erkennen, Normalfolgen bewerten und so weiter. Im reflektierten Wollen mache ich diese Bestimmungen zu einem Gegenstand – und verfolge entsprechende Inhalte als meine Zwecke. Nur so bin ich freie Intelligenz, freier subjektiver Geist. Ein Mangel an Willen ist daher immer auch ein Mangel an Intelligenz – und eine Selbsteinschränkung meines eigenen freien Lebens. 387 387
790 387 387 Der subjektive Geist 476 § 482 Der Geist, der sich als frei weiß und sich als diesen seinen Gegenstand will, d. i. sein Wesen zur Bestimmung und zum Zwecke hat, ist zunächst überhaupt der vernünftige Wille, oder an sich die Idee, darum nur der Begri= des absoluten Geistes. (476) Wenn Hegel über den Geist spricht, »der sich als frei weiß«, spricht er in abstrakter Redeform schlicht über uns, die wir in je verschiedenem Ausmaß unser eigenes freies Wollen und Tun kennen und reflektieren können. Dabei geht es im freien Wollen immer auch um die Person im Ganzen, egal, für welche allgemeinen Ziele man sich einsetzt. Das eigene Wesen ist als das zukünftige Gewesensein der allgemeinste Zweck jeder eigenen frei tätigen Selbstformung. Ein vernünftiger Wille ist Orientierung an diesem Zweck. Das ist eine begri<ich-strukturelle Wahrheit, noch vor allen allererst konkret zu bestimmenden Inhalten p. An sich ist die gewissenhafte Form des Personseinwollens die Idee eines vollen personalen Lebens. Als bloße Form ist sie nur erst der Idealbegri= des absoluten Geistes, der sich jeweils noch zu konkretisieren hat. Als abstrakte Idee ist sie wieder nur im unmittelbaren Willen existierend, ist [sie] die Seite des Daseins der Vernunft, der einzelne Wille als Wissen jener seiner Bestimmung, die seinen Inhalt und Zweck ausmacht und deren nur formelle Tätigkeit er ist. (476) Es liegt nur am Nominalstil, wenn man Hegels ansonsten durchaus klare Aussage nicht zur Kenntnis nimmt, dass es freies Urteilen und Handeln in actu nur als unmittelbar frei gewolltes Tun der einzelnen Subjekte gibt – auch wenn die Formen und Inhalte p allgemein sind. Mehr kann und darf der Liebhaber eines methodologischen Individualismus nicht fordern. Wir sollten nämlich mit Hegel die immer individuellen Vollzüge von den immer allgemeinen Formen und Gehalten unterscheiden. Das Dasein der Vernunft ist daher immer subjektiv, vermittelt durch den je einzelnen Willen »als Wissen jener seiner Bestimmung«. Dazu müssen wir den relevanten Inhalt je konkret anerkennen. Der subjektive Entschluss zum Tun an seinem Beginn ist dabei »nur formelle Tätigkeit« nach Art eines Vertragsschlusses und der Übernahme von Pflichten, die freilich durch den Beschluss inhaltlich bestimmt sind.
476 Psychologie. Der Geist 791 Wie in einem Vertrag oder einem Versprechen kontrollieren wir daher auch bei einem Entschluss die Erfüllung der Commitments und den Rahmen der Entitlements in einer Art von Scorekeeping, wie sich David Lewis und R. B. Brandom ausdrücken. Sowohl im Fall des individuellen als auch im Fall des gemeinsamen Handelns besteht der Entschluss daher in einer Art symbolischen Erklärung der Übernahme der Commitments zu Beginn der Umsetzung eines Beschlusses. Die Idee erscheint so nur im Willen, der ein endlicher, aber die Tätigkeit ist, sie zu entwickeln und ihren sich entfaltenden Inhalt als Dasein, welches als Dasein der Idee Wirklichkeit ist, zu setzen, – objektiver Geist. (476) Die Idee als realisierte Form des Begri=s der freien Person zeigt sich am Ende nur im wollenden Handeln, zu dem auch das Sprechhandeln gehört. Dieses ist nach Inhalt und Vermögen endlich. Aber als Tätigkeit ist es die reale Entwicklung der Idee der Freiheit. Das geschieht im institutionellen Rahmen gemeinsamen Wissens und kooperativen Handelns. Das umfassende Wir und Uns dieses Rahmens heißt »objektiver Geist«. Wer lieber »Kultur« dazu sagen möchte, kann das gerne tun. An den Ausdrücken hängt hier gar nichts. Entscheidend sind die praktischen Bestimmungen von Themen und Methoden. Über keine Idee weiß man es so allgemein, daß sie unbestimmt, vieldeutig und der größten Mißverständnisse fähig und ihnen deswegen wirklich unterworfen ist, als [über] die Idee der Freiheit, und keine ist mit so wenigem Bewußtsein geläufig. Indem der freie Geist der wirkliche Geist ist, so sind die Mißverständnisse über denselben so sehr von den ungeheuersten praktischen Folgen, als nichts anderes, wenn die Individuen und Völker den abstrakten Begri= der für sich seienden Freiheit einmal in ihre Vorstellung gefaßt haben, diese unbezwingliche Stärke hat, eben weil sie das eigene Wesen des Geistes, und zwar als seine Wirklichkeit selbst ist. Ganze Weltteile, Afrika und der Orient, haben diese Idee nie gehabt und haben sie noch nicht; die Griechen und Römer, Plato und Aristoteles, auch die Stoiker haben sie nicht gehabt; sie wußten im Gegenteil nur, daß der Mensch durch Geburt (als atheniensischer, spartanischer usf. Bürger) oder Charakterstärke, Bildung, durch Philosophie (der Weise ist auch als Sklave und in Ketten frei) wirklich frei sei. Diese Idee ist durch das Christentum in die Welt gekommen, nach welchem das Indivi- 387 387 f . k
792 Der subjektive Geist 476 f. duum als solches einen unendlichen Wert hat, indem es Gegenstand und Zweck der Liebe Gottes, dazu bestimmt ist, zu Gott als Geist sein absolutes Verhältnis, diesen Geist in sich wohnen zu haben, d. i. daß der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist. (476 f.) Man meint, es seien Begri= und Realität der Freiheit ganz unbestimmt. In der Tat ist man sich ihrer realen, uns empraktisch völlig bekannten Form selten oder nie ausreichend bewusst. Das aber kann sogar ungeheure praktische Folgen haben. Das ist klar in der Apologetik von Sklaverei von der Antike bis in 19. Jahrhundert, aber auch in der Verwechslung von Gewalt und Zwang mit staatlicher Macht in den Beschlüssen und Entschlüssen über ö=entliche Angelegenheiten der res publica. Hegels Analyse zu diesem Themenbereich macht klar, dass nicht eigentlich die antike Philosophie, trotz der Ausnahmefigur des Sokrates, sondern die Religionsreform des Christentums die Einsicht in die Absolutheit und Freiheit der personalen Subjekte allgemein explizit gemacht und so in die Welt gesetzt hat. Sie liegt inzwischen überall dort den Lebensformen partiell schon zugrunde, wohin die gute Nachricht über den absoluten Wert der Freiheit der Subjekte und die Würde des Menschen direkt oder indirekt gelangt ist. Allgemeine, transnationale Menschenrechte gibt es erst seither. Sie nehmen zunächst die Form der Heiligkeit der jeweils individuellen, also leiblichen Person an. Diese Heiligkeit ist, negativ betrachtet, eine Unantastbarkeit. Positiv formuliert ist sie nichts anderes als die Göttlichkeit der Person an sich oder, was dasselbe ist, des Personseins. Die Erfindung der Wissenschaften als expliziten Institutionen zunächst in der griechischen Welt ist demgegenüber sogar sekundär. Praktisches Wissen und technische Kenntnisse haben sich weltweit entwickelt und entwickeln sich rapide weiter. In diesem Bereich scheint klar zu sein, dass am Ende alle von allen etwas lernen können.103 Menschen sind nie so töricht, dass sie gute Einsichten nicht in ihren lokalen Kulturen auf die eine oder andere Weise adaptieren. Das gilt 103 Der angeblichen Überschätzung der kulturellen Leistungen des Westteils der eurasischen Welt, von Mesopotamien, Ägypten, der Levante und Griechenland bis Großbritannien, steht längst schon die größere Gefahr ihrer Unterschätzung gegenüber.
Psychologie. Der Geist 793 aber für technisches Wissen und Können nicht anders als am Ende auch für »den abstrakten Begri= der für sich seienden Freiheit« der personalen Subjekte, wie er im Christentum erstmals artikuliert wird. Um das zu einzusehen, muss man allerdings wissen, dass die alten Nationalreligionen und ständischen Tugenden ein allgemeines Menschenrecht und eine allgemeine Menschenwürde ebenso wenig kannten wie die Notwendigkeit der Anerkennung subjektiver Urteile und Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen. Hegel hatte daher durchaus recht, dass ganze Weltteile, er nennt Afrika und Asien, diese Idee bis damals noch nicht gehabt haben. Die Versklavung von Menschen durch Christen war zwar, wie Hegel selbst klar sagt, unsäglich; aber es wäre absurd, die Versklavung durch Afrikaner und Mohammedaner für weniger kritikwürdig zu halten, weil sie von allgemeiner Menschenwürde und Heiligkeit der Person noch nichts wussten oder wissen wollten. Hegels Kritik am Sklavenaufstand in Haiti hat dagegen den ganz anderen Hintergrund, dass auch im Prinzip berechtigte Aktionen problematisch werden können. Wer daher Hegel heute ›Rassismus‹ vorwerfen möchte, sollte erst einmal die RedeEbenen und Kontexte rekonstruieren, in denen die als Belege zitierten Sätze zu lesen sind, sofern man sich ausreichend um ihren Inhalt bemüht und sie nicht bloß in einem bedingten Reflex zu verstehen meint. Noch nicht einmal »die Griechen und Römer, Plato und Aristoteles, auch die Stoiker« kennen das absolute Recht des subjektiven Bewusstseins. Ihre Freiheiten und ihr Ethos sind wie im Judentum national oder ständisch. Es gibt daher bei ihnen keine allgemeinen Menschenrechte und keine Würde des personalen Subjekts an sich. Mit der Ethik des Aristoteles kann man sich heute nicht mehr zufriedengeben: Adlige Charakterstärke, Bildung, Wissen und Solidarität nur unter Vollbürgern reichen nicht aus. Wenn Hegels Sittlichkeit etwa bei Herbert Schnädelbach in die Nähe eines ›Neo-Aristotelismus‹ gerückt wird, liegt das am Leser, gerade auch dann, wenn dieser erwartbare Probleme mit einem strukturellen Verständnis der Rolle des Christentums für unsere eigenen Grundnormen hat. Denn dass die Einsicht in die Absolutheit des Subjekts, der Menschenwürde und Menschenrechte »durch das Christentum in die Welt gekommen« ist, wird von vielen nicht erkannt oder anerkannt. Und doch gibt es keine vom Christentum unabhängige Tradition, nach welcher »das Individu-
794 388 k 388 k Der subjektive Geist 477 um als solches einen unendlichen Wert hat«. Allerdings formuliert das Christentum die Einsicht unter Gebrauch der jeweils vorhandenen kulturellen und sprachlichen Ressourcen. Es ist die »Liebe Gottes« zur Welt und zu den Menschen, die den Menschen »an sich zur höchsten Freiheit bestimmt«. Ich belasse es bei dieser Erwähnung, da Hegel hier auch nicht genauer kommentiert, wie diese traditionelle Redeweise konkret und vernünftig zu lesen wäre. Wenn in der Religion als solcher der Mensch das Verhältnis zum absoluten Geiste als sein Wesen weiß, so hat er weiterhin den göttlichen Geist auch als in die Sphäre der weltlichen Existenz tretend gegenwärtig, als die Substanz des Staats, der Familie usf. Diese Verhältnisse werden durch jenen Geist ebenso ausgebildet und ihm angemessen konstituiert, als dem Einzelnen durch solche Existenz die Gesinnung der Sittlichkeit inwohnend wird und er dann in dieser Sphäre der besondern Existenz, des gegenwärtigen Empfindens und Wollens wirklich frei ist. (477) In einem wahren Verständnis von Religion artikulieren die Menschen ihr Wesen als persönliches Verhältnis zu Gott als dem absoluten Geist – der am Ende das Wir personaler Menschengemeinschaft im Kontext der Welt ist. Das Heilige und Göttliche ist nichts Jenseitiges, sondern zeigt sich in der weltlichen Existenz. Der objektive Geist wird zum Gesamt der nachhaltigen Kooperations- und Lebensformen in allen Gemeinwesen der res publica, auch in Wissenschaft und Schule, aber auch in den Familien und in der Wirtschaft der bürgerlichen Gesellschaft. Der absolute Geist wird zur Reflexion und Feier des Wir in Religion, Kunst und Philosophie. Wenn das Wissen von der Idee, d. i. von dem Wissen der Menschen, daß ihr Wesen, Zweck und Gegenstand die Freiheit ist, spekulativ ist, so ist diese Idee selbst als solche die Wirklichkeit der Menschen, nicht die sie darum haben, sondern [die, PS] sie sind. (477) Das religiöse und philosophische Wissen von der Idee ist Wissen vom Menschen, aber nicht in der dünnen Form, wie Ludwig Feuerbach die Religionen anthropologisch zu lesen versucht. Es ist konkretes Wissen, dass das Wesen des menschlichen Lebens und aller Zwecke in ihm in der freien Selbstbildung zur Person unter Personen besteht – ob die Einzelmenschen diese allgemeine Wahrheit in ihrer je besonde-
477 Psychologie. Der Geist 795 ren Sinnsuche erkennen oder auch nicht. Diese Sätze und ihre Inhalte sind spekulativ-allgemein. Eben daher ist die Idee oder Realform der Freiheit umfassende Wirklichkeit im Vollzug personalen Menschseins. Das Christentum hat es in seinen Anhängern zu ihrer Wirklichkeit gemacht, z. B. nicht Sklave zu sein; wenn sie zu Sklaven gemacht, wenn die Entscheidung über ihr Eigentum in das Belieben, nicht in Gesetze und Gerichte gelegt würde, so fänden sie die Substanz ihres Daseins verletzt. (477) Die Rede vom Eigentum meint hier alles Eigene des personalen Subjekts. Zwar anerkennen die Christen in der Antike den römischen Staat und dessen Gesetze an sich. Aber sie anerkennen keine willkürlichen Eingri=e in die kommunitarische Kirche, auch dann nicht, wenn diese Eingri=e den Schein positiver Gesetze wie im vorgeschriebenen und längst als veraltet durchschauten Kaiserkult annahmen. Das alles enthält Hegels Rede von der Freiheit als »Substanz ihres Daseins«. Es ist dies Wollen der Freiheit nicht mehr ein Trieb, der seine Befriedigung fordert, sondern der Charakter, – das zum trieblosen Sein gewordene geistige Bewußtsein. – (477) Wir haben schon gesehen, dass jemand etwas genau dann wirklich will, wenn er durch sein Handeln ausreichend und bewusst dafür sorgt, dass es (wenn nichts dazwischenkommt) auch geschieht. Begehren und Wünschen sind dagegen nur erst momentane Zustände. Der Wille ist die Person sozusagen als nachhaltig handelnd oder als Charakter. Aber diese Freiheit, die den Inhalt und Zweck der Freiheit hat, ist selbst zunächst nur Begri=, Prinzip des Geistes und Herzens und sich zur Gegenständlichkeit zu entwickeln bestimmt, zur rechtlichen, sittlichen und religiösen, wie wissenschaftlichen Wirklichkeit. (477) Die freie Selbstbildung der Person ist absoluter Inhalt und Ziel von Freiheit im Bereich des subjektiven Geistes. Freiheit bliebe im Reich des objektiven Geistes abstrakte Form, würde sie nicht konkretisiert in der Teilnahme der Personen an der Praxis und Entwicklung staatlicher, rechtlicher, sittlicher, religiöser und wissenschaftlicher Institutionen. 388 k 388 k 388 k

Zweite Abteilung der Philosophie des Geistes. Der objektive Geist § 483 Der objektive Geist ist die absolute Idee, aber nur an sich seiend; indem er damit auf dem Boden der Endlichkeit ist, behält seine wirkliche Vernünftigkeit die Seite äußerlichen Erscheinens an ihr. (478) Zum objektiven Geist gehört zunächst alles, was Gegenstand der Wissenschaften des Geistes ist, die heute »Geisteswissenschaften« heißen oder auch »Kulturwissenschaften«. Das Wissen über das Geistige wird aber auch in den Staats-, Gesellschafts- und Institutionenwissenschaften entwickelt. Die Philosophie des objektiven Geistes im engeren Sinne thematisiert einerseits die logisch-begri=lichen Grundlagen dieser Wissenschaften durch Artikulation ihrer Gegenstände oder Themenbereiche, andererseits die logischen Formen des Seins und des Vollzugs eines geistigen Zusammenlebens und damit der Gemeinschaft der personalen Subjekte. Nur als dieses Wir im Vollzug diverser Formen gemeinsamen Handelns ist der objektive Geist »absolute Idee«, also in unserem je aktualen Leben realisierter Begri=. Wie sieht nun ein gemeinsamer Wille aus, der gemeinsames Handeln allererst möglich macht, das über ein aggregiertes Verhalten der Einzelsubjekte eines Kollektivs oder einer bloßen Menge hinausgeht? Der freie Wille hat unmittelbar zunächst die Unterschiede an ihm, daß die Freiheit seine innere Bestimmung und Zweck ist und sich auf eine äußerliche vorgefundene Objektivität bezieht, welche sich spaltet in das Anthropologische der partikulären Bedürfnisse, in die äußern Naturdinge, die für das Bewußtsein sind, und in das Verhältnis von einzelnen zu einzelnen Willen, welche ein Selbstbewußtsein ihrer als verschiedener und partikulärer sind; diese Seite macht das äußerliche Material für das Dasein des Willens aus. (478) Frei nennen wir das Wollen eines individuellen personalen Subjekts oder auch der Mitglieder einer Wir-Gruppe, die als plurales Subjekt etwas gemeinsam will, wenn das Gewollte oder Beabsichtigte innere Bestimmung und anerkannter Zweck ist, sich dabei »auf eine äußerliche vorgefundene Objektivität bezieht«: Man sorgt durch sein Tun 389 389
798 Der objektive Geist 478 dafür, dass dieses sich dem Willen gemäß ändert. Dabei spaltet sich die gegebene Objektivität auf, erstens in die eigenen partikulären Bedürfnisse, die mit unserem anthropologischen Sein auch in der Form von Empfindungen und Begehrungen mitgegeben sind, zweitens in die natürlichen äußeren Umstände der zuhandenen Naturdinge, drittens »in das Verhältnis von einzelnen zu einzelnen Willen«. Im dritten Fall geht es um die Arbeits- und Ergebnisverteilung im kooperativen Handeln und gemeinsamen Leben. Hier sind die ›Umstände‹ keineswegs bloß als ›natürlich gegeben‹ zu behandeln, da es um das Handeln und die Interessen verschiedener personaler Subjekte mit ihrem jeweils partikularen Selbstbewusstsein geht. Die Passage zeigt sehr schön, wie Hegel grundsätzlich argumentiert. Er benennt die allgemeinsten der relevanten Unterscheidungen, hier für das Dasein des Willens, also die Realisierung der Form des selbstbewusst auf vorbedachte Zwecke ausgerichteten Handelns und Lebens. Zudem besteht er darauf, dass diese auch im Verlauf aller weiteren Besonderungen als logische Fundamentalunterscheidungen beachtet werden, so dass z. B. das handelnde Tun anderer Personen nicht einfach als eine Art natürliche Umwelt für die Verfolgung je meiner Interessen angesehen werden darf. Das wahre Verständnis transzendental abgestufter Präsuppositionen besteht bei Hegel darin, die Sphären der allgemeinen Unterscheidungen ernst zu nehmen. Ihre Missachtung führt zu einer Selbstprivation der Person bzw. ihrer theoretischen und praktischen Intelligenz, also je meines bloß erst subjektiven ›Geistes‹. 389 389 § 484 Die Zwecktätigkeit aber dieses Willens ist, seinen Begri=, die Freiheit, in der äußerlich objektiven Seite zu realisieren, daß sie als eine durch jenen bestimmte Welt sei, so daß er in ihr bei sich selbst, mit sich selbst zusammengeschlossen, der Begri= hiemit zur Idee vollendet sei. (478) Dass »der Begri= hiemit zur Idee vollendet sei«, bezieht sich auf den Begri= des freien Willens. Seine Vollendung zur Idee des freien Willens besteht in seiner Realisierung. Die Freiheit, zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet, erhält die Form von Notwendigkeit, deren substantieller Zusammenhang das System
479 Der objektive Geist 799 der Freiheits-Bestimmungen und der erscheinende Zusammenhang als die Macht, das Anerkanntsein, d. i. ihr Gelten im Bewußtsein ist. (478 f.) Sätze über Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe etc. sind so abstrakt, dass alle ›narrativen‹ Verständnisse versagen. Unsere Übersetzung in Langform lautet hier: Es gibt keine Freiheit außer in der frei handelnden Formung und Umformung der Welt. Wenn wir deren holistischen Rahmen nach dem Slogan »das Wahre ist das Ganze« berücksichtigen, heißt das, dass wir die Wirklichkeit einer Welt gestalten – und dadurch uns selbst als Person. Wir sorgen also durch unser frei handelndes Tun und Unterlassen dafür, welche Personen wir insgesamt gewesen sein werden, wie unsere Welt und dann auch die Welt von uns mitgeformt sein wird und wie wir uns eben zu diesem Gesamtsachverhalt jeweils jetzt im präsentischen Leben und Seinsvollzug verhalten. Hegels Aufnahme und Umdeutung von Spinozas Verständnis von Freiheit als Einsicht in diverse Notwendigkeiten wird nach den obigen Kommentaren ebenfalls klarer. Die Rede vom »System der FreiheitsBestimmungen« können wir einfach als Titel für die drei Momente der jeweiligen Subjekte, der natürlichen Umstände und des kooperativen oder aus den gemeinsam anerkannten Formen defektierenden freien Wollens und Handelns der anderen Personen lesen. Nur in diesem ›System‹ erhält das freie Wollen und Handeln einen ›substantiellen Zusammenhang‹ – der die Macht oder das Vermögen unseres freien Handelns allererst bestimmt. Das ist keine Behauptung, sondern Artikulation eines begri=lichen Truismus. § 485 Diese Einheit des vernünftigen Willens mit dem einzelnen Willen, welcher das unmittelbare und eigentümliche Element der Betätigung des erstern ist, macht die einfache Wirklichkeit der Freiheit aus. (479) Zunächst ist nicht so recht klar, worin die »Einheit des vernünftigen Willens mit dem einzelnen Willen« besteht. Hegel widerspricht nämlich der Lesart, dass es ein anderer Wille sei, der das einzelne Wollen im guten Fall bestätigend anerkennt. Das schiere Gegenteil ist der Fall. Wir selbst urteilen darüber, was ein vernünftiges Wollen ist oder wäre, zumal es das Wollen unmittelbar nur im Urteilen und 389
800 389 f . Der objektive Geist 479 Handeln gibt. Würde der methodologische Individualismus in den Sozialwissenschaften nur dieses sagen wollen, hätte er recht. Die Einheit, von der Hegel spricht, lässt sich sehr schön am heldischen Handeln von Protagonisten allgemeiner Vernunft illustrieren, von christlichen Märtyrern bis zur Weißen Rose oder Nelson Mandela, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Denn gerade über die Risiken, die sie in Kauf nehmen, sorgen sie dafür, dass sie zu großen Personen werden – und ihre Gegner in ihrer personalen Defizienz und Enge des Denkens, manchmal auch in ihrer Bösartigkeit, erkennbar werden. Da sie und ihr Inhalt dem Denken angehört und das an sich Allgemeine ist, so hat der Inhalt seine wahrhafte Bestimmtheit nur in der Form der Allgemeinheit. In dieser für das Bewußtsein der Intelligenz gesetzt mit der Bestimmung als geltende Macht, ist er das Gesetz, – der Inhalt, befreit von der Unreinheit und Zufälligkeit, die er im praktischen Gefühle und in dem Triebe hat, und gleichfalls nicht mehr in deren Form, sondern in seiner Allgemeinheit dem subjektiven Willen eingebildet, als dessen Gewohnheit, Sinnesart und Charakter, ist er als Sitte. (479) Freiheit hängt von Möglichkeiten und deren Zugänglichkeit über begri=liche Repräsentationen von Inhalten ab. Notwendige Bedingungen für ein freies Wollen sind daher 1. ein Zweck als zu erfüllende inhaltliche Bedingung p, 2. ein Vorwissen über mögliche Mittel und Folgen, 3. ein selbstbewusstes und gewissenhaftes ›Dafür-sorgen-dass-p‹ bzw. ›See-to-it-that-p‹, wenigstens als Versuch, und 4. ein metastufiges Wissen um die Di=erenz zwischen Wollen und Wünschen. Jeder Zweck p hat »seine wahrhafte Bestimmtheit nur in der Form der Allgemeinheit«. Ein Verhalten, das sich nur ausrichtet an präsentischen Neigungen, willkürlichen Präferenzen oder einem bloß subjektiven Wünschen ist wie Träumen noch gar kein frei gewolltes Handeln. Wer aber z. B. unter Anleitung des Wunsches, reich zu werden, oder auch, weil er an einem vermeintlichen Freiheitskampf teilnehmen möchte, ein Verbrechen begeht und im Gefängnis landet, hat für dieses Ergebnis, wie wir sagen müssen, willentlich gesorgt – selbst wenn ihm das nicht immer voll gewahr gewesen sein mag. Der Hinweis auf
479 Der objektive Geist 801 die gute ›Absicht‹ qua Wunsch kann hier nichts entschuldigen. Ein Nichtwissenwollen mildert die Kritik- und Strafwürdigkeit nicht. Wir haben schon in den Überlegungen zum subjektiven Geist gesehen, wie die Form des bloß aktualen Begehrens zu überwinden ist, wobei Erziehung, Bildung und Selbstbildung im Blick auf »Gewohnheit, Sinnesart und Charakter« die zentrale Rolle spielen. In dieser Form ist der Inhalt zunächst Sitte, implizites Ethos des gemeinsamen Lebens. Das Wort »ēthos« stammt wie das Wort »nomos« für ein Gewohnheitsrecht aus der Hirtensprache und meint ursprünglich den Ort, den die Tiere von selbst aufsuchen, also den Stall bzw. die Trift. § 486 Diese Realität überhaupt als Dasein des freien Willens ist das Recht, welches nicht nur als das beschränkte juristische Recht, sondern als das Dasein aller Bestimmungen der Freiheit umfassend zu nehmen ist. (479) Die Sitte als gegebene Form und damit als implizite Normativität des kollektiven Zusammenlebens ist das »Dasein des freien Willens« im gemeinsamen Handeln und Leben. Dabei sind immer schon drei Momente miteinander verbunden: die subjektiven Bedürfnisse, die objektiven Lebensumstände und das Wissen über sie. Hegel selbst betont, dass das Gewohnheitsrecht nicht auf das »beschränkte juristische Recht« zu reduzieren ist. Als ein Gesamt von Praxisformen ist es »das Dasein aller Bestimmungen der Freiheit« im umfassendsten Sinn. Dabei sind, wie wir sehen werden, diese Möglichkeiten und Berechtigungen schon wegen der kooperativen Form gemeinsamen Wollens mit Verpflichtungen oder Commitments verbunden. Diese Bestimmungen sind in Beziehung auf den subjektiven Willen, in welchem sie als allgemeine ihr Dasein haben sollen und allein haben können, seine Pflichten, wie sie als Gewohnheit und Sinnesart in demselben Sitte sind. (479) Der Ausdruck »diese Bestimmungen« nimmt auf das hier gar nicht genauer benannte gemeinsame Wollen und die Sittlichkeit als Ethos Bezug. Bedingte Berechtigungen und Verpflichtungen stehen als solche immer in einer »Beziehung auf den subjektiven Willen«. Sie sind adressiert an Gruppen oder eine ganze Gesellschaft und sind jeweils herunterzubrechen auf Berechtigungen und Verpflichtungen 390 390
802 390 Der objektive Geist 479 f. von Einzelpersonen. Nur als allgemeine haben sie ihr Dasein. Nur so gibt es die Normativität der Pflichten und Berechtigungen, »wie sie als Gewohnheit und Sinnesart« im sowohl gemeinsamen als auch einzelnen Wollen »Sitte sind«. Dasselbe, was ein Recht ist, ist auch eine Pflicht, und was eine Pflicht ist, ist auch ein Recht. Denn ein Dasein ist ein Recht nur auf den Grund des freien substantiellen Willens; derselbe Inhalt ist es, der in Beziehung auf den als subjektiv und einzeln sich unterscheidenden Willen Pflicht ist. (479 f.) Je nach Person und Perspektive sind eure Berechtigungen unsere Verpflichtungen – und unsere Berechtigungen eure Pflichten. Eine tatsächliche Berechtigung dazu, einen gewissen Zustand Z in der Welt tätig herzustellen, haben wir »nur auf de[m] Grund des freien substantiellen Willens«, also unseres nachhaltigen Wollens. Es ist noch o=en, wer dabei jeweils das Wir des Uns ist. Es kann eine Gruppe von Personen, ein Gemeinwesen oder die ganze Menschheit sein. Es ergibt sich, dass sich Pflichten aufgrund eines Wechsels der Perspektive von uns zu euch ergeben, so wie es im theoretischen Bereich objektive Bezüge durch transsubjektive Zuordnungen relationaler Bezugnahmen gibt, deren Sach- oder Objektäquivalenz die Sachen oder Objekte allererst bestimmen. Das ist wieder keine Behauptung, sondern ein Truismus in Bezug auf die logische Form der Objektivität. Hier ist nur die logische Kommentarsprache schwierig, nicht eigentlich die Sache. In unserem Fall geht es darum, dass alle Pflicht Folge unseres Wollens ist, aber nicht etwa so, wie das in Kants Darstellung von personaler Autonomie als Selbstverpflichtung erscheint. Denn Kants Analyse unterschätzt das prekäre Problem, dass sich Pflichten aus einem gemeinsamen Wollen und nicht einfach aus einem bloß von uns aktual vorgestellten Wollenkönnen ergibt, zumal ein solches am Ende doch bloß ein Wünschen ist. Anders gesagt, Kant löst das Problem, was ein gemeinsam-allgemeiner Wille ist, das uns von Rousseau schon im Titel »volonté générale« aufgegeben ist, keineswegs auf angemessene Weise. Es sind sich nämlich nur extrem selten alle vorab darüber einig, welche Handlungsformen ›moralisch‹ erlaubt sind, also nicht im Widerspruch zu verpflichtenden Kooperationsfor-
480 Der objektive Geist 803 men stehen. Das gilt am Ende für alle Maximen, besonders aber für alle konkreten Verteilungen von Lasten und Gütern. Es ist derselbe Inhalt, den das subjektive Bewußtsein anerkennt als Pflicht und den es an ihnen zum Dasein bringt. (480) Der Rückbezug »an ihnen« verweist anaphorisch auf »Gewohnheit und Sinnesart«, also auf Pflichten, die vom subjektiven Bewusstsein schon anerkannt sind. Pflichten sind gegeben, wenn wir distributiv wollen (also jeder von uns und damit auch ich durchaus faktisch nachhaltig will), dass eine bestimmte gemeinsame Praxisform P etabliert bleibt. In dieser werden allererst gewisse Berechtigungen und Verpflichtungen auf uns verteilt. Dabei reicht es zunächst, wenn wir die Praxisform P tätig anerkennen. Verbale Zustimmung ist nur auf der Ebene der Reflexion oder im Kontext der Mitbestimmung in einem Gesetzgebungsprozess nötig. Irrelevant sind dabei die Wünsche, sich den Verpflichtungen zu entziehen und sich nur die Berechtigungen zu erhalten. Das geschieht z. B., wenn sich Verbrecher selbst erlauben, andere Personen zu töten oder ihr Eigentum zu entwenden. Es geschieht aber auch dann, wenn man larmoyant auf ein ›Recht‹ auf Unversehrtheit an Leib, Leben und Eigentum pocht, um einer nicht gewünschten, aber durch das Verbrechen in Kauf genommenen Strafe zu entgehen. Die Inkohärenz dieser ›Argumentation‹ hervorzuheben, heißt freilich noch lange nicht, drakonische Strafen etwa nach Art »Auge um Auge, Zahn um Zahn« zu befürworten. Im Gegenteil: Hegel lehnt in einer höchst ironischen Passage diese ›Regel‹ des Tit-fortat ab. Ebenfalls abzulehnen ist die logisch verwirrte Argumentation, dass Strafen einem nicht mehr rückgängig zu machenden Übel nur ein neues Übel hinzufügen würden. Denn es geht um eine überzeitliche und transsubjektive, also institutionelle Ordnung der Sanktionsoder Strafandrohungen zum Schutz der Kooperativität. Die Auszahlungsmatrix für ein Verbrechen wird gegenüber reiner Stra=reiheit verschoben, so dass sogar mancher reine homo oeconomicus nicht mehr aus der entsprechenden Praxisform P defektiert. Dazu muss aber die angedrohte Strafe auch ausgeführt werden. Das will der Verbrecher durchaus, selbst wenn er die Strafe nicht wünscht. Es ist hier also ein dreifacher Sinn des Wollens zu kommentieren: Erstens will auch ein Verbrecher, dass bewusste Verbrechen mit Vorsatz an ihm oder den Seinen mit Sanktionsdrohungen belegt und 390
804 390 k 390 k Der objektive Geist 480 ggf. bestraft werden. Zweitens hat er, indem er sein Verbrechen im Wissen um die angedrohte Strafe begangen hat, ipso facto in die Strafe als mögliche Folge seines Tuns eingewilligt, ja, er hat durch die Tat für diese Möglichkeit gesorgt. Denn wer willentlich und frei für ›p oder q ‹ sorgt statt für ›non-p und non-q ‹, der will mit seinem Tun, dass möglicherweise auch q geschieht, selbst wenn er es nicht wünscht und schon gar nicht erho=t. Dass ihm die Strafe droht, wenn er gefasst wird, das weiß der Täter – und rechnet eben daher damit. Drittens will der Täter, dass man ihn als für das Tun verantwortliche Person anerkennt, so dass er z. B. nicht wie ein bloß gefährliches, unzurechnungsfähiges Individuum in Sicherheitsverwahrung zu halten ist. In diesem dreifachen Sinn will also der Täter die Strafe – selbst wenn er ihr zu entgehen wünscht. Dieser logische Punkt wird bis heute in Rechtsphilosophie und Rechtwissenschaft noch kaum ausreichend begri=en, um von den üblichen Ausführungen bei Gehirnforschern oder in einer utilitaristischen Ethik gar nicht zu sprechen. Die Verwechslung von Wunsch und Wille in der Identifizierung von Präferieren und Wollen ist dabei nicht nur eine logische Torheit, sondern die basalste aller Selbsttäuschungen und Verlogenheiten in der moralischen und rechtlichen Welt. Die Endlichkeit des objektiven Willens ist insofern der Schein des Unterschieds der Rechte und Pflichten. Im Felde der Erscheinung sind Recht und Pflicht zunächst so Correlata, daß einem Rechte von meiner Seite eine Pflicht in einem Andern entspricht. (480) So wie es bloßer Schein ist, dass der Verbrecher die Strafe nicht ›will‹, weil er sie sich natürlich nicht ›wünscht‹, so ist es auch bloßer Schein, es gäbe einen Unterschied zwischen Rechten und der Pflichten unabhängig von einem Perspektivenwechsel zwischen uns und euch. Nur weil das gemeinsame Wollen sich immer auch auf das Wollen der Einzelpersonen verteilt, scheint es jeder Einzelperson aus ihrer Perspektive so, als gäbe es einen Unterschied zwischen Rechten und Pflichten. Aber dem Begri=e nach ist mein Recht an eine Sache nicht bloß Besitz, sondern als Besitz einer Person ist es Eigentum, rechtlicher Besitz, und es ist Pflicht, Sachen als Eigentum zu besitzen, d. i. als Person zu sein, was in das Verhältnis der Erscheinung, der Bezie-
480 Der objektive Geist 805 hung auf eine andere Person, gesetzt, sich zur Pflicht des Andern, mein Recht zu respektieren, entwickelt. (480) Es geht hier noch nicht um Eigentum und Besitz im engeren Sinn des positiven Rechts, sondern nur erst um eine ganz allgemeine Unterscheidung des Eigenen und Meinen von dem Deinen und dem Seinen: Wenn wir die Gesamtpraxis der Reden über Berechtigungen und Verpflichtungen und damit den allgemeinen Begri= von Recht und Pflicht begreifen, ist meine Berechtigung, eine Sache für mich zu gebrauchen oder sie von anderen zu fordern, nicht bloß ›mein‹ Recht, mein ›Besitz‹. Berechtigungen sind immer schon allgemein unter die Personen verteilt. Das ist ein begri=lich tautologischer Satz. Wer ihn nicht anerkennt, widerspricht sich zwar nicht formallogisch, aber als Person. Das ist so, weil er die zugehörigen personalen Praxis- und Kooperationsformen nicht anerkennt und doch als Person anerkannt sein will. Wie häufig dreht Hegel mitten im Satz die Perspektive, jetzt aber nicht etwa unmittelbar von meinem Recht zu deiner Pflicht, sondern zunächst von der allgemeinen Verteilung von Berechtigungen und Verpflichtungen zu je meiner Pflicht, »Sachen als Eigentum zu besitzen« bzw. das Meine und damit auch meine Berechtigungen oder Anrechte auf Sachen in der gemeinsamen Welt sozusagen tätig auszubauen. Denn nur so, als meine Welt, bin ich Person. Wenn wir das in die Verhältnisse der Erscheinungswelt übersetzen und damit die Beziehungen auf andere Personen und je ihre Welt in den Blick nehmen, entwickelt sich aus der Verantwortung für mich und meine Welt die gegenseitige Pflicht, das jeweilige Recht auf das je Meine zu respektieren. Der ›kategorische‹ Imperativ Hegels aus dem § 36 der Rechtsphilosophie: Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen, besagt also in der ebenfalls lakonischen Sprache Platons: Sorge für das Deine und respektiere bei anderen das Ihre. Das meint das berühmte »Suum cuique«, »Jedem das Seine«, nicht etwa, wie bei den Nazis, dass verschiedene Leute verdienten, verschieden behandelt zu werden! Zur Sorge für das Meine gehört jetzt ganz o=enbar, wie Sokrates schon sieht, auch die Sorge für meinen moralischen Status, also die Person, die ich gewesen sein werde als Wahrmacher für alle Aussagen, in denen über die Berechtigungen meines Tuns geurteilt
806 390 f . k Der objektive Geist 480 f. wird, auch über Leistungen und die Erfüllung oder Nichterfüllung von Verpflichtungen. Die moralische Pflicht überhaupt ist in mir als freiem Subjekt zugleich ein Recht meines subjektiven Willens, meiner Gesinnung. Aber im Moralischen tritt die Di=erenz von nur innerer Willensbestimmung (Gesinnung, Absicht), die ihr Dasein nur in mir hat und nur subjektive Pflicht ist, gegen deren Wirklichkeit ein, hiemit auch eine Zufälligkeit und Unvollkommenheit, welche die Einseitigkeit des bloß moralischen Standpunktes ausmacht. Im Sittlichen ist beides zu seiner Wahrheit, zu seiner absoluten Einheit gelangt, obgleich auch als in der Weise der Notwendigkeit Pflicht und Recht durch Vermittlung ineinander zurückkehren und sich zusammenschließen. Die Rechte des Familienvaters über die Mitglieder sind ebensosehr Pflichten gegen sie, wie die Pflicht des Gehorsams der Kinder ihr Recht, zu freien Menschen erzogen zu werden, ist. Die Strafgerechtigkeit der Regierung, ihre Rechte der Verwaltung usf. sind zugleich Pflichten derselben, zu strafen, zu verwalten usf., wie die Leistungen der Staatsangehörigen an Abgaben, Kriegsdiensten usf., Pflichten und ebenso ihr Recht an den Schutz ihres Privateigentums und des allgemeinen substantiellen Lebens sind, in dem sie ihre Wurzel haben; alle Zwecke der Gesellschaft und des Staats sind die eigenen der Privaten; aber der Weg der Vermittlung, durch welche ihre Pflichten als Ausübung und Genuß von Rechten an sie zurückkommen, bringt die Erscheinung der Verschiedenheit hervor, wozu die Weise kommt, in welcher der Wert bei dem Austausche mannigfaltige Gestalten erhält, ob er gleich an sich derselbe ist. Aber wesentlich gilt es, daß, wer keine Rechte hat, keine Pflichten hat, und umgekehrt. (480 f.) Ein bloß subjektiv kohärentes Wollenkönnen, dass die Maxime meines Handelns allgemeine Anerkennung finden könnte, ist bloß notwendige, selten hinreichende Bedingung ethischen Urteilens und Handelns. Das habe ich in meinem dialogischen Kommentar zu Hegels Rechtsphilosophie104 ausführlich dargestellt. 104 Pirmin Stekeler, Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. Ein dialogischer Kommentar. Hamburg 2021, bes. S. 405–431.
Einteilung 482 807 Einteilung § 487 Der freie Wille ist: A. selbst zunächst unmittelbar und daher als einzelner, – die Person; das Dasein, welches diese ihrer Freiheit gibt, ist das Eigentum. Das Recht als solches ist das formelle, abstrakte Recht; B. in sich reflektiert, so daß er sein Dasein innerhalb seiner hat und hiedurch zugleich als partikulärer bestimmt ist, das Recht des subjektiven Willens, – die Moralität; C. der substantielle Wille als die seinem Begri=e gemäße Wirklichkeit im Subjekte und Totalität der Notwendigkeit, – die Sittlichkeit, in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat. Da ich diesen Teil der Philosophie in meinen Grundlinien des Rechts (Berlin 1821) ausgeführt habe, so kann ich mich hier kürzer als über die andern Teile fassen. (481) Auch im Blick auf das Recht und die politische Philosophie kann ich mich hier kürzer fassen, obwohl bis heute das Verhältnis bloß wohlmeinender Moralität und wahrer Sittlichkeit noch kaum in Ansätzen begri=en ist. A. 391 k Das Recht a. Eigentum § 488 Der Geist in der Unmittelbarkeit seiner für sich selbst seienden Freiheit ist Einzelner, aber der seine Einzelnheit als absolut freien Willen weiß; er ist Person, das Sich-Wissen dieser Freiheit, welches als in sich abstrakt und leer seine Besonderheit und Erfüllung noch nicht an ihm selbst, sondern an einer äußerlichen Sache hat. Diese ist gegen die Subjektivität der Intelligenz und der Willkür als ein Willenloses ohne Recht und wird von ihr zu ihrem Akzidens, der äußerlichen Sphäre ihrer Freiheit gemacht, – Besitz. (482) Es gibt geistiges Sein nur in der Form der freien Intelligenz personaler Individuen – wobei uns unsere eigenen Fiktionen von göttlichen 392
808 Der objektive Geist 482 Hinterwelten ebenso wenig weiter angehen wie die Rede davon, dass es in anderen Galaxien irgendwie ähnliche intelligente Wesen geben könnte. Über das auf der Basis unseres Wissens einzig mögliche Urteil, dass das extrem unwahrscheinlich ist, wird in der Menschheit sicher bis zu ihrem Untergang verbal gestritten werden. Wir Menschen sind aber wohl doch die einzigen Wesen, die um das Absolute unseres Seins und freien Wollens im Vollzug wissen, aber auch um die Relativität und Transsubjektivität von allem Wissen über Mögliches und Wirkliches, das wir dabei investieren. Phänomenologisch bzw. logisch ist jede Aneignung einer Sache, selbst wenn sie zunächst reine Deklaration des Subjekts noch ohne Anerkennung durch andere Personen ist, eine Art Inbesitznahme »der äußerlichen Sphäre« meiner Freiheit. Jede bloß äußere Sache ist im Unterschied zu jeder anderen Person ohne eigenen Willen und ohne eigenes Recht. Das gilt zunächst sogar für die Tierwelt, wenn man die von uns gesetzten und anerkannten Tierrechte und die Normen einer entsprechenden Naturethik nicht mystisch und mythisch, gefühlig und pseudoreligiös hypostasieren oder wie Hans Jonas rein dogmatisch-metaphysisch und eben damit rein subjektiv postulieren will. 392 § 489 Das für sich bloß praktische Prädikat des Meinigen, welches die Sache durch das Urteil des Besitzes zunächst in der äußerlichen Bemächtigung erhält, hat aber hier die Bedeutung, daß Ich meinen persönlichen Willen in sie hineinlege. Durch diese Bestimmung ist der Besitz Eigentum, der als Besitz Mittel, als Dasein der Persönlichkeit aber Zweck ist. (482) Das Ich und das Meinige bzw. mein ›Eigentum‹ im weitestmöglichen Sinn sind praktisch dasselbe. Das Eigentum ist, wie wir formal sagen, das, worein ich meinen Willen lege – gesetzt, dass ich es kann und darf. Mein subjektiver Versuch einer Bemächtigung reicht dafür nicht immer. Mein Besitz wird mir zum Mittel. Mein Dasein als lebendes Individuum und als geistige Person oder Persönlichkeit ist dabei aber immer Zweck.
482 f. Das Recht 809 § 490 In dem Eigentum ist die Person mit sich selbst zusammengeschlossen. (482) Ohne unsere Vorarbeiten kann man nicht verstehen, was es heißen könnte, dass ich als Person mit mir selbst in meinem Eigentum zusammengeschlossen bin. Das extrem dichte logische Orakel setzt erstens eine hinreichend allgemeine Lesart von »Eigentum« und »Sache« voraus, zweitens eine Reflexion auf die logischen Beziehungen zwischen »ich«, »mir« und »mein« und drittens ein angemessenes Verständnis der variablen, kontextbedingten Identität bzw. Extension der Selbstbezugnahme durch das Wort »ich«. Im Gebrauch von »ich« werden nämlich nicht immer nur meine leiblichen Teile zur Einheit des Individuums zusammengeschlossen. Ich verweise mit den Wörtern »ich« und »mich« keineswegs nur auf meinen Körper als res extensa, aber auch nicht auf eine punktförmig vorgestellte Seele. Obwohl ich mich wiederhole, es ist wichtig einzusehen, dass das Wort »ich« gemäß einer universalen logischen Grammatik aller menschlichen Sprachen sich insgesamt auf eine kontextuell und situationell immer noch zu präzisierende Teilklasse ›meiner Sachen‹ bezieht. Man kann mich nicht nur damit schädigen, dass man meinen Leib schädigt oder dessen freien Bewegungsspielraum einschränkt, sondern auch, wenn man dem Meinigen oder dann auch den Meinen Schaden zufügt. Aber die Sache ist eine abstrakt äußerliche, und Ich darin abstrakt äußerlich. Die konkrete Rückkehr meiner in mich in der Äußerlichkeit ist, daß Ich, die unendliche Beziehung meiner auf mich, als Person die Repulsion meiner von mir selbst bin und in dem Sein anderer Personen, meiner Beziehung auf sie und dem Anerkanntsein von ihnen, das so gegenseitig ist, das Dasein meiner Persönlichkeit habe. (482 f.) Die zunächst obskure Rede von einer konkreten »Rückkehr meiner in mich in der Äußerlichkeit« wird jetzt verständlich: Ich kann Teile des Meinigen als äußere oder entäußerbare Sachen ansehen. Aber ich kann dann auch den Aspekt wieder ändern und sie als meine oder gar als ›Teil von mir‹ ansprechen, ansehen oder behandeln. Das Ich als Bezug des Pronomens »ich« ist sogar extrem variabel in seiner Extension, aber auch in den drei dimensionalen Aspekten 392 392
810 Der objektive Geist 483 oder Momenten. Das erste Moment ist das präsentische Subjekt als Agens einer momentanen Tätigkeit. Das zweite Moment ist die Person als ein (ggf. ausgewähltes) Gesamt meiner Statusrollen und ihrer Erfüllung. Das dritte Moment ist das Individuum im leiblichen Leben. Da alle meine Weltbezugnahmen auch Selbstbezugnahmen sind, gibt es unendlich viele Beziehungen von mir auf mich. Als Person bin ich »die Repulsion meiner von mir selbst«, nämlich insofern, als ich einen relationalen Ort im System oder Geflecht der Personen einnehme und daher nur durch die Vermittlung der Relationen auch der anderen Personen zu mir Person bin.105 392 f . 393 § 491 Die Sache ist die Mitte, durch welche die Extreme, die in dem Wissen ihrer Identität als freier zugleich gegeneinander selbständigen Personen sich zusammenschließen. (483) Alle ›gesellschaftlichen‹ Beziehungen zwischen Personen sind sachlich vermittelt. Das ist klar im Fall von rechtlich geschütztem Eigentum. Dabei zählen auch Ereignisse oder Tätigkeiten, sogar kopierbare Formen zu den Sachen, nicht bloß körperliche Dinge. So vermittelt z. B. auch die Anerkennung der häuslichen Souveränität im Verbot des Hausfriedensbruchs die personale Autonomie der Familien gegen- und eben damit auch miteinander. Im Wissen um meine personalen Fremd- und Selbstbeziehungen ›habe‹ ich eine personale Identität und ›bin‹ Person im kooperativen Zusammenhang oder Zusammenschluss freier und »zugleich gegeneinander selbständige[r] Personen«. Mein Wille hat für sie sein bestimmtes erkennbares Dasein in der Sache durch die unmittelbare körperliche Ergreifung des Besitzes oder durch die Formierung oder auch durch die bloße Bezeichnung derselben. (483) 105 Ich spreche von prozessualen Relationen, um das zeitliche Moment in Tätigkeiten hervorzuheben, die es in rein statischen, zeitallgemeinen, mathematischen Relationen nie gibt. Das Dasein meiner Persönlichkeit besteht in allen performativen personalen Selbstbeziehungen von mir zu mir selbst. Das Anerkanntsein von mir als Person besteht sozusagen in ›guten‹ personalen Haltungen und Tätigkeiten der anderen Personen zu mir.
483 Das Recht 811 Ein Wollen würde gar nicht existieren, wenn es kein »bestimmtes erkennbares Dasein in der Sache« gäbe, an dem seine Erfüllung oder Verletzung sich zeigen kann oder zeigen könnte. Für die Worte »Besitz« und »Eigentum« (property etc.) prototypisch ist zunächst die körperliche Weise des Sitzens auf einer Sache. Die Sache wird ergri=en oder durch Bearbeitung oder Formierung zu eigen gemacht. Ganz allgemein betrachtet, ›erklären‹ wir aber auch Sachen rein ›deklarativ‹ als zu uns gehörig. Markierungen machen eine deklarative Inbesitznahme ö=entlich kund. Wir ›legen‹ so unseren Willen formal in unser Eigentum.106 Die allgemeine Anerkennung einer solchen Inbesitznahme von Dingen und Sachen und des sich darauf stützenden Anspruchs auf ein exklusives Verwertungsrecht ist im Normalfall stillschweigend vorausgesetzt. Daher kann bzw. darf man sich grundsätzlich keine Sachen aneignen, die schon Eigentum einer anderen Person sind. § 492 Die zufällige Seite am Eigentum ist, daß ich in diese Sache meinen Willen lege; insofern ist mein Wille Willkür, so daß ich ihn ebensogut darein legen kann oder nicht, und herausziehen kann oder nicht. (483) Jede freie personale Ordnung muss einen gewissen Spielraum des Zufalls und der Willkür der Subjekte bei der Ergreifung von Besitz und Eigentum anerkennen. Das gilt auch für die Veräußerung oder den schlichten Verzicht auf irgendwelche Eigentumsrechte. Insofern aber mein Wille in einer Sache liegt, kann nur ich selbst ihn herausziehen, und sie kann nur mit meinem Willen an einen 106 Anthropozän als Epoche bedeutet, dass wir Menschen zu treuhänderischen Herren der Natur der Erde und damit auch aller Tiere geworden sind. Kein (höheres) Tier ist damit mehr herrenlose Sache – und bleibt doch Sache, was auch immer Gefühlsethiker mit ihrer Rede von einem eigenen Recht der Tiere anderes sagen und meinen. Dabei war immer schon klar, dass Tiere wie wir Subjekte sind. Sie sind aber nach wie vor keine Personen. Die Verpflichtung zum Schutz ihres Habitats ist also darin fundiert, dass wir die Verantwortung für die ganze Erde allen lebenden Menschen und auch allen unseren Nachkommen gegenüber übernommen haben. Es bedarf dazu keiner weiteren theologisch-religiösen oder metaphysisch-dogmatischen ›Begründung‹ für die ›Pflicht‹ zum Schutz der Natur, pace Hans Jonas. 393 393
812 Der objektive Geist 483 Andern übergehen, dessen Eigentum sie ebenso nur mit seinem Willen wird; – Vertrag. (483) Was als Meiniges anzuerkennen ist, kann nur durch mich selbst veräußert werden. Dass es dabei auch Unveräußerliches gibt, tut nichts zur Sache. Seit Solon gilt das explizit für die Freiheit des Vollbürgers. Sie ist die Vorform der Freiheit und Würde der Person und besteht in einem Verbot jeder Selbstversklavung. Im Prinzip hätte das auch das Verbot einschließen müssen, dass der pater familias gegen den Willen der Mütter Kinder aussetzen oder verkaufen durfte. Die geforderte Abscha=ung jeder Form von Sklaverei als ähnlich falsch im Christentum musste allerdings fast 2000 Jahre auf ihre wirkliche, bis heute noch nicht weltweite Durchsetzung warten. Hegels Kurzanalyse der logischen Form von schriftlichem Vertrag, formellem (Verbal-)Vertrag (Stipulation), im Handwerk traditionell auch per Handschlag, und Versprechen enthält praktisch alle wesentlichen Punkte. Es gibt keinen einseitigen Vertrag und kein einseitiges Versprechen. Soweit »mein Wille in einer Sache liegt«, weil sie mein Eigentum ist oder von mir allererst herzustellen ist, kann nur ich »ihn herausziehen«, wie Hegel metaphorisch zum Verzicht der Verfügungsberechtigung und zu deren Übergabe an andere Personen sagt. Diese aber müssen die Sache als Gabe oder Ware oder als versprochene Leistung und damit das Versprechen annehmen, sich also die (versprochene) Sache (häufig vorab, also bedingt) schon willentlich und damit in einem gewissen Ausmaß explizit und bewusst zu der ihrigen machen – mit den entsprechenden Rechten und Pflichten. Man beachte weiterhin die Allgemeinheit der begri=lichen Analysen. b. Vertrag 393 § 493 Die zwei Willen und deren Übereinkunft im Vertrage sind als Innerliches verschieden von dessen Realisierung, der Leistung. (483) Das Innere, von dem Hegel hier spricht, sind die Intentionen oder Absichten in der Transaktion des Eigentums von mir zu dir. Ich möchte z. B. etwas verkaufen, weil ich Geld brauche, während du an der Sache, sagen wir, einem Stück Land, interessiert bist. Absichtserklärung und
484 Das Recht 813 Vertrag sind, wie im Fall des Versprechens, verschieden von der Leistung – der Übergabe von Geld und Sache ggf. mit Grundbucheintrag. Die relativ-ideelle Äußerung in der Stipulation enthält das wirkliche Aufgeben eines Eigentums von dem einen, den Übergang und die Aufnahme in den andern Willen. (483) Eine Stipulation mag aufgrund ihrer nur erst symbolischen Form als bloßes Versprechen oder sogar nur als gegenseitige Absichtserklärung erscheinen. Fichte meint daher, der Vertrag selbst komme erst durch die Übergabe der Leistungen Zug um Zug zustande. Das ist ein Irrtum. Der Handschlag z. B. »enthält das wirkliche Aufgeben eines Eigentums von dem einen, den Übergang und die Aufnahme in den andern Willen« und scha=t auf beiden Seiten die entsprechenden Verbindlichkeiten. Der Vertrag ist an und für sich gültig und wird es nicht erst durch die Leistung des einen oder des andern, was einen unendlichen Regreß oder unendliche Teilung der Sache, der Arbeit und der Zeit in sich schlösse. Die Äußerung in der Stipulation ist vollständig und erschöpfend. (483 f.) Der Hinweis auf Fichte erklärt, warum Hegel die scheinbare Selbstverständlichkeit so betont, dass allein schon die Erfüllung der vorgesehenen symbolischen Formen (ob verbal, durch symbolische Zeichen wie auch bei einer Versteigerung oder schriftlich) den Vertrag an und für sich gültig macht. Der Kauf eines erst noch herzustellenden Hauses wird nicht etwa erst dann gültig, wenn die Baufirma mit dem Bau beginnt. Die Innerlichkeit des das Eigentum aufgebenden und des dasselbe aufnehmenden Willens ist im Reiche des Vorstellens, und das Wort ist in diesem Tat und Sache (§ 462), und [zwar] die vollgültige Tat, da der Wille hier nicht als moralischer (ob es ernstlich oder betrügerisch gemeint sei) in Betracht kommt, vielmehr nur Wille über eine äußerliche Sache ist. (484) Die Intentionen der Beteiligten bleiben irrelevant. Es geht nie darum, was sich die Subjekte mit ihrem Vertrag oder Versprechen innerlich denken und was sie sich erho=en. Entscheidend sind im Normalfall die geäußerten Worte oder vollzogenen symbolischen Handlungen, also ein saying so makes it so. Dieses ist ›im Prinzip‹ oder an sich von der performativen logischen Form einer intellektuel- 393 393 393
814 Der objektive Geist len Anschauung (Kant) oder, was dasselbe ist, eines illokutionären Aktes (J. L. Austin).107 Die kantische Rede vom moralischen Willen bezieht sich bloß auf die subjektive Ehrlichkeit der Absichten des Sprechers oder Akteurs. Gerade im ökonomischen Bereich vertraglicher Beziehungen (ohne betrügerische Absichten, die noch zu kommentieren sind) kann und darf es dabei nicht darum gehen, was ›moralisch‹ als gute oder ungute, subjektiv ›erlaubte‹ oder ›unerlaubte‹ Intention angesehen werden mag, was man den Akteuren als Intentionen zuschreibt oder dass man aufgrund äußerer Indizien für gesichert erklärt, sie hätten diese oder jene Absicht doch ›wirklich gehabt‹.108 Die Erfüllung oder Nichterfüllung von Verpflichtungen ist hier rein objektiv über die Sachen definiert. So gilt z. B. eine Ware als bezahlt, wenn der nominale Kaufpreis in der vereinbarten Währung beglichen ist, egal, welchen ›Wert‹ das Geld zur Zeit der Bezahlung noch hat. Ein Gläubiger mag sich ›moralisch‹ darüber beklagen, dass ein Schuldner im Wissen um eine zu erwartende Inflation die Zahlung so lange wie möglich 107 Die üblichen Darstellungen des Versprechengebens (Searle) und des um Verzeihung Bittens (Austin in A plea for excuses) sind noch mangelhaft. Beim Versprechen bleibt z. B. die explizite Annahme auf Seiten des Begünstigten aus der Analyse ausgeblendet, obwohl sie nicht immer unterstellt werden kann. Daher ist das Versprechen eine kooperative Handlung und nicht einfach ein Sprechakt des Sprechers. Im Fall der Entschuldigungen wäre wichtig gewesen zu betonen, dass sich niemand selbst entschuldigen kann, dass dennoch die Gegenpartei auf die Bitte um Verzeihung im Normalfall auf die eine oder andere Weise positiv reagieren und der Bitte nachkommen ›muss‹, um nicht selbst neue und andere ›Schuld‹, die der Unversöhnlichkeit, auf sich zu laden. Die Verweigerung einer Entschuldigung oder die Erklärung, eine Tat sei unverzeihlich, kann ja unter Umständen moralisch und ethisch höchst problematisch sein. 108 In einer guten Rechtsverfassung ist von zentraler Bedeutung, dass außer im Strafrecht die Intentionen des Handelnden für die Bewertung der Handlung keine Rolle spielen dürfen oder sollten – so dass es z. B. systemwidrig ist und damit eigentlich verfassungswidrig sein müsste, im Vertragsoder im Steuerrecht die Absichten der Beteiligten eine wesentliche Rolle spielen zu lassen. In einem Rechtsstaat sollten nur professionelle Richter und keine anderen administrativen Instanzen über mutmaßliche Absichten urteilen dürfen, und das möglichst nur im Kontext von Strafverfahren.
484 Das Recht 815 hinauszögerte. Er bleibt damit aber bloß beim subjektiven Jammern, mit dem sich manche ja trösten mögen. § 494 Wie in der Stipulation sich das Substantielle des Vertrags von der Leistung als der reellen Äußerung, die zur Folge herabgesetzt ist, unterscheidet, so wird damit an die Sache oder Leistung der Unterschied der unmittelbaren spezifischen Bescha=enheit derselben von dem Substantiellen derselben, dem Werte, gesetzt, in welchem jenes Qualitative sich in quantitative Bestimmtheit verändert; ein Eigentum wird so vergleichbar mit einem andern und kann qualitativ ganz Heterogenem gleichgesetzt werden. So wird es überhaupt als abstrakte, allgemeine Sache gesetzt. (484) In jedem Vertrag erscheint wie bei einem Versprechen die Leistung als Folge einer ggf. bedingten und ggf. reziproken (Selbst-) Verpflichtung. Dabei gibt es häufig verschiedene gleich gültige Vertragserfüllungen. Im Fall eines freien Tausches ergeben sich nur erst grobe Äquivalenzen und Ordnungen über den von den Akteuren und ihrer Lage abhängigen Tauschwert, der sich in der Geldwirtschaft als der zunächst faktisch erzielte Preis der Ware darstellt. Dabei sind zunächst alle Verträge einzuhalten, die frei abgeschlossen sind. Einem Hans im Glück geschieht kein Unrecht. Normative Bewertungen eines ›fairen‹ Preises aus Sicht eines Dritten, der auf die Verträge reflektiert, kommen zunächst nicht in Betracht.109 Nur für ganz bestimmte Probleme kann es über die freie Moralität der Einzelpersonen im Sinn der Vertrauenswürdigkeit eines ehrlichen Kaufmanns gesetzliche Regeln geben. Wer z. B. ein Grundstück kauft, trägt bis heute die Hauptlast des Risikos, ob dieses die erwarteten 109 Rechts- und politikgeschichtlich höchst interessant ist die Beobachtung, dass eine Wahldemokratie dazu tendiert, auch völlig legal erworbene Eigentumsrechte zugunsten der Forderung nach einer ›gerechteren‹ Verteilung von Ressourcen und Macht aufzuheben. James Fenimore Cooper, schon zu Hegels und Goethes Zeiten berühmt für die ersten drei Bände seiner Lederstrumpf-Erzählungen, zeigt das in drei Romanen unter dem Obertitel Bilder aus der amerikanischen Vergangenheit und illustriert besonders in Die Roten (Redskins) ein liberalistisches Denken, wie es den USamerikanischen Konservatismus der Republikaner bis heute prägt. 393 f .
816 Der objektive Geist 484 Eigenschaften hat. Ein stabiler Wieder- oder Weiterverkaufswert lässt sich z. B. nicht garantieren. Eindämmen lassen sich bestenfalls gewisse Formen des Missbrauchs der schon von Kindern gelernten Tauschregel ›wiederholen ist gestohlen‹ oder des Prinzips ›gekauft wie gesehen‹ durch Rücknahme-, Leistungs- oder Schadensersatzpflichten bei vorher nicht bemerkbaren Mängeln – auch von bloß ›implizit zugesagten‹ (weil normalerweise erwarteten) Funktionstüchtigkeiten der eingetauschten oder gekauften Sache. Fragen zum Preis der Ware Arbeitskraft, wie sie Karl Marx aufwerfen wird, sind höchst speziell. Alle ihre Besonderheiten ergeben sich aus einer Vertrags- und Tauschökonomie, die in ihren Funktionen immer schon politisch gesteuert ist. 394 § 495 Der Vertrag, als eine aus der Willkür entstandene Übereinkunft und über eine zufällige Sache, enthält zugleich das Gesetztsein des akzidentellen Willens; dieser ist dem Rechte ebensowohl auch nicht angemessen und bringt so Unrecht hervor, wodurch aber das Recht, welches an und für sich ist, nicht aufgehoben wird, sondern nur ein Verhältnis des Rechts zum Unrecht entsteht. (484) Verträge sind zunächst willkürliche Übereinkünfte über jede beliebige, daher ›zufällige‹ Sache. Aus ihnen entsteht die Möglichkeit von Unrecht zunächst durch einen einseitigen Vertragsbruch, etwa durch Nichterfüllung einer vertraglich zugesagten Leistung. Hegels Formulierung ist leicht verquer und nicht präzise genug. Vertragliche Übereinkünfte könnten nämlich auch insgesamt widerrechtlich sein, wenn sie explizit verboten sind – was aber hier noch kein Thema ist. c. Das Recht gegen das Unrecht 394 § 496 Das Recht, als Dasein der Freiheit im Äußerlichen, fällt in eine Mehrheit von Beziehungen auf dies Äußerliche und auf die andern Personen (§ 491, 493 =.). (485) Der Merksatz über das Recht als das Dasein der Freiheit im Äußerlichen besagt, dass alle rechtlichen Normen und Gesetze die Verfügungsgewalt über Sachen betre=en, wozu wesentlich auch die
485 Das Recht 817 leibliche Integrität gehört. Die personale Integrität kann rechtlich ebenfalls nur äußerlich geschützt werden, etwa indem mir verboten ist, Dinge ö=entlich zu sagen oder zu schreiben, welche deine Persönlichkeit oder deinen Ruf unverdient schädigen. Bestenfalls ›moralisch‹ zu beurteilen sind meine Gedanken oder unsere privaten Gespräche über dich. Es geht dabei immer um den rechtlichen Schutz des Deinigen und Meinigen und damit der nachhaltigen Freiheit unserer Lebensplanung und Lebensführung als Personen. Dadurch gibt es 1) mehrere Rechtsgründe, von denen, indem das Eigentum sowohl nach der Seite der Person als der Sache ausschließend individuell ist, nur Einer das Rechte ist, die aber, weil sie gegeneinander sind, gemeinschaftlich als Schein des Rechts gesetzt werden, gegen welchen dieses nun als das Recht an sich bestimmt ist. (485) Das Meinige ist »ausschließend individuell«. Es scheint uns daher gemeinschaftlich so, als stünden die Berechtigungen gegeneinander. Im Blick auf das Recht an sich muss aber immer als bestimmt gelten, wer im Fall einer Auseinandersetzung recht hat oder wenigstens gemäß dem Urteil eines Richters (partiell, also so und so) recht behalten soll. § 497 Indem gegen diesen Schein das Eine Recht an sich, noch in unmittelbarer Einheit mit den verschiedenen Rechtsgründen, als a;rmativ gesetzt, gewollt und anerkannt wird, liegt die Verschiedenheit nur darin, daß diese Sache durch den besondern Willen dieser Personen unter das Recht subsumiert wird; – das unbefangene Unrecht. – (485) Unbefangenes Unrecht in Hegels Sinn begehe ich, indem ich subjektiv meine, in meinem Tun Recht zu haben, dabei aber z. B. einen geltenden Vertrag oder geltende Rechtsnormen übertrete. Im Vertragsrecht werde ich so schadensersatzpflichtig, ohne dass mein Tun noch zusätzlich zu bestrafen wäre. Sogenannte Konventionalstrafen sind ja keine echten Strafen, sondern Teil vertraglicher Verpflichtungen. Liegt eine Fahrlässigkeit vor, könnte allerdings schon das Strafrecht zum Zuge kommen. Ist das nicht der Fall, ist nichts zu strafen, selbst wenn ein verursachter Schaden u. U. ausgeglichen werden muss. 394 394 f .
818 395 Der objektive Geist 485 Dieses Unrecht ist ein einfaches negatives Urteil, welches den bürgerlichen Rechtsstreit ausdrückt, zu dessen Schlichtung ein drittes Urteil, das als das Urteil des Rechts an sich ohne Interesse bei der Sache und die Macht ist, sich gegen jenen Schein Dasein zu geben, erfordert wird. (485) Im Fall unbefangenen Unrechts stellen die Verantwortlichen die normativen Formen der Verträge und des Rechts gar nicht als solche infrage. Sie irren sich nur über die konkreten Commitments und Entitlements, und das ggf. ›unverschuldet‹. Sokrates erklärt z. B. in seinem Plädoyer vor Gericht auf absolut moderne und argumentativ einwandfreie Weise, dass man ihn nach jeder Logik des Strafens nicht bestrafen könne oder dürfe. Denn wenn er sich unbewusst geirrt hätte darüber, was in Athen erlaubt bzw. nicht erlaubt sei, dürfe und müsse man ihn nur belehren. Strafen aber dürfe man nur jemanden, der bewusst und willentlich, also intentional, absichtlich, das Recht im Staat übertrete (oder sich zu wenig um ein ausreichendes Wissen über das Gebotene und Verbotene kümmert). Diese an sich einfache allgemeine Einsicht ist im Konkreten schwer zu befolgen und wird sogar bis heute von einer Mehrheit von Menschen nicht begri=en. Sonst gäbe es keine Begründung einer Strafe bloß im Blick auf eine Abschreckung – oder in Erfüllung eines Bedürfnis nach Rache unter dem euphemistischen Titel einer ›ausgleichenden Gerechtigkeit‹. Sokrates als Bürger muss zwar eine gewisse Willkür und Zufälligkeit im Urteil von Behörden und Richtern erdulden, selbst wenn er weiß, dass die Urteile gerade auch im Blick auf die Prinzipien des Rechtssystems falsch sind. In zivilisierten Staaten gibt es eben daher eine Verwaltungs- und Verfassungsgerichtbarkeit.110 110 Eines der vielen Probleme von Versammlungen, in denen eine Mehrheit oder sogar ein einstimmiges Urteil wie in Geschworenengerichten ›Recht‹ spricht, besteht in der Gefahr einer mangelhaften Prüfung der Behauptungen der Anklage, es läge eine bewusste Straftat vor. Damit wird das absolute Recht des subjektiven Bewusstseins mit Füßen getreten, wie Hegel das Recht auf ein Urteilen und Handeln nach bestem eigenem Wissen und Gewissen nennt. Sokrates konnte nach allem, was wir über den Fall wissen, bestenfalls ein ›unbefangenes Unrecht‹ im Sinne Hegels begangen haben. Man beachte den Unterschied zu Jesus von Nazareth, von dem wohl völlig korrekt berichtet wird, dass er sich bewusst über bloß formale Anwendungen
486 Das Recht 819 Das Unrecht eines Verbotsirrtums ist, wie Hegel sich ausdrückt, »ein einfaches negatives Urteil«. Wie das Urteil, das Tier da hinten sei eine Katze, kein Hund, bleibt es im Gegenstandsbereich und verweigert sich keineswegs ›auf unendliche Weise‹ der Praxis des rechtlichen Urteilens. In einem bürgerlichen Rechtsstreit geht es immer nur um Urteile über ein behauptetes unbefangenes Unrecht, also etwa um nicht intendierte Vertragsbrüche. Zur Schlichtung brauchen wir aber auch hier, nicht nur für das erst später behandelte Strafrecht, ein drittes Urteil. Denn auch hier steht im Allgemeinen ein interessiertes Urteil eines Vertragspartners gegen ein interessiertes Urteil des oder der anderen. Das dritte Urteil eines nicht selbst an der Sache interessierten Richters muss also, wie ebenfalls schon oben gesagt, von den Vertragsparteien am Ende anerkannt werden. § 498 2) Wird aber der Schein des Rechts als solcher gegen das Rechtan-sich von dem besondern Willen gewollt, der hiemit böse wird, so wird die äußerliche Anerkennung des Rechts von dessen Werte getrennt und nur jene respektiert, indem dieses verletzt wird. Dies gibt das Unrecht des Betrugs; – das unendliche Urteil als identisches (§ 173), – die beibehaltene formelle Beziehung mit Weglassung des Gehaltes. (486) Betrug begeht, wer nur den Schein des (Vertrags-)Rechts wahrt, es aber bewusst übertritt. Hier steht die Missachtung des Geistes der Gesetze gegen eine »äußerliche Anerkennung des Rechts«. Hegels logische Charakterisierung des Betrugs ist interessant: Es ist ein un- von Normen wie z. B. das Sabbatgebot, die Händewaschpflicht vor dem Essen, das Verbot des Umgangs mit ›unreinen‹ Personen oder mit ›gefallenen Frauen‹ und Witwen, insbesondere aber mit ›Kollaborateuren‹ des römischen Staates hinwegsetzte. Interessanterweise bemerkt das alles auch schon der große Abälard im frühen 12. Jahrhundert, auch wenn ihm, wie bis heute den meisten, noch entgeht, dass wohl nur der letzte, rein politische, Punkt Jesus das Leben kostete. 395
820 Der objektive Geist 486 endliches Urteil. Das heißt, es wird das Recht nur formell, nicht in seinem Gehalt anerkannt.111 395 395 § 499 3) Insofern endlich der besondere Wille sich dem Recht-an-sich in der Negation sowohl desselben selbst als dessen Anerkennung oder Scheins entgegenstellt (– negativ unendliches Urteil, § 173, in welchem sowohl die Gattung als die besondere Bestimmtheit, hier die erscheinende Anerkennung negiert wird) – ist er gewalttätig-böser Wille, der ein Verbrechen begeht. (486) Wer ein Verbrechen begeht, anerkennt die Bewertungssphäre von Recht und Gesetz insgesamt nicht, ohne auch nur den Schein zu wahren, sich an ihnen zu orientieren. Indem im Verbrechen die gesamte Gattung des rechtlichen Urteilens und Handelns als Ganze gewalttätig und böswillig negiert wird, ist es ein »negativ unendliches Urteil« mit Bezug auf Recht und Gesetz. § 500 Solche Handlung ist als Verletzung des Rechts an und für sich nichtig. Als Wille und Denkendes stellt in ihr der Handelnde ein aber formelles und nur von ihm anerkanntes Gesetz auf, ein Allgemeines, das für ihn gilt, und unter welches er durch seine Handlung zugleich sich selbst subsumiert hat. (486) 111 Das legt eine Fortsetzung unseres Vergleichs mit dem Neuen Testament nahe. Denn dieses behauptet, dass im Unterschied zu Jesus die sogenannten Pharisäer (generisch, also nicht alle einzelnen) das jüdische Gesetz nur dem Buchstaben nach, damit nur oberflächlich kennen und anerkennen. In der Tat kreuzigen bis heute ›Pharisäer‹ in allen Religionen die Wahrheit und heiligen das Falsche. Das geschieht, indem sie einerseits wie Philologen nur auf den wörtlichen Text einer Überlieferung fokussieren und den Inhalt einem bloß akzidentellen Konsens unter sich als Gelehrten ausliefern, andererseits wie Ayatollahs zu viel politische Macht besitzen. Für eine logische Analyse ist diese Polemik gegen religiösen Betrug nicht entscheidend, wohl aber, dass wir der inhaltlichen Auseinandersetzung darum nie ausweichen können, wer ein Gesetz wirklich, nicht nur scheinbar übertritt, und dass gerade ein reaktionärer Konservativismus die eigene Kulturtradition mit Füßen tritt.
486 f. Das Recht 821 Der Ausdruck »nichtig« ist – ähnlich wie »Negativität« – sozusagen nicht mehr unser Wort. Daher wissen wir nicht mehr, was es heißen soll, dass eine verbrecherische Tat als Handlung nichtig sein soll. Denn ein Verbrechen ist ja schon per definitionem eine bewusst gewollte Handlung. Jede Handlung deklariert aber ipso facto die Maxime als allgemein erlaubt. Diese Einsicht steht im Zentrum von Kants Analysen zur Praktischen Philosophie. Der Verbrecher widerspricht sich daher insbesondere dann, wenn er für sich ein Recht einklagt. Da er um das Recht weiß, handelt es sich bei einem Verbrechen um eine ›unendliche‹ Negation des Personseins. Der Widerspruch zeigt sich also spätestens dann, wenn der Verbrecher der für seine Tat angedrohten Strafe zu entgehen versucht, etwa mit einer ebenso gefühligen wie inkohärenten Anrufung der Würde des Menschen, die es verbiete, jemandem die Freiheit, vielleicht sogar das Leben zu nehmen. Denn das Verbrechen besteht gerade darin, dass der Verbrecher die Würde des Personseins und eben damit die allgemeinen Menschenrechte im Allgemeinen nicht anerkennt, also sozusagen durch die Tat aus der Personengemeinschaft austritt. Dennoch werden wir in einer entwickelten Zivilisation erstens die Todesstrafe abscha=en und zweitens Verbrecher nach dem Strafvollzug wieder in die Bürger- bzw. Personengemeinschaft aufnehmen. Es ist zwar richtig, dass an sich, im Normalfall, alle Menschen die Würde der Person und alle personalen Freiheits- und Schutzrechte der Unantastbarkeit des Leibes und Heiligkeit der Person ›haben‹. Dieses »Haben« bedeutet aber ›nur‹, dass ›wir‹ diese Würde als generischen Defaultfall allen Menschen erst einmal ohne Aufnahmeprüfung zugestehen. Urteile über das Vorliegen eines Verbrechens und damit den Vollzug von Strafen darf man daher auch nie der Willkür einzelner Subjekte überlassen. Das bedarf einer ›von uns allen‹ kontrollierten Institution der Rechtsprechung. Die dargestellte Nichtigkeit dieser Handlung, die Ausführung in Einem dieses formellen Gesetzes und des Rechts-an-sich, zunächst durch einen subjektiven einzelnen Willen, ist die Rache, welche, weil sie von dem Interesse unmittelbarer, partikulärer Persönlichkeit ausgeht, zugleich nur neue Verletzung, ins Unendliche fort, ist. (486 f.) Wie ›nichtig‹ eine verbrecherische Handlung im Blick auf die immer nötige Symmetrie der Erlaubnisse und Verpflichtungen ist, zeigt 395 f .
822 396 396 Der objektive Geist 487 sich in der ›natürlichen‹ oder, besser, gefühlmäßig unmittelbaren Reaktion auf das Verbrechen bei den Geschädigten, in der Rache des Tit-for-tat, also der Maxime ›Auge um Auge, Zahn und Zahn‹. Denn formal erlaubt uns der Verbrecher, mit ihm ebenso zu verfahren, wie er mit anderen verfahren ist. Indem er sich das Verbrechen erlaubt, ›erlaubt‹ er es sozusagen auch uns. Rache ist dennoch ein Verbrechen. Es geht »von dem Interesse unmittelbarer, partikulärer Persönlichkeit« aus und fällt eben damit selbst schon aus dem Rahmen einer allgemeinen, gemeinsam anerkannten und gemeinsam kontrollierten Institution des Rechts. Außerdem gehen so die Verletzungen der Formen eines kooperativgemeinsamen Lebens mit gegenseitiger Anerkennung von Freiheit und Würde, damit auch der Pflichten und Rechte der Personen ins Unendliche fort. Dieser Progreß hebt sich gleichfalls in einem dritten Urteil, das ohne Interesse ist, der Strafe, auf. (487) Nur eine Instituierung eines möglichst interessefreien, unparteilichen, aber logisch gebildeten Urteilens über das Vorliegen eines bewusst gewollten Verbrechens etwa im Unterschied zu einem unbefangenen Unrecht (oder dann auch einem bloßen Betrug) und eine institutionalisierte Praxis des Strafens nach allgemein bekannten, also ö=entlich ›angekündigten‹ Formen eines Strafrechts kann den unendlichen Progress der Rache als Verfahren mit seiner Gefahr einer kollektiven Rückkehr in ein geistiges Tierreich stoppen. § 501 Das sich Geltendmachen des Rechts-an-sich ist vermittelt α) dadurch, daß ein besonderer Wille, der Richter, dem Rechte angemessen ist und gegen das Verbrechen sich zu richten das Interesse hat, – was zunächst in der Rache zufällig ist, und β) durch die (zunächst gleichfalls zufällige) Macht der Ausführung, die durch den Verbrecher gesetzte Negation des Rechts zu negieren. (487) Hegels Schema der Negation der privaten Rache als Negation des Unrechts, wie sie am Ende als Aufhebung zur Restitution des Rechts führen soll, ist natürlich rein formal, abstrakt. Sachlich wichtig sind zwei notwendige Vermittlungen. Erstens kommen wir um die subjektiven Urteile eines Richters
Das Recht 823 als Einzelperson oder in einem kleinen Kollegium (notfalls auch von Geschworenen) nicht herum. Es gibt kein (im Allgemeinen) sachgerechtes und gerechtes Kollektivurteil ›des Volkes‹, wie der Fall des Sokrates schon paradigmatisch zeigt. Idealiter sollten die Richter »dem Rechte angemessen« urteilen. Ihr Interesse soll nur sein, sich gegen das Verbrechen zu richten – ohne sich durch besondere Sympathien oder Antipathien den einzelnen Tätern oder Geschädigten gegenüber allzu sehr beeinflussen zu lassen. Zweitens ist auch die Kontingenz der Ausführung von Strafe anzuerkennen. Es lassen sich nicht alle Verbrechen aufdecken. Es sind daher auch schuldige Verbrecher mangels Beweisen freizusprechen. Manchmal fehlt es sogar schon an den Mitteln des Strafvollzugs. Diese möglichen Mängel oder Privationen von Strafverfahren sprechen aber keineswegs gegen sie als Institution. Es sind die immer auch unvollkommenen Letztentscheidungen im Rechtssystem anzuerkennen, unbeschadet der höchst endlichen Möglichkeit der Anrufung von Revisionsgerichten. Sonst lässt sich der unendliche Progress der reflektierenden Urteile über die ›Richtigkeit‹ von Urteilen so wenig stoppen wie der von Blutrache. Das hat zur Folge, dass wir zwischen einer institutionellen und einer bloß erst ›moralischen‹ Kontrolle des Rechtssystems und der gerichtlichen Urteile unterscheiden müssen. Gerichte und Richter, welche einer öffentlichen Mehrheitsmeinung und damit zumeist auch der Politik und Staatsverwaltung allzu opportunistisch entgegenkommen, verfehlen Begri= und Idee des Rechts nicht nur in sogenannten Unrechtsstaaten. Das ist auch dann so, wenn man auf die ö=entliche Meinung und frei vorgetragene und begründete Kritikpunkte an vermeintlich oder wirklich ›ungerechten‹ Urteilen gar nicht reagiert. Denn die Urteile des Rechtssystems müssen auch immer faktisch anerkannt werden. Hegel ist einer der wenigen Denker, der die prekäre Lage der Richter zwischen sachlicher Richtigkeit im Verfahren und ö=entlichem bzw. politischen Druck nicht durch schöne Worte wie »Gerechtigkeit« und »Konsens« übertüncht. Zugleich erkennt und anerkennt er das Unzureichende bloßer Legalität und Verfahrenslegitimität von der Logik der Sache her. Diese Negation des Rechts hat im Willen des Verbrechers ihre Existenz; die Rache oder Strafe wendet sich daher 1) an die Person 396
824 396 396 Der objektive Geist 487 oder Eigentum des Verbrechers, 2) und übt Zwang gegen denselben aus. (487) Wir haben schon gesehen, in welchem Sinn der Verbrecher die Strafe will, indem er selbst für sie als ggf. zu erwartende, wenn auch nicht erwünschte Möglichkeit sorgt. Die Strafe wendet sich, wie wir ebenfalls gesehen haben, nicht nur gegen das bloß präsentische individuelle Subjekt bzw. dessen leibliches Sein, sondern an die Person und damit insgesamt an das Eigene des Verbrechers. Dabei üben ›wir‹ im Strafen Zwang gegen das Individuum und sein Eigentum aus. Der Zwang findet in dieser Sphäre des Rechts überhaupt, schon gegen die Sache in der Ergreifung und in Behauptung derselben gegen die Ergreifung eines andern, statt, da in dieser Sphäre der Wille sein Dasein unmittelbar in einer äußerlichen Sache (als solcher oder der Leiblichkeit) hat und an dieser nur ergri=en werden kann. – (487) Der Zwang des Strafens betri=t immer nur den äußeren Leib und das Leben des Individuums, dessen freie Bewegung oder das sachliche Eigentum. Mehr nicht als möglich aber ist der Zwang, insofern Ich mich als frei aus jeder Existenz, ja aus dem Umfange derselben, dem Leben, herausziehen kann. Rechtlich ist er nur als das Aufheben eines ersten, unmittelbaren Zwangs. (487) Insofern sich jeder Mensch im Prinzip immer selbst töten kann, kann er sich durch Selbstmord allen realen Strafen entziehen. Gemäß dem traditionellen kirchlichen Recht entzieht sich der Selbstmörder daher endgültig den Personenstatus. Das ist der Grund dafür, dass echter Selbstmord (also nicht etwa als Folge einer seelischen Krankheit) als ›Todsünde‹ angesehen wird, welche ›an sich‹ ein kirchliches Begräbnis verbietet: Es gibt sozusagen keine Geistseele oder Person mehr, an die man sich erinnern sollte. Das gilt – jedenfalls im Prinzip – nicht für den hingerichteten Verbrecher, da dieser mit seinem Tod die Strafe verbüßt hat. Rechtlich betrachtet, ist Strafe also nicht ›ungerechter Zwang‹ gegen eine Person, da das individuelle Subjekt sich als Person selbst durch das Verbrechen aus dem Skopus der in ihrem Leib, Leben, ihrer Freiheit und durchaus auch ihrer persönlichen Ehre (samt allen ›Ehrenrechten‹ des Bürgers) zu schützenden Personen herausbewegt
487 f. Das Recht 825 hat. Dieser Status des Verbrechers als Täter eines noch ungesühnten Verbrechens bleibt aber nur bis zum Ende der Strafe erhalten. § 502 Es hat sich ein Unterschied vom Recht und vom subjektiven Willen entwickelt. (487) Hegel beginnt hier den Übergang zum neuen Thema, der Moralität des subjektiven ethischen Selbstbewusstseins. Der Unterschied zwischen Recht als Form objektiver Sittlichkeit und dem subjektiven Wollen und Bewusstsein korrespondiert dem Unterschied zwischen der Institution der Rechtsprechung und der freien Meinungsäußerung – die selbst auf eine informelle Praxisform des freien Begründens und Argumentierens verweist. Die Realität des Rechts, welche sich der persönliche Wille zunächst auf unmittelbare Weise gibt, zeigt sich durch den subjektiven Willen, das dem Rechte-an-sich Dasein gebende oder auch von demselben sich abscheidende und ihm entgegensetzende Moment, vermittelt. Umgekehrt ist der subjektive Wille in dieser Abstraktion, die Macht über das Recht zu sein, für sich ein Nichtiges; er hat wesentlich nur Wahrheit und Realität, indem er in ihm selbst als das Dasein des vernünftigen Willens ist, – Moralität. (487 f.) Moralität ist der subjektive Wille in Abstraktion von aller Institution. Bloße Moralität ist eben damit gegenüber der vollen Sittlichkeit defizitär. Moralisch ist jemand, der ehrlich will, dass seine zufälligen Maximen als allgemeine Erlaubnisnormen gelten könnten. Das reicht o=enbar nicht immer aus, um sie mit bestem Wissen und Gewissen als sittlich bzw. ethisch erlaubt anzusehen. Denn dazu müsste meine Maxime auch faktisch von den anderen Personen als erlaubt anerkannt werden, nicht nur meiner Meinung nach anerkennbar sein. Daher unterscheidet die Moralität Kants noch keineswegs ausreichend zwischen dem sittlich Guten und dem sittlich Bösen. Auf diesen ersten Aufweis der Ambiguitäten im Gebrauch der Wörter »moralisch« und »ethisch« bzw. »sittlich« lässt Hegel jetzt noch eine Bemerkung zur Ambiguität der Rede von einem Naturrecht folgen. Der Ausdruck Naturrecht, der für die philosophische Rechtslehre gewöhnlich gewesen, enthält die Zweideutigkeit, ob das Recht als ein in unmittelbarer Naturweise vorhandenes oder ob es so gemeint 396 396 396 f . k
826 397 k 397 k Der objektive Geist 488 sei, wie es durch die Natur der Sache, d. i. den Begri=, sich bestimme. Jener Sinn ist der vormals gewöhnlich gemeinte; so daß zugleich ein Naturzustand erdichtet worden ist, in welchem das Naturrecht gelten solle, wogegen der Zustand der Gesellschaft und des Staates vielmehr eine Beschränkung der Freiheit und eine Aufopferung natürlicher Rechte fordere und mit sich bringe. (488) Es ist sachlich und logisch falsch, das Recht als unmittelbar in der Natur vorhandenes oder von einem ontischen Gott mit Bart für die Menschen erlassenes System von Gesetzen sich vorzustellen; falsch aber ist auch Kants Konzept von Autonomie. Spricht man von der Natur der Sache im Sinne eines guten Verständnisses ihres Wesens im Ganzen, so handelt es sich um ihren Begri= bzw. in dessen Realisierungen um deren Idee. Auf die genealogischen Erfindungen von Geschichten über die Entwicklungen von Recht und Moral gehen wir trotz so redemächtiger Figuren wie Hobbes, Hume, Herder, Schopenhauer, später Nietzsche und noch später Michel Foucault nicht weiter ein. In der Tat aber gründen sich das Recht und alle seine Bestimmungen allein auf die freie Persönlichkeit, eine Selbstbestimmung, welche vielmehr das Gegenteil der Naturbestimmung ist. (488) In Wahrheit gründet sich alles Recht auf die Kooperationsform der im Grunde, implizit oder empraktisch immer schon weltumspannenden Gemeinschaft von Personen. Nur ihre Explikation und damit das Bewusstsein über diese Formen ist nicht überall gleich. Hegel betont daher die reale Idee der freien Persönlichkeit in Selbstbestimmung als Ausgangsort allen Rechts – und aller Moral. Diese sind das schiere Gegenteil bloßer Naturbestimmungen, so wie eben das Wort »Geist« gegen jede bloße »Natur« steht. Das Recht der Natur ist darum das Dasein der Stärke und das Geltendmachen der Gewalt, und ein Naturzustand ein Zustand der Gewalttätigkeit und des Unrechts, von welchem nichts Wahreres gesagt werden kann, als daß aus ihm herauszugehen ist. (488) Implizit geht es jetzt gegen Hobbes – und gegen sophistische Gegenspieler des platonischen Sokrates wie Kallikles oder Thrasymachos, sogar noch Gorgias und Protagoras. Sie meinen, das ursprüngliche »Recht der Natur« sei das »Dasein der Stärke« – und der Gewalt. In der Tat ist das Reich des bloß animalischen survival of the fittest
Die Moralität 488 827 ein »Zustand der Gewalttätigkeit und des Unrechts« – gerade auch, weil hier von Recht gar nicht die Rede sein kann. Daher kann vom ›Paradies‹ der Tiere ebenso wie vom Biologismus »nichts Wahreres gesagt werden kann, als daß aus ihm herauszugehen ist«. Die Gesellschaft ist dagegen vielmehr der Zustand, in welchem allein das Recht seine Wirklichkeit hat; was zu beschränken und aufzuopfern ist, ist eben die Willkür und Gewalttätigkeit des Naturzustandes. (488) Die Gesellschaft ist der durch den staatlichen Rahmen von Recht und Gesetz erst ermöglichte Bereich freier Kooperation von Personen. Die »Willkür und Gewalttätigkeit des Naturzustandes« lässt sich in der Tat nur so überwinden. Und doch ist die Vorstellung von Hobbes präsuppositionslogisch falsch, es ließen sich Staat und Recht durch eine Art Vertrag zwischen schon instrumentell denkenden Personen scha=en. Tiere können keine Verträge schließen. Menschen, die dies können, leben schon in einer institutionell und damit auf die eine oder andere Weise staatlich oder proto-staatlich geformten Gesellschaft. B. 397 k Die Moralität § 503 Das freie Individuum, im (unmittelbaren) Rechte nur Person, ist nun als Subjekt bestimmt, – in sich reflektierter Wille, so daß die Willensbestimmtheit überhaupt als Dasein in ihm als die seinige, unterschieden von dem Dasein der Freiheit in einer äußerlichen Sache, sei. (488) Wir hatten die Rede von der Person eng mit Status und Rolle des frei handelnden Individuums verbunden. Zwar sagen wir, dass gerechte Richter über eine Tat unter Absehung von der Person urteilen sollen, meinen damit aber, dass nur über die Person als Typus im Blick auf die begangene Tat und instanziierte Handlungsform und nicht im Blick auf andere Relationen zum Individuum zu urteilen ist. Das Recht betrachtet in eben diesem Sinn nur die Person, im Strafrecht 397
828 397 Der objektive Geist 488 f. unter Einbeziehung der aktualen Intentionen des jeweils in seiner Zeit und Situation handelnden Subjekts.112 In der Moralität steht nun aber nur das Subjekt mit seiner immer lokalen und intentionalen Sicht auf die Welt und seinem relativen Recht auf sein Wissen und sein Bewusstsein im Zentrum der Betrachtung. Es geht um sein in sich reflektiertes Denken und Wollen, Urteilen und Handeln. Die ›Entdeckung‹ bzw. Explikation des Rechts auf Subjektivität113 ist ›europäisch‹, genauer: ›mediterran‹ – von Sokrates über Jesus, Paulus und Augustinus bis zu Luther und der auf ihn folgenden Neuzeit. Es geht also um mein Wissen, meine Gesinnung, mein Gewissen, meine Bestimmung meines wollenden Handelns und meine Sorge dafür, wer ich als Folge dieses Handelns sein werde. Das »Dasein der Freiheit in einer äußerlichen Sache« ist dagegen nur erst technische oder instrumentelle Freiheit der Mittel. Damit, daß die Willensbestimmtheit so im Innern gesetzt ist, ist der Wille zugleich als ein besonderer, und es treten die weitern Besonderungen desselben und deren Beziehungen aufeinander ein. (488 f.) Das Innere ist weitgehend Metapher für leise Selbstbeurteilungen. Damit verliert die Rede von einer inneren Bestimmung des Willens alle mystischen oder spiritualistischen Konnotationen. Dass je mein Wille als der Inhalt, für den ich durch mein bewusst geplantes Tun vorsätzlich sorge, jeweils ein besonderer ist, liegt natürlich daran, dass mein besonderes Sein notwendiger Hintergrund für jeden meiner Zugri=e auf mögliche Inhalte als typische di=erentiell bedingte Folgen ist. 112 Es bedarf einer speziellen Bildung, eine Handlung in ihren wahrscheinlichen Intentionen zu verstehen. Einem Gremium von Juroren wäre daher bestenfalls zuzugestehen, über die Darstellungen der äußeren Tat und über die Plausibilität der Urteile des Iudex zum Wissen und zu den Absichten des Täters endgültig zu befinden, sozusagen als Ersatz für den römischen Prätor. 113 Es ist ein Treppenwitz der Rezeptionsgeschichte, dass man Hegels Einsicht in die Absolutheit des subjektiven Vollzugs und des Rechts auf je meine eigene Perspektive in je meinem (Selbst-)Bewusstsein bis heute zum Teil wie bei von Mises und Popper als angeblichen ›Kollektivismus‹, zum Teil wie bei Habermas als mystische ›Geistesmetaphysik‹ kritisiert. Freilich sind die Reflexionsbegri=e Individuum, Subjekt und Person zur Unterscheidung von Momenten im Gebrauch des Wortes »ich« ebenso schwer zu artikulieren wie zu begreifen.
489 Die Moralität 829 Die Willensbestimmtheit ist teils als die an sich seiende, – [die] der Vernunft des Willens, das an sich Rechtliche (und Sittliche); – teils als das in der tätlichen Äußerung vorhandene, sich begebende und mit derselben in Verhältnis kommende Dasein. (489) Die Abstufungen der Bestimmtheit intentionalen Handelns betreffen sowohl die allgemeinen Sphären des An-sich wie die konkreteren situationeller Besonderungen im jeweils aktualen Dasein. Der subjektive Wille ist insofern moralisch frei, als diese Bestimmungen innerlich als die seinigen gesetzt und von ihm gewollt werden. Seine tätliche Äußerung mit dieser Freiheit ist Handlung, in deren Äußerlichkeit er nur dasjenige als das seinige anerkennt und sich zurechnen läßt, was er davon in sich selbst gewußt und gewollt hat. (489) Es ist eine Art begri=liche Tautologie zu sagen, dass ich qua subjektives Wollen im Rahmen meiner Möglichkeiten des Wissens und Könnens, Denkens und Reflektierens, Beschließens und schon tätigen Entschließens autonom oder, was dasselbe sagt, moralisch frei bin. Die Äußerung dieser Freiheit liegt in der Handlung. Handlungen sind daher per definitionem frei, was keineswegs im gleichen Sinn für jedes Tun und Verhalten gilt. Eine Unterscheidung zwischen der Freiheit des Willens oder Wollens und der Freiheit des Handelns tritt nur auf, wenn man die erstere unterscheidet als das freie Planen der Handlung samt Beschluss von der tätigen Durchführung, beginnend im Entschluss. Im wahren Ganzen des bewussten und willentlichen tätigen Sorgens dafür, dass p, gibt es diesen Unterschied sozusagen nicht. Zentral ist das absolute Recht der Subjektivität oder des Bewusstseins, für das Sokrates und Jesus als Protagonisten wie niemand sonst gekämpft haben. Hegel formuliert den Punkt im Kontext der Unterscheidung zwischen der Tat, deren Beschreibung und Erfüllungsbedingungen äußerlich, transsubjektiv und im Idealfall perspektiveninvariant sind, während meine Handlung meine Instanziierung der von mir so und so erfassten und gefassten allgemeinen Handlungsform an sich qua Maxime bzw. ihrer Besonderung in dem von mir typisierten Situationskontext ist. Das ›moralische‹ Prinzip des absoluten Rechts des (Selbst-)Bewusstseins lautet: Mir ist nur das an meinem Tun zuzurechnen, was 397 397
830 398 k 398 k Der objektive Geist 489 ich von meinem Zutun wusste und was ich an dem Tun bewusst wollte. Kürzer: Nur das ist das Meinige und nur das bin ich, was ich von mir kenne. Angesichts der Phänomene der Fahrlässigkeit im Urteilen über Sachen und der Selbsttäuschung in der Reflexion ist freilich klar, dass das Prinzip nicht in rein schematischer Anwendung richtig ist, sondern jeweils mit gewissen Modifikationen und Einschränkungen zu konkretisieren ist: Es gibt nämlich eine allgemeine Pflicht zur Selbstbildung der Person. Diese subjektive oder moralische Freiheit ist es vornehmlich, welche im europäischen Sinne Freiheit heißt. (489) Hegel hebt mit vollem Recht den besonderen europäischen Sinn von Freiheit als subjektive Freiheit der moralischen Gesinnung und des Gewissens hervor. Diese griechisch-jüdisch-römisch-christliche Tradition sollte nur nicht vergessen, dass ganz Eurasien das Allermeiste an Kultur den Zivilisationen Mesopotamiens und Ägyptens bzw. Persiens verdankt. Vermöge des Rechts derselben muß der Mensch eine Kenntnis vom Unterschiede des Guten und Bösen überhaupt eigens besitzen, die sittlichen wie die religiösen Bestimmungen sollen nicht nur als äußerliche Gesetze und Vorschriften einer Autorität den Anspruch an ihn machen, von ihm befolgt zu werden, sondern in seinem Herzen, Gesinnung, Gewissen, Einsicht usf. ihre Zustimmung, Anerkennung oder selbst Begründung haben. (489) Wir Menschen wissen im Prinzip alle um die Unterschiede des Wahren und Guten vom Falschen und Bösen überhaupt, obwohl wir uns je konkret mal schuldlos, mal schuldhaft täuschen mögen. Das ist der Gehalt der orientalischen Genesis. Es wird dann immer klarer, dass ohne eigene Einsicht »äußerliche Gesetze und Vorschriften einer Autorität« allein nicht den Anspruch an mich machen können, von mir befolgt zu werden. Besonders Jesus, Paulus und später auch Augustinus setzen diesen Punkt in das Zentrum ihrer religiösen und moralischen Reformation sowohl des jüdischen Erbes als auch der griechischen Arete und römischen Virtus. Zum Recht auf das eigene Urteil gehört auch, dass man den Personen die Chance geben muss, eigene Mängel etwa an Konsequenz im Denken und Handeln, an Wissen und Willen, an Intelligenz und sittlicher Haltung selbst zu bemerken. Daher ›beleidigen‹ uns direkte
489 Die Moralität 831 ›Vorwürfe‹ in diese Richtung (zumeist) und führen (zunächst) zur Tendenz, der ›Kritik‹ oder ›Behauptung‹ zu widersprechen. Für die Erzeugung einer selbst kontrollierten Einsicht ist das nicht hilfreich. Die Subjektivität des Willens in ihm selbst ist Selbstzweck, schlechthin wesentliches Moment. (489) Das ganze denkerische Leben Friedrich Nietzsches führt am Ende zu keinem anderen Punkt als eben zur Absolutheit des subjektiven Seins und Willens und damit zu Hegels Basisprinzip für alle Sinnbestimmung und alles Wollen, das ich durch Wiederholung hervorhebe: »Die Subjektivität des Willens in ihm selbst ist Selbstzweck«. Dass eben dieses der wahre Inhalt des urchristlichen Prinzips eines autonomen Gewissens (meinetwegen ›vor Gott‹) ist, das freilich wissen weder Nietzsche noch seine Gegner, nämlich die schon im 19. Jahrhundert teils regionalutilitaristisch in nationale, teils globalutilitaristisch in weltsozialistische Kollektivismen abgedrifteten Christen und Nichtchristen. Das Moralische muß in dem weitern Sinne genommen werden, in welchem es nicht bloß das Moralisch-Gute bedeutet. ›Le Moral‹ in der französischen Sprache ist dem ›Physique‹ entgegengesetzt und bedeutet das Geistige, Intellektuelle überhaupt. Das Moralische hat hier aber die Bedeutung einer Willensbestimmtheit, insofern sie im Innern des Willens überhaupt ist, und befaßt daher den Vorsatz und die Absicht in sich, wie das Moralisch-Böse. (489) Im Englischen und Französischen wird das Moralische noch ganz weit verstanden und nicht schon auf das moralisch Gute eingeschränkt. Die moral sciences sind die Geisteswissenschaften. »Le moral« und »la physique« sind damit ebenso entgegengesetzt wie Geist und Natur. Hegels eigene Rede vom Moralischen wird nun aber explizit auf die subjektive Bestimmung und reflektierte Bewertung des Willens und Handelns eingeschränkt. Themen sind Vorsatz und Absicht sowie das moralisch Böse der Selbstgerechtigkeit. 398 k 398 k
832 Der objektive Geist 490 a. Der Vorsatz 398 § 504 Insofern die Handlung unmittelbar das Dasein betri=t, so ist das Meinige insofern formell, als das äußerliche Dasein auch selbständig gegen das Subjekt ist. (490) Im Handeln ändere ich durch mein leibliches Tun hier und jetzt, also unmittelbar im oder am Dasein, den Lauf der Welt – orientiert durch meinen Vorsatz. Dass mein Zutun zunächst rein formell ist, heißt nur, dass erst noch o=en ist, was bloß Selbstzuschreibung, was wirklicher Vorsatz und wirkliche Absicht ist. Dass »das äußerliche Dasein auch selbständig gegen das Subjekt ist«, besagt, dass mein Verhalten (wie andere physische Bewegungen und Prozesse auch) scheinbar ganz unabhängig von inneren Vorsätzen und Absichten und damit von allen Zuschreibungen und Selbstzuschreibungen geistiger Inhalte vollständig beschreibbar sein soll. Manche halten es sogar für vollständig kausal erklärbar. Im Behaviorismus und im (neurophysiologischen) Determinismus entsteht so ein mehrfacher Schein. Denn es ist kein Einzelding, auch kein Einzelereignis in der Welt, vollständig kausal erklärbar oder auch nur beschreibbar ohne eine verdeckte spekulative Bezugnahme auf das Ganze der Welt oder meinetwegen auch Gott. Damit landen wir aber schon bei rein tautologischen spekulativen Erklärungen, nach denen alles so ist, wie es ist, weil die Welt so ist, wie sie ist – oder weil es Gott so will. Beschreibungen, die eine implizite deiktische Bezugnahme enthalten, scheinen zwar zunächst das Problem zu umgehen. Man wird z. B. die rotgelbe Katze unseres Nachbarn schon durch meine Äußerung »diese Katze da« am 25. 5. 2021 um 16:18 als vollständig beschrieben gelten lassen. Und doch sind Ausdrucksformen wie »dieses Drücken eines Lichtschalters«, das angeblich ›dasselbe‹ Ereignis oder Tun nennen soll wie meine Handlung des Lichtmachens oder des Signalgebens etc., höchst problematisch. Denn wenn ich nicht mit Vorsatz und in der Absicht, Licht zu machen oder jemanden über meine Anwesenheit zu informieren oder ein anders Signal zu geben, den Knopf rein zufällig drücke, handelt es sich ganz o=enbar um ein ganz anderes Tun, als wenn ich vorsätzlich und absichtlich Licht mache. Daher muss jede Logik des Handelns darauf bestehen, dass eine
490 Die Moralität 833 Handlung unbedingt als Instanziierung einer so und so nach Vorsatz und Absicht wiederholt und normalerweise erfolgreich ausführbaren Vollzugsform zu verstehen ist, nicht als ein brute fact oder nacktes Geschehen mit vielen Beschreibungen und verschiedenen (Selbst-) Zuschreibungen von Absichten und Vorsätzen. Es kann zwar das Drücken des Knopfes als identisch mit einer vollzogenen Warnung aufgefasst werden, muss es aber nicht und darf es oft nicht, selbst dann nicht, wenn es, wie wir am Ende sagen mögen, für manche Beteiligten tatsächlich eine Warnung war. Das Problem ist, dass es gar keine urteilsunabhängigen Identitäten von Ereignissen und Geschehnissen, Dingen und allen anderen Sachen, auch Tätigkeiten und Handlungen gibt. Diese Äußerlichkeit kann dessen Handlung verkehren und anderes zum Vorschein bringen, als in dieser gelegen hat. (490) Aufgrund der Äußerlichkeit meines Tuns kann sich freilich durch Zufall oder kausale ›Notwendigkeit‹ jenseits meines Vorherwissens die beabsichtige Handlung verkehren und ganz anderes zur Folge haben, als in der Maxime oder dem Vorsatz zunächst gelegen haben mag. So kann eine gute Absicht bekanntlich böse Folgen haben. Aber es ist auch manches Gute aus mehr oder weniger problematischen Absichten entstanden. Obgleich alle Veränderung als solche, welche durch die Tätigkeit des Subjekts gesetzt wird, Tat desselben ist, so erkennt es dieselbe darum nicht als seine Handlung, sondern nur dasjenige Dasein in der Tat, was in seinem Wissen und Willen lag, was sein Vorsatz war, als das Seinige, – als seine Schuld, an. (490) Faktisch und auf der ›objektiven‹ Ebene der Rede über die Tat bin ich für alle realen Folgen p meines Tuns, soweit dieses für das Eintreten von p notwendige Bedingung ist, formal mitverantwortlich. Realiter erkenne ich Zuschreibungen von Verantwortungen post hoc nur an, wenn ich die Folgen, um die es geht, als ernst zu nehmende Möglichkeit vorhersehen konnte oder hätte vorhersehen müssen. Nur dann sind sie Teil meiner vorsätzlichen Handlung. Zwar lieben es die Leute, sich zufällige gute Folgen ihres Tuns selbst in Verschönerung ihrer damaligen Absichten zuzuschreiben und möglichst alle schlechten Folgen dem Zufall oder dem Zutun anderer Leute zu überantworten. Aber das heißt nicht, dass man sich 398 398
834 Der objektive Geist 490 hier nicht um größtmögliche Objektivität bemühen könnte. Daher ist das, was wirklich »in meinem Wissen und Willen lag, was mein Vorsatz war«, zwar nicht immer identisch mit dem, was ich selbst mir im Nachhinein als Wissen und Willen, Vorsatz und Absicht zuschreibe oder was mir von anderen zugeschrieben wird. Und doch habe ich recht, darauf zu bestehen, dass meine Verantwortung und Schuld sich darauf beschränkt, was ich als mein Vorherwissen, Vorsatz, Absicht, Fahrlässigkeit oder Selbsttäuschung anerkennen muss oder müsste, wenn ich zusammen mit anderen über mich und mein Handeln urteile. Hegel hat recht, dass die ersten Artikulationen dieser für alles Recht und alle Ethik enorm wichtigen Einsicht bei Sokrates zu finden sind. Ihre allgemeine Popularisierung findet aber erst im Christentum statt – das sich eben damit als Ursprung der Explikation der allgemeinen Menschenrechte und Menschenwürde erweist. b. Die Absicht und das Wohl 398 399 § 505 Die Handlung hat 1) nach ihrem empirisch-konkreten Inhalt eine Mannigfaltigkeit besonderer Seiten und Zusammenhänge; das Subjekt muß der Form nach die Handlung nach ihrer wesentlichen, diese Einzelheiten in sich befassenden Bestimmung gewußt und gewollt haben; – Recht der Absicht. – (490) Hegel selbst benutzt hier das Wort »empirisch« für die konkrete Aktualisierung einer Handlungsform. Und er hebt hervor, dass diese als reales Tun eine nachgerade unendliche Vielfalt »besonderer Seiten und Zusammenhänge« hat, samt Folgen und Wertungen. Interessant ist, dass ich als Subjekt immer nur einige wenige Unterschiede in meinem Tun als wesentlich berücksichtigen kann. Nur das an den Einzelheiten, was mit den urteilend getro=enen Unterscheidungen und tätig hergestellten Unterschieden schon bewusst zusammenhängt, ist mir als »gewußt und gewollt« zuzuschreiben. Das Prinzip nennt Hegel ganz passend das Recht der Absicht. Der Vorsatz betri=t nur das unmittelbare Dasein, die Absicht aber das Substantielle und den Zweck desselben. (490) Die Rede vom Vorsatz betri=t im Unterschied zur Absicht als erho=te Folge des Tuns die gewollte Form der Handlung. Bei Mord
491 Die Moralität 835 ›liegt‹ demnach die Tötung ›im Vorsatz‹, bei gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge nicht. Freilich dehnen Richter aus ›politischen‹ und ›moralischen‹ Gründen diese mit den Ausdrücken eigentlich fest verbundenen Prinzipien immer auch auf nicht zulässige Weise aus. Das geschieht z. B. dann, wenn Teilnehmer an illegalen Autorennen auf ö=entlichen Straßen nicht wegen fahrlässiger Tötung, sondern im Blick auf das Strafmaß zur Abschreckung als Mörder verurteilt und damit denen gleichgestellt werden, die Menschen vorsätzlich überfahren und töten. Das Problem der Richter liegt hier darin, dass tödliche Unfälle zwar billigend in Kauf genommen wurden, was sich, wie man meint, durch das übliche Verständnis von Fahrlässigkeit nicht angemessen abbilden lässt. Die Kategorisierung als Mord, ja schon als Totschlag, erscheint aber ohne explizite Umformulierung der strafrechtlich gesetzten Bedingungen ebenfalls als unangemessen. Die Tendenz zur Moralisierung des Rechts in seinem Einsatz für eine Art Volkspädagogik der Abschreckung durch exemplarische Urteile ist mitnichten unproblematisch, gerade wegen der partiellen Missachtung des handlungslogischen ›Rechts der Absicht‹ und damit eines basalen ›europäischen‹ oder ›christlichen‹, in Wahrheit aber universal anzuerkennenden Grundprinzips des Rechts. 2) Das Subjekt hat ebenso das Recht, daß die Besonderheit des Inhalts in der Handlung, der Materie nach, nicht eine ihm äußerliche sei, sondern die eigene Besonderheit des Subjekts, seine Bedürfnisse, Interessen und Zwecke enthalte, welche in Einen Zweck gleichfalls zusammengefaßt, wie in der Glückseligkeit (§ 479), sein Wohl ausmachen; – das Recht des Wohls. (490 f.) Obgleich die Freiheit der eigenen Lebensbestimmung höchster Wert für die Personen ist und bleiben muss, gibt es auch ein relatives Recht auf Wohlstand und sogar auf eine gewisse Behaglichkeit. Die Glückseligkeit ist vom Wohl nur dadurch unterschieden, daß erstere als ein unmittelbares Dasein überhaupt, letzteres aber als berechtigt in Beziehung auf die Moralität vorgestellt wird. (491) Die schon diskutierte Rede von der Glückseligkeit bei Kant betraf nur Befriedigungen faktischen Wünschens. Der Unterschied zu den Erfüllungen des Wollens in der Selbstbildung der Person im Ganzen entgeht Kant, obgleich man ihm zugestehen kann, dass wir von Wohl 399 399
836 Der objektive Geist 491 nur sprechen, wenn es sich um Befriedigungen handelt, die wir schon als moralisch berechtigt vorbewertet haben. 399 § 506 Aber die Wesentlichkeit der Absicht ist zunächst die abstrakte Form der Allgemeinheit, und an der empirisch-konkreten Handlung kann die Reflexion diese und jene besondere Seite in diese Form setzen und damit als wesentlich zur Absicht machen oder die Absicht auf sie einschränken, wodurch die gemeinte Wesentlichkeit der Absicht und die wahrhafte der Handlung in den größten Widerspruch (wie eine gute Absicht bei einem Verbrechen) gesetzt werden können. – Ebenso ist das Wohl abstrakt und kann in dies oder jenes gesetzt werden; es ist als diesem Subjekte angehörig überhaupt etwas Besonderes. (491) Zwar sind die besonderen Absichten wie die besonderen inhaltlichen Bestimmungen dessen, was als mein oder unser Wohl verfolgt wird, je konkret. Aber die Wörter »Absicht« und »Wohl« sind als Reflexionstermini auf die Form einer möglichen Begründung einer Handlung durch erwünschte und erho=te Folgen noch ganz abstrakt.114 114 Eine Absicht im Handeln ist weder mit dem Vorsatz identisch, der die bewusste Gesamtform oder Maxime meines Tuns betri=t, noch mit dem Inhalt p ∗ des Willens, wenn ich im Tun wissentlich dafür sorge, dass p ∗ . Die Absicht ist allgemeiner Gesamtwunsch, dass p durch mein Tun von p ∗ in Erfüllung gehe. Wegen der Di=erenz von p und p ∗ bin ich nicht nur für den Inhalt von Vorsatz und Absicht meiner Handlung verantwortlich, sondern für alle von mir absehbaren möglichen Folgen. Man beachte, dass mein Wissen um p und p ∗ vor und während des Tuns sich von deinem und dann auch von unserem nach der Tat unterscheidet. Diese Unterschiede bleiben immer relevant. Die Analyse macht verständlich, dass und warum der (inferentielle) Inhalt p, der von mir explizit als Absicht ›gesetzt‹ ist, den ich also vor mir und anderen als erwünschtes Ergebnis meines Tuns sozusagen deklariere, und das wahrhafte Wollen (der möglichen Folgen) p ∗ in der Handlung »in den größten Widerspruch« geraten können. Hegel nennt als Beispiel die »gute Absicht bei einem Verbrechen«. Um konkrete Beispiele zu diesem Thema in ihrer Ambivalenz zu betrachten, könnte man z. B. an das unglückselige Attentat Herschel Grünspans auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath in Paris 1938 denken, das gegen die unsägli-
491 Die Moralität 837 c. Das Gute und das Böse § 507 Die Wahrheit dieser Besonderheiten und das Konkrete ihres Formalismus ist der Inhalt des allgemeinen, an und für sich seienden Willens, das Gesetz und die Substanz aller Bestimmtheit, das an und für sich Gute, daher der absolute Endzweck der Welt und die Pflicht für das Subjekt, welches die Einsicht in das Gute haben, dasselbe sich zur Absicht machen und durch seine Tätigkeit hervorbringen soll. (491) Hegel kommentiert hier implizit und kritisch Kants Diktum, nichts sei gut als ein guter Wille. Dabei liest er die Formel schon leicht polemisch so, dass die gute Absicht allein die Handlung zu einer guten mache. Damit unterstellt Hegel Kant und den Kantianern – wie ich meine: durchaus mit Recht – eine Verwechslung der Absicht p mit dem Inhalt p ∗ des real gewollten Tuns. Das Tun sorgt ja ›nur‹ dafür, dass p ∗ der Fall sein wird, noch keineswegs schon dafür, dass die Absicht und nur die Absicht p erfüllt werden wird. Dass Kant gemeint ist, signalisiert das Stichwort »Pflicht«. Hegels Distanz zu diesem Wort und zum Wort »Sollen« ergibt sich daraus, dass diese im Realgebrauch zumeist o=enlassen, wer oder was mir sagt, was ich tun soll. Kants Titel »Autonomie« und die Reden davon, dass meine eigene praktische Vernunft, also mein eigener ›guter Wille‹, mir ein inneres moralisches Gesetz gebe, das mich zu einem che Behandlung seiner Eltern durch die Deutschen ›demonstrieren‹ sollte. Göbbels und die Nazis nahmen diesen politischen Mord erwartungsgemäß zum Vorwand, in der Reichspogromnacht die gesamte jüdische Bevölkerung und ihre Synagogen einem staatlich organisierten Mob auszuliefern, so wie schon der Reichstagsbrand zum Vorwand des Ermächtigungsgesetzes und der Verfolgung aller (Sozial-)Demokraten genommen worden war. Im Unterschied dazu lassen sich die leider gescheiterten Attentate gegen Hitler etwa durch Georg Elser 1939 oder Graf von Stauffenberg 1944 sehr wohl durch die verfolgten Absichten rechtfertigen. Die meisten Deutschen haben das dennoch lange nicht so gesehen und sich formal darauf berufen, dass die Attentate die formalen Bedingungen eines ›heimtückischen Mordes‹ erfüllen – da sie ja prima facie wirklich ›Verbrechen‹ sind. 399
838 Der objektive Geist 492 gewissen Tun verpflichte, sind zunächst keineswegs verständlich. Man sollte auch nicht so tun, als seien sie verstanden. Ganz abstrakt gesagt, soll je ich das allgemeinste Wohl verfolgen. Das ist aber nur erst ein rein formaler Satz. Kant spricht daher in Wahrheit bloß erst von einem formalen Inhalt »des allgemeinen, an und für sich seienden Willens«. Er identifiziert diesen aber unvermittelt mit meinen ›wahren‹ Absichten (meiner Autonomie) und macht diese so zum nachhaltigen »Gesetz« des an und für sich Guten. Dieses di=use Wohl sei »absoluter Endzweck der Welt«. Seine Verfolgung sei Pflicht für das Subjekt. Dieses wiederum solle die »Einsicht in das Gute« haben und soll »dasselbe sich zur Absicht machen und durch seine Tätigkeit hervorbringen«. Ich wiederhole die Sätze, um die Distanz der bloßen Erwähnung von kantischen Inhalten hervorzuheben. Hegels (implizite) Kritik läuft methodisch darauf hinaus, dass hier die spekulative Betrachtung des wahren Ganzen eines allgemeinen Wohls mit der konkreten Perspektive des je einzelnen Handelnden kurzgeschlossen wird – mit der Folge, dass die zu verfolgende Pflicht für uns viel zu weit, zu groß und zu ideal wird, da niemand die ganze Welt retten kann oder retten wollen sollte. Alles reale Handeln ist immer viel zu weit entfernt von der Verfolgung eines ›absoluten Endzwecks der Welt‹. Es reicht außerdem nicht, subjektiv konsistent wollen zu können, dass die Maxime meines Handelns zusammen mit der ›guten‹ Absicht als allgemeines Erlaubnisgesetz gelten könne. So erhält man keineswegs eine Begründung für die ›Gesetze‹ des Sollens und NichtDürfens. 399 f . § 508 Aber das Gute ist zwar das an ihm selbst bestimmte Allgemeine des Willens und schließt so die Besonderheit in sich; insofern jedoch diese zunächst selbst noch abstrakt ist, ist kein Prinzip der Bestimmung vorhanden; das Bestimmen tritt auch außerhalb jener Allgemeinheit auf, und als Bestimmen des freien, gegen dasselbe für sich seienden Willens erwacht hier der tiefste Widerspruch. α) Um des unbestimmten Bestimmens des Guten willen gibt es überhaupt mancherlei Gutes und vielerlei Pflichten, deren Verschiedenheit dialektisch gegeneinander ist und sie in Kollision bringt. (492)
492 Die Moralität 839 Meine Lesart wird hier bestätigt und zum Teil noch einmal expliziter gemacht. Seit Sokrates und Platon weiß man, dass das Gute formal irgendwie das allgemeine Ziel des Wollens ist. Damit bleibt aber noch o=en, was je konkret als das erlaubte Gute oder gar als das supererogatorisch Beste anzusehen ist. Alle Bestimmung muss dabei konkret von mir als Einzelperson vollzogen werden. Der tiefste Widerspruch der Moral entsteht aus der Spannung zwischen einer spekulativen Gesamtsicht, nach der sozusagen niemand wirklich gut ist außer Gott allein, und unserer jeweils konkreten Binnenperspektive: Während für Gott irgendwie alles gut ist, so dass (ein) Gott per definitionem kein Problem mit der Einheit und Kohärenz des Guten hat, gibt es für uns vielerlei »Gutes und vielerlei Pflichten«, und zwar so, dass es prima facie keineswegs klar ist, was zu tun ist. Denn eine Kollision von Werten, Absichten, Prima-facie-Pflichten, Prima-facie-Verboten und Primafacie-Erlaubnissen ist für uns nicht Ausnahme, sondern Normalfall. Zugleich sollen sie in Übereinstimmung stehen um der Einheit des Guten willen, und zugleich ist jede, ob sie schon eine besondere ist, als Pflicht und als Gut absolut. Das Subjekt soll die Dialektik sein, welche eine Verbindung derselben mit Ausschließung der andern und damit mit Aufheben dieses absoluten Geltens beschließe. (492) Wir sollen also eine Übereinstimmung herstellen, wie es die Idee der Einheit des allgemein Guten fordert. Nach Kant soll je ich als Subjekt die konkrete und damit dialektische Verbindung mit praktischer Urteilskraft herstellen – und das auch können. Ich soll die Spannung aufheben können und einen Beschluss dazu fassen, was für mich und uns absolut gelten soll. § 509 β) Dem Subjekt, das im Dasein seiner Freiheit wesentlich als ein Besonderes ist, soll um dieses Daseins seiner Freiheit willen sein Interesse und Wohl wesentlicher Zweck und darum Pflicht sein. (492) Hegel setzt seine Debatte um Kants moralisch-subjektive Sollensethik jetzt so fort: Je ich bin als frei urteilende und handelnde Person zu jeder Zeit ein besonderes Subjekt mit besonderem Wissen, Kenntnissen, Neigungen, vorgestellten Möglichkeiten, möglichen Zielen und schon anerkannten Zwecken. Mein Interesse und mein Wohl im Ganzen als Person sollen nun immer »wesentlicher Zweck und darum 400 400
840 400 400 400 Der objektive Geist 492 Pflicht sein«. Zunächst distanziert sich Hegel nicht von diesem Zug, der mein wahres Interesse, mein wahres Wohl und den wahren Zweck von allem guten Handeln mit dem Ganzen meines Personseins verbindet. Zugleich aber im Zwecke des Guten, welches das nicht Besondere, sondern nur Allgemeine des Willens ist, soll das besondere Interesse kein Moment sein. (492) Seine Kritik beginnt, wie fast zu erwarten, mit der illusionären Rede von einem objektiv und allgemein Guten, in dem von allen meinen und unseren besonderen Interessen, Neigungen etc. abstrahiert werden soll. Um dieser Selbständigkeit beider Bestimmungen willen ist es gleichfalls zufällig, ob sie harmonieren. (492) Wenn wir von allen Erfüllungen menschlicher Interessen abstrahieren, bleibt gar kein für das freie menschliche Handeln relevantes Gutes mehr übrig. Das Argument ist analog zu Nietzsches wichtiger Beobachtung, dass eine utilitaristische Ethik der Maximierung des Behaglichkeitsgrades samt Minimierung von Schmerzen und Leiden im Leben aller Menschen und Tiere schon die Frage nicht beantworten kann, ob und warum eine solche Durchschnittsbehaglichkeit des ›größten Glücks der größten Zahl‹ und ihre ›altruistische‹ Verfolgung ggf. unter Aufopferung des eigenen Glücks überhaupt gut sein soll. Hegels Formulierung der Kritik ist allerdings zu kurz und zu dicht. Die Rede von der »Selbständigkeit beider Bestimmungen« meint nämlich den Unterschied zwischen dem, was ich als allgemein gute Erlaubnisform des freien Handelns ansehe, wollen kann und vielleicht auch will auf der einen Seite, dem, was faktisch eine gute Ordnung der Erlaubnisse ist, auf der anderen Seite. Es ist rein zufällig, ob die verschiedenen Selbstgesetzgebungen nach Art von Kants kategorischem Imperativ harmonieren. Manche mögen z. B. meinen, ohne jedes besondere Eigentumsrecht leben zu können und sich das sogar ernsthaft wünschen, andere nicht. Aber sie sollen harmonieren, weil überhaupt das Subjekt als Einzelnes und Allgemeines an sich Eine Identität ist. (492) Dass die moralisch anerkennbaren Maximen harmonieren sollen, ergibt sich – jetzt nach Hegel – schon daraus, dass ich als personales Subjekt zwar Einzelner bin, aber als Person eine allgemeine
492 Die Moralität 841 Position im kooperativen Zusammenleben einnehme. Kant hat keine Antwort auf die Frage, was das einzelne Subjekt zu tun hat, um diese Harmonie ausreichend gut zu befördern. γ) Das Subjekt ist aber nicht nur in seinem Dasein Besonderes überhaupt, sondern es ist auch eine Form seines Daseins, abstrakte Gewißheit seiner selbst, abstrakte Reflexion der Freiheit in sich zu sein. So ist es von der Vernunft des Willens unterschieden und fähig, sich das Allgemeine selbst zu einem Besondern und damit zu einem Scheine zu machen. Das Gute ist so als ein Zufälliges für das Subjekt gesetzt, welches sich hienach zu einem dem Guten Entgegengesetzten entschließen, böse sein kann. (492) Hegels Formulierung des Gedankens ist weniger klar, als man es sich wünschen würde. Das Problem liegt schon in einer gewissen Zweideutigkeit der Rede über das Allgemeine. Denn dieses könnte eine bloß ›moralisch‹ bzw. subjektiv vorgestellte allgemeine Erlaubnisund damit Verbots- und Sollensordnung sein. Hegel denkt wohl an schon konkret etablierte Formen von Kooperation und damit an eine konkrete gemeinsame Sittlichkeit. Bei Kant ergibt sich, dass böse ist, wer sich selbst herausnimmt, auf eine Weise handeln zu dürfen, ohne die Handlungsform als allgemein erlaubt wirklich kohärent wollen zu können. Bei Hegel verfehlt ein personales Subjekt seine sittliche Pflicht schon dann, wenn es »das Allgemeine selbst zu einem Besonderen und damit zu einem Scheine« macht. Ich betrachte dazu ein Beispiel, das einen realen Hintergrund aus der Zeit der frühen 1970er Jahre hat. Ein Philosophiestudent meinte, wollen zu können, dass Kommunismus sein solle. Er wollte also, dass alles Eigentum als Diebstahl (Proudhon) abgescha=t werden solle, so dass auch sein Diebstahl von Büchern, die er brauche, während die Buchhändler reich genug seien, kein Diebstahl mehr sei. Mit dem Konzept des Eigentums wäre ja in der Tat der Begri= des Stehlens abgescha=t. Das Gute – was also in der tradierten Ordnung von Eigentumsrechten und ihrer Rolle in der Arbeitsteilung allgemein als gut gilt – wird so »als ein Zufälliges für das Subjekt gesetzt«. Wer sich so für ein ›dem Guten Entgegengesetztes entschließt‹, ist nun aber klarerweise böse – so dass das kantische Prüfverfahren moralischer Erlaubnisse nicht zu einer Ethik des allgemein Guten, sondern ten- 400
842 Der objektive Geist 493 denziell sogar zum sittlich Bösen bloß subjektiver Selbstgerechtigkeit führt. 400 f . 401 § 510 δ) Die äußere Objektivität, gleichfalls nach dem eingetretenen Unterschiede des subjektiven Willens (§ 503), macht gegen die innerlichen Bestimmungen des Willens das andere selbständige Extrem, eine eigentümliche Welt für sich aus. (493) Zur äußeren Objektivität der Welt gehören auch alle Zufälle und alle uns bekannten oder nicht bekannten kausalen Folgen von Ereignissen und Handlungen. Der Weltlauf wird daher nie alle Wünsche und Absichten des subjektiven Willens erfüllen, selbst dann, wenn wir auf die für uns bestmögliche Weise für ihre Erfüllbarkeit sorgen sollten. Es ist daher zufällig, ob sie mit den subjektiven Zwecken zusammenstimmt, ob das Gute sich in ihr realisiert und das Böse, der an und für sich nichtige Zweck, in ihr nichtig ist; – ferner ob das Subjekt sein Wohl in ihr findet, und näher ob das gute Subjekt in ihr glücklich und das böse unglücklich wird. Zugleich aber soll die Welt das Wesentliche, die gute Handlung in sich ausführen lassen, wie dem guten Subjekte die Befriedigung seines besondern Interesses gewähren, dem bösen aber versagen, sowie das Böse selbst zunichte machen. (493) Der Gedankengang führt sozusagen im Schnelllauf zu Kants Postulatenlehre: Man erho=t sich einen ›göttlichen‹ Ausgleich für das Risiko des moralisch guten kooperativen und damit gerade nicht bloß subjektiv-zweckrationalen Handelns. Ob das gemeinsame Gute realisiert wird oder etwas für uns Schlechtes, hängt davon ab, ob unser Tun, auch wenn es ›subjektiv moralisch‹ richtig ist, mit eurem in Harmonie steht. Das ist nicht nur deswegen prekär, weil es sein kann, dass ihr aus der Kooperation insgesamt defektiert, sondern auch weil eure subjektiven Vorstellungen dazu, wie zu kooperieren sei, nicht immer mit unseren harmonieren. Der Tugendhafte ist, so meint man, häufig der unglückliche Dumme, während der Böse häufig Erfolg habe. Kants Postulatenlehre beginnt mit dem Wunsch, es solle doch die subjektiv bzw. ehrlich gute Handlung für das ausführende Subjekt »die Befriedigung seines besonderen Interesses gewähren«. Dem bösen aber wollen wir sein
493 Die Moralität 843 unverdientes Glück nicht gönnen. – Selbst wenn religiöse Gläubige bessere Menschen sein mögen als die, welche sich nur als höhere Tiere mit etwas mehr an technischen Skills verstehen, so wäre doch zumindest zu begreifen, warum das so ist – und warum wir uns mit Kants Postulatenlehre nicht zufriedengeben sollten. § 511 Der allseitige Widerspruch, welchen dieses vielfache Sollen, das absolute Sein, welches doch zugleich nicht ist, ausdrückt, enthält die abstrakteste Analyse des Geistes in ihm selbst, sein tiefstes In-sichgehen. Die Beziehung der sich widersprechenden Bestimmungen aufeinander ist nur die abstrakte Gewißheit seiner selbst, und für diese Unendlichkeit der Subjektivität ist der allgemeine Wille, das Gute, Recht und Pflicht, ebensowohl als auch nicht; sie ist es, welche sich als das Wählende und Entscheidende weiß. (493) Während Kant, wie schon der platonische Sokrates, auf ein vorgestelltes Jüngstes Gericht göttlicher Gerechtigkeit wenigstens haltungsmäßig ›ho=t‹ und eine solche Ho=nung vielleicht sogar für nötig hält, erklärt Hegel ebenso trocken wie mit Nachdruck, dass wir dem Widerspruch einfach leben müssen, dass die guten Folgen freier Kooperation durch nichts garantiert sind. Die Zumutung ist o=ensichtlich die, dass wir aus der Bemühung um ›objektive‹ Anerkennung unserer Wissensansprüche und tätigen Leistungen am Ende partiell doch auch wieder auf die Selbstbeurteilung unseres eigenen möglichst akkuraten Urteilens und gewissenhaften Selbstbeurteilens sozusagen zurückgeworfen werden. Denn es sollte klar sein, dass nicht alles private oder ö=entliche Lob durch andere Menschen, heute etwa durch sogenannte Follower, wirklich taugt. Wir müssen vielmehr selbst wieder beurteilen, welches Lob welcher Leute einen Wert hat. Dasselbe gilt für alle Formen äußerer Ehrungen. Mit der Einsicht, dass ein geistiges Leben diese Spannung aushalten muss, seien wir, sagt Hegel, zur allgemeinsten und »abstrakteste Analyse des Geistes« gelangt. Sein »tiefstes In-sich-gehen« besteht am Ende sogar darin, dass wir, ohne uns zu schnell zu verurteilen oder selbstgerecht zu beurteilen, dennoch mit unseren eigenen, freilich potentiell unendlich weiter zu reflektierenden Urteilen über uns als Personen am Ende zufriedengeben müssen. Das gilt auch für die 401
844 401 Der objektive Geist 493 Güte unseres Handelns und Lebens, also unsere eigenen möglichst guten und dabei möglichst gut begründeten Haltungen zur Welt und uns selbst. Hegel spricht in genau diesem Sinne von der Unendlichkeit der Subjektivität. Das eben ist nun aber auch das wahre Ergebnis der ›neueren Philosophie‹ von Descartes bis Kant. Was als allgemeiner Wille, als das Gute, als Recht und Pflicht gilt, ist zwar durchaus relevant, aber ebenso auch nicht immer schematisch bindend, da ich selbst es bin, der sich jeweils als der »Wählende und Entscheidende weiß«. So gesehen, behält Kants Idee der Autonomie recht. Aber wir sehen auch, warum Kant selbst die logischen Verhältnisse noch keineswegs ganz durchschaut. Diese sich auf ihre Spitze stellende reine Gewißheit seiner selbst erscheint in den zwei unmittelbar ineinander übergehenden Formen des Gewissens und des Bösen. Jenes ist der Wille des Guten, welches aber in dieser reinen Subjektivität das nicht Objektive, nicht Allgemeine, das Unsagbare ist, und über welches das Subjekt sich in seiner Einzelnheit entscheidend weiß. Das Böse aber ist dieses selbe Wissen seiner Einzelnheit als des Entscheidenden, insofern sie nicht in dieser Abstraktion bleibt, sondern gegen das Gute sich den Inhalt eines subjektiven Interesses gibt. (493) Hegel ist sich der Ambivalenz dieser auf die Spitze getriebenen reinen Gewissheit seiner selbst völlig klar. Denn sie erscheint »in den zwei unmittelbar ineinander übergehenden Formen des Gewissens und des Bösen«. Luzifer, der Lichtträger, fällt selbstgerecht von Gott ab – und bringt ›diabolisch‹ alles durcheinander. Das gemeinsame Scha=en »ist der Wille des Guten«, dem die Zerstörung aufgrund der »reinen Subjektivität« des nur eigeninteressierten Bösen gegenübersteht. Das Objektive ist das Allgemeine und Gemeinsame. Das bloß Subjektive verbleibt in der ›unsagbaren‹ Willkür der Einzelheit – ohne die gleich gültigen Betrachtungen desselben aus (allen) verschiedenen Perspektiven.
494 Die Moralität 845 § 512 Diese höchste Spitze des Phänomens des Willens, der bis zu dieser absoluten Eitelkeit, – einem nicht-objektiven, sondern nur seiner selbst gewissen Gutsein und einer Gewißheit seiner selbst in der Nichtigkeit des Allgemeinen, – verflüchtigt ist, sinkt unmittelbar in sich zusammen. (494) Die negative Seite der Absolutheit des Subjekts besteht in seiner »absoluten Eitelkeit« im (doppelten) Sinn eitler, also leerer, Selbstgerechtigkeit. Das Böse als die innerste Reflexion der Subjektivität in sich gegen das Objektive und Allgemeine, das ihr nur Schein ist, ist dasselbe, was die gute Gesinnung des abstrakten Guten, welche der Subjektivität die Bestimmung desselben vorbehält; – das ganz abstrakte Scheinen, das unmittelbare Verkehren und Vernichten seiner selbst. Das Resultat, die Wahrheit dieses Scheinens, ist nach seiner negativen Seite die absolute Nichtigkeit dieses Wollens, das für sich gegen das Gute, wie des Guten, das nur abstrakt sein soll; nach der a;rmativen Seite im Begri=e ist, so in sich zusammenfallend, jenes Scheinen dieselbe einfache Allgemeinheit des Willens, welche das Gute ist. (494) Die Identifizierung der guten Gesinnung des abstrakten Guten mit dem selbstgerecht Bösen ist polemisch gegen Kant und die ihm folgende Romantik des Gefühls gerichtet. Die Kritik ist insofern überzogen, als Kants Prüfverfahren des Wollenkönnens, dass die eigene Maxime, also Vorsatz und Absicht, als allgemein gut oder erlaubt gelten könne, durchaus viele moralische Falschheiten ausschließt, also keineswegs ›absolut nichtig‹ ist. Richtig ist nur, dass Kants Kategorischer Imperativ in keiner seiner Formulierungsvarianten ein ausreichendes Verfahren gesetzesprüfender Vernunft ist. Insbesondere ist die Meinung falsch, tradierte Formen des Zusammenlebens seien nicht schon deswegen moralisch richtig, weil sie allgemein anerkannt sind, sie müssten daher immer neu gegen möglicherweise bessere Alternativen begründet werden. Die allgemeine Furcht, sich zu irren, ist schon der Irrtum selbst. Wenn man sich im Urteilen und Handeln an den generischen Normen oder di=erentiell bedingten Defaultregeln der gegebenen ethischen Kultur orientiert, ist man prima 401 401 f .
846 402 Der objektive Geist 494 facie, ceteris paribus, im Normalfall rechtscha=en. Es bedarf klarer und bekannter Gründe, um an den gegebenen Normen zu zweifeln. Hegel nennt die tradierte ethische Kultur »Sittlichkeit« und sagt von ihr, sie sei die »einfache Allgemeinheit des Willens, welche das Gute ist« – im Defaultfall, wie man zur Klärung hinzufügen muss. Die Subjektivität in dieser ihrer Identität mit demselben ist nur die unendliche Form, dessen Betätigung und Entwicklung; es ist damit der Standpunkt des bloßen Verhältnisses beider gegeneinander und des Sollens verlassen und zur Sittlichkeit übergegangen. (494) Soweit mein subjektives Wollen mit dem allgemeinen Wollen einer von uns anerkannten gemeinsamen Absicht – dem allgemeinen Willen einer kooperativen Praxisform mit personaler Aufgaben- bzw. Rollenverteilung – identisch ist bzw. zusammenfällt, ist meine Subjektivität »nur die unendliche Form« des Vollzugs. In von uns aktualisierten Vollzugsformen verwandelt sich der Idealbegri= des Personseins in den realisierten Begri= der Idee, die ich als Person nur bin, indem ich an unseren personalen Praxisformen angemessen teilnehme. Das Formelle der Subjektivität korrespondiert daher der Performanz einer (Sprech-)Handlungsform, z. B. der behauptenden Kraft einer von mir vollzogenen assertorischen Aussage. Ich bin als Subjekt bzw. Agens die gesamte gerade im Vollzug befindliche Tätigkeit selbst. Das Subjekt ist weder ein Seelenpunkt noch der momentane Leib in seinem bloß physischen äußerlichen und körperinnerlichen Verhalten. Ich als Subjekt oder Agens in der Instanziierung einer Tätigkeitsform bin ein Ganzes hier und jetzt, aber weder identisch mit meinem bloß leiblichen Tun noch mit einem nur stillen Denken. Insbesondere kann man die prozessualen Relationen zur natürlichen (physischen) und geistigen (kulturellen) Welt potentiell aller anderen Wesen bzw. Personen nicht einfach weglassen. Dennoch können wir reflexionslogisch auf formale Momente wie die formelle Subjektivität und Präsenz jedes realen Vollzugs fokussieren und dieses Moment vom allgemeinen Inhalt ebenso unterscheiden, wie Frege mit dem Behauptungsstrich ` in Ausdrucksformen der Art ` p das Aussagen vom ausgesagten Inhalt p unterscheidet oder wenigstens unterscheiden möchte. Parallel dazu unterscheidet er ansatzweise den je subjektiv erfassten, aber allgemeinen Gedanken von der Art des Zugangs.
Die Sittlichkeit 494 847 Während vom Standpunkt des moralischen Bewusstseins eines Subjektes (an sich, d. h. in generischer Betrachtung) alle ethische Pflicht und alles erho=te Gute nur ein (von ihm selbst) ideal gesetztes Sollen ist, wird dieser Standpunkt eines schönen, also in seinem Perfektionsideal utopischen Sollens erst verlassen, wenn wir zur gemeinsamen Sittlichkeit als dem wahren Gesamt der real schon etablierten Praxisformen und Institutionen eines gemeinsamen Lebens als Personen und dann gleich auch als Bürger eines (Rechts-) Staates übergehen. C. Die Sittlichkeit § 513 Die Sittlichkeit ist die Vollendung des objektiven Geistes, die Wahrheit des subjektiven und objektiven Geistes selbst. (494) Sittlichkeit ist gemeinsame Vollzugsform. Sie ist der objektive Geist in seiner gesamten Realität und damit in seiner Wahrheit. Voraussetzungen für die Teilnahme einer Person ist das Wissen um Rollen, samt zugehörigen Verpflichtungen (commitments) und Erlaubnisse (entitlements), die Ausbildung entsprechender Gewohnheiten und eine gewisse Selbstdisziplinierung, also Erziehung, Bildung und besonders auch Selbstbildung. Obwohl wir im Normalfall davon ausgehen können und müssen, dass ›alle‹ am gemeinsamen Ethos teilnehmen, es kennen und anerkennen, sind weder Intelligenz und Wissen noch das Vermögen zu Organisation und weiser Leitung von Kooperation wirklich gleich verteilt. Die Einseitigkeit von diesem ist, teils seine Freiheit unmittelbar in der Realität, daher im Äußern, der Sache, teils in dem Guten als einem Abstrakt-Allgemeinen zu haben; die Einseitigkeit des subjektiven Geistes ist, gleichfalls abstrakt gegen das Allgemeine in seiner innerlichen Einzelnheit selbstbestimmend zu sein. (494) Der Mensch, der bloß erst an den Formen des subjektiven Geistes teilnimmt, hält seine Intentionen und Handlungen, sein Denken und freies Wollen (naiv) für unmittelbar. Im guten Fall hat er nur erst gelernt, nach gewissen Verfahren zwischen ›Bösem‹ und ›Gutem‹ 402 402
848 402 Der objektive Geist 494 f. zu unterscheiden. Letzteres ist für ihn das abstrakt Allgemeine einer umfassenden Gemeinschaftlichkeit, nicht das konkret Allgemeine des eigenen gewissenhaften Denkens – als je mein Recht und als je meine Pflicht. Dieses subjektive Moment bleibt in allem gemeinsamen Urteilen und Handeln erhalten. Diese Einseitigkeiten aufgehoben, so ist die subjektive Freiheit als der an und für sich allgemeine vernünftige Wille, der in dem Bewußtsein der einzelnen Subjektivität sein Wissen von sich und die Gesinnung, wie seine Betätigung und unmittelbare allgemeine Wirklichkeit zugleich als Sitte hat, – die selbstbewußte Freiheit zur Natur geworden. (494 f.) Die Einseitigkeit des subjektiven Geistes und der bloß subjektiven Freiheit der eigenen Willkürentscheidung, die sich bloß erst an meinen Präferenzgefühlen (Wünschen, Meinungen und Ho=nungen im momentanen Blick auf mich selbst) orientiert, wird erst dadurch aufgehoben, dass ich mein Tun an einem gemeinsamen vernünftigen Willen orientiere. Dieser ist selbst aber nichts anderes als eine anerkannte Kooperationsform in der Teilung von Arbeit oder Leistung. Dabei kann auch der Blick auf Status und Ehre relevant und sozusagen in Maßen erlaubt sein. Aber er hat sich ausreichend von jeder Ehrsucht fernzuhalten, zumal jede Selbstliebe ihren Lohn schon erhalten hat. Es ist daher nicht nur falsch, sondern ho=nungslos, Ehrsüchtige zu ehren. Generell tendiert man dazu, sich selbst zu gut zu bewerten. Diese Tendenz zur moralischen Selbstüberschätzung ist in ihrer logischen Ambivalenz zu begreifen. Denn einerseits ist es trivialerweise ein Irrtum, wenn alle meinen, in Bezug auf Moral oder Intelligenz besser zu sein als der Durchschnitt – und ihr Tun damit ›entschuldigen‹, dass die meisten anderen schlechter sind als sie. Andererseits zeigt eben diese Form illusionärer ›Selbstentschuldung‹, dass man ›eigentlich‹ die Normen des Wahren, Guten und Perfekten kennt, sogar anerkennt, die eigenen Abweichungen aber damit rechtfertigt, dass ›alle‹ abweichen. »So machen es doch alle, così fan tutte.« »Der Mensch ist von Natur aus selbstsüchtig und brutal.« »Man muss sich wehren.« Das bestätigt erneut, dass Defektion aus den Formen moralischer und rechtscha=ener Kooperation mit allen anderen Personen auch ein Intelligenzproblem ist.
495 Die Sittlichkeit 849 Die selbstbewusste und selbstkontrollierte Freiheit wird im guten Fall zur zweiten Natur des wahren Geistes bzw. der vollen Person im Verhalten, Handeln und in der Haltung oder Hexis. Dazu muss man wissen und anerkennen, dass alles inhaltliche Wissen oder Können der Kultur des gemeinsamen Geistes und seiner Entwicklung zu verdanken ist. Wir sind eben daher dieser Tradition von Ethos und Vernunft verpflichtet. Da es dabei um die gute Fortsetzung des von unseren Vorfahren als Protagonisten schon Geleisteten geht, werden bei den meisten Völkern die Ahnen angerufen – oder man lässt einen göttlichen Vater alle Ahnen generisch vertreten. § 514 Die frei sich wissende Substanz, in welcher das absolute Sollen ebensosehr Sein ist, hat als Geist eines Volkes Wirklichkeit. (495) Der Geist eines Volkes ist nicht mystischer als sein Staat oder sein Recht, sein Wissen und seine Wirtschaft. Alles Sollen mit je mir als konkretem Adressaten für je meinen Lebensvollzug hat nur im Recht des Staates und im Ethos des Volkes sein reales Sein. Die abstrakte Diremtion dieses Geistes ist die Vereinzelung in Personen, von deren Selbständigkeit er die innere Macht und Notwendigkeit ist. (495) Der Einheit eines gemeinsamen Wissens, auch der gemeinsam anerkannten Formvarianten des Zusammenlebens, steht die Vielfalt des subjektiven Denkens, Urteilens und Handelns vereinzelter Personen gegenüber. Dabei sind diese selbständig oder autonom nur vermöge allgemeiner Formen und Inhalte, die als solche präsupponiert sind, gerade im Urteilen über das Wahre und Gute. Die Person aber weiß als denkende Intelligenz jene Substanz als ihr eigenes Wesen, hört in dieser Gesinnung auf, Akzidens derselben zu sein; schaut sie als ihren absoluten Endzweck in der Wirklichkeit sowohl als erreichtes Diesseits an, als sie denselben durch ihre Tätigkeit hervorbringt, aber als etwas, das vielmehr schlechthin ist; so vollbringt sie ohne die wählende Reflexion ihre Pflicht als das Ihrige und als Seiendes und hat in dieser Notwendigkeit sich selbst und ihre wirkliche Freiheit. (495) Als Person (nicht als bloß leibliches Individuum, auch nicht in meiner bloß gefühlsgetragenen Subjektivität) bin ich des Denkens 402 402 f . 403
850 Der objektive Geist 495 fähig und weiß, dass die sittliche Substanz des objektiven Geistes alle meine geistigen Fähigkeiten auf der allgemeinen Ebene (an sich also oder im Prinzip) bestimmt. Indem ich das Ethos der Gemeinschaften, in denen ich lebe, als mein eigenes geistiges Wesen begreife, habe ich keine zufälligen Maximen mehr, die ich in autonomer Machtvollkommenheit des moralischen Gesetzgebers als allgemein gut beurteilen könnte. Dennoch kann und muss ich mich schon in den Anwendungen als kritischen Fortsetzer des mir vorgegebenen Ethos des Sittlichen als Kultur der Vernunft begreifen. 403 403 § 515 Weil die Substanz die absolute Einheit der Einzelnheit und der Allgemeinheit der Freiheit ist, so ist die Wirklichkeit und Tätigkeit jedes Einzelnen, für sich zu sein und zu sorgen, bedingt sowohl durch das vorausgesetzte Ganze, in dessen Zusammenhang allein vorhanden, als auch ein Übergehen in ein allgemeines Produkt. – (495) Die Substanz eines geistigen Lebens im Praktischen ist die »absolute Einheit« der normativen Bedingungen je meiner ausreichend guten Teilnahme an einem gemeinsamen sittlichen Leben mit »der Allgemeinheit der Freiheit« der anerkannten Kooperationsformen. Aus dieser sehr allgemeinen Betrachtung der Freiheit guten bzw. erlaubten Handelns folgert Hegel die ›Pflicht‹, dass normalerweise jede einzelne erwachsene Person nach ihren Möglichkeiten für sich zu sorgen hat, und nur in Ausnahmefällen erwarten darf, dass Andere ihr dabei ›helfen‹. Die Bedingungen »durch das vorausgesetzte Ganze« des Gemeinwesens grenzen allerdings die möglichen Handlungsfreiheiten ein. Sie sorgen aber auch dafür, dass die Arbeit und der Handel der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft am Ende übergehen in ein allgemeines ›Sozialprodukt‹, wie man heute sagt, und damit in eine Masse kollektiver Güter – wobei im Moment noch von allen Problemen einer als ›gerecht‹ oder ›fair‹ qualifizierten bzw. bewerteten Verteilung abstrahiert wird. Die Gesinnung der Individuen ist das Wissen der Substanz und der Identität aller ihrer Interessen mit dem Ganzen, und daß die andern Einzelnen gegenseitig sich nur in dieser Identität wissen und wirklich sind, ist das Vertrauen, – die wahrhafte, sittliche Gesinnung. (495)
496 Die Sittlichkeit 851 Das Wort »Gesinnung« erhält jetzt den hehren Sinn einer im Ganzen ethisch guten Haltung der sittlichen Person. Das ist zunächst nur Definition. Hegel fügt gleich hinzu, dass es sich um das Wissen der Substanz handelt: Ich weiß als geistiges Wesen, dass das Ethos mein Geist ist, wie schon Heraklit: ēthos anthrōpō daimōn (Frgm. B 119). Die transsubjektive Sittlichkeit, nicht die subjektive Moralität und auch nicht die bloß erst intersubjektive Tugend (aretē, virtus) von kleinadligen Vollbürgern, ist für den Menschen, also für uns alle, unser Geist. § 516 Die Beziehungen des Einzelnen in den Verhältnissen, zu denen sich die Substanz besondert, machen seine sittlichen Pflichten aus. Die sittliche Persönlichkeit, d. i. die Subjektivität, die von dem substantiellen Leben durchdrungen ist, ist Tugend. (496) Das Subjekt ist seine präsentische Tätigkeit und damit nur pro forma ein ›Gegenstand‹. Die Person ist im Wesentlichen ein Status normativer Beziehungen des Einzelnen in den sozialen Verhältnissen. In Beziehung auf äußerliche Unmittelbarkeit, auf ein Schicksal, ist die Tugend ein Verhalten zum Sein als nicht Negativem und dadurch ruhiges Beruhen in sich selbst; – in Beziehung auf die substantielle Objektivität, das Ganze der sittlichen Wirklichkeit, ist sie als Vertrauen absichtliches Wirken für dieselbe und Fähigkeit, für sie sich aufzuopfern; – in Beziehung auf die Zufälligkeit der Verhältnisse mit andern zuerst Gerechtigkeit und dann wohlwollende Neigung; in welcher Sphäre und im Verhalten zu ihrem eigenen Dasein und Leiblichkeit die Individualität ihren besondern Charakter, Temperament usf. als Tugenden ausdrückt. (496) Im direkt handelnden Weltbezug gerade auch in Reaktion auf Zufälle ist personale Kompetenz (alias »Tugend«) immer auch Anerkennung von Kontingenz und haltungsförmige Gelassenheit. Das schöne Wort geht auf den großen Meister Eckhart zurück; die Sache aber steht auch im Zentrum buddhistischen und taoistischen Wissens und entsprechender Praktiken. Wem Gelassenheit fehlt, der hat in der Regel ein personales Entwicklungsdefizit. 403 403 § 517 Die sittliche Substanz ist 404
852 Der objektive Geist 496 a. als unmittelbarer oder natürlicher Geist, – die Familie; b. die relative Totalität der relativen Beziehungen der Individuen als selbständiger Personen aufeinander in einer formellen Allgemeinheit, – die bürgerliche Gesellschaft; c. die selbstbewußte Substanz als der zu einer organischen Wirklichkeit entwickelte Geist, – die Staatsverfassung. (496) Die sittliche Substanz ist allgemeine Rahmenform zunächst der Bildung, dann des Seins der Person. Sie besteht zunächst aus den unmittelbaren Formen und Normen der natürlichen Geistkultur der Familie oder auch schon eines Clans (a). Das Gesamt der (freien) personalen Relationen zu anderen »Individuen als selbständige[n] Personen« ist die bürgerliche Gesellschaft (b). Diese bestünde nur aus eigeninteressierten Interaktionen zwischen einzelnen Menschen, wenn der normative ›staatliche‹ Rahmen des Rechts und der Sicherung kooperativer Institutionen fehlte (c). Die »selbstbewußte Substanz« als gemeinsam praktisch und partiell bewusste nachhaltige Organisation und Ordnung gesellschaftlicher Kooperation ist also die Staatsverfassung. Es ist zwar zunächst egal, in welcher Form sie realisiert ist; aber seit der Entwicklung des Christentums wird mehr und mehr weltweit klar, dass es sich um eine freiheitliche Rechtsordnung handeln muss. Das geht über den Einflussbereich der organisierten christlichen Kirchen weit hinaus. Denn die Einsicht, dass die absolute Subjektivität und Heiligkeit der Person und eben damit die sogenannten Menschenrechte staatlich zu schützen sind, hängt längst nicht mehr an der Mitgliedschaft in einem der christlichen Bekenntnisse. Aber ihre Explikation und Umsetzung gibt es weder in Geschichte noch Gegenwart ohne diese Herkunft. a. Die Familie 404 § 518 Der sittliche Geist als in seiner Unmittelbarkeit enthält das natürliche Moment, daß das Individuum in seiner natürlichen Allgemeinheit, der Gattung, sein substantielles Dasein hat, – das Geschlechtsverhältnis, aber erhoben in geistige Bestimmung; – die Einigkeit der Liebe und der Gesinnung des Zutrauens; – der Geist ist als Familie empfindender Geist. (496 f.)
Die Sittlichkeit 853 Hier wird der Fokus auf das Personwerden des Individuums und damit die geistige Entwicklung des Menschen deutlicher als in der Rechtsphilosophie. Es stehen Vertrauen und ›Liebe‹ mehr im Zentrum. Dabei gehen das Selbstvertrauen als ›Zutrauen‹ in die eigenen Fähigkeiten und das empraktische Selbstbewusstsein des eigenen Status in der Personengemeinschaft sozusagen Hand in Hand, damit auch die Selbstanerkennung und freie Anerkennung durch andere. Dabei wäre wieder jeder ›Kampf um Anerkennung‹ kontraproduktiv. Die Liebe oder Solidarität familialer Nahverhältnisse ergibt sich zunächst normalerweise aus ›natürlichen‹ Bedingungen nachhaltiger Nähe. Die soziale Umformung der Sexualität und des Geschlechterverhältnisses in die sozialen Normalfallrollen in der (Kern-)Familie führte gerade im Rahmen der Agrikultur sesshafter Siedler zur nachhaltigen Lebensform der Ehe. Diese ist ›gesellschaftlich‹ überformt durch das ökonomische Eigentumsregime der Familien. Der kommunitarische Geist der (Groß-)Familie ist aber nur erst der empfindende Geist einer noch relativ unmittelbaren Transformation von Begehren und Befriedigung in Liebe und Erfüllung. Diese Erfüllungen betre=en Formen und Normen eines freien kooperativen Zusammenlebens. Hier bedeutet das Wort »frei« unter anderem, dass weniger Rechtsnormen einer formellen Institution als moralische Formen freien Zusammenlebens die zentrale Rolle spielen (sollten). Daher ist schlimmstenfalls ein kurzfristiger Ausschluss aus der freien Teilnahme an familialem ›Spielen‹ und ›Arbeiten‹ zulässiges ›Sanktionsmittel‹ pädagogischer Erziehung. Alle geistigen Bestimmungen erweisen sich als sozial überformte Bestimmungen. Die Psychologie des erwachsenen Lebens (samt allen zugehörigen Psychopathologien) ist daher im Unterschied zur Protopsychologe einer di=erenziellen Anthropologie, pädagogischen Entwicklungspsychologie und Neurophysiologie insgesamt eine Art Mikrosoziologie und damit Sozialpsychologie im weiteren Sinne.
854 404 404 404 Der objektive Geist 497 § 519 1) Der Unterschied der natürlichen Geschlechter erscheint ebenso zugleich als ein Unterschied der intellektuellen und sittlichen Bestimmung. (497) Die Lebensgemeinschaft der Groß- und der Kleinfamilie hat sich im Zuge der Übernahme sehr vieler ihrer Funktionen gerade durch den Staat zum Teil emanzipiert von der Fokussierung auf Nachkommen samt Haus und Hof – mit massiven Folgen für das kulturelle Geschlechterverhältnis nicht nur zwischen Mann und Frau. In einer modernen, vom Staat wesentlich organisierten Angestelltengesellschaft löst sich der von Hegel noch diagnostizierte Standard der Arbeits- und Rechteverteilung in der Geschlechterfamilie weltweit langsam auf. Diese war ja Ursache für den als generisch-allgemein oder Standard gesetzten »Unterschied der intellektuellen und sittlichen Bestimmung« der Geschlechter. Von der heutigen Gesellschaft her gesehen sind daher Hegels Analysen trivialerweise material veraltet. Diese Persönlichkeiten verbinden sich nach ihrer ausschließenden Einzelnheit zu Einer Person; die subjektive Innigkeit zu substantieller Einheit bestimmt, macht diese Vereinung zu einem sittlichen Verhältnisse, – zur Ehe. (497) Die Ehe bleibt aber heute noch und auch in gleichgeschlechtlichen Fällen ein Projekt der dauerhaften Verbindung zweier Persönlichkeiten in einem nachhaltigen Lebensprojekt zu einer institutionellen Person – und das nicht etwa nur für die Finanzbehörden. Hegel nennt ganz richtig die »subjektive Innigkeit« und das sittliche Verhältnis als Bindekraft. Die substantielle Innigkeit macht die Ehe zu einem ungeteilten Bande der Personen, – zu monogamischer Ehe; die körperliche Vereinigung ist Folge des sittlich geknüpften Bandes. Die fernere Folge ist die Gemeinsamkeit der persönlichen und partikulären Interessen. (497) Die Monogamie ergibt sich also nur partiell aus den Aufgaben der Kindererziehung und den Regeln der Vererbung von Eigentum. Weit allgemeiner ist das Interesse an der zeitlichen Stabilität der Bindung.
497 f. Die Sittlichkeit 855 § 520 2) Das Eigentum der Familie als Einer Person erhält durch die Gemeinschaft, in der in Beziehung auf dasselbe gleichfalls die verschiedenen Individuen, welche die Familie ausmachen, stehen, wie der Erwerb, die Arbeit und Vorsorge, ein sittliches Interesse. (497) Die Familie hat zunächst alles Eigentum im Erwerb und in der Nutzung, auch für die Vorsorge, sozusagen binnenkommunistisch gemeinsam. Hegels Rede vom sittlichen Interesse meint hier diesen an sich freien, realiter aber bis in die Gegenwart weltweit patriarchalisch verwalteten Kommunitarismus familialen Lebens auch noch in Großfamilien und Clans. § 521 Die mit der natürlichen Erzeugung der Kinder verbundene, zunächst als ursprünglich (§ 519) im Schließen der Ehe gesetzte Sittlichkeit realisiert sich in der zweiten Geburt der Kinder, der geistigen, – der Erziehung derselben zu selbständigen Personen. (497) Hegel deutet die Ehe hier allzu einseitig als institutionellen Rahmen der Bildung der Nachkommen zu vollen Personen. Das Eheversprechen wird nach dieser Auffassung in der Erziehung der Kinder realisiert. Viele urteilen bis heute so – z. B. in der Bewertung von Ehescheidungen aus der Sicht der Kinder. § 522 3) Durch diese Selbständigkeit treten die Kinder aus der konkreten Lebendigkeit der Familie, der sie ursprünglich angehören, sind für sich geworden, aber bestimmt, eine neue solche wirkliche Familie zu stiften. (497 f.) Ziel von Erziehung und Bildung ist geistige Selbständigkeit, wobei der Austritt aus der alten Familie in Hegels Normalfall mit dem Eintritt in eine neue zusammenfällt. Der Auflösung geht die Ehe wesentlich durch das natürliche Moment, das in ihr enthalten ist, den Tod der Ehegatten zu; aber auch die Innigkeit, als die nur empfindende Substantialität, ist an sich dem Zufall und der Vergänglichkeit unterworfen. Nach dieser solcher Zufälligkeit geraten die Mitglieder der Familie in das Verhältnis 404 f . 405 405 405
856 Der objektive Geist 498 von Personen gegeneinander, und damit erst treten, was diesem Bande an sich fremd ist, rechtliche Bestimmungen in dasselbe ein. (498) In der traditionellen Auffassung der Familie sind Eingri=e in ihre innere Autonomie durch den Staat im Normalfall ausgeschlossen. Heute wird die Erfüllung der elterlichen Pflichten dennoch mehr und mehr auch staatlich, früher bestenfalls gesellschaftlich durch Kirche und religiöse Gemeinde kontrolliert. Ein formales Eherecht wurde praktisch nur im Erbfall und im Fall einer Ehescheidung relevant: Nicht jedes Eheprojekt glückt. In stiller Bezugnahme auf die für das plurale Subjekt des Wir der Eheleute immer auch relevanten erotischen Bindung spricht Hegel von einer ›Innigkeit‹ der Beziehung der Partner. Diese sei aber ebenfalls »dem Zufall und der Vergänglichkeit unterworfen«, liege also nicht ganz in der Macht des immer auch bloß distributiv-gemeinsamen Wollens der Ehepartner. b. Die bürgerliche Gesellschaft 405 § 523 Die Substanz, als Geist sich abstrakt in viele Personen (die Familie ist nur Eine Person), in Familien oder Einzelne besondernd, die in selbständiger Freiheit und als Besondere für sich sind, verliert zunächst ihre sittliche Bestimmung, indem diese Personen als solche nicht die absolute Einheit, sondern ihre eigene Besonderheit und ihr Fürsichsein in ihrem Bewußtsein und zu ihrem Zwecke haben, – das System der Atomistik. Die Substanz wird auf diese Weise nur zu einem allgemeinen, vermittelnden Zusammenhange von selbständigen Extremen und von deren besondern Interessen; die in sich entwickelte Totalität dieses Zusammenhangs ist der Staat als bürgerliche Gesellschaft, oder als äußerer Staat. (498) Hegels Ausdrucksweise ist gerade wegen des Gebrauchs des Wortes »Substanz« (griechisch: »ousia«) zumindest gewöhnungsbedürftig. Gemeint ist der Geist als nachhaltige ›personale‹ Seinsform gemeinsamen Lebens. Familien, Freundschaften, Gemeinden auch Schule, Wissenschaft, Berufsstände etc. haben eine ethische Binnenstruktur. In der (Rede von der) Gesellschaft wird von jeder sittlich-normativen Struktur dieser Art abstrahiert. Die Gesellschaft der
498 f. Die Sittlichkeit 857 Leute erscheint als Menge von Einzelindividuen. Ihr einziges Beziehungssystem ist das des Marktes, also des Tauschens, Kaufens und Verkaufens von Gütern und Leistungen. Nur das meint Hegels Rede von einem ›Verlust‹ ihrer ›sittlichen Bestimmung‹. Es scheint daher dem methodologischen Individualismus in den empirischen Sozialwissenschaften so, als müssten alle sozialen Relationen allererst im Verhalten und ggf. durch vertragsähnliche Abmachungen konstruiert werden. Dieser sozialkonstruktivistischen Betrachtung zufolge handelt jedes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, jeder bourgeois, je nur für sich. Er verfolgt je seine Zwecke. Hegel spricht vom »System der Atomistik« als einem Blick auf die Gesellschaft, wie wir ihn von Thomas Hobbes her kennen. Ein gemeinsames Wollen gibt es dann nur in zufälligen Koordinationen von einzelnem Wollen (1), über Verträge (2) oder in anerkennenden Duldung einer Herrschaft durch die Untertanen (3). Eine so verstandene bürgerliche Gesellschaft nennt Hegel den äußeren Staat. α) Das System der Bedürfnisse § 524 1) Die Besonderheit der Personen begreift zunächst ihre Bedürfnisse in sich. Die Möglichkeit der Befriedigung derselben ist hier in den gesellschaftlichen Zusammenhang gelegt, welcher das allgemeine Vermögen ist, aus dem alle ihre Befriedigung erlangen. Die unmittelbare Besitzergreifung (§ 488) von äußern Gegenständen als Mitteln hiezu findet in dem Zustande, worin dieser Standpunkt der Vermittlung realisiert ist, nicht mehr oder kaum statt; die Gegenstände sind Eigentum. Deren Erwerb ist durch den Willen der Besitzer, der als besonderer die Befriedigung der mannigfaltig bestimmten Bedürfnisse zum Zwecke hat, einerseits bedingt und vermittelt, sowie andererseits durch die immer sich erneuernde Hervorbringung austauschbarer Mittel durch eigene Arbeit; diese Vermittlung der Befriedigung durch die Arbeit Aller macht das allgemeine Vermögen aus. (498 f.) Es ist es nicht Aufgabe der Philosophie, sondern der Gesellschaftsund Staatswissenschaften, ein Detailwissen über die Formen des Zusammenlebens zu entwickeln. Das ›Wissen‹ der Philosophie ist 406
858 Der objektive Geist das einer artikulierten strukturellen Übersicht über grundlegende Formen. So wenig wie in der Kartographie sind hier ›Behauptungen‹ zu ›begründen‹. Die Richtigkeit der Übersicht zeigt sich im praktischen Allgemeinwissen, das immer auch eine Art Vorherwissen ist. Politische Aktionen zu organisieren, Institutionen zu gründen, die Welt des Staates und des Rechts, der Gesellschaft und ökonomischen Ordnung zu verändern, ist weder Aufgabe der Philosophie noch der Wissenschaften. Marx sagt damit in der berühmten 11. Feuerbachthese, ohne es zu wissen, dasselbe wie schon Hegel, aber ohne genauer auf die Arbeitsteilung zwischen (Sozial-)Philosophie, (Sozial-)Wissenschaft und (Sozial-)Politik einzugehen. Die besondere private Sorge der Personen betri=t zunächst ihre eigenen Bedürfnisse und ihre Befriedigung. Eine unmittelbare Besitzergreifung von äußeren Gegenständen oder eine ursprüngliche Appropriation etwa von Land (wie sie auch Kant diskutiert) gibt es heute kaum mehr. Hegel erläutert das schön lakonisch: »die Gegenstände sind Eigentum.« Die Welt ist längst verteilt. Wir sind auf Verträge, Arbeitsteilung und Tausch- bzw. Geldhandel angewiesen. Das war im Grunde schon damals so, trotz der gerade erst anlaufenden Landnahmen der Weißen besonders in den Amerikas.115 Dinge und Sachen können in einem rechtsförmigen Staat gewaltfrei nur erworben werden, wenn die Besitzer einem Kauf, Tausch oder einer Schenkung zustimmen. Dazu muss der Käufer Tauschgegenstände bzw. anerkanntes Geld als deren Vertreter besitzen oder sich durch Arbeit scha=en. Das Gesamtprodukt der Arbeit macht neben Berechtigungen auf natürliche Ressourcen das Gesamtvermögen einer Gesellschaft aus. Hegels globaler Blick, den dann auch Engels und Marx übernehmen, betrachtet wie schon Adam Smith das gesamtgesellschaftliche Vermögen im Sinne aller Ressourcen, aus denen »alle ihre Befriedigung erlangen«. 115 In der Kolonisierung Afrikas und Asiens durch die europäischen Mächte und dann auch die USA geht es einerseits um erzwungene Handelsmonopole und Oberherrschaften, aber auch um die Expropriation nomadischer Völker und andere Formen gewaltgestützter Landnahmen von Siedlern.
499 Die Sittlichkeit 859 § 525 2) In die Besonderheit der Bedürfnisse scheint die Allgemeinheit zunächst so, daß der Verstand an ihnen unterscheidet und dadurch sie selbst wie die Mittel für diese Unterschiede ins Unbestimmte vervielfältigt und beides immer abstrakter macht; diese Vereinzelung des Inhalts durch Abstraktion gibt die Teilung der Arbeit. (499) Die Allgemeinheit des Gesamtvermögens spiegelt sich darin, dass ›alles‹ mit Geld gekauft werden kann. Kauf und Tausch regeln die Teilhaberechte am Gesamtvermögen. Diese werden damit zu etwas Allgemeinem. Vermöge der Geldwertäquivalenz repräsentieren Dinge und Sachen abstrakte ›Werte‹. Dabei interessiert uns hier die zentrale Frage von Marx im Nachgang zu Locke (noch) nicht, ab wann man im Fall verkaufter Dienstleistungen (nach erbrachter Leistung oder zuvor über ein vertraglich abgesichertes ›Versprechen‹) von einem Kauf der Ware Arbeitskraft sprechen kann oder soll – und was daraus ethisch folgt. Die Gewohnheit dieser Abstraktion im Genusse, Kenntnis, Wissen und Benehmen macht die Bildung in dieser Sphäre, – überhaupt die formelle Bildung aus. (499) Die abstrakten Gegenstände und Werte, über welche wir in unseren reflexionslogischen Ausdrucksformen sprechen, sind immer auch schon durch ein reales Tun und die Formen gemeinsamer Praxis bestimmt. Damit begreifen wir die sonst ganz obskure Rede von einer Realabstraktion. Hegels Rede von einer Gewohnheit der Abstraktion wie im aktualen Kauf oder Tausch steht in eben diesem Sinn im Gegensatz zu einer bloßen Verbalabstraktion, wie wir sie am schönsten an der rein symbolischen Konstitution der reinen Zahlen und Mengen sehen können. § 526 Die damit zugleich abstraktere Arbeit führt einerseits durch ihre Einförmigkeit auf die Leichtigkeit der Arbeit und die Vermehrung der Produktion, andererseits zur Beschränkung auf Eine Geschicklichkeit und damit zur unbedingtern Abhängigkeit von dem gesellschaftlichen Zusammenhange. (499) Die durch äquivalente Zerlegung von Arbeit in partiell fast schon rein schematisch ausführbare Arbeitsschritte ermöglicht eine e;zien- 406 406 406
860 406 f . 407 Der objektive Geist 499 te und zugleich professionelle Teilung der Arbeit. Wie der Tauschwert in der Praxis der Geldwertbestimmung wird die Arbeitsleistung selbst zu einem abstrakten Teilmoment einer komplexen Kooperation in der Herstellung und im Tausch von Gütern. Das führt, wie schon Platon in seiner Betrachtung antiker Manufakturen sieht, durch fortschreitende Arbeitserleichterung zu einer Vermehrung der Produktion und zur Spezialisierung und Professionalisierung besonderer intellektueller und technisch-praktischer Fähigkeiten. Zugleich steigt natürlich auch die »Abhängigkeit von dem gesellschaftlichen Zusammenhange«. Die Geschicklichkeit selbst wird auf diese Weise mechanisch und bekommt die Fähigkeit, an die Stelle menschlicher Arbeit die Maschine treten zu lassen. (499) Die Mechanisierung der Arbeit, die heute in der Digitalisierung nur eine weitere Spirale dreht, wird zugleich über- und unterschätzt. Sie macht es möglich, dass immer mehr menschliche Arbeit durch Maschinen verrichtet wird. Damit wird die Arbeit verlagert in die Richtung der Erweiterung von Wissen und der Entwicklung intelligenter Organisation gerade auch in einer Dienstleistungsgesellschaft. Wir sind aber keineswegs auf dem Weg zu einer weitgehend ›arbeitsfreien‹ Konsumgesellschaft, pace Marx. Es steigen nicht nur Ansprüche, sondern auch Probleme der Verteilung von Arbeit, Gütern und Leistungen, nicht zuletzt wegen des weltweiten Bevölkerungswachstums und der globalen Krisen des Klimas und des Naturschutzes. § 527 3) Die konkrete Teilung aber des allgemeinen Vermögens, das ebenso ein allgemeines Geschäft ist, in die besondern, nach den Momenten des Begri=s bestimmten Massen, welche eine eigentümliche Subsistenzbasis und im Zusammenhange damit entsprechende Weisen der Arbeit, der Bedürfnisse und der Mittel ihrer Befriedigung, ferner der Zwecke und Interessen sowie der geistigen Bildung und Gewohnheit besitzen, macht den Unterschied der Stände. – (499 f.) Hegel selbst sagt hier, dass »die konkrete Teilung« der Güter ein zentrales Problem darstellt, so dass wir gut daran tun, die Leistungen von Handel und Verkehr, Markt und Informationsübertragung nicht zu unterschätzen. Denn die Strukturen selbst der reichsten
500 Die Sittlichkeit 861 Gesellschaft reichen nicht aus, um Erwerbslosigkeit zu verhindern, wie Hegel an anderen Stellen noch klarer sagt. Es ergibt sich aber immer ein Unterschied der Berufsstände. Als seine Folgen kennen wir die Gliederungen der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände unter Einschluss z. B. auch von einem ›Bauernverband‹ oder einem ›Beamtenbund‹. Die Individuen teilen sich denselben nach natürlichem Talent, nach Geschicklichkeit, Willkür und Zufall zu. Solcher bestimmten, festen Sphäre angehörig, haben sie ihre wirkliche Existenz, welche als Existenz wesentlich eine besondere ist, und in derselben ihre Sittlichkeit als Rechtscha=enheit, ihr Anerkanntsein und ihre Ehre. (500) Die Ehre der Professionalität und ein guter Ruf sind in einem freien meritokratischen Gemeinwesen nicht in ihrer Bedeutung zu unterschätzen. Der gute Ruf war dabei schon in der Antike Urbild und Spiegelbild der conscientia gewesen, also des Gewissens im Sinne eines gemeinsam-allgemeinen, nicht nur privat-subjektiven Mit-Wissens über Bewertungen der Personen. Wo bürgerliche Gesellschaft und damit Staat vorhanden ist, treten die Stände in ihrem Unterschiede ein; denn die allgemeine Substanz als lebendig existiert nur, insofern sie sich organisch besondert; die Geschichte der Verfassungen ist die Geschichte der Ausbildung dieser Stände, der rechtlichen Verhältnisse der Individuen zu denselben und ihrer zueinander und zu ihrem Mittelpunkte. (500) Hegels Wort »organisch« meint, ich wiederhole das, nur eine gute Organisation, so dass man die biologische Metapher nicht überinterpretieren sollte. Hier ist klar artikuliert, dass es eine funktionstüchtige, nachhaltige bürgerliche Gesellschaft nicht ohne Staat gibt. Bloße Mengen von Individuen bilden noch keine Gesellschaft, obwohl man das in der Soziologie aufgrund der Vorstellungen des methodischen Individualismus im unbewussten Nachgang zu Hobbes häufig unterstellt. Clans, Stämme und Stammesverbände sind ebenfalls noch keine Gesellschaft, obwohl z. B. die Irokesen schon Proto-Staaten bildeten und die Azteken oder Inkas echte Staaten mit echter Gesellschaft. Staat und Gesellschaft im engeren Sinn gibt es also nur vermöge einer Ausdi=erenzierung der Rollen und Status von Personen und pluralen Subjekten, also von nichtnatürlichen, institutionellen Personen wie Familien, Firmen oder Korporationen. Wir haben dann nicht nur 407 407 k
862 Der objektive Geist 500 die schon genannten Berufsstände zu betrachten, sondern auch Institutionen wie Schulen und Institute aller Art. Nur in Bezug auf diese Ausdi=erenzierungen setzt sich auch in der Einzelperson eine Vielfalt von Rollen und Status zusammen. So kann z. B. eine Politikerin vielfache Mutter (a), Rechtsanwältin (b), Wissenschaftlerin (c), und Unternehmerin (d) sein, aktives Mitglied einer Kirche (e), Mitglied oder Vorstand in Vereinen und Verbänden (f) mit ehrenamtlichen Funktionen und Aufgaben (g) und sogar noch Künstlerin (h) etwa in der Freizeit etc. In diesem Sinn existiert die »allgemeine Substanz« der Person in den Institutionen, an denen sie (aktiv) teilnimmt. Diese wiederum existieren nur durch die nachhaltige Form einer Kooperation ihrer Mitglieder oder Teilnehmer. Die Geschichte der menschlichen Welt und damit des Geistes ist Geschichte ihrer institutionellen Verfasstheiten. Sie ist als solche Geschichte der Ausbildung der politischen, technisch-praktischen, organisationsökonomischen und frei kulturellen, etwa wissensbezogenen, religiösen bzw. kirchlichen Stände. Für diese gibt es im Staat bzw. den Institutionen besondere rechtliche Verhältnisse. 407 § 528 Der substantielle, natürliche Stand hat an dem fruchtbaren Grund und Boden ein natürliches und festes Vermögen, seine Tätigkeit erhält ihre Richtung und Inhalt durch Naturbestimmungen, und seine Sittlichkeit gründet sich auf Glauben und Vertrauen. (500) Großbereiche gesellschaftlicher Stände sind bei Platon und dann übrigens auch bei Martin Heidegger drei: der ›Nährstand‹ der Agrikultur, der ›Lehrstand‹ des Erziehungs- und Bildungswesens, zu dem im Grunde auch alles Kirchliche, alle Seelsorge gehört, und der ›Wehrstand‹ der Sicherheitskräfte, der Polizei und des Militärs, später dann auch das gesamte System der Rechtspflege und Strafverfolgung. Während zu Lebzeiten Heideggers diese Einteilung im Grunde schon anachronistisch ist, schreibt Hegel noch in einer Zeit, in der die große Mehrheit der Bevölkerung dem natürlichen Stand der Agrikultur samt Jagd und Fischerei angehört. Hegel betont daher die Bedeutung eines nachhaltigen Eigentums- und Nutzungsrechtsregimes nicht zuletzt wegen der zeitlich langen und arbeitsintensiven Investitionen in Grund, Boden und Hof. Die Nahrungsmittelprodukti-
500 Die Sittlichkeit 863 on bildet zwar die materiale Grundlage der Gesellschaft und macht das Vermögen des Bauernstandes aus. Die Sittlichkeit dieses Standes, sagt Hegel, »gründet sich auf Glauben und Vertrauen«. Mitgemeint ist die Rechtssicherheit von Eigentum und Besitz (auch von Pächtern). Daher rühre auch die bekannte A;nität der Bauern zu einer kirchlich organisierten Religion. Im Merkantilismus wurde der ›Nährstand‹ in seiner Gesamtbedeutung für die Arbeitsteilung überschätzt. Im weltweiten Gütertausch wird die lokale Produktion an Nahrungsmitteln immer unwichtiger und im Bruttosozialprodukt am Ende fast marginalisiert. Das ist die höchst allgemeine Ursache dafür, dass in der Gegenwart nur staatliche Subventionen in der Lage sind, besondere Interessen wie lokalen Naturschutz und relative Autarkie gegen die Abhängigkeiten von einem immer auch unsicheren globalen Markt durchzusetzen. Der zweite, der reflektierte Stand ist auf das Vermögen der Gesellschaft, auf das in Vermittlung, Vorstellung und in ein Zusammen der Zufälligkeiten gestellte Element, und das Individuum auf seine subjektive Geschicklichkeit, Talent, Verstand und Fleiß angewiesen. (500) Anders als Platon und Heidegger versammelt Hegel in seinem reflektierten Stand alle instrumentelle Professionalität, von Handwerkern und Händlern bis zu Technikern und Ingenieuren. Hier herrschen »Geschicklichkeit, Talent, Verstand und Fleiß«. Der dritte, denkende Stand hat die allgemeinen Interessen zu seinem Geschäfte; wie der zweite hat er eine durch die eigene Geschicklichkeit vermittelte und wie der erste eine aber durch das Ganze der Gesellschaft gesicherte Subsistenz. (500) Seinen dritten Stand nennt Hegel den denkenden Stand. Er umfasst alle Verwaltung, Schulung und Seelsorge, also alles, was Staat, Kultur, Medien und Kirche leisten. Zwar müssen auch Chemiker, Physiker oder Architekten denken. Heute meint man sogar, dass man nur in den sogenannten MINT-Fächern denken können müsse, also in der Mathematik, der Informatik, den Natur- und Technikwissenschaften. Hegel meint mit »Denken« hier aber ein ›nachdenkendes‹ Handeln in den basalen Institutionen und Organisationen des Staates und des Rechts, in Wissenschaft 407 407
864 Der objektive Geist 501 und Religion, Kunst und Kultur, zu der wir auch alle Medien zählen müssen. Die unterstützenden Wissenschaften dieses ›Nachdenkens‹ sind die Wissenschaften des Geistes, zu denen die Geschichts-, Textund Sprachwissenschaften ebenso gehören wie die Wirtschafts-, Gesellschafts- und Staatswissenschaften. Werden diese angemessen betrieben, sind sie zusammen mit der Philosophie und pädagogischen Psychologie für die allgemeinen Interessen des Gemeinwesens, die ö=entlichen Angelegenheiten des Staates und damit unser Leben mindestens so bedeutsam wie die Technik- und Naturwissenschaften. Sie gehören zu den Grundlagen einer republikanischen, damit auch demokratischen Verfassung von Gesellschaft und Staat. β) Die Rechtspflege 408 § 529 Das Prinzip der zufälligen Besonderheit, ausgebildet zu dem durch natürliches Bedürfnis und freie Willkür vermittelten Systeme, zu allgemeinen Verhältnissen desselben und einem Gange äußerlicher Notwendigkeit, hat in ihm als die für sich feste Bestimmung der Freiheit zunächst das formelle Recht. (501) Hegel legt großes Gewicht auf die Bedeutung des Prinzips »der zufälligen Besonderheit« von konventionellen Regelungen der Lösung von Kooperationsproblemen. Diese Probleme entstehen schon aus der nötigen Koordination des Handelns der Einzelpersonen. Verträge und Abmachungen etwa über Zugri=srechte auf Ressourcen sind immer auch von freier Willkür abhängig. Im kantischen Ansatz der Moral liegt die falsche Unterstellung verborgen, es gäbe jeweils nur eine beste Lösung, die jeder durch Nachdenken über die Verallgemeinerbarkeit der Erlaubtheit seiner Maxime oder Handlungsform herausfinden könne. Praktische Vernunft wird so zu einem moralischen Gesetz in mir. Wir haben schon gesehen, dass dieses ›Gesetz‹ nur eine Kohärenz von Sagen und Tun zur Folge hätte, aber an den faktischen, geschichtlichen, immer auch pfadabhängigen Lösungen von Koordinationsund Kooperationsproblemen durch das Ethos unserer Institutionen blind vorbeigeht. Daher müssen wir unbedingt zwischen der bloßen Moralität eines bloß erst ›guten Willens‹ zur Kooperation und der rea-
501 Die Sittlichkeit 865 len Anerkennung der objektiv gesetzten und partiell in ihrer konkreten Ausprägung auch zufälligen oder scheinbar willkürlichen Normen der Sittlichkeit, dabei besonders des positiven Rechts, unterscheiden. Es gibt häufig mehrere ›gleich gute‹, aber untereinander unverträgliche institutionelle Lösungen von Kooperationsproblemen. Es gibt außerdem die genannte Pfadabhängigkeit vernünftiger Fortentwicklungen gegebener Institutionen, so dass mit einer gewissen Kontingenz geschichtlicher Gegebenheiten souverän umzugehen ist. Drittens liegt sehr häufig eine tiefere Vernunft in den faktischen Anerkennungen und Fortschreibungen eines tradierten Normensystems, als sich das eine unmittelbare moralische Kritik mit ihren häufig utopischen Forderungen nach revolutionären Veränderungen auch nur vorstellen kann. Transsubjektivität ist durch den guten Willen (Kant) oder das Mitleiden (Schopenhauer) der bloß erst schönen Seele nicht zu erhalten. Eines der Hauptprobleme des sogenannten moralischen Standpunkts liegt daher in der Nichtanerkennung von Kontingenz in den zum Teil willkürlichen Entscheidungen bei der Formulierung und Setzung von Gesetzen.116 1) Die dem Rechte in dieser Sphäre verständigen Bewußtseins zukommende Verwirklichung ist, daß es als das feste Allgemeine zum Bewußtsein gebracht, in seiner Bestimmtheit gewußt und gesetzt sei als das Geltende; – das Gesetz. (501) Das positive Recht ist in seinen Bestimmungen als gesetzt bekannt und im normalen bzw. guten Fall allgemein anerkannt. Das Positive der Gesetze betri=t nur ihre Form, überhaupt als gültige und gewußte zu sein, womit die Möglichkeit zugleich gegeben ist, von Allen auf gewöhnliche äußerliche Weise gewußt zu werden. Der Inhalt kann dabei an sich vernünftig oder auch unvernünftig und damit unrecht sein. (501) 116 Nur manche Kooperationsprobleme sind im freien Konsens und in diesem Sinn ›kommunitarisch‹ zu lösen. Wir kennen nämlich die Risiken freier Kooperation gerade auch im Blick auf die Probleme des Umgangs mit Trittbrettfahrern und allen Formen der Gewinnmitnahme. Die im Prinzip berechtigten Forderungen nach Kontrollen und Sanktionsdrohungen stehen andererseits immer auch in Spannung zu ihren Kosten. 408 408 k
866 408 k Der objektive Geist 501 f. Gesetze des positiven Rechts können in ihrem besonderen Inhalt unvernünftig und ungerecht sein, etwa dann, wenn sie die Prinzipien eines Rechtsstaates, der Menschenrechte oder der Würde der Person nicht angemessen berücksichtigen. (Physikalische oder chemische ›Gesetze‹, die als Hypothesen nur erst Vorschläge für eine Kanonisierung sind, können natürlich ebenfalls falsch sein, wie die Phlogistontheorie, oder so betrügerisch wie Lyssenkos Epigenetik.) Das Positive der Gesetze betri=t also nur »ihre Form« und das heißt bei Hegel hier: die äußere Form gesetzter Formulierungen von Regeln und Urteilen. Wichtig wird das Moment des Positiven, weil es die allgemeine Kenntnis der geltenden Gesetze und die gemeinsame Kontrolle ihrer Vernünftigkeit sowie ihre allgemeine Anerkennbarkeit allererst möglich macht. Aber indem das Recht als im bestimmten Dasein begri=en ein entwickeltes ist und sein Inhalt sich, um die Bestimmtheit zu gewinnen, analysiert, so verfällt diese Analyse wegen der Endlichkeit des Sto=es in den Progreß der schlechten Unendlichkeit; die schließliche Bestimmtheit, die schlechthin wesentlich ist und diesen Progreß der Unwirklichkeit abbricht, kann in dieser Sphäre des Endlichen nur auf eine mit Zufälligkeit und Willkür verbundene Weise erhalten werden; ob drei Jahre, 10 Taler usf. oder nur 21/2, 23/4, 24/5 usf. Jahre, und so fort ins Unendliche, das Gerechte wäre, läßt sich auf keine Weise durch den Begri= entscheiden, und doch ist das Höhere, daß entschieden wird. So tritt von selbst, aber freilich nur an den Enden des Bestimmens, an der Seite des äußerlichen Daseins, das Positive als Zufälligkeit und Willkürlichkeit in das Recht ein. Es geschieht dies und ist in allen Gesetzgebungen von jeher von selbst geschehen; es ist nur nötig, ein bestimmtes Bewußtsein hierüber zu haben gegen das vermeinte Ziel und Gerede, als ob nach allen Seiten hin das Gesetz durch Vernunft oder rechtlichen Verstand, durch lauter vernünftige und verständige Gründe, bestimmt werden könne und sollte. Es ist die leere Meinung von Vollkommenheit, solche Erwartung und Forderung an die Sphäre des Endlichen zu machen. (501 f.) Hegel kopiert hier Passagen aus der Rechtsphilosophie, wobei er vieles einfach weglässt. Für uns ist nur wichtig, dass auch im besten Fall jedes Gesetz in der Anwendung den Richtern einen großen Spielraum des freien Entscheidens im Rahmen der immer nur grob
502 Die Sittlichkeit 867 formulierten Rechtssätze lassen muss – was von uns eine robuste Anerkennung und den Verzicht auf eine allzu fein granulierte Kritik an den richterlichen Urteilen und Gesetzen verlangt, jedenfalls außerhalb von Biertisch, Meinungsseite, Blogs, Tweets und anderen Formen politischer Rhetorik. Es ist schlicht nie ein ›vollkommen gerechtes‹ Urteil ohne Zufall und Willkür und ein völlig ›angemessenes‹ Strafmaß etwa auch in quantitativen Maßen möglich. Diejenigen, welchen Gesetze sogar ein Übel und Unheiliges sind, und die das Regieren und Regiertwerden aus natürlicher Liebe, angestammter Göttlichkeit oder Adeligkeit, durch Glauben und Vertrauen für den echten, die Herrschaft der Gesetze aber für den verdorbenen und ungerechten Zustand halten, übersehen den Umstand, daß die Gestirne usf., wie auch das Vieh, nach Gesetzen und zwar gut regiert werden, – Gesetzen, welche aber in diesen Gegenständen nur innerlich, nicht für sie selbst, nicht als gesetzte Gesetze sind, daß der Mensch aber dies ist, sein Gesetz zu wissen, und daß er darum wahrhaft nur solchem gewußten Gesetze gehorchen kann, wie sein Gesetz nur als gewußtes ein gerechtes Gesetz sein kann, sonst aber schon nach dem wesentlichen Inhalt Zufälligkeit und Willkür, oder wenigstens damit vermischt und verunreinigt sein muß. (502) Hegels Verweis auf feste Naturgesetze, denen Gestirne und Tiere folgen, wird manche Leute nicht dazu bringen, die staatlichen Gesetze anzuerkennen. Seine Kritik richtet sich aber nur gegen einen utopischen Kommunitarismus, der meint, die natürliche Solidarität der Menschen, ihre göttliche innere Stimme und der Adel frommer Gesinnung seien ausreichend, um eine stabile Kooperation vieler, ja aller Personen zu etablieren und zu sichern. Interessant und höchst bedeutsam ist Hegels Hervorhebung des bloß Impliziten oder ›Innerlichen‹ der sogenannten Naturgesetze: Die Bücher der Naturgesetze werden ja von uns für uns geschrieben, nicht von der Natur und auch nicht für die Natur. Wir kennen die menschlichen Gesetze, weil wir sie selbst (mit-)verfasst oder als gesetzt gelernt haben. Wir können auch nur Gesetzen folgen, die wir kennen. Daher werden die folgenden zwei römischen Rechtsprinzipien so zentral: Nulla poena sine lege. Keine Strafe ohne explizite Strafandrohung. Ultra posse nemo obligatur. Von niemandem kann verlangt werden, etwas zu tun, was über sein Wissen und Können hinausgeht. 408 f . k
868 409 k 409 k 409 k Der objektive Geist 502 In der Schlusspassage kehrt Hegel die Betrachtung wieder – ohne Vorwarnung – kritisch um. Wo die genannten Prinzipien nicht erfüllt sind, sind die Gesetze und ist die Rechtsprechung mit nicht zu tolerierenden Zufallsentscheiden verunreinigt. Man denke etwa an den Fall, dass man zur Abschreckung einen Menschen zu einem Sündenbock macht. Eben damit opfert man Recht und Gesetz. Das wird nicht besser, wenn man auf die gute Absicht und das ö=entliche Interesse verweist oder auf moralische Gefühle, die zu befriedigen seien – zumal diese nie weit sind von einer Forderung nach Rache. Auch scheinbar ›gerechte‹ Umverteilungen von Besitz und Eigentum können unsittlich sein, also die freien personalen Kooperationsformen der Menschen stark beschädigen. Das ist trotz aller Rhetorik einer Moralität der Gleichheit, häufig unter dem irreführenden Titel »Gerechtigkeit«, auch dann so, wenn in der Mehrheitsdemokratie entsprechende positive ›Gesetze‹ erlassen werden. Dieselbe leere Forderung der Vollkommenheit wird für das Gegenteil des Obigen, nämlich für die Meinung der Unmöglichkeit oder Untunlichkeit eines Gesetzbuches gebraucht. (502) Hegel polemisiert hier mit vollem Recht gegen die Gegner eines modernen Bürgerlichen Gesetzbuches bzw. eines relativ nachhaltig verschriftlichten Straf- und Landrechts. Es tritt dabei der weitere Gedankenmangel ein, die wesentlichen und allgemeinen Bestimmungen mit dem besondern Detail in Eine Klasse zu setzen. Der endliche Sto= ist ins schlecht-Unendliche fort bestimmbar; aber dieser Fortgang ist nicht, wie er im Raume z. B. vorgestellt wird, ein Erzeugen von Raumbestimmungen derselben Qualität als die vorhergehenden, sondern ein Fortgehen in Spezielleres und immer Spezielleres durch den Scharfsinn des analysierenden Verstandes, der neue Unterscheidungen erfindet, welche neue Entscheidungen nötig machen. (502) Man verwechselt die explizite Artikulation allgemeiner Bestimmungen allzu häufig mit der Vorstellung, die geschriebenen Gesetzbücher sollten alle Fälle abdecken und auf die Fälle so anwendbar sein, dass man das Rechtsprechen am Ende auch einem Automaten überlassen könnte. Wenn die Bestimmungen dieser Art gleichfalls den Namen neuer Entscheidungen oder neuer Gesetze erhalten, so nimmt im Verhält-
503 Die Sittlichkeit 869 nisse des Weitergehens dieser Entwicklung das Interesse und der Gehalt dieser Bestimmungen ab. Sie fallen innerhalb der bereits bestehenden substantiellen, allgemeinen Gesetze, wie Verbesserungen an einem Boden, Türe usf. innerhalb des Hauses [ fallen, PS] und wohl etwas Neues, aber nicht ein Haus sind. Hat die Gesetzgebung eines ungebildeten Zustandes bei einzelnen Bestimmungen angefangen und diese ihrer Natur nach immerfort vermehrt, so entsteht im Fortgange dieser Menge im Gegenteil das Bedürfnis eines einfachern Gesetzbuches, d. h. des Zusammenfassens jener Menge von Einzelnheiten in ihre allgemeinen Bestimmungen, welche zu finden und auszusprechen zu wissen dem Verstande und der Bildung eines Volkes ziemt; – wie in England diese Fassung der Einzelnheiten in allgemeine Formen, welche in der Tat erst den Namen von Gesetzen verdienen, kürzlich, vom Minister Peel, der sich dadurch den Dank, ja die Bewunderung seiner Landsleute gewonnen, nach einigen Seiten hin angefangen worden ist. (502 f.) Hegels Lob des späteren Premierministers und Gründers der Conservative Party, Robert Peel, für seine Leistungen bei der Verschriftlichung des britischen Strafrechts ist durchaus bemerkenswert. Wieder betont er, dass es zunächst um die Explikation von schon anerkannten Allgemeinheiten geht, nicht um eine neue Scha=ung von Einzelgesetzen und Erlassen. § 530 2) Die positive Form der Gesetze, als Gesetze ausgesprochen und bekannt gemacht zu sein, ist Bedingung der äußerlichen Verbindlichkeit gegen dieselben, indem sie als Gesetze des strengen Rechts nur den abstrakten (d. i. selbst an sich äußerlichen), nicht den moralischen oder sittlichen Willen betre=en. (503) Die Bekanntheit der Gesetze ist ganz allgemeine Voraussetzung für eine wirklich freie Gesellschaft, in der allein wir uns in ausreichend klarem Wissen über Recht und Unrecht an ihnen handelnd orientieren können. Wenn ich nicht weiß, dass etwas verboten ist, kann weder das Verbot noch die angedrohte Sanktion mein Handeln beeinflussen. Das ist die ganz einfache Grundlage des Prinzips, dass nur ö=entlich durch ein Gesetz angedrohte Sanktionen als Strafe rechtlich erlaubt sein können. Was ich nicht kennen, wissen oder tun kann, kann von 409 f .
870 410 Der objektive Geist 503 mir nicht als Pflicht gefordert werden. Kants Gegenformel »Du kannst, denn du sollst« ist damit durchaus falsch, es sei denn, wir hätten zuvor schon das Sollen an das Können angepasst. Allerdings sind erlassene Gesetze der Rechtssphäre nur äußerlich verbindlich insofern, als es im Rechtssystem nur sekundär darauf ankommt bzw. ankommen darf, in welcher Absicht eine Handlung bzw. Tat begangen wurde. D. h., das moralische oder sittliche Wollen des Subjekts spielt im Falle der rechtlichen Erlaubtheit der Handlung gar keine Rolle, im Fall eines Verbrechens nur insofern, als das subjektive Wissen zu überprüfen ist und wir außerdem nicht eigentlich die Tat in ihren objektiven Folgen, sondern den Verbrecher für die Verachtung des Rechts und damit der Personen durch die Form seines Handelns bestrafen. Absichten und Motive spielen in der Strafjustiz zwar eine zentrale Rolle, aber sozusagen nur ›metastufig‹, nämlich im Blick auf die subjektive Kenntnis von Verbot und Pflicht, aber auch von erwartbaren Folgen des Tuns. Dieses Prinzip, für das schon (Platons) Sokrates plädiert, gehört erst seit der römischen Antike zum anerkannten Kernbestandteil christlicher Sittlichkeit. Es ›existiert‹ weder in der konventionellen Arete der Griechen noch im ethnischen Ethos des antiken Judentums. Die Subjektivität, auf welche der Wille nach dieser Seite ein Recht hat, ist hier nur das Bekanntsein. Dies subjektive Dasein ist als Dasein des Anundfürsichseienden in dieser Sphäre, des Rechts, zugleich äußerlich objektives Dasein, als allgemeines Gelten und Notwendigkeit. Das Rechtliche des Eigentums und der Privathandlungen über dasselbe erhält nach der Bestimmung, daß das Rechtliche ein Gesetztes, Anerkanntes und dadurch Gültiges sei, durch die Förmlichkeiten seine allgemeine Garantie. (503) Die Subjektivität, auf welche ich ein Recht habe, betri=t, wie gesagt, nur das Bekanntsein der Gesetze, ihre freie Verstehbarkeit und Anwendung. In Ausnahmefällen ist eine eigene Kritik an ihnen zu tolerieren, aber bloß erst als Vorschlag zu einer gemeinsamen Entwicklung besserer Gesetze. Es bleibt auch dann erst einmal Pflicht, die gegebenen Gesetze zu respektieren. Die gute Absicht im Verbrechen rechtfertigt oder entschuldigt einen Gesetzesbruch zwar überhaupt nicht, kann
504 Die Sittlichkeit 871 aber zu beachten sein, zumal die ›böse‹ Absicht in der Tat einen Unterschied macht. Zu meiner Pflicht gehört außerdem, mich um das konkrete Wissen über gegebene Gesetze und ihre rechte Anwendung zu kümmern: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht, ggf. aber ein unverschuldeter Verbotsirrtum. Das objektive Dasein des Rechts besteht zwar in seiner allgemeinen Geltung und dem Inhalt, der notwendig zu befolgen ist, enthält aber auch die bereitzustellende Möglichkeit, dass alle es subjektiv kennen können. Das gilt z. B. auch für den Rechtschutz von Besitz und Eigentum. § 531 3) Die Notwendigkeit, zu welcher das objektive Dasein sich bestimmt, erhält das Rechtliche in der Rechtspflege. Das Recht-an-sich hat sich dem Gerichte, dem individualisierten Rechte, als bewiesen dazustellen, wobei das Recht-an-sich von dem beweisbaren unterschieden sein kann. Das Gericht erkennt und handelt im Interesse des Rechts als solchen, benimmt der Existenz desselben seine Zufälligkeit und verwandelt insbesondere diese Existenz, wie sie als Rache ist, in Strafe. (§ 500.) (504) In der Rechtspflege sprechen Richter Recht. Im Strafvollzug werden die Folgen der Urteile so umgesetzt, dass die Sanktionsdrohungen gegen Gesetzesübertretungen nicht leere Worte bleiben. Hegel unterscheidet dabei zwischen dem, was als bewiesener Rechtsbruch gelten kann, und dem, was im Prinzip, aber nicht immer realiter beweisbar ist oder sein könnte. Nur das rechtliche Verfahren ist es, das trotz aller Restkontingenz der Urteile die subjektive Willkür und Zufälligkeit der Rache in Strafe verwandelt. Die Vergleichung der beiden Arten oder vielmehr Momente der Überzeugung der Richter über den Tatbestand einer Handlung in Beziehung auf den Angeklagten, durch die bloßen Umstände und Zeugnisse anderer – allein, – oder durch das ferner geforderte Hinzukommen des Geständnisses des Beklagten, macht die Hauptsache in der Frage über die sogenannten Geschwornengerichte aus. Es ist eine wesentliche Bestimmung, daß die beiden Bestandteile eines richterlichen Erkenntnisses, das Urteil über den Tatbestand und das Urteil 410 410 k
872 410 f . k Der objektive Geist 504 als Anwendung des Gesetzes auf denselben, weil sie an sich verschiedene Seiten sind, als verschiedene Funktionen ausgeübt werden. (504) Die hier vorgetragenen Details bedürfen kaum eines weiteren Kommentars. Für Urteile über den Tatbestand bedarf es polizeilicher Ermittlungen, Begründungen einer Staatsanwaltschaft und ggf. eines Urteils einer Jury. Der richterliche Rechtsspruch ist dann Anwendung des Gesetzes auf Tat und Handlung, unter Berücksichtigung von Wissen, Vorsatz und Absicht des zu Verurteilenden. Durch die genannte Institution sind sie sogar verschieden qualifizierten Kollegien zugeteilt, deren das eine ausdrücklich nicht aus Individuen, die zum Fache der amtlichen Richter gehören, bestehen soll. Jenen Unterschied der Funktionen bis zu dieser Trennung in den Gerichten zu treiben, beruht mehr auf außerwesentlichen Rücksichten; die Hauptsache bleibt nur die abgesonderte Ausübung jener an sich verschiedenen Seiten. – Wichtiger ist, ob das Eingeständnis des eines Verbrechens Beschuldigten zur Bedingung eines Strafurteils zu machen sei oder nicht. Die Institution des Geschwornengerichts abstrahiert von dieser Bedingung. Worauf es ankommt, ist, daß die Gewißheit, vollends in diesem Boden, von der Wahrheit unzertrennlich ist; das Geständnis aber ist als die höchste Spitze der Vergewisserung anzusehen, welche ihrer Natur nach subjektiv ist; die letzte Entscheidung liegt daher in demselben; an diesen Punkt hat der Beklagte daher ein absolutes Recht für die Schließlichkeit des Beweises und der Überzeugung der Richter. – Unvollständig ist dies Moment, weil es nur Ein Moment ist; aber noch unvollkommener ist das andere ebenso abstrakt genommen, das Beweisen aus bloßen Umständen und Zeugnissen; und die Geschwornen sind wesentlich Richter und sprechen ein Urteil. Insofern sie auf solche objektive Beweise angewiesen sind, zugleich aber die unvollständige Gewißheit, insofern sie nur in ihnen ist, zugelassen ist, enthält das Geschwornengericht die (eigentlich barbarischen Zeiten angehörige) Vermengung und Verwechslung von objektivem Beweisen und von subjektiver sogenannter moralischer Überzeugung. – (504 f.) Das Geständnis eines Beschuldigten darf, wie man spätestens aus den Inquisitionsgerichtsverfahren weiß, weder als schon hinreichender Grund für eine Verurteilung gelten, noch ist es notwendige Bedingung. In der Institution der Geschworenengerichte urteilen
505 Die Sittlichkeit 873 mehrere Leute über die Tat. Dennoch behält der Beklagte auch gegen einstimmige Urteile sozusagen moralisch »ein absolutes Recht« – wenn er z. B. weiß, dass er unschuldig ist. Alle Beweise und Überzeugungen der Juroren, auch Richter, helfen dann nicht. Dennoch wird Recht nach deren Gewissheit gesprochen, nicht nach der Wahrheit des Angeklagten. Das Unglück des immer möglichen Zufalls will es, dass diese Zumutungen manchmal schwer zu ertragen sind. Hegels Kritik daran, dass Geschworenengerichte wie in den eher noch halbbarbarischen Zeiten des germanischen Mittelalters auch bei unvollständiger Gewissheit nach subjektiver sogenannter moralischer Überzeugung Verurteilungen aussprechen, ist absolut berechtigt. Wenn relativ viele Leute konsensuell urteilen, wird das Urteil keineswegs immer sachgerechter. Die Gewissheit darüber, ob die Person eine verbrecherische Tathandlung begangen hat, muss objektiv-allgemein sein und darf nicht nur ein intersubjektiver Konsens einer Gruppe von Leuten bleiben. Das gilt erst recht für die Beschreibung der Intentionen-in-der-Handlung. Freilich ist besonders in Grenzfällen nicht immer leicht zu beurteilen, was der Fall ist und war, also wie man generisch urteilen sollte. Und doch kann es sein, dass ein einzelner professioneller Richter, der gewissenhaft die Dinge prüft, oder ein hinreichend kleines Richterkollegium in der Regel oder sogar immer über Vorsatz und Absicht einer Tat besser urteilt als eine größere Gruppe von Laien. Extraordinäre Strafen ist leicht für eine Ungereimtheit zu erklären und vielmehr zu flach, sich so an den bloßen Namen zu stoßen. Der Sache nach enthält diese Bestimmung den Unterschied von objektivem Beweisen mit oder ohne das Moment jener absoluten Vergewisserung, die im Eingeständnisse liegt. (505) Den Ausdruck »extraordinäre Strafe« gibt es nicht mehr. Hegel sagt hier zunächst nur, dass eine Kritik an allzu drakonischen Strafen trivial ist. Alles, was allzu viel ist, ist selbstverständlich falsch. Implizit sagt er gegenläufig zur bisherigen Betrachtung aber auch, dass man sich die Kritik an der Rolle der Funktion der Abschreckung durch verhängte Strafen nicht zu leichtmachen darf. Auch Freisprüche mangels Beweisen sind angemessen zu verstehen. Sie sagen ja nicht, dass der Angeklagte unschuldig ist, verlangen 411 k
874 Der objektive Geist 505 unter Umständen aber trotzdem zu dulden, dass die Tat ungesühnt bleibt. Es ist außerdem nicht einfach, mit der Grundtatsache umzugehen, dass es absolut infallible bzw. objektive Beweise selten gibt. Wir müssen uns also damit zufriedengeben, dass nur ›im Prinzip‹ mögliche Entlastungen wie in bekannten Verschwörungstheorien etwa im Fall der Ermordung von J. F. Kennedy allzu unwahrscheinlich sind, als dass man sie beachten müsste oder dürfte. Wer hier übertreibt, verlangt im E=ekt viel zu viele Freisprüche, nämlich praktisch immer – oder viel zu viele Verurteilungen, je nachdem. Urteile über empirische und historische Tatsachen sind im Prinzip fallibel. Sie können aber im Normalfall trotz einer rein theoretischen Möglichkeit, sich zu täuschen, ebenso robust sein wie ein generisches Allgemeinwissen mit nur sehr seltenen Ausnahmen. Es täuschen sich daher alle, welche meinen, es gäbe absolut täuschungsfreie Konstatierungen mit nicht bloß tautologischen, sondern objektiv empirischen Inhalten, aber auch alle diejenigen, welche diese rein theoretischspekulative Aussage etwa aus der erfundenen Sicht eines Gottes allzu ernst nehmen und in der realen Welt daher nicht mehr praktisch robust zwischen Wissen und Glauben, Wahrheit und Schein unterscheiden. Gerade auch in diesem Sinn kann die Furcht zu irren der eigentliche Irrtum sein. Hegel Rede vom »Moment jener absoluten Vergewisserung«, das im Geständnis des Täters liegen soll, ist angesichts vieler falscher derartiger Geständnisse abzuschwächen, obwohl er recht hat, dass im Normalfall sowohl Täter als auch unschuldig Angeklagte wissen, was sie getan haben. 411 § 532 Die Rechtspflege hat die Bestimmung, nur die abstrakte Seite der Freiheit der Person in der bürgerlichen Gesellschaft zur Notwendigkeit zu betätigen. Aber diese Betätigung beruht zunächst auf der partikulären Subjektivität des Richters, indem deren selbst notwendige Einheit mit dem Recht-an-sich hier noch nicht vorhanden ist. (505) Die Rechtspflege kann nur einen allgemeinen Rechtsschutz »der Freiheit der Person in der bürgerlichen Gesellschaft« einigermaßen
506 Die Sittlichkeit 875 garantieren. Dabei ist, wie betont, die »Subjektivität des Richters« immer anzuerkennen, also in Kauf zu nehmen. Umgekehrt ist die blinde Notwendigkeit des Systems der Bedürfnisse noch nicht in das Bewußtsein des Allgemeinen erhoben und von solchem aus betätigt. (505) Wir kommen jetzt langsam zu einem neuen Thema. Die »blinde Notwendigkeit des Systems der Bedürfnisse« ist die ›unsichtbare Hand‹ der freien ökonomischen Interaktionen der Personen in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Verfolgung der Eigeninteressen der Akteure befördert aber keineswegs immer, schon gar nicht von selbst, Wohlstand und Sicherheit für alle, wie das Adam Smiths Rede von einer Unsichtbaren Hand suggeriert. Die Möglichkeit und die Notwendigkeit, durch staatliche Steuerungen dem eigeninteressierten Wirtschaften einen Rahmen zu geben, der das allgemeine Wohl, die Sicherheit und damit auch die Freiheit fördert, sind noch »nicht in das Bewusstsein des Allgemeinen erhoben« worden. Das gilt im Grunde bis heute. 411 γ) Die Polizei und die Korporation § 533 Die Rechtspflege schließt von selbst das nur der Besonderheit Angehörige der Handlungen und Interessen aus und überläßt der Zufälligkeit sowohl das Geschehen von Verbrechen als die Rücksicht auf die Wohlfahrt. In der bürgerlichen Gesellschaft ist die Befriedigung des Bedürfnisses, und zwar zugleich als des Menschen, auf eine feste allgemeine Weise, d. i. die Sicherung dieser Befriedigung, der Zweck. (506) Wir würden heute nicht mehr sagen, dass das Rechtssystem das Geschehen von Verbrechen dem Zufall überlässt. Gemeint ist, dass staatliche Administration und Rechtspflege nur dazu taugen, privative Abweichungen von einer guten Kooperation in der bürgerlichen Gesellschaft durch Sanktionsdrohungen weniger attraktiv zu machen. Anders gesagt, Staat und Rechtssystem würden überfordert, wenn man von ihnen eine direkte Verhinderung von Verbrechen, eine direkte Herstellung allgemeiner Wohlfahrt und eine direkte Verteilung von Arbeit und Gütern zur Befriedigung der Bedürfnisse der Einzel- 411 f .
876 412 Der objektive Geist 506 personen erwarten oder verlangen würde. Gesellschaftliche Gruppen setzen sich daher selbst ins Unrecht, wenn sie gewaltsam gegen eine staatliche Macht vorgehen, nachdem diese kontingenterweise nicht alle Angri=e gegen die Gruppe verhindern konnte. Anders liegt der Fall, wenn die staatliche Macht dabei parteilich ist. In der Mechanik aber der Notwendigkeit der Gesellschaft ist auf die mannigfaltigste Weise die Zufälligkeit dieser Befriedigung vorhanden, sowohl in Rücksicht der Wandelbarkeit der Bedürfnisse selbst, an denen Meinung und subjektives Belieben einen großen Anteil haben, als durch die Lokalitäten, die Zusammenhänge eines Volkes mit andern, durch Irrtümer und Täuschungen, welche in einzelne Teile des ganzen Räderwerks gebracht werden können und dasselbe in Unordnung zu bringen vermögen, wie auch insbesondere durch die bedingte Fähigkeit des Einzelnen, aus jenem allgemeinen Vermögen für sich zu erwerben. (506) Hegels Rede von der ›Mechanik der Notwendigkeit der Gesellschaft‹ verweist weiterhin implizit auf Adam Smith und seinen im Allgemeinen durchaus wichtigen und richtigen Gedanken, dass eine gute Verteilung der Leistungen zur Erzeugung von Gütern der Bedürfnisbefriedigung dort ansetzen muss, wo die Personen eigeninteressiert für sich selbst sorgen. Dabei sorgt die Arbeits- und Güterteilung durch Spezialisierung für eine Senkung des Aufwandes in der Produktion großer Stückzahlen, wie man schon von den Manufakturen der klassischen Antike her weiß. Nachfrage und Bedürfnis müssen aber die Produktion steuern, nicht umgekehrt. Es bedarf dazu eines relativ freien Güter- und Arbeitsmarkts mit rechtlich geschützter Besitzund Eigentumsverteilung. Hegel erkennt daher interessanterweise nicht anders als später F. A. Hayek, der Ne=e Ludwig Wittgensteins, das Informationsproblem aufgrund der Wandelbarkeit der e=ektiven Nachfrage, der Bedürfnisse und des Bedarfs als Grundproblem. Den freien Meinungsschwankungen und dem subjektiven Belieben ist immer ihr relatives Recht zu lassen. Es ist dabei mit einem relativ schnellen Austausch an Wissen, Information, Techniken und dann auch Waren zwischen den Völkern und Regionen zu rechnen. Die »bedingte Fähigkeit des Einzelnen« verlangt, dass jeder in diesem System seine Nische für Überleben und Bedürfnisbefriedigung findet, wobei es immer besser ist, wenn er sie selbst relativ frei suchen kann.
506 Die Sittlichkeit 877 Allerdings kann das Räderwerk nationaler und internationaler Arbeits- und Güterteilung aus diversen Gründen ins Stocken geraten. Zu den zufälligen Naturkatastrophen kommen die Kontingenzen in der globalen Wirtschaftsverflechtung hinzu, auch die von Kriegen und Handelskriegen, und das schon seit den alttestamentarischen Zeiten der ›Teuerungen‹ in Ägypten bzw. im Vorderen Orient. Der Gang jener Notwendigkeit gibt die Besonderheiten, durch die er bewirkt wird, zugleich auch preis, enthält nicht für sich den a;rmativen Zweck der Sicherung der Befriedigung der Einzelnen, sondern kann in Ansehung derselben sowohl angemessen sein oder auch nicht, und die Einzelnen sind sich hier der moralisch berechtigte Zweck. (506) Die ›automatische‹ Selbstorganisation der Wirtschaft als System von Tausch und Kauf eigeninteressierter Individuen, also des homo oeconomicus, kommt immer auch an ihre rein ökonomischen Systemgrenzen. Hegels Formulierung klingt nur etwas schräg, ist aber inhaltlich absolut richtig: Im globalen System des selbstinteressierten Wirtschaftens geschieht es, dass die besonderen Interessen der Einzelpersonen, durch die es bewirkt wird, zugleich auch preisgegeben werden, besonders dadurch, dass viele Menschen keinen Platz im System finden, also erwerbslos werden, aber auch durch Versorgungsmängel im globalen Güterverkehr. Wenn die Leute nicht mehr für sich sorgen können, obwohl sie das wollen, wird die Verteidigung einer liberalistischen Marktwirtschaft für Güter und Arbeit zu einer (Selbst-) Täuschung.117 Mit der partiellen Preisgabe der Erfüllung der notwendigen Bedingung, dass ›alle‹ im System der Teilung von Gütern und Arbeit einen angemessenen Platz finden können, gerät eine reine Marktwirtschaft tatsächlich schon zur Hegels Zeiten in einen Widerspruch zu sich 117 Daher weist Hegel auf das zweite zentrale Problem moderner Volkswirtschaftslehre hin, die Vollbeschäftigung im ›Kapitalismus‹, die erst John Maynard Keynes wirklich ins Zentrum seiner (monetaristischen) Untersuchungen gestellt hat. Nachfolger wie F. A. Hayek und die Chicagoer Schule der Nationalökonomie haben das Problem möglicherweise zu Unrecht vernachlässigt, in allzu optimistischem Glauben an die Selbstheilungskräfte eines freien Marktes. 412
878 Der objektive Geist 506 f. selbst. Schon zu Beginn des Manchester-Kapitalismus mit seinem staatlich gestützten Eigentumsregime wird diese Bedingung gerade nicht ausreichend erfüllt. Diese Einsicht greift Friedrich Engels und – wohl durch ihn vermittelt – dann auch Karl Marx auf. Dessen systematische und zugleich kritische Sachwissenschaft der Volkswirtschaftlehre ergibt sich daher weit weniger aus einer Kritik an der Hegelschen Rechtsphilosophie als aus einer Anwendung ihrer Grundeinsichten. Auf die immer prekäre Beurteilung der Rolle des Staates als der Institution des Schutzes aller gesellschaftlichen Institutionen gehe ich hier nicht im Detail weiter ein. Hegel beansprucht auch keineswegs, die geschichtlich erfahrene Sachwissenschaft politischer Ökonomie durch Philosophie zu ersetzen, sondern fordert geradezu zur Lektüre von Smith, Say und Ricardo auf. Engels und Marx folgen dieser Lektüre-Empfehlung. 412 § 534 Das Bewußtsein des wesentlichen Zwecks, die Kenntnis der Wirkungsweise der Mächte und wandelbaren Ingredienzien, aus denen jene Notwendigkeit zusammengesetzt ist, und das Festhalten jenes Zwecks in ihr und gegen sie, hat einerseits zum Konkreten der bürgerlichen Gesellschaft das Verhältnis einer äußerlichen Allgemeinheit; diese Ordnung ist als tätige Macht der äußerliche Staat, welcher, insofern sie in dem Höhern, dem substantiellen Staate wurzelt, als Staats-Polizei erscheint. (506 f.) Der wesentliche Zweck aller Ökonomie ist und bleibt die gute Befriedigung der Bedürfnisse der individuellen Subjekte, also der Wohlstand, in einer Gesamtordnung, die den Personen möglichst große Freiheitsspielräume unter gewissen allgemeinen Rahmenbedingungen mit entsprechenden Sicherheiten für die je eigene Lebensplanung einräumt. Zum Bewusstsein der Rolle von Eigentum, Tausch bzw. Kauf und Arbeitsteilung gehört daher insbesondere die »Kenntnis der Wirkungsweise der Mächte«, also erstens des Marktes, des Geldes, der Bedarfe usf., zweitens des Rechtssystems und der Sicherheitsorgane und drittens von Steuern und Staatsinvestitionen (etwa auch in Schulen) für die Erfüllung eben dieses Zwecks, samt dem Wissen um mögliche Privationen. Indem wir nun an den genannten Großzwecken – Freiheit, Sicher-
507 Die Sittlichkeit 879 heit und Wohlstand – festhalten, sehen wir, dass Wirtschaft und Gesellschaft, also die freie Ökonomie des Warentauschs und der freien Verträge in der Arbeitsteilung, keineswegs ausreichen, um für alle Bürger sicherzustellen, dass diese Zwecke von allen Personen bei entsprechender Eigenbeteiligung auch ausreichend erfüllbar sind. Es bedarf daher des Staates und seiner ›Polizei‹ – die damals nicht nur die heutigen Sicherheitsorgane, sondern die gesamte Verwaltung umfasste –, um diese Erfüllbarkeiten im Normalfall zu garantieren. Der Staat wird so zum äußeren Rahmen einer im Prinzip von allen anerkennbaren freien Vertragsgesellschaft. Die Behörden der Staatsverwaltung bilden dabei sozusagen den ›äußeren‹ Staat. Die Regierung ist seine ›innere‹ Leitung. Andererseits bleibt in dieser Sphäre der Besonderheit der Zweck substantieller Allgemeinheit und deren Betätigung auf das Geschäft besonderer Zweige und Interessen beschränkt; – die Korporation, in welcher der besondere Bürger als Privatmann die Sicherung seines Vermögens findet, ebensosehr als er darin aus seinem einzelnen Privatinteresse heraustritt und eine bewußte Tätigkeit für einen relativallgemeinen Zweck, wie in den rechtlichen und Standespflichten seine Sittlichkeit, hat. (507) Die staatlich abgesicherten Freiheitsrechte sind nur zunächst beschränkt auf den Schutz der Interessen von Privatleuten. Es sind dann, ebenfalls nur zunächst, gewerkschaftsförmige Korporationen, in welchen, wie in den mittelalterlichen Zünften und Gilden, die Bürger eine gewisse Absicherung ihrer Arbeitsmöglichkeiten, ihres Vermögens und ihrer Kranken- und Altersvorsorge selbst organisieren. Hinzu kommen seit der Antike diverse ökonomische Versicherungswetten. Dabei sind die verfolgten Gruppenzwecke, Verbandsrechte und ständischen Verpflichtungen nur erst relativ-allgemein. Das Berufsethos gehört, wie die Rechtscha=enheit überhaupt, zur Sittlichkeit der Person – aber füllt sie nicht aus. Nur negativ ist klar, dass, wer Rechtlichkeit, Rechtscha=enheit und Berufsethos mit Füßen tritt, sozusagen nicht mehr als Person in den Spiegel blicken kann. Denn dort sieht er dann nur noch ein autistisches Subjekt. 412
880 Der objektive Geist 507 c. Der Staat 413 § 535 Der Staat ist die selbstbewußte sittliche Substanz, – die Vereinigung des Prinzips der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft; dieselbe Einheit, welche in der Familie als Gefühl der Liebe ist, ist sein Wesen, das aber zugleich durch das zweite Prinzip des wissenden und aus sich tätigen Wollens die Form gewußter Allgemeinheit erhält, welche so wie deren im Wissen sich entwickelnde Bestimmungen die wissende Subjektivität zum Inhalte und absoluten Zwecke hat, d. i. für sich dies Vernünftige will. (507) Selbstbewusstsein enthält bei Hegel Selbstbestimmung, wie im Deutschen überhaupt. Während die Gesellschaft im Blick der Soziologie nur eine Menge von Leuten ist, also bestenfalls das distributive Wir eines Staatsvolks, wobei jeder tut, was er angesichts seiner Lage für sich tun will, bildet der Staat ein plurales Subjekt oder ein Gemeinschafts-Wir. Das geschieht nicht etwa in der Form freier, also rein moralisch und damit nur erst subjektiv bewerteter Kooperation, sondern vermöge seiner Institutionen, seiner zentralen Leitung, seiner Gesetze und seiner Sanktionsmacht besonders in der Rechtspflege und Besteuerung der Bürger. In eben diesem Sinn ist der Staat sittliche Substanz, also nachhaltig organisiertes Gemeinschaftsethos. Eine solche res publica existiert aber nur durch die Vermittlung einer ausreichenden, nachhaltigen und dabei immer auch schon freien Anerkennung der Leitungshierarchie als wesentlichem Teil der Idee bzw. Instanziierung der volonté générale. Jede Manifestation einer volonté générale setzt eine res publica, also den Staat und seine Leitung voraus. Es geht dabei immer auch um die Ersetzung bloßer kollektiver E=ekte akzidentellen Handelns der Einzelnen einer Gesellschaft durch ein gemeinsames Handeln. Jetzt erst verstehen wir, wie im Staat das kommunitarische Prinzip der Familie mit dem freien Vertragsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft eine Einheit bildet und warum ein patriarchalischer Staat wie in der orientalischen Herrschaftsform heute ebenso verfehlt ist wie eine reine Volksversammlungsdemokratie oder dann auch ein Allmendekommunismus: Während für die Familie das Gefühl der Liebe als emotionaler Kitt ausreicht und im Normalfall auch ausreichen muss,
Die Sittlichkeit 881 ist es eine gefährliche Illusion, den Staat auf einen rein ideologischen Patriotismus statt auf echte, dabei immer auch eigeninteressierte Solidarität zu gründen. Es ist nie so, dass alle Bürger gemeinsam das Gleiche wollen. Das Problem wird schon in einer Reflexion auf den Gebrauch des Wortes »wir« klar: Gemeinsam sagen oder singen wir das Wort »wir« sozusagen nur im Kirchenlied und in anderen religiösen Rezitationen und zivilreligiösen Riten. Das macht die besondere Form eines gemeinsamen Gebets oder Gesangs aus. Normalerweise sagen nur einzelne Subjekte »wir« und beanspruchen damit, für uns sprechen zu können oder zu dürfen. Das erklärt den pluralis maiestatis mit einem eigentümlichen Wechsel von »wir« und »ich«, »nos« und »ego« schon in Briefen spätantiker Bischöfe bis hin zu »Ich bin der Staat«. Ludwig XIV sagt damit, richtig gelesen, dass er legitimerweise für das Volk sprechen darf, obwohl er diesen Anspruch faktisch wohl allzu weit ausdehnt. Auch als Frau Thatcher erklärte: »there is no society«, war das trotz der bis heute nicht abreißenden Kritik an dem ebenfalls ambivalenten Spruch ganz richtig im Sinn einer Zurückweisung der Anmaßung von Privatleuten, für die Gesellschaft zu sprechen.118 Allerdings bleibt eine weit verbreitete Naivität im Umgang mit dem Wort »wir« nicht ungefährlich. Nur in Ausnahmesituationen dürfen wir zulassen, dass irgendwelche Leute für uns sprechen. Den Staat und sein Staatsvolk ›gibt es‹ nur in der Form einer Vertretung der Einheit und Verwaltung eines allgemeinen Willens durch hinreichend wenige Menschen. Die Form gewusster Allgemeinheit verlangt Urteile von Einzelpersonen. Der Inhalt aber, um den es im Staat geht, ist »wissende Subjektivität« etwa auch eines gemeinsam handelnden Staatsvolks. Dabei gibt es einen ewigen Streit darüber, wer eigentlich in Bezug auf die Inhalte bloß abstrakt denkt, der brave Einzelbürger etwa am 118 Man muss Ludwig XIV. und Frau Thatcher für diese Sprüche nicht etwa lieben oder gegen Kritik verteidigen. Doch sie stehen auf der gleichen Ebene wie der nicht weniger geniale, aber gegenläufige, Slogan: »Wir sind das Volk« der Demonstrationen in Leipzig 1989. Dieser hob die ›Berechtigung‹ der ›legalen‹ Staatsführer auf, im Namen des Volkes zu sprechen.
882 Der objektive Geist 507 f. Biertisch oder die akademisch-theoretische Wissenschaft, und wer anmaßender ist, die einfache Marktfrau bzw. der einfache Soldat oder der von ihnen geradezu sprichwörtlich ›verachtete‹ Philosoph. 413 § 536 Der Staat ist α) zunächst seine innere Gestaltung als sich auf sich beziehende Entwicklung, – das innere Staatsrecht oder die Verfassung ; er ist β) besonderes Individuum, so im Verhältnisse zu andern besondern Individuen, – das äußere Staatsrecht; γ) aber diese besondern Geister sind nur Momente in der Entwicklung der allgemeinen Idee des Geistes in seiner Wirklichkeit, – die Weltgeschichte. (507 f.) Als stabile Institution mit wechselndem Personal ist der Staat durch seine partiell rechtlich explizierte Verfassung bestimmt. Aber er wird immer konkret vertreten durch ein besonderes Individuum oder eine kleine Gruppe solcher Individuen. In der Vorantike Europas und in der orientalischen Herrschaftsform, wie es sie noch heute östlich des Bugs und des Mittelmeeres gibt, ist dieses Individuum ein sakrosankter Rex oder sich selbst für sakrosankt erklärender und von seiner Mehrheitspartei geduldeter Tyrann mit diktatorischer Macht. In Sparta, Athen und Rom handelten die Individuen (Ephoren, Strategen, Konsuln, auch Diktatoren) schon klar im Auftrag einer mehr oder weniger umfänglichen Volksaristokratie und blieben der Gerusia, später der Volksvollversammlung bzw. dem Senat verantwortlich – bis zur neuen Verfassung der Cäsaren im römischen Imperium.119 119 Als erste der drei Phasen der Weltgeschichte markiert Hegel die orientalische Herrschaftsform mit einem patriarchalisch-paternalistischen Despoten zunächst nach Art eines Pharaos, Perserkönigs, Moguls oder chinesischen Kaisers. Hier ist nur eine Person frei, der Großkönig, Sultan, Zar oder der nationale ›sozialistische‹ Führer wie z. B. Kim Il Sun oder seine Nachfolger. Einige Personen sind frei in den städtischen Adelsrepubliken von Phönizien über Karthago, Griechenland und Rom (sogar noch unter den Cäsaren) bis in die italienischen Städte, die Hansestädte oder die Schweiz. Auch die sogenannte attische Demokratie gehört als Herrschaft des Kleinadels der Vollbürger über Sklaven, Metöken und Untertanen-Städte klarerweise dazu. Alle Bürger sind (im Prinzip) frei erst seit den Anfängen der west- und nordeuropäischen Idee einer sich auf christliche Werte grün-
Die Sittlichkeit 883 Jede anerkannte Staatsverwaltungsform ist Verfassung. Sie muss dazu nicht aufgeschrieben sein. Daher kritisiert Hegel die Vorstellung, nur diejenigen Staaten hätten eine Konstitution, deren Verfassung als schriftliches Grundgesetz erlassen sei. Die Konstitution und der Geist eines Volkes, einer Nation, auch eines transnationalen Reiches sind für Hegel sogar ein und dasselbe. Daher kann er ihre je aktuale Phase als Epoche in der globalen »Entwicklung der allgemeinen Idee des Geistes in seiner Wirklichkeit«, also der Weltgeschichte der sittlichpolitischen Verfassungen, begreifen. Nur für ganz allgemeine Unterschiede in den Grundformen der Staatsverfassungen interessiert sich Hegel in seinen Skizzen und Vorlesungen zu einer Philosophie der Weltgeschichte, nicht etwa für eine Geschichte irgendwelcher besonderer Subinstitutionen wie etwa in einer Militär-, Wissens- oder Religionsgeschichte oder einer Geschichte der Imperien, ihrer Kriege und Zusammenbrüche. denden konstitutionellen Monarchie mit republikanischen Substrukturen. Das wahldemokratische Nordamerika wird von Hegel als Land der Zukunft explizit aus der Betrachtung herausgehalten. Das ist aus mehreren Gründen berechtigt: Erstens waren die politischen Institutionen noch nicht wirklich voll entwickelt, zweitens sind die USA vor dem Bürgerkrieg nur erst ein Staatenbund, drittens lässt sich die besondere Rolle der christlichen Gemeinden in den Staaten (wie z. B. in Neuengland, dann auch in Utah) nicht zurück auf Europa übertragen, was auch Alexis de Tocqueville hervorheben wird, viertens werden bis heute die Geburtswehen der amerikanischen Wahldemokratie als Rechtsstaat zwischen den 1840er und 1860er Jahren unterschätzt, was sich besonders auch an den verfassungspolitischen Ursachen des USamerikanischen Bürgerkriegs zeigt. Erst in seinem Kontext entsteht, fünftens, das für die Demokratie wichtige Parteiensystem der ›Republikaner‹ Lincolns und der ›Demokraten‹ Je=ersons und der Südstaaten. Sechstens machte der immense Siedlungs- und Entwicklungsraum im Westen zentrale politische Lösungen sozialökonomischer Probleme noch bis in die 1970er nicht so drängend wie in Europa.
884 Der objektive Geist 508 α) Inneres Staatsrecht 413 413 f . § 537 Das Wesen des Staates ist das an und für sich Allgemeine, das Vernünftige des Willens, aber als sich wissend und betätigend schlechthin Subjektivität und als Wirklichkeit Ein Individuum. (508) Ein Staat ist ›Individuum‹ natürlich nur als Einheit. Diese Einheit wird im Normalfall von einem individuellen Subjekt vertreten, das in dieser oder jener Sache für den Staat sprechen und handeln darf. Solche personalen Subjekte sind z. B. Könige und ihre Statthalter, Ephoren, Cäsaren oder Premierminister – oder von diesen oder einem Senat beauftragte Personen, z. B. Pro-Prätoren, ›Landpfleger‹, oder auch Generäle wie Epaminondas für Theben, Hannibal für Karthago, Napoleon in Ägypten und Italien für das Direktorium und damit für Frankreich etc. Viele derartige Vertreter haben nur sehr eingeschränkte Befugnis wie z. B. auch Botschafter, Staatsanwälte, Richter etc. Sein Werk überhaupt besteht in Beziehung auf das Extrem der Einzelnheit als der Menge der Individuen in dem Gedoppelten, einmal sie als Personen zu erhalten, somit das Recht zur notwendigen Wirklichkeit zu machen, und dann ihr Wohl, das zunächst jeder für sich besorgt, das aber schlechthin eine allgemeine Seite hat, zu befördern, die Familie zu schützen und die bürgerliche Gesellschaft zu leiten, – das andremal aber beides und die ganze Gesinnung und Tätigkeit des Einzelnen, als der für sich ein Zentrum zu sein strebt, in das Leben der allgemeinen Substanz zurückzuführen und in diesem Sinne als freie Macht jenen ihr untergeordneten Sphären Abbruch zu tun und sie in substantieller Immanenz zu erhalten. (508) Aufgabe des Staates ist der sichere Erhalt des freien Personseins in der Gesellschaft der Leute, also die Sicherung ihrer Rechte. Dabei sorgen die Personen, wie gesagt, zunächst selbst für ihr Wohl. Das muss auch dort so bleiben, wo der Staat zum Wohlfahrtsstaat wird und sich etwa ein Wohlfahrtsausschuss oder ein Zentralkomitee zum Sprecher für das Wohl des Volkes erklärt. Allerdings hat Wohlfahrt immer schon »eine allgemeine Seite«, die vom Staat zu fördern ist.120 120 Man denke etwa an die Organisation der Armee und das Problem der Altersversorgung der Militärangehörigen, das von Marius über Cäsar zum
508 Die Sittlichkeit 885 Interessant ist, wie Hegel den politischen Blick sofort auch umkehrt. Denn im Selbstbild der Person spiegelt sich das Wissen und Verständnis seiner Rollen und seines Status in Staat und Gesellschaft wider. In eben diesem Sinn spricht Hegel von der »Gesinnung und Tätigkeit des Einzelnen«. Jede Person strebt dabei danach, »für sich ein Zentrum zu sein«, zumal der Anerkennung oder Nichtanerkennung durch andere Personen ein partielles Eigenwissen um das eigene Tun und den eigenen Status im Gesamtsystem der Personen gegenübersteht. § 538 Die Gesetze sprechen die Inhalts-Bestimmungen der objektiven Freiheit aus. (508) Die Gesetze des Staates machen die inhaltlichen Normen der rechtlichen Erlaubnisse, Gebote und Verbote explizit. (Hier reicht ausnahmsweise eine bloße Paraphrase.) Erstens für das unmittelbare Subjekt, dessen selbständige Willkür und besonderes Interesse sind sie Schranken. Aber sie sind zweitens absoluter Endzweck und das allgemeine Werk, so werden sie durch die Funktionen der verschiedenen, sich aus der allgemeinen Besonderung weiter vereinzelnden Stände und durch alle Tätigkeit und Privat-Sorge der Einzelnen hervorgebracht, und drittens sind sie die Substanz ihres darin freien Wollens und ihrer Gesinnung, und so als geltende Sitte dargestellt. (508) Die Normen und Regeln der Kooperation der Leute beschränken zwar die Willkür in der Verfolgung einzelner Interessen. Sie ermöglichen aber über Steuerungen des gemeinsamen Wollens in weiten Bereichen allererst ein kohärentes gemeinsames Leben. Sie sind damit zugleich »absoluter Endzweck und das allgemeine Werk« unserer passiven Teilhabe und aktiven Teilnahme an den ö=entlichen Angelegenheiten der res publica. Cäsarismus des Augustus führt, nachdem der aristokratische Senat (wie die Diktatur des Sulla zeigt) an diesen Problemen ebenso gescheitert war wie an der Aufsicht der Administration der Provinzen des Reiches bzw. an der Ausweitung des römischen Bürgerrechts. 414 414
886 Der objektive Geist 509 Die Funktionen der verschiedenen Berufsstände ergeben sich in der Ausdi=erenzierung der Arbeitsteilung aus der »Privatsorge der Einzelnen«. Das Nachhaltige, Bleibende, Substanzielle des Tuns und Lebens einer Person besteht immer im Beitrag zur Entwicklung der Institutionen, von der Wissenschaft bis zur freien Kunst, von der Rechtsprechung bis zum rechtlichen und rechtscha=enen Handeln. In unserer passiven Teilhabe und aktiven Teilnahme an den ö=entlichen Angelegenheiten allein liegt am Ende unser sittlicher Geist. Diese Einsicht geht schon auf Sokrates, Platon und Aristoteles zurück. 414 § 539 Der Staat ist als lebendiger Geist schlechthin nur als ein organisiertes, in die besondern Wirksamkeiten unterschiedenes Ganzes, die von dem Einen Begri=e (wenngleich nicht als Begri= gewußten) des vernünftigen Willens ausgehend, denselben als ihr Resultat fortdauernd produzieren. (509) Hegels Erklärung, der Staat sei lebendiger Geist, ist ganz o=enbar nicht einfach im Sinn einer Hypostasierung des Staates oder gar als seine Vergöttlichung zu deuten. Es geht sogar umgekehrt um eine Verweltlichung des Geistes unter Vermeidung jeder naiven Naturalisierung. Dazu bedarf es eines strengen Verständnisses dessen, wie ein gemeinsames Handeln, ein gemeinsamer Wille und ein System von im weiten Sinn politischen Institutionen als transzendentale Bedingungen des Personseins zu begreifen sind. Wie das Gemeinwesen transzendentale Voraussetzung einer Gesellschaft von Bürgern ist, ist der objektive Geist Präsupposition je meines subjektiven Geistes und damit von mir als Person. Jeder bloß empiristische Sozialbehaviorismus, für den es nur kollektive E=ekte individuellen Verhaltens gibt, blamiert sich hier, wenn man einmal mit einem genaueren Nachdenken beginnt. Eine bürgerliche Gesellschaft gibt es nur als ein durch den Staat organisiertes Ganzes. Der Einheitlichkeit steht dabei die funktionale Ausdi=erenzierung einer Arbeits-, Leistungs- und politisch-organisatorischen Machtverteilung gegenüber. Das ist keine zu beweisende Behauptung, sondern Explikation einer o=ensichtlichen Trivialität. Analoges gilt für den Satz, dass der Staat an sich, also seinem Be-
509 Die Sittlichkeit 887 gri= nach, noch vor jeder Bewertung der besonderen Güte konkreter Instanziierungen staatlicher Verfassungen das Organ des vernünftigen gemeinsamen Willens und Handelns des Staatsvolks ist. Das ist auch unabhängig davon, ob die Leute es logisch schon ausreichend verstehen oder nicht. Die Verfassung ist diese Gegliederung der Staatsmacht. (509) Die Konstitution des Staates besteht insbesondere in der Verteilung der Kompetenzen, im Namen des Volkes Gesetze zu beschließen oder Urteile zu fällen. Sie enthält die Bestimmungen, auf welche Weise der vernünftige Wille, insofern er in den Individuen nur an sich der allgemeine ist, teils zum Bewußtsein und Verständnis seiner selbst komme und gefunden werde, teils durch die Wirksamkeit der Regierung und ihrer besonderen Zweige in Wirklichkeit gesetzt und darin erhalten und ebenso gegen deren zufällige Subjektivität als gegen die der Einzelnen geschützt werde. Sie ist die existierende Gerechtigkeit als die Wirklichkeit der Freiheit in der Entwicklung aller ihrer vernünftigen Bestimmungen. (509) Wenn ich willentlich dafür sorge, dass p, beanspruche ich ipso facto, technisch verständig und praktisch vernünftig, damit rechtschaffen zu urteilen und zu handeln, mich also im Rahmen des rechtlich Erlaubten zu bewegen. Dennoch wissen wir, dass die Normen des Rechtlichen nur an sich gelten und dass weder ich noch die anderen Menschen sie immer auch in concreto vernünftig anwenden. Freiheit und Gleichheit sind die einfachen Kategorien, in welche häufig das zusammengefaßt worden ist, was die Grundbestimmung und das letzte Ziel und Resultat der Verfassung ausmachen sollte. So wahr dies ist, so sehr ist das Mangelhafte dieser Bestimmungen zunächst, daß sie ganz abstrakt sind; in dieser Form der Abstraktion festgehalten, sind sie es, welche das Konkrete, d. i. eine Gegliederung des Staats, d. i. eine Verfassung und Regierung überhaupt nicht aufkommen lassen oder sie zerstören. Mit dem Staate tritt Ungleichheit, der Unterschied von regierenden Gewalten und von Regierten, Obrigkeiten, Behörden, Vorständen usf. ein. Das konsequente Prinzip der Gleichheit verwirft alle Unterschiede und läßt so keine Art von Staatszustand bestehen. – (509) Die obersten Werte sind in ihrem Gewicht folgendermaßen gereiht: 414 414 414 f . k
888 415 k Der objektive Geist 509 f. 1. Freiheit der Individuen, sich als Personen zu entwerfen und zu bilden, 2. Frieden und Sicherheit, 3. Gleichheit vor dem Gesetz, 4. basaler Wohlstand, 5. relative Gleichverteilung von Gütern und Chancen. Das Ideal der Gleichheit ist methodisch nachgeordnet, trotz der notorisch unklaren Identifikation von Gerechtigkeit mit Gleichheit gerade auch in der Nutzens-, Glücks- und Quantitätsrhetorik des Utilitarismus. Diese Default-Ordnung ist freilich immer konkret zu modifizieren. Manchmal ist z. B. Wohlstand wichtiger als Freiheit, manchmal ist eine Gleichverteilung von Gütern in einer partiell gewaltsamen Landreform wichtiger als Recht und Gesetz. Würden die Prinzipien der Freiheit und der Gleichheit ohne diese Modifikationen abstrakt-allgemein, also schematisch angewendet, würden sie »eine Gegliederung des Staats, d. i. eine Verfassung und Regierung überhaupt nicht aufkommen lassen« und damit jedes gemeinsame Leben zerstören. Der ›Witz‹ der Staatsmacht ist sogar die Ungleichheit der regierenden Gewalten. Der ›Witz‹ der Gesellschaft als Reich der freien Verträge ist die durch Eigentumsrechte und damit durch einen staatlichen Willen vermittelte Macht von Besitzenden über die Verteilung von Arbeit und Gütern. Diese Macht wird in aller Regel allzu stereotyp und polemisch als »Kapitalismus« dargestellt. Es wird suggeriert, eine staatsozialistisch von wenigen verwaltete Allmendewirtschaft sei eine erstrebenswerte Alternative, auch wenn, wie schon gesagt, alle Staaten längst auf dem Weg zu einer fast absoluten Angestelltengesellschaft sind. Zwar sind jene Bestimmungen die Grundlagen dieser Sphäre, aber als die abstraktesten auch die oberflächlichsten und eben darum leicht die geläufigsten; es hat daher Interesse, sie noch etwas näher zu betrachten. Was zunächst die Gleichheit betri=t, so enthält der geläufige Satz, daß alle Menschen von Natur gleich sind, den Mißverstand, das Natürliche mit dem Begri=e zu verwechseln; es muß gesagt werden, daß von Natur die Menschen vielmehr nur ungleich sind. (509 f.) Der Satz, die Menschen seien von Natur aus gleich, ist mehrdeutig. Er ist daher wahr und falsch. Wahr ist, dass ihrem begri=lichen Wesen
510 Die Sittlichkeit 889 nach alle Menschen rechtlich gleichbehandelt werden sollten. Realiter aber sind wir gerade in unseren ›natürlichen‹ Fähigkeiten und in vielen anderen Voraussetzungen, etwa auch nach Rolle und Status oder bedingt durch die Weltregion, in der wir leben, alles andere als gleich. Hegel disambiguiert und kritisiert hier daher ein rhetorisches Gerede. Aber der Begri= der Freiheit, wie er ohne weitere Bestimmung und Entwicklung zunächst als solcher existiert, ist die abstrakte Subjektivität als Person, die des Eigentums fähig ist, § 488; diese einzige abstrakte Bestimmung der Persönlichkeit macht die wirkliche Gleichheit der Menschen aus. (510) Das abstrakte Wesen der Freiheit besteht in der prinzipiellen Berechtigung zu einer an sich freien Lebensführung. Daher beginnt Hegel mit meinen ›Recht‹ auf das Meine, mein Eigenes, mein vorrechtliches Eigentum. Hegel bestätigt selbst, dass seine Rede vom Eigentum extrem allgemein ist. Nur dadurch kann er das Eigentum explizit mit der abstrakten Subjektivität der Person insgesamt identifizieren. Des Eigentums fähig zu sein, bedeutet daher, sein eigenes Leben denkend und wollend im Rahmen der je für mich gegebenen Möglichkeiten gestalten zu können. Diese »abstrakte Bestimmung der Persönlichkeit« macht allein »die wirkliche Gleichheit der Menschen« aus. Das heißt, dass die Leistung des je einzelnen personalen Individuums bei der Gestaltung des Seinigen und damit seines ›Eigentums‹ je relativ zu seiner Ausgangslage zu beurteilen ist. Ein perfekt gebautes Iglu kann daher als ›bessere Leistung‹ zu werten sein als ein schlecht gebautes Holzoder Steinhaus. Die politischen Organisationen der Mayas, Inkas oder Azteken nehmen es, relativ betrachtet, leicht mit den bestorganisierten Staaten Eurasiens auf. Ein ärmliches Leben im Grenzland zu einer Wüste oder in den Bergen kann als erfolgreicher gelten als das reichste in einer fruchtbaren Niederung. Der Sinn der religiösen Rede davon, dass Gott die Seelen oder Personen nach ihrer relativen Leistung beurteile, besagt daher gerade, dass wir als volle Personen so urteilen oder jedenfalls so urteilen sollten. Es folgt die wohl tiefste Einsicht Hegels in den wahren Sinn der ebenfalls zunächst nur in einem religiösen Kontext artikulierten Unan- 415 k
890 415 k Der objektive Geist 510 tastbarkeit und Heiligkeit der Person mit ihrer konkreten Folge, den allgemeinen Menschenrechten. Alle vier Titel, die Würde des Menschen, das Menschenrecht im generischen Singular, die Freiheit der Person und die Gleichheit der Menschen stehen am Ende für ein und dasselbe, das ›Recht auf Eigentum‹, wie Hegel leicht irreführend sagt. Gemeint ist das absolute Recht auf mich selbst im Sinn meiner eigenen Lebensgestaltung nach eigenem Wissen und Willen. Darin ist das relative Recht des Subjekts auf seine Perspektive auf die Welt ebenso enthalten wie die Forderung nach Berücksichtigung der jeweils subjektiven Lage und Perspektive, damit des endlichen Wissens und begrenzten Vermögens. Andere Ausdrücke bei Hegel sind »Recht des Bewusstseins« und »Recht des Wissens«. Ich spreche auch von der Absolutheit des Subjekts und der Subjektivität. Die Di=erenz zum methodologischen Individualismus und sozialen Atomismus in der empiristischen Gesellschaftswissenschaft seit Thomas Hobbes besteht ironischerweise darin, dass deren spekulativer Standpunkt das Verhalten der Menschen von außen bzw. von der Seite betrachtet und eben damit von der Absolutheit des jeweils individuellen Subjektseins abstrahiert. Daß aber diese Gleichheit vorhanden, daß es der Mensch ist, und nicht wie in Griechenland, Rom usf. nur Einige Menschen, welcher als Person anerkannt ist und gesetzlich gilt, dies ist so wenig von Natur, daß es vielmehr nur Produkt und Resultat von dem Bewußtsein des tiefsten Prinzips des Geistes und von der Allgemeinheit und Ausbildung dieses Bewußtseins ist. – (510) In expliziter Form gibt es das Wissen um die Gleichheit aller Menschen als Personen erst seit dem Auftreten des Christentums. In den aristokratischen Gesellschaften Griechenlands und Roms galt diese Gleichheit des personalen Status nur für einige Menschen – trotz der Vertuschung dieses Umstandes durch Wörter wie »Demokratie« im Sinne einer Herrschaft des Volkes, des populus der freien Bürger. Der Gegensatz zwischen den Aristokraten oder Optimaten auf der einen Seite, dem dēmos in Athen oder der plebs in Rom auf der anderen Seite war nur ein interner Gegensatz sozusagen zwischen Hochadel und freien Herren. Nur sie waren als Vollbürger und damit als volle Personen moralisch und rechtlich anerkannt. Nur für sie ›galt‹ das
510 Die Sittlichkeit 891 konventionelle Perfektionsethos der aretē oder virtus.121 Das Wissen um die Würde des Menschen besteht gerade in der Einsicht, dass das Menschsein und Personsein als koextensional zu verstehen sind, so dass die Menge der Menschen einer Gesellschaft und die Menge der Vollbürger gleichen Umfang haben sollen. Das gilt keineswegs von Natur aus. Die schiere Umkehrung ist der Fall. Das Prinzip ist »Produkt und Resultat« unseres Bewusstseins davon, was das tiefste Prinzip des Geistes ist, eben die Freiheit des Personseins.122 Daß die Bürger vor dem Gesetze gleich sind, enthält eine hohe Wahrheit, aber die so ausgedrückt eine Tautologie ist; denn es ist damit nur der gesetzliche Zustand überhaupt, daß die Gesetze herrschen, ausgesprochen. Aber in Rücksicht auf das Konkrete sind die Bürger außer der Persönlichkeit vor dem Gesetze nur in dem gleich, worin sie sonst außerhalb desselben gleich sind. Nur die sonst, auf welche Weise es sei, zufällig vorhandene Gleichheit des Vermögens, des Alters, der physischen Stärke, des Talents, der Geschicklichkeit usf. oder auch der Verbrechen usf. kann und soll eine gleiche Behandlung derselben vor dem Gesetze – in Rücksicht auf Abgaben, Militärpflichtigkeit, Zulassung zu Staatsdiensten usf. – Bestrafung usf. – im Konkreten rechtfertigen. (510) 121 Martin Palaunek zeigt das in seinem Buch Gescheiterte Tugend. Hegels Kritik des aristotelischen Politikverständnisses in seiner Darstellung der griechischen Stadtstaaten, Freiburg: Alber 2020, auf eindrucksvolle Weise. 122 Die Frohe Botschaft allgemeiner Menschenwürde ist gewissermaßen göttlich. Ihren Protagonisten, Jesus von Nazareth, der sich selbst als Menschensohn mit einem Vater im Himmel bezeichnet, als Sohn Gottes aufzufassen und damit die Unterstellung seiner Ankläger, der sogenannten Pharisäer, aufzugreifen, lag für eine mediale Verbreitung seiner Einsichten im Anschluss an den damaligen Zeitgeist nahe. Ohne die Mission des ›Apostels‹ Paulus unter den Ethnien (›Heiden‹) des römischen Reiches wären die Ideen der jüdischen Sekte der Christen noch ganz wirkungslos geblieben. Hegel liest die ›O=enbarung‹ des Evangeliums in der Tat als erste Explikation der im Grunde selbstverständlichen Allgemeinheit der Würde und Rechte der Menschen. Dass mit der Etablierung christlicher Gemeinden nicht schon alle Knechtschaft und Unterdrückung, gerade auch der Frauen, verschwand, sollte uns nicht wundern. Die verständliche Ungeduld aller Protagonisten des Wahren und Guten steht gegen gelassene Anerkennung der schweren Belehrbarkeit von uns unvollkommenen Menschen. 415 k
892 415 k 415 k Der objektive Geist 510 Die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz ist eine Tautologie. Jedes Gesetz gilt seinem Begri= nach für alle Bürger. Das Problem war und ist, wer alles als Vollbürger zählt. Hegel macht sich allerdings keine Illusionen darüber, dass im Blick auf konkrete Inhalte die Bürger und Menschen »vor dem Gesetze nur in dem gleich« sind, worin sie in ihren Lebensumständen gleich sind. Wer kein Eigentum an Haus und Grund hat, den betre=en die Eigentumsrechte für Haus und Grund nur auf negative Weise. Analoges gilt für die Rechte der Gläubiger und die Pflichten der Schuldner, für die Steuer- und Militärpflicht (etwa in Abhängigkeit vom Einkommen) oder für eine gleiche bzw. gerechte Bestrafung. Die Gesetze selbst, außer insofern sie jenen engen Kreis der Persönlichkeit betre=en, setzen die ungleichen Zustände voraus und bestimmen die daraus hervorgehenden ungleichen rechtlichen Zuständigkeiten und Pflichten. (510) Praktisch alle konkreten Gesetze mit Ausnahme der höchst allgemeinen Prinzipien, welche das Eigenrecht der Person betre=en, setzen Unterschiede in ihren Bedingungen voraus. Sie gelten zwar formal für ›alle‹, werden aber nur für diejenigen Menschen relevant, welche die ›ungleichen‹ Bedingungen erfüllen. Es ist daher unbedingt zu unterscheiden zwischen einer ›willkürlichen‹ Diskriminierung von Menschen etwa nach Ethnie oder Hautfarbe, Religionszugehörigkeit oder Wissensstand auf der einen Seite, den di=erentiellen Bedingungen rechtlicher Normen etwa für Bürger und für ausländische Gäste, Asylsuchende und als Einwanderer anerkannte Personen mit dauernder Aufenthaltserlaubnis auf der anderen Seite. Was die Freiheit betri=t, so wird dieselbe am nächsten teils im negativen Sinne gegen fremde Willkür und gesetzlose Behandlung, teils im a;rmativen Sinne der subjektiven Freiheit genommen; dieser Freiheit aber wird eine große Breite sowohl für die eigene Willkür und Tätigkeit für seine besondern Zwecke als in Betre= des Anspruchs der eigenen Einsicht und der Geschäftigkeit und Teilnahme an allgemeinen Angelegenheiten gegeben. (511) Die Fahnenwörter »Freiheit«, »Gerechtigkeit« und »Gleichheit« werden häufig schlicht füreinander ohne Unterscheidung gebraucht. Im Kern ist Freiheit eine Freiheit von unberechtigtem Zwang. Freiheit von Furcht ist Sicherheit, die sich ebenfalls hauptsächlich gegen
511 Die Sittlichkeit 893 »fremde Willkür und gesetzlose Behandlung« richtet. Die Freiheit von Not heißt Wohlstand. Manchen Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit geht es nur um die Freiheit von Neid. Die subjektive Freiheit ist bloß erst die Freiheit, zu tun und zu lassen, was ich momentan zu tun präferiere. Bloß momentane Willkür ist aber noch keineswegs das freie Wollen der bewussten Sorge dafür, welche Person ich sein – und gewesen sein – werde. Im Schwanken zwischen dem Neigungs-, Präferenz- und Willkürbegri= des subjektiven Willens und dem freien Willen als ›Anspruch der eigenen Einsicht‹ in je meiner »Teilnahme an allgemeinen Angelegenheiten« geht jedes genaue Verständnis von Freiheit der Person und ihres Willens unter. An dieser Vagheit scheitert auch die Frage schon in ihrem Sinn, ob es Freiheit überhaupt gebe. Das alles gilt erst recht, wenn man nicht zwischen einem animalischen Begehren, einem begri=lich bestimmten Wünschen als Pro-Attitüde zu einer gedachten Möglichkeit und einem freien Wollen unterscheidet. Ehemals sind die gesetzlich bestimmten Rechte, sowohl Privatals ö=entliche Rechte einer Nation, Stadt usf., die Freiheiten derselben genannt worden. In der Tat ist jedes wahrhafte Gesetz eine Freiheit, denn es enthält eine Vernunftbestimmung des objektiven Geistes, einen Inhalt somit der Freiheit. (511) Früher sprach man von Freiheiten und meinte bestimmte Privilegien oder Rechte einer Region, Stadt oder eines Standes usf. Dabei ist logisch ganz richtig, dass »jedes wahrhafte Gesetz eine Freiheit ist«, denn es koordiniert oder regelt die freie Kooperation von Personen – und ist gerade insofern »eine Vernunftbestimmung des objektiven Geistes«. Jedes Gesetz, das verbietet, mich und das Meine zu schädigen, sichert meine Freiheit. Gebote, welche Personen und Institutionen fördern, sind ebenfalls Freiheiten. Dagegen ist nichts geläufiger geworden als die Vorstellung, daß jeder seine Freiheit in Beziehung auf die Freiheit der Andern beschränken müsse und der Staat der Zustand dieses gegenseitigen Beschränkens und die Gesetze die Beschränkungen seien. In solchen Vorstellungen ist Freiheit nur als zufälliges Belieben und Willkür aufgefaßt. – (511) Einem rein schematischen Denken scheint es so, als müsse jedes Subjekt Teile seiner Willkürfreiheiten zugunsten der Freiheiten der 415 f . k 416 k
894 416 k 416 k Der objektive Geist 511 anderen beschränken oder gar aufopfern. Der Staat erscheint dann als Kontrollinstanz der Einhaltung dieser rein negativen Regeln des »gegenseitigen Beschränkens«. Seine Gesetze würden dann sozusagen nur verhindern, dass wir uns gegenseitig allzu sehr auf die Zehen treten oder mit ansteckenden Krankheiten infizieren. Man übersieht dabei, dass der Staat und sein Rechtssystem zusammen mit dem von ihm ebenfalls geförderten Bereich des Wissens ganz neue Freiheiten des gemeinsamen und eben damit des einzelnen Handelns scha=en. So ist auch gesagt worden, daß die modernen Völker nur oder mehr der Gleichheit als der Freiheit fähig seien, und zwar wohl aus keinem andern Grunde, als weil man mit einer angenommenen Bestimmung der Freiheit (hauptsächlich der Teilnahme aller an den Angelegenheiten und Handlungen des Staats) doch in der Wirklichkeit nicht zurechtkommen konnte, als welche vernünftiger und zugleich mächtiger ist als abstrakte Voraussetzungen. – (511) Nur negativ wird der Staat auch dann verstanden, wenn man meint, es gäbe ihn nur, weil man »in der Wirklichkeit« nicht damit zurechtgekommen sei, dass alle frei kooperieren sollten, so dass die Zwangsmittel eines Staates »vernünftiger und zugleich mächtiger« wären als die abstrakte Vorstellung freier Kooperation. Auf die schon damals vorgetragene These, dass die moderne Massengesellschaft eher eine Veranstaltung der Gleichmacherei als der Förderung der Freiheit sei, antwortet Hegel so: Es ist richtig, dass im Unterschied zu einer Familie und einem Stamm der einzelne Bürger in einem Flächenstaat nicht mehr viel zu sagen hat. Trotz aller möglichen demokratischen Wahlen nimmt er kaum aktiv bestimmend »an den Angelegenheiten und Handlungen des Staats« teil. Der Witz dieser Staaten besteht aber gerade in der Verwandlung von Mitbestimmung in eine gemeinsame Kontrolle der Entscheidungen des Leitungspersonals durch implizite oder explizite Anerkennung oder Kritik. Für die Umsetzung von Kritik in Reformen gibt es einen Rahmen anerkannter Verfahren. Die Nichtanerkennung dieser Verfahren führt im schlimmsten Fall zum Bürgerkrieg und damit zur Zerstörung des Gemeinwesens. Im Gegenteil ist zu sagen, daß eben die hohe Entwicklung und Ausbildung der modernen Staaten die höchste konkrete Ungleichheit der Individuen in der Wirklichkeit hervorbringt, hingegen durch die
511 f. Die Sittlichkeit 895 tiefere Vernünftigkeit der Gesetze und Befestigung des gesetzlichen Zustandes um so größere und begründetere Freiheit bewirkt und sie zulassen und vertragen kann. (511) Die »Ausbildung der modernen Staaten« führt gerade zur Ausdifferenzierung von Status und Rollen der Bürger und damit zu einer Entwicklung konkreter »Ungleichheit der Individuen«. Diese ist als solche sowohl Entwicklung der Freiheit der Personen als auch deren Gefährdung.123 In der Rechtsphilosophie verlangt Hegel daher einen Sozialstaat. Zentrales Argument ist, dass von Menschen die Anerkennung eines Rechtssystems nicht zu verlangen ist, wenn dieses es ihnen verwehrt, für sich selbst zu sorgen. Marx hat eben dieses Argument aufgegri=en. Hier lautet Hegels Diagnose nur erst positiv so, dass »die tiefere Vernünftigkeit der Gesetze« als Folge implizit ausdi=erenzierter geschichtlicher Erfahrungen insgesamt zu einer »Befestigung des gesetzlichen Zustandes« geführt hat, der, allein schon quantitativ betrachtet, eine größere Diversität und gesichertere Freiheit bewirkt und diese in der Gesellschaft auch anerkennbar macht. Schon die oberflächliche Unterscheidung, die in den Worten Freiheit und Gleichheit liegt, deutet darauf hin, daß die erstere auf die Ungleichheit geht; aber umgekehrt führen die gäng und gäben Begri=e von Freiheit doch nur auf Gleichheit zurück. Aber je mehr die Freiheit als Sicherheit des Eigentums, als Möglichkeit, seine Talente und guten Eigenschaften zu entwickeln und geltend zu machen usf., befestigt ist, desto mehr erscheint sie, sich von selbst zu verstehen; das Bewußtsein und die Schätzung der Freiheit wendet sich dann vornehmlich nach dem subjektiven Sinne derselben. (511 f.) 123 Hegel klammert nur hier, keineswegs insgesamt, das Problem aus, dass viele Menschen aufgrund ihrer prekären sozialökonomischen Lage eine extrem beschränkte Freiheit der Selbstbildung als Person und Bürger hatten und haben. Marx hat Hegels Ausdruck »Pöbel« für das ›niedere Volk‹ im Grunde nur durch das Wort »Proletariat« ersetzt, das auf durchaus ironische, ja sarkastische, Weise ausdrückt, dass es sich um Leute handelt, die im Wesentlichen nur für Nachkommen (proles) und damit sozusagen für Überbevölkerung (also auch für die ›industrielle Reservearmee‹ und damit für ihre eigenen Konkurrenten auf dem ›Arbeitsmarkt‹) sorgen. 416 k
896 416 k 416 f . k Der objektive Geist 512 Freiheit ist immer auch Sicherung des Eigentums, also des jeweils Meinigen. Hegel fasst das Eigentum in ganz allgemein im Kontext der Selbstbildung der Person so auf: Seine Sicherung scha=t allererst die »Möglichkeit, seine Talente und guten Eigenschaften zu entwickeln und geltend zu machen usf.« Die größte Gefahr für die Freiheit der Person, gesichert im Staat, besteht darin, sie für selbstverständlich zu halten und mit der subjektiven Willkürfreiheit zu verwechseln. Außerdem gefährdet die abstrakte Forderung nach Gleichheit der Lebensverhältnisse, zentral verwaltet durch den Staat, die Diversität freier Lebensentwürfe durchaus. Diese aber selbst, die Freiheit der nach allen Seiten sich versuchenden und für besondere und für allgemeine geistige Interessen nach eigner Lust ergehenden Tätigkeit, die Unabhängigkeit der individuellen Partikularität wie die innere Freiheit, in der das Subjekt Grundsätze, eigene Einsicht und Überzeugung hat und hienach moralische Selbständigkeit gewinnt, enthält teils für sich die höchste Ausbildung der Besonderheit dessen, worin die Menschen ungleich sind und sich durch diese Bildung noch ungleicher machen, teils erwächst sie nur unter der Bedingung jener objektiven Freiheit und ist und konnte nur in den modernen Staaten zu dieser Höhe erwachsen. (512) Es gibt in allen Staaten ausdi=erenzierte Berufsstände. Und doch sind es gerade die ›modernen‹ Staaten (sozusagen in der Nachfolge des römischen Reiches), in welchen sich die Freiheit der Person und die Diversität der Selbstbildung als Person auf besondere Weise entwickelt haben. Wenn mit dieser Ausbildung der Besonderheit die Menge von Bedürfnissen und die Schwierigkeit, sie zu befriedigen, das Räsonnieren und Besserwissen und dessen unbefriedigte Eitelkeit sich ins Unbestimmbare vergrößert, so gehört dies der preisgegebenen Partikularität an, der es überlassen bleibt, sich in ihrer Sphäre alle möglichen Verwicklungen zu erzeugen und sich mit ihnen abzufinden. Diese Sphäre ist dann freilich zugleich das Feld der Beschränkungen, weil die Freiheit befangen in der Natürlichkeit, dem Belieben und der Willkür ist und sich also zu beschränken hat, und zwar wohl auch nach der Natürlichkeit, dem Belieben und
512 f. Die Sittlichkeit 897 der Willkür der Andern, aber vornehmlich und wesentlich nach der vernünftigen Freiheit. (512) Die indefinite Vervielfältigung von anspruchsvollen Lebenszielen und Bedürfnissen ist nicht per se zu kritisieren, sondern gehört logisch zur Entwicklung der Freiheit der Person. Dasselbe gilt für die »Schwierigkeit, sie zu befriedigen«, wie etwa im Wettbewerb von Künstlern, Sportlern, Bergsteigern usf., wobei es z. B. auch eine Kunst religiöser Kontemplation oder Erbauung gibt. Die vernünftige politische Freiheit als Rahmen freilich muss bewahrt bleiben – so dass gerade hier die größten Gefahren drohen. Es ist, wie diese Passagen zeigen, völlig abwegig, Hegel einen anti-individualistischen Kollektivismus zu unterstellen. Man hört wohl nur nicht gern, dass er die Naivitäten und inneren Widersprüche sowohl eines Sozialatomismus bzw. methodologischen Individualismus als auch eines Konsenskommunitarismus aufdeckt. Was aber die politische Freiheit betri=t, nämlich im Sinne einer förmlichen Teilnahme des Willens und der Geschäftigkeit auch derjenigen Individuen, welche sich sonst zu ihrer Hauptbestimmung die partikulären Zwecke und Geschäfte der bürgerlichen Gesellschaft machen, an den ö=entlichen Angelegenheiten des Staates, so ist es zum Teil üblich geworden, Verfassung nur die Seite des Staats zu nennen, welche eine solche Teilnahme jener Individuen an den allgemeinen Angelegenheiten betri=t, und einen Staat, in welchem sie nicht förmlich statthat, als einen Staat ohne Verfassung anzusehen. Es ist über diese Bedeutung zunächst nur dies zu sagen, daß unter Verfassung die Bestimmung der Rechte, d. i. der Freiheiten überhaupt, und die Organisation der Verwirklichung derselben verstanden werden muß, und die politische Freiheit auf allen Fall nur einen Teil derselben ausmachen kann; von derselben wird in den folg. §§ die Rede sein. (512 f.) Hegel kritisiert hier die Vorstellung, politische Freiheit bestehe nur darin, dass alle Bürger »im Sinne einer förmlichen Teilnahme« an den Entscheidungen ›des Staates‹ mitwirken. Mitbestimmung kann wichtig sein. Ihre Überschätzung schon im Ausdruck »Demokratie« ist jedoch immer auch für das Gemeinwesen und die Freiheit der Personen gefährlich, da sie immer auch einem antirepublikanischen 417 k
898 Der objektive Geist 513 Populismus Vorschub leistet: Die erste Volkspartei Deutschlands war die der Nazis. 417 417 f . k § 540 Die Garantie einer Verfassung, d. i. die Notwendigkeit, daß die Gesetze vernünftig und ihre Verwirklichung gesichert sei, liegt in dem Geiste des gesamten Volkes, nämlich in der Bestimmtheit, nach welcher es das Selbstbewußtsein seiner Vernunft hat (die Religion ist dies Bewußtsein in seiner absoluten Substantialität), – und dann zugleich in der demselben gemäßen wirklichen Organisation als Entwicklung jenes Prinzips. Die Verfassung setzt jenes Bewußtsein des Geistes voraus, und umgekehrt der Geist die Verfassung, denn der wirkliche Geist selbst hat nur das bestimmte Bewußtsein seiner Prinzipien, insofern dieselben für ihn als existierend vorhanden sind. (513) Es ist nicht eigentlich von einer Garantie der Verfassung die Rede, also nicht von einer (institutionellen) Absicherung, dass die Gesetze vernünftig und ihre Verwirklichung gesichert sind. Hegel will vielmehr nur sagen, dass im Großen und Ganzen die politische Ö=entlichkeit, also am Ende das gesamte Volk, für die Anerkennung der Verfassung und die Kontrolle von Regierung und Rechtssystem verantwortlich ist, im Guten wie im Schlechten. So wie Idee und Geist nur zwei Aspekte desselben Inhalts sind, wobei das Wort »Geist« das generische Wir der Anerkennung der inhaltlichen Orientierungen zum Ausdruck bringt, so sind auch die staatliche Verfassung einer Gesellschaft und der Geist der Nation im Grunde nur zwei Aspekte desselben. Es spiegelt sich z. B. auch der Ungeist der ›Nazidiktatur‹ im Ungeist der damaligen deutschen Gesellschaft, trotz der Ausnahmen relativ weniger nicht konformer Bürger. Dabei täuscht die Rede von einer staatlichen Gewaltherrschaft. Denn es lag an den damaligen Mehrheitshaltungen, dass die Organisation eines Widerstandes gegen die Mehrheitsdiktatur so extrem schwierig war. Die Frage, wem, welcher und wie organisierten Autorität die Gewalt zukomme, eine Verfassung zu machen, ist dieselbe mit der, wer den Geist eines Volkes zu machen habe. Trennt man die Vorstellung einer Verfassung von der des Geistes so, als ob dieser wohl
513 f. Die Sittlichkeit 899 existiere oder existiert habe, ohne eine Verfassung, die ihm gemäß ist, zu besitzen, so beweist solche Meinung nur die Oberflächlichkeit des Gedankens über den Zusammenhang des Geistes, seines Bewußtseins über sich und seiner Wirklichkeit. Was man so eine Konstitution machen nennt, ist, um dieser Unzertrennlichkeit willen, in der Geschichte niemals vorgekommen, ebensowenig als das Machen eines Gesetzbuches; eine Verfassung hat sich aus dem Geiste nur entwickelt identisch mit dessen eigner Entwicklung und zugleich mit ihm die durch den Begri= notwendigen Bildungsstufen und Veränderungen durchlaufen. (513 f.) Man verwechselt allzu leicht Wort und Begri=, hier: die Artikulation einer Verfassung mit der Verfassung selbst. Das geschieht schon, wenn man fragt, wer denn die Macht habe, eine Konstitution nach Art des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zu verfassen. Hegel weist die Frage auf eine Weise zurück, die manche zur Meinung verführt, er glaube an einen di=usen Geist eines Volkes. Dabei begreift er nur, dass Texte allein nicht weiterhelfen, wenn empraktische Anerkennungen ihrer Anwendung im gemeinsamen Urteilen und Handeln fehlen.124 Das Schreiben von Gesetzbüchern ist nicht dasselbe wie das Erlassen von Gesetzen. Aber auch deren Umsetzung und Anerkennung lässt sich nicht einfach ›machen‹. Die Inhalte von Gesetzen sind immer aus einer impliziten Empraktik, »aus dem Geiste« zu entwickeln. Die Rede von den »durch den Begri= notwendigen Bildungsstufen und Veränderungen« bedeutet also, dass am Anfang gröbere differentiell bedingte Normalfallfolgen festgelegt sind, die sich in der gemeinsamen Erfahrung unseres Umgangs mit der begri=lichen bzw. normativen Form ausdi=erenzieren und, wenn man so sagen will, auf allgemeine Weise auch dann verbessern, wenn wir das aus 124 Die Autoren des Grundgesetzes auf Herrenchiemsee hatten nur die Aufgabe, aus einer bekannten europäisch-westlichen Kultur konkrete Prinzipien auszuwählen, gerade auch, um Problemen gegenzusteuern, die mit den Formulierungen und Ausgestaltungen der Weimarer Verfassung aufgetreten waren. Eine Staatsverfassung entwickelt sich und kann nie einfach von einer Gruppe von Leuten ›gemacht‹ werden, so wenig wie die Inhalte einer Wissenschaft.
900 418 k 418 Der objektive Geist 514 mangelndem Erinnerungsvermögen und im verständlichen Fokus auf die ewig ungelösten Restprobleme und damit auf die Zukunft gar nicht aktual bemerken. Es ist der inwohnende Geist und die Geschichte – und zwar ist die Geschichte nur seine Geschichte –, von welchen die Verfassungen gemacht worden sind und gemacht werden. (514) Es ist keineswegs ein hinterweltlerischer Gott oder mystischer Weltgeist, der die Geschichte der Formen und Normen des Rechts oder die Verfassungen der Staaten entwickelt, sondern wir sind es, aber eben nicht nur in tätiger und zielgerichteter Herstellung von etwas als Einzelne, sondern im Rahmen einer allgemeinen Praxis. In ihr machen wir Erfahrung mit unseren eigenen Anerkennungen und Nichtanerkennungen überkommener Formen und Normen des Urteilens und Handelns. Sätze der Art »Der Mensch macht seine Geschichte« sind daher mindestens ebenso falsch wie »Wir setzen unsere Gesetze« oder »Wir definieren unsere Begri=e«. Die Ersetzung von »wir«, »der Mensch« und »die Menschen« durch den begri=lichen Inhalt oder den Geist einer Institution, die sich selbst entwickelt, drückt die diffuse Form geschichtlichen Geschehens weit besser aus, auch wenn wahr bleibt, dass es durch unser tätiges Anerkennen, Wissen und Wollen vermittelt bleibt. Aber es geschieht auch in gewissem Sinn hinter dem Rücken unserer Aufmerksamkeit. Daher ist die Geschichte des Geistes nur seine Geschichte. Die Geschichte des Staates als Gesamt kooperativer Institutionen ist auch nur seine Geschichte. § 541 Die lebendige Totalität, die Erhaltung, d. i. die fortdauernde Hervorbringung des Staats überhaupt und seiner Verfassung ist die Regierung. (514) Mit dem Ausdruck »lebendige Totalität« meint Hegel das Gesamtsystem der Institutionen des Staates, vertreten durch Personen. Dinge und Sachen können hier nur Symbole sein. Die Kerngruppe der Personen, deren Urteilen und Tun die Erhaltung des Staates bewirkt, der als solcher nichts Statisches ist, sondern ebenso dauernd neu hervorgebracht werden muss, heißt »Regierung«. Es gibt kaum eine prägnantere und passendere Definition.
514 Die Sittlichkeit 901 Die natürlich notwendige Organisation ist die Entstehung der Familie und der Stände der bürgerlichen Gesellschaft. (514) Eine Lesart des ambigen Satzes ist, dass die Familien und Stände der bürgerlichen Gesellschaft eine notwendige Bedingung des Staates ausmachen. Gemeint könnte aber auch sein, dass zur ›natürlichen‹ Seite der Notwendigkeit einer Organisation der Gesellschaft durch den Staat die Familien und die Berufsstände gehören, die der Staat zu schützen hat. Die zweite Lesart passt wohl besser. Die Regierung ist der allgemeine Teil der Verfassung, d. i. derjenige, welcher die Erhaltung jener Teile zum absichtlichen Zwecke hat, aber zugleich die allgemeinen Zwecke des Ganzen faßt und betätigt, die über der Bestimmung der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft stehen. (514) Die allgemeinen Zwecke des Ganzen stehen nur insofern über der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft, als nur in ihrem Rahmen von den Akteuren partikulare Zwecke verfolgt werden können. Die Organisation der Regierung ist gleichfalls ihre Unterscheidung in Gewalten, wie deren Eigentümlichkeiten durch den Begri= bestimmt sind, aber in dessen Subjektivität zur wirklichen Einheit sich durchdringen. (514) Hegels Begri= der Regierung ist weiter als der heutige Sinn, da z. B. das Parlament ebenso dazugehört wie das Staatsoberhaupt. Dass die besondere Gliederung in Aufgaben und Kompetenzen »durch den Begri= bestimmt« sei, lädt schon deswegen zu einer Fehllektüre ein, weil Hegel hier, wie so oft, vom Begri= des Staates und der gegliederten Form seiner Regierung spricht – aber den klärenden Genetiv weglässt. Die Subjektivität der Regierung besteht im Regierungshandeln. Da die nächsten Kategorien des Begri=s die der Allgemeinheit und Einzelnheit sind und deren Verhältnis das der Subsumtion der Einzelnheit unter die Allgemeinheit ist, so ist es geschehen, daß im Staate gesetzgebende und ausübende Gewalt, aber so unterschieden worden sind, daß jene für sich als die schlechthin oberste existiere, die letztere sich wieder in Regierungs- oder administrative Gewalt und in richterliche Gewalt teile, nach der Anwendung der Gesetze auf allgemeine oder auf Privat-Angelegenheiten. (514) Für alle Begri=e gilt, dass wir zwischen der Allgemeinheit der generischen Normal- und Idealfälle und der Einzelheit von immer 418 418 418 418 k
902 418 k Der objektive Geist 514 f. auch mangelhaften Exemplaren und Instanziierungen unterscheiden müssen. Am Klarsten wird das logische Verhältnis »der Subsumtion der Einzelnheit unter die Allgemeinheit« in seiner Ambivalenz, wenn wir konkrete Linien als ausreichend gerade, parallel oder orthogonal ansehen – oder eben nicht. Es gibt hier trivialerweise immer eine Di=erenz zwischen dem (immer idealen) Begri= an sich und seinen Realisierungen. Wenn man nun die Form des Begri=s an sich auf den Begri= des Staates anwendet, erscheint es so, als könne man im Blick auf die Einzelpersonen die Gruppe von Leuten, welche die gesetzgebende Gewalt ausüben, von der Gruppe von Leuten unterscheiden, welche die Gesetze anwenden. Man meint daher, dass »jene für sich als die schlechthin oberste existiere«, und erklärt das Parlament, etwa den Bundestag, zum eigentlichen Souverän, die Regierung und das Justizwesen zur bloßen administrativen Gewalt bei der Umsetzung oder Anwendung der Gesetze. Das ist für Hegel ein naheliegender, aber riesiger Irrtum. Für das wesentliche Verhältnis ist die Teilung dieser Gewalten angesehen worden, im Sinne ihrer Unabhängigkeit voneinander in der Existenz, aber mit dem erwähnten Zusammenhange der Subsumtion der Gewalten des Einzelnen unter die Gewalt des Allgemeinen. (514 f.) Es gilt, die Hauptstoßrichtung von Hegels Kritik herauszuarbeiten und damit das allgemeine Problem von besonderen Problemen zu unterscheiden. Hegel erkennt die Naivität im Glauben, durch eine bloße Teilung der Gewalten eine nachhaltige staatliche Ordnungs- und Leitungsstruktur einer res publica errichten zu können. Das Problem wird klar, wenn man sich exemplarisch vorstellt, was es heißen würde, dass Staatsoberhaupt, Regierung, Parlament und oberste Gerichte nicht, wie im guten Normalfall, relativ vertrauensvoll miteinander kooperieren, sondern nur gegeneinander arbeiten, auf ihre Rechte pochen, sich gegenseitig dauerkontrollieren und dabei die allgemeine Integrität der anderen Institutionen infrage stellen. Es gäbe dann nicht nur in seltenen Ausnahmen ein Impeachment des Präsidenten, eine Vertrauensfrage gegen die Regierung, eine Gegenregierung des Parlaments mit dem Segen des obersten Gerichts oder dann auch Versuche der Beeinflussung der Entscheidungen des Parlaments etwa durch Drohungen, bis hin zu einem Ermächtigungsgesetz, in
515 Die Sittlichkeit 903 dem sich das Parlament selbst marginalisiert oder auch nur sein Zusammentreten verhindert wird, um von weiteren politischen Einflussnahmen auf das Rechtssystem gar nicht zu sprechen. Dabei fällt auf, dass die Exekutive, konkreter die verfassungsmäßige oder faktische Leitung der Sicherheitskräfte und damit des Gewaltmonopols im Staat – von den Prätorianer-Garden und der Armee Roms bis in die Gegenwart – in einem solchen Kampf kurzfristig am mächtigsten ist. Daher nützt die Unabhängigkeit der Urteile der vier genannten Gewalten voneinander im Streitfall weit weniger, als man meinen mag, wenn die Unterordnung der einzelnen Gewalten »unter die Gewalt des Allgemeinen« fehlt, genauer, wenn man sie nicht als eine Art Arbeitsteilung in einem Rollenspiel der gegenseitigen Beeinflussung und Beurteilung im Rahmen einer gemeinsamen Leitung des Gemeinwesens versteht. Es sind in diesen Bestimmungen die Elemente des Begri=s nicht zu verkennen, aber sie sind von dem Verstande zu einem Verhältnis der Unvernunft, statt zu dem Sich-mit-sich-selbst-Zusammenschließen des lebendigen Geistes, verbunden. (515) Hegels dem Klang nach religiöse Rede vom lebendigen Geist und die Rede von einem Zusammenschließen verdunkelt den Gedanken, den er hier stenographisch skizziert. Zunächst stellt er den schematisch trennenden Verstand einer Vernunft gegenüber, welche die allgemeine Struktureinheit des jeweiligen Gesamtbegri=s erkennt, z. B. der Zahl oder der Person, hier aber des Staates. Die Idee als realisierter Begri= ist das jeweilige strukturierte Vollzugssystem. Der einfache Inhalt der Passage ist daher: Man darf die Teilmächte des Staats wie Senat oder Parlament, Monarch oder Präsident, Regierung und Richter nicht schematisch auseinanderreißen. In Langform kann man diesen Inhalt so illustrieren: Montesquieu hat zwar recht, dass eine gewisse Gewaltenteilung zum Begri= des Staats und seiner Regierung gehört, sogar schon in den ›vorantiken‹ und ›orientalischen‹ Monarchien. Denn auch ein patriarchalischer (Groß-)König (Rex oder Pharao) brauchte Statthalter, Generäle, Richter und Verwaltungspersonal. Besonders aber brauchte er eine Armee, so wie eine aristokratische Republik wie Karthago, Athen, Sparta oder Rom. Sie brauchten auch einen Senat, Ephoren, Konsuln bzw. Prätoren als oberste Richter. Im römischen Kaiserreich wird der Cäsar im 418 f . k
904 419 k 419 k Der objektive Geist 515 Grunde ›nur‹ zum Konsul, Prätor und besonders zum Imperator der Armee ›auf Lebenszeit‹, nachdem die alte Verfassung den latenten Dauerbürgerkrieg nicht befrieden konnte. Damit verschiebt sich die zentrale Macht im Staat weg vom Senat und den reichen Familien hin zu den Cäsaren – so dass der Kaiser in Ostrom sogar partiell wieder zu einer Art orientalischem Basileus wird, also zu einem König, im türkischen Nachfolgestaat zum Sultan, im russischen zum Zaren. In den westlichen Nachfolgestaaten des römischen Reiches werden gewisse republikanische Elemente besonders der Freiherren erhalten und sogar ausgebaut, darunter auch die Selbstverwaltungen städtischer Zentren, besonders aber auch der Kirche und der Klöster. Daß die Geschäfte der allgemeinen Interessen des Staats in ihrem notwendigen Unterschiede auch voneinander geschieden organisiert seien, diese Teilung ist das eine absolute Moment der Tiefe und Wirklichkeit der Freiheit; denn diese hat nur so Tiefe, als sie in ihre Unterschiede entwickelt und zu deren Existenz gelangt ist. (515) Hegel anerkennt die von mir »republikanisch« genannte Teilung der Geschäfte und Mächte in der Organisation der Staaten als absolut notwendig. Und er sieht, dass man unbedingt zwischen dem einzelnen Tun der empirisch-individuellen Repräsentanten einer Rolle und der Rolle selbst als Strukturform im Kontext des gemeinsamen Handelns unterscheiden muss, gerade so wie zwischen Zahltermen und Zahlen. Der politische und personale Status und personale Rollen sind allgemein und abstrakt – und doch so real wie die je etablierte Praxis. Sie ist reale Idee des Begri=s des Gemeinwesens. Diese ist das Gesamt von allem institutionell formierten gemeinsamen Handeln. Im Einzelhandeln gehört die Orientierung am Ethos oder Sittlichkeit dazu. Das Geschäft des Gesetzgebens aber (und vollends mit der Vorstellung, als ob irgendwann eine Verfassung und die Grundgesetze – in einem Zustande, worein eine schon vorhandene Entwicklung der Unterschiede gelegt wird – erst zu machen wären) zur selbständigen Gewalt, und zwar zur ersten, mit der nähern Bestimmung der Teilnahme aller daran, und die Regierungsgewalt zur davon abhängigen, nur ausführenden zu machen, – dies setzt den Mangel der Erkenntnis voraus, daß die wahre Idee und damit die lebendige und geistige Wirklichkeit der sich mit sich zusammenschließende Begri= und
515 Die Sittlichkeit 905 damit die Subjektivität ist, welche die Allgemeinheit als nur eines ihrer Momente in ihr enthält. (515) Die Vorstellung, das Parlament als Fortsetzung der antiken Tradition des Senats sei oberster Gesetzgeber und damit oberste Macht im Staate, hält Hegel für einseitig. Ein kurzer (wieder exoterischer) Blick auf die politische Geschichte gibt ihm recht: Zwar gab es in Großbritannien mit der Magna Charta Libertatum von 1215 eine Machtverschiebung in Richtung der Adelsversammlungen und, nach der Revolution Cromwells, erst recht mit der Glorious Revolution, eine Gegenbewegung zur gesamteuropäischen Tendenz in Richtung eines ›absolutistischen‹ Verwaltungsstaats, womit das Parlament wieder gestärkt wurde. Das aber bedeutete faktisch zunächst nur einen Machtzuwachs der ›freien Herren‹, also des Adels und der Reichen. Man sollte weder in der Antike noch in der Neuzeit eine solche oligarchische Plutokratie mit ›Demokratie‹ verwechseln. Das gilt übrigens auch für die Machtergreifung zunächst nur des Großbürgertums in der Schweiz gegen fürstliche und dann auch regale Gewalten, obwohl strukturell jede demokratische Republik oder republikanische Demokratie als das Erbe erstens der europäischen Adelsrepubliken und zweitens des frühneuzeitlichen Absolutismus (oder besser: zentralen Verwaltungsstaates) mit Spanien und Frankreich als Prototypen anzusehen ist. Hegels ›esoterische‹ Ausdrücke wie »wahre Idee«, »lebendige und geistige Wirklichkeit«, »der sich mit sich zusammenschließende Begri=« des Staates und »Subjektivität« verweisen alle – für unsere Ohren in veralteter Diktion – auf das gemeinsame Wir eines verfassten Gemeinwesens als transzendentallogische Bedingung der Möglichkeit einer bürgerlichen Gesellschaft. Dem bloß pluralen Subjekt des distributionellen Wir einer Gesellschaft von freien Vertragspartnern steht damit immer schon das staatliche Gemeinwesen mit einer gegliederten repräsentativen Leitung und damit einer institutionellen Realisierung des Begri=s des Gemeinwillens als vorausgesetzter Rahmen gegenüber. Der Vorwurf, Hegel unterstelle einen mystischen Gemeinwillen oder ein metaphysisches Wir bzw. einen spekulativen Volksgeist ohne strenge Explikation von Form und Seinsweise erweist sich als falsch. Er ist Folge mangelnder Lektüre und eines Mangels an Verständnis
906 419 k 419 k Der objektive Geist 515 der Logik des Wir und des Ich, von Subjekt und Person, damit auch von Rolle und Status, Anerkennung und Mitbestimmung, also der fundamentalen Grundbegri=e der Soziologie und der politischen Wissenschaften. Die Individualität ist die erste und die höchste durchdringende Bestimmung in der Organisation des Staates. (515) Dabei leugnet Hegel keineswegs, dass die realen Akteure Einzelindividuen sind und bleiben. Im Gegenteil. Er arbeitet eben diese Grundtatsache und ihre logischen Folgen für das allgemeine Gesamtsystem von Staat und Gesellschaft heraus. Das geschieht bisher in keiner Staats- und Gesellschaftstheorie. Zwar kommen die systemtheoretischen Analysen Niklas Luhmanns der hegelschen Sache schon sehr nahe. Ihr entscheidender Mangel liegt in der Betrachtung der Institutionen und Systeme von der Seite, besonders aber in der Subsumtion der Subjektivität der Akteure mit ihrer ›Liebe‹ und ihrem ›Vertrauen‹ unter ein System kausal wirksamer Teilsysteme. Mit anderen Worten, es wird die Absolutheit der Vollzüge des individuellen und gemeinsamen Handelns unterschätzt und damit die ›Wirkung‹ von ›Ideen‹ kausal so hypostasiert, wie es Hegel gerade nicht tut. Ich wiederhole daher den zentralen Satz: Die Individualität der Akteure ist in der Tat »die erste und die höchste durchdringende Bestimmung in der Organisation des Staates«. Nur durch die Regierungsgewalt und dadurch, daß sie die besondern Geschäfte, wozu auch das selbst besondere, für sich abstrakte Gesetzgebungs-Geschäft gehört, in sich begreift, ist der Staat Einer. – (515) Wir sollten uns nicht wundern, dass es trotz der Ablehnung des utopisch-vertragstheoretischen Sozialatomismus von Thomas Hobbes auch Übereinstimmungen mit dessen Staatsanalysen gibt. Auch für Hobbes definiert die Einheit der Regierungsgewalt oder Exekutive die Einheit von Staat und bürgerlicher Gesellschaft. Nur sie verhindert Bürgerkriege aller Art. Dabei muss das Geschäft der für sich abstrakten Gesetzgebung, also der bloß erst verbalen Formulierung und Umformulierung geltender rechtlicher Regelungen, im Prinzip in seiner prinzipiellen Subordination unter die Exekutive und Jurisdiktion verstanden werden. – Es folgt eine allgemeine Bemerkung zur eigenen Methode der logisch-begri=lichen Analyse.
515 f. Die Sittlichkeit 907 So wesentlich wie überall und allein wahr ist das vernünftige Verhältnis des Logischen gegen das äußere Verhältnis des Verstandes, der nur zum Subsumieren des Einzelnen und Besondern unter das Allgemeine kommt. (515) Der immer bloß erst äußerlich, schematisch unterscheidende Verstand zerlegt alle Kontinuitäten, Zusammenhänge und globalen Prozesse durch Wörter (bzw. Begri=e) in diskrete Teile und Gegenstände. So gehen wir auch vor, wenn wir Staat und Regierung darstellen. Dabei übersehen wir tendenziell, dass die Macht der Teilorgane und Individuen von vornherein nur vom Ganzen her zu verstehen ist und sich nur aus der praktischen Anerkennung der Rollen und Status ›durch uns‹ stabil ergibt. Was die Einheit des Logisch-Vernünftigen desorganisiert, desorganisiert ebenso die Wirklichkeit. (515) Was die Einheit des Ganzen, wie sie in der logisch-vernünftigen Betrachtung wenigstens ansatzweise artikuliert wird, verbal infrage stellt und durch eine Entgegensetzung von allem Einzelnen gegeneinander verunklart, trägt am Ende zur Desorganisation der sozialen Wirklichkeit bei – etwa schon durch die sozialatomistische Lehre vom Kampf aller gegen alle oder durch deren Fortsetzung im Sozialdarwinismus mit seinem ›natürlichen‹ Kampf ums Überleben der ›fittesten‹ Individuen und ›Rassen‹. § 542 In der Regierung als organischer Totalität ist 1) die Subjektivität als die in der Entwicklung des Begri=s unendliche Einheit desselben mit sich selbst, der alles haltende, beschließende Wille des Staats, die höchste Spitze desselben wie [seine] alles durchdringende Einheit, – die fürstliche Regierungsgewalt. (515 f.) Der Fürst ist der Erste, Princeps, und steht damit schon dem Namen nach in der von mir »halbrepublikanisch« genannten Tradition der Cäsaren, nicht der orientalischen Monarchen, des Rex oder Basileus. Das gilt dann auch für alle Präsidenten, Kanzler und Premierminister, nachdem diese mit ihren Regierungen auf Zeit praktisch die gesamte Leitung der Exekutive einer Monarchie übernehmen. In allen diesen Varianten ist die Macht der Ersten im Staat mit der konkreten Subjektivität des Amtsinhabers oder der Amtsinhaberin 419 k 419 k 419
908 419 f . Der objektive Geist 516 verbunden. Man denke dabei z. B. schon an Elizabeth I. von England, Maria Theresia oder Katharina die Große, dann aber an Golda Meir, Indira Gandhi, Margaret Thatcher oder Angela Merkel, um als Beispiele für entsprechende Statusträger einmal nur Frauen zu nennen. Wieder stehen bei Hegel die teils metaphorischen, teils pathetischen Formulierungen dem Gehalt der logischen Analyse etwas im Weg. Die organische Totalität der Regierung ist nur die Organisation ihrer Einheit und Einheitlichkeit. Die Regierung muss am Ende, wie man sagt, mit einer Stimme sprechen. Und das sollte in ausreichender Weise nachhaltig kohärent sein. Die Entwicklung des Begri=s ist hier natürlich die des Begri=s bzw. der Idee des Staates. Dessen unendliche Einheit besteht darin, dass ›seine‹ Beschlüsse per Entschluss umgesetzt werden, man also gemeinsam für deren Erfüllung sorgt. Eben darin besteht der Wille des Gemeinwesens oder ›des Volkes‹ als plurales Subjekt. Die fürstliche Regierungsgewalt, welche in ihren Entschlüssen die Beschlüsse umsetzt, muss dabei keineswegs unbedingt nur von einem Individuum allein ausgeübt werden, obwohl wir wissen, dass eine Person – wie z. B. Napoleon als Erster Konsul der Republik 1799 – die erforderliche Einheitlichkeit der obersten Direktiven insgesamt leichter scha=t als ein Direktorium. In der vollkommenen Form des Staats, in der alle Momente des Begri=s ihre freie Existenz erlangt haben, ist diese Subjektivität nicht eine sogenannte moralische Person oder ein aus einer Majorität hervorgehendes Beschließen – Formen, in welchen die Einheit des beschließenden Willens nicht eine wirkliche Existenz hat –, sondern als wirkliche Individualität Wille Eines beschließenden Individuums; – Monarchie. Die monarchische Verfassung ist daher die Verfassung der entwickelten Vernunft; alle anderen Verfassungen gehören niedrigern Stufen der Entwicklung und Realisierung der Vernunft an. (516) In ihrer Spitze sollte nach dem Gesagten die fürstliche Gewalt eines entwickelten Staates jeweils in der Hand einer einzigen Person und nicht eines bloßen Gremiums mit Mehrheitsbeschluss liegen. Denn es bedarf auch der Dokumentation des Entschlusses, dass etwas Gesetz werde, Krieg erklärt wird etc. Nur in diesem Sinn ist in der Tat nach wie vor jeder entwickelte Staat monarchisch verfasst,
516 Die Sittlichkeit 909 selbst dort, wo die früheren Monarchen auf Lebenszeit durch gewählte Präsidenten, Premierminister oder Kanzler auf Zeit ersetzt sind. Die Vereinigung aller konkreten Staatsgewalten in Eine Existenz wie im patriarchalischen Zustande, oder wie in der demokratischen Verfassung, der Teilnahme aller an allen Geschäften, widerstreitet für sich dem Prinzip der Teilung der Gewalten, d. i. der entwickelten Freiheit der Momente der Idee. (516) Hegel erteilt, man beachte das, der »Vereinigung aller konkreten Staatsgewalten« in einer Person »wie im patriarchalischen Zustande« orientalischer Herrschaftsform ohne Gewaltenteilung eine klare Absage, aber auch jeder Vollversammlungsdemokratie oder Senatsrepublik. Aber ebensosehr muß die Teilung, die zur freien Totalität fortgegangene Ausbildung der Momente, in ideelle Einheit, d. i. in Subjektivität zurückgeführt sein. (516) Die Teilung der Gewalten muss sozusagen auf die einzelnen Amtsträger als Sprecher für das Ganze oder entscheidende Akteure im gemeinsamen Handeln heruntergebrochen werden. Sie allein können im Normalfall für das Ganze urteilen und politisch handeln. Die gebildete Unterschiedenheit, die Realisierung der Idee enthält wesentlich, daß diese Subjektivität als reales Moment, zu wirklicher Existenz gediehen sei, und diese Wirklichkeit ist allein Individualität des Monarchen, – die in Einer Person vorhandene Subjektivität des abstrakten, letzten Entscheidens. (516) Wir brauchen bei zentralen Entscheidungen immer eine je konkrete Letztentscheidung im Staat oder Gemeinwesen, die Unterschrift des Monarchen oder z. B. auch des jeweiligen Präsidenten. Allen jenen Formen von einem gemeinsamen Beschließen und Wollen, das aus der Atomistik der einzelnen Willen demokratisch oder aristokratisch hervorgehen und hervorgezählt werden soll, klebt die Unwirklichkeit eines Abstraktums an. (516) Rein theoretisch scheint zwar ein kollektiv gemeinsames Beschließen und Wollen auszureichen. Praktisch verlangt aber sogar ein Direktorium wenigstens jeweils die Bestimmung einer Person, die für es sprechen darf, also eines Sprechers. Es geht dabei immer auch um den Ausschluss der Möglichkeit, dass jemand sich selbst aus eigener Willkür zum Sprecher der Regierung, des Staates oder Volkes erklärt. 420 k 420 k 420 k 420 k
910 420 k 420 k Der objektive Geist 516 Es kommt nur auf die zwei Bestimmungen, Notwendigkeit eines Begri=smoments und die Form der Wirklichkeit desselben an. Wahrhaft kann nur die Natur des spekulativen Begri=s sich darüber verständigen. – (516) Hegels Überlegung zum Begri= des Staates ist im Grunde ›tautologisch‹, also selbstverständlich und damit trivialerweise richtig: Das Gemeinwesen der res publica ist die Form des gemeinsamen Handelns nach einer im Normalfall anerkannten gemeinsamen Willensbestimmung, also die Realisierung des Begri=s der volonté générale. Es ist zugleich Rahmen für alle gesellschaftlichen Interaktionen der Bürger als Individuen und Personen in freien Verträgen, Vereinen und Korporationen. Unter Hinweis auf »die zwei Bestimmungen« des Begri=s des Staates weist Hegel hier nur auf diese allgemeine Form der gemeinsamen Ordnung mit ihren inhaltlichen Bestimmungen hin. Im konkreten Fall geht es um Ergebnisse gemeinsamer Beratung und deren Realisierung, die gerade auch beim gemeinsamen Handeln nur durch einen Entschluss in Gang gesetzt werden kann. Explizit wird ein solcher Entschluss durch eine Äußerung eines Satzes des ›Monarchen‹ der Form »Wir machen das«. Jene Subjektivität, indem sie das Moment des abstrakten Entscheidens überhaupt ist, geht teils zu der Bestimmung fort, daß der Name des Monarchen als das äußere Band und die Sanktion erscheint, unter der überhaupt alles in der Regierung geschieht, teils daß sie als die einfache Beziehung auf sich die Bestimmung der Unmittelbarkeit und damit der Natur an ihr hat, hiemit die Bestimmung der Individuen für die Würde der fürstlichen Gewalt durch die Erblichkeit festgestellt wird. (516) Man mag es den Erfahrungen seiner Zeit zuschreiben, dass Hegel am Ende wie damals alle Welt außerhalb der USA für eine konstitutionelle Erbmonarchie als beste aller möglichen Staatsverfassungen in Bezug auf die Staatsspitze plädiert.125 Wie viel Macht der Erbmonarch 125 Im Fall einer (konstitutionellen) Erb-Monarchie, wie sie ab 1815 in ganz Europa wiedereingeführt wurde, ist wenigstens die Normalfallnachfolge so allgemein geregelt, dass ein Erbfolgebürgerkrieg zunächst ausgeschlossen ist. Interessant ist, dass gerade auch ein ›sozialistisches‹
517 Die Sittlichkeit 911 haben soll, variiert bei Hegel übrigens je nach Kontext, also dem Schwerpunkt seiner konkreteren Betrachtungen. § 543 2) In der besondern Regierungsgewalt tut sich teils die Teilung des Staatsgeschäfts in seine sonst bestimmten Zweige, die gesetzgebende Gewalt, die Gerechtigkeitspflege oder richterliche, die administrative und polizeiliche Gewalt usf., und damit die Verteilung derselben an besondere Behörden hervor, welche für ihre Geschäfte an die Gesetze angewiesen, hiezu und deswegen sowohl Unabhängigkeit ihrer Wirksamkeit besitzen als zugleich unter höherer Beaufsichtigung stehen; – teils tritt die Teilnahme mehrerer an dem Staatsgeschäfte ein, die zusammen den allgemeinen Stand (§ 528) ausmachen, insofern sie zur wesentlichen Bestimmung ihres partikulären Lebens ein Geschäft der allgemeinen Zwecke machen, an welchem individuell teilnehmen zu können die weitere Bedingung die Ausbildung und die Geschicklichkeit hiefür ist. (517) Zur Teilung der Staatsgewalten unterhalb von Staatsoberhaupt, Parlament und Regierung ist nicht viel zu sagen. Wir kennen alle die Sicherheitskräfte mit relativem Bewa=nungsmonopol wie das Militär und die gens d’armes, also die Polizei, das Justizwesen richterlicher Rechtsprechung und des Strafvollzugs, die administrative ›Gewalt‹ etwa von Landrats-, Bau- oder Finanzämtern etc. § 544 3) Die ständische Behörde betri=t eine Teilnahme aller solcher, welche der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt angehören und insofern Privatpersonen sind, an der Regierungsgewalt, und zwar an der Gesetzgebung, nämlich an dem Allgemeinen der Interessen, welche nicht das Auftreten und Handeln des Staats als Individuums betre=en (wie Krieg und Frieden) und daher nicht nur der Natur der fürstlichen Gewalt für sich angehören. Vermöge dieser Teilnahme kann die subjektive Freiheit und Einbildung und deren allgemeine Regime wie in Nordkorea oder Syrien zur Erb-Monarchie oder zu einer Variante des Adoptivkaisertums (auch mit Palastrevolten) wie in China, der UdSSR, Russland usf. tendiert. 420 f . 421
912 421 k Der objektive Geist 517 Meinung sich in einer existierenden Wirksamkeit zeigen und die Befriedigung, etwas zu gelten, genießen. (517) In Hegels Darstellung wird das Parlament zu einer ständischen Behörde. Er fasst es als beratschlagendes Gremium ernannter oder gewählter Privatpersonen auf. Diese nehmen zwar an der Regierungsgewalt über die Gesetzgebung teil, soweit allgemeine Interessen der Gesellschaft betro=en sind, aber z. B. die Außenpolitik bleibt ganz bei den Exekutivorganen. Hegels Distanz zum Ehrgeiz von Parlamentariern ist unüberhörbar. Die Einteilung der Verfassungen in Demokratie, Aristokratie und Monarchie gibt noch immer deren Unterschied in Beziehung auf die Staatsgewalt aufs bestimmteste an. Sie müssen zugleich als notwendige Gestaltungen in dem Entwicklungsgange, also in der Geschichte des Staats angesehen werden. Deswegen ist es oberflächlich und töricht, sie als einen Gegenstand der Wahl vorzustellen. Die reinen Formen ihrer Notwendigkeit hängen teils, insofern sie endlich und vorübergehend sind, mit Formen ihrer Ausartung, Ochlokratie usf., teils mit frühern Durchgangsgestalten zusammen; welche beide Formen nicht mit jenen wahrhaften Gestaltungen zu verwechseln sind. So wird etwa, um der Gleichheit willen, daß der Wille Eines Individuums an der Spitze des Staates steht, der orientalische Despotismus unter dem vagen Namen Monarchie befaßt, wie auch die Feudalmonarchie, welcher sogar der beliebte Name konstitutioneller Monarchie nicht versagt werden kann. (517 f.) Die formelle Einteilung der Verfassungen in Demokratie (wie etwa im alten Athen oder damals nur in manchen ländlichen Kantonen der Schweiz, partiell auch in den USA), Aristokratie (wie etwa in den Schweizer Stadtkantonen oder manchen italienischen Stadtstaaten) und Monarchie gibt zwar noch immer die Unterschiede in Bezug auf die oberste Staatsgewalt klar an. Aber es ist Hegel zufolge erstens falsch, eine solche Verfassung »als einen Gegenstand der Wahl vorzustellen«, als könnte ein Volk, eine Regierung oder eine verfassungsgebende Versammlung einfach zwischen ihnen wählen; zweitens gibt es die reinen Formen längst nicht mehr. Drittens ist, so Hegel, der ›orientalische Despotismus‹ aus »dem vagen Namen Monarchie« hinauszudefinieren, nicht anders als die mittelalterliche
518 Die Sittlichkeit 913 Feudalmonarchie, obwohl diese durchaus schon eine ›konstitutionelle‹ Monarchie i. w. S. ist. Der wahre Unterschied dieser Formen von der wahrhaften Monarchie beruht auf dem Gehalt der geltenden Rechtsprinzipien, die in der Staatsgewalt ihre Wirklichkeit und Garantie haben. Diese Prinzipien sind die in den frühern Sphären entwickelten der Freiheit des Eigentums und ohnehin der persönlichen Freiheit, der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Industrie und der Gemeinden, und der regulierten, von den Gesetzen abhängigen Wirksamkeit der besondern Behörden. (518) Hegels ›wahrhafte Monarchie‹ soll ein Rechtsstaat sein. Die Staatsgewalt muss dabei Garantie der »Freiheit des Eigentums und ohnehin der persönlichen Freiheit« sein, damit auch »der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Industrie und der Gemeinden«. Sie muss dabei ihre eigenen Behörden beaufsichtigen. Es folgt eine lange Passage zur damals aktuellen Frage der Partizipation von Privatpersonen an den Staatsangelegenheiten über ein gewähltes oder ernanntes Parlament. Die Frage, die am meisten besprochen worden, ist, in welchem Sinne die Teilnahme der Privatpersonen an den Staatsangelegenheiten zu fassen sei. Denn als Privatpersonen sind die Mitglieder von Ständeversammlungen zunächst zu nehmen, sie seien als Individuen für sich oder als Repräsentanten vieler oder des Volkes geltend. Das Aggregat der Privaten pflegt nämlich häufig das Volk genannt zu werden; als solches Aggregat ist es aber vulgus, nicht populus; und in dieser Beziehung ist es der alleinige Zweck des Staates, daß ein Volk nicht als solches Aggregat zur Existenz, zur Gewalt und Handlung komme. Solcher Zustand eines Volks ist der Zustand der Unrechtlichkeit, Unsittlichkeit, der Unvernunft überhaupt; das Volk wäre in demselben nur als eine unförmliche, wüste, blinde Gewalt, wie die des aufgeregten, elementarischen Meeres, welches selbst jedoch sich nicht zerstört, wie das Volk als geistiges Element tun würde. Man hat solchen Zustand oft als den der wahren Freiheit vorstellen hören können. Daß es einen Verstand habe, sich auf die Frage der Teilnahme der Privatpersonen an den allgemeinen Angelegenheiten einzulassen, muß nicht das Unvernünftige, sondern schon ein organisiertes Volk, d. i. in welchem eine Regierungsgewalt vorhanden ist, vorausgesetzt werden. – Das Interesse solcher Teilnahme aber ist 421 k 421 f . k
914 422 k Der objektive Geist 518 f. weder in den Vorzug besonderer Einsicht überhaupt zu setzen, welchen die Privatpersonen vor den Staatsbeamten besitzen sollen, – es ist notwendig das Gegenteil der Fall; – noch in den Vorzug des guten Willens für das allgemeine Beste, – die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft sind vielmehr als solche, welche ihr besonderes Interesse und, wie vornehmlich im Feudalzustande, das ihrer privilegierten Korporation zu ihrer nächsten Bestimmung machen. (518 f.) Dass das Volk als vulgus oder als bloße Menge von Leuten »eine unförmliche, wüste, blinde Gewalt« ist, könnte manchem Skeptiker in der gegenwärtigen ›Krise der Demokratie‹ als bestätigt gelten. Der Satz betri=t ja sowohl zufällige als auch organisierte Massenversammlungen, die sich anmaßen, für das ganze Volk zu sprechen oder gar in Lynchjustiz zu handeln. Nicht gemeint ist der Fall einer allgemeinen und gleichen Wahl von Abgeordneten, die durch ständische Organisationen, wie sie unsere politischen Parteien durchaus im Sinne Hegels sind, zur Wahl gestellt werden. Wie z. B. von England, dessen Verfassung darum als die freiste angesehen wird, weil die Privatpersonen eine überwiegende Teilnahme an dem Staatsgeschäfte haben, die Erfahrung zeigt, daß dies Land in der bürgerlichen und peinlichen Gesetzgebung, dem Rechte und der Freiheit des Eigentums, den Veranstaltungen für Kunst und Wissenschaft usf., gegen die andern gebildeten Staaten Europas am weitesten zurück, und die objektive Freiheit, d. i. vernünftiges Recht, vielmehr der formellen Freiheit und dem besondern Privatinteresse (dies sogar in den der Religion gewidmet sein sollenden Veranstaltungen und Besitztümern) aufgeopfert ist. – (519) Hegels Kritik an der damaligen britischen Verfassung enthält weit mehr Vernunft als der unmittelbare Reflex der Verteidigung eines der Mutterländer der Demokratie wahrhaben möchte. Denn die Privatpersonen, die an »der bürgerlichen und peinlichen Gesetzgebung«, also dem Eigentums- und Strafrecht, teilnehmen, entstammen dem Adel und der Plutokratie und befördern mit nur wenigen Ausnahmen deren Standesinteressen. Auch über den damaligen Stand von Kunst und Wissenschaft in England im quantitativen und qualitativen Vergleich besonders zu Frankreich, Italien und Österreich ist hier nicht weiter zu befinden, obwohl sicher wahr ist, dass die staatlichen und kirchlichen Investitionen
519 f. Die Sittlichkeit 915 weit geringer waren als auf dem Kontinent – und die Universitäten Cambridge und Oxford erst später ihren Aufschwung nahmen, nach Übernahme von prototypischen Mustern, die in Berlin oder Leipzig entwickelt wurden, wie die amüsanten (Trash-)Romane Barchester Towers und The Warden von Anthony Trollope so schön zeigen. Das Interesse eines Anteils der Privaten an den ö=entlichen Angelegenheiten ist zum Teil in die konkretere und daher dringendere Empfindung allgemeiner Bedürfnisse zu setzen, wesentlich aber in das Recht, daß der gemeinsame Geist auch zu der Erscheinung eines äußerlich allgemeinen Willens in einer geordneten und ausdrücklichen Wirksamkeit für die ö=entliche Angelegentlichkeit gelange, durch diese Befriedigung ebenso eine Belebung für sich selbst empfange, als eine solche auf die Verwaltungsbehörden einfließt, welchen es hiedurch in gegenwärtigem Bewußtsein erhalten ist, daß sie, so sehr sie Pflichten zu fordern, ebenso wesentlich Rechte vor sich haben. (519) Hegel betont die Bedeutung des ›Glaubens‹, dass die von uns gewählten Abgeordneten unsere Interessen vertreten. Es geht um das nötige Gefühl der Partizipation, das die faktische Anerkennung der politischen Macht befördern kann. Aber das Wir des Gemeinwillens ist nicht durch einen solchen Glauben oder gar dessen Wahrheit, sondern die faktische Anerkennung, auch Duldung staatlichen Handelns definiert. Die Bürger sind im Staate die unverhältnismäßig größere Menge, und zwar eine Menge von solchen, die als Personen anerkannt sind. Die wollende Vernunft stellt daher ihre Existenz in ihnen als Vielheit von Freien oder ihrer Reflexions-Allgemeinheit dar, welcher in einem Anteil an der Staatsgewalt ihre Wirklichkeit gewährt wird. Es ist aber bereits als Moment der bürgerlichen Gesellschaft bemerklich gemacht (§ 527, 534), daß die Einzelnen sich aus der äußerlichen in die substantielle Allgemeinheit, nämlich als besondere Gattung, – die Stände, erheben; und es ist nicht in der unorganischen Form von Einzelnen als solchen (auf demokratische Weise des Wählens), sondern als organische Momente, als Stände, daß sie in jenen Anteil eintreten; eine Macht oder Tätigkeit im Staate muß nie in formloser, unorganischer Gestalt, d. i. aus dem Prinzip der Vielheit und der Menge erscheinen und handeln. (519 f.) 422 f . k 423 k
916 423 f . k Der objektive Geist Was Hegel als demokratische Weise des Wählens ablehnt, sind nur die nicht durch Stände oder Parteien organisierten Zufallswahlen von Abgeordneten, etwa auch durch Stimmenkauf, Wahlgeschenke oder Drohungen vermittelt, wie sie in Großbritannien und den USA durchaus nicht die Ausnahme waren. Wieder beachte man, dass für das Wort organisch heute »organisiert« zu setzen ist. Es folgen zunächst inhaltliche Wiederholungen. Die Ständeversammlungen sind schon mit Unrecht als die gesetzgebende Gewalt in der Rücksicht bezeichnet worden, als sie nur Einen Zweig dieser Gewalt ausmachen, an dem die besondern Regierungsbehörden wesentlichen Anteil [haben] und die fürstliche Gewalt den absoluten der schließlichen Entscheidung hat. Ohnehin kann ferner in einem gebildeten Staate das Gesetzgeben nur ein Fortbilden der bestehenden Gesetze und können sogenannte neue Gesetze nur Extreme von Detail und Partikularitäten (vgl. § 529 Anm.) sein, deren Inhalt durch die Praxis der Gerichtshöfe schon vorbereitet oder selbst vorläufig entschieden worden. – Das sogenannte Finanzgesetz, insofern es zur Mitbestimmung der Stände kommt, ist wesentlich eine Regierungsangelegenheit; es heißt nur uneigentlich ein Gesetz, in dem allgemeinen Sinne, daß es einen weiten, ja den ganzen Umfang der äußern Mittel der Regierung umfaßt. Die Finanzen betre=en, wenn auch den Komplex, doch ihrer Natur nach nur die besondern, immer neu sich erzeugenden veränderlichen Bedürfnisse. Würde dabei der Hauptbestandteil des Bedarfs als bleibend angesehen – wie er es denn auch wohl ist –, so würde die Bestimmung über ihn mehr die Natur eines Gesetzes haben, aber um ein Gesetz zu sein, müßte es ein für allemal gegeben und nicht jährlich oder nach wenigen Jahren immer von neuem zu geben sein. Die nach Zeit und Umständen veränderliche Partie betri=t in der Tat den kleinsten Teil des Betrags, und die Bestimmung über ihn hat um so weniger den Charakter eines Gesetzes; und doch ist es und kann es nur dieser geringe veränderliche Teil sein, der disputabel ist und einer veränderlichen, jährlichen Bestimmung unterworfen werden kann, welche damit fälschlich den hochklingenden Namen der Verwilligung des Budgets, d. i. des Ganzen der Finanzen, führt. Ein für Ein Jahr und jährlich zu gebendes Gesetz leuchtet auch dem gemeinen Menschensinne als unangemessen ein, als welcher das
521 Die Sittlichkeit 917 an und für sich Allgemeine als Inhalt eines wahrhaften Gesetzes, von einer Reflexions-Allgemeinheit, die nur äußerlich ein seiner Natur nach Vieles befaßt, unterscheidet. Der Name eines Gesetzes für die jährliche Festsetzung des Finanzbedarfs dient nur dazu, bei der vorausgesetzten Trennung der gesetzgebenden von der Regierungsgewalt, die Täuschung zu unterhalten, als ob diese Trennung wirklich stattfinde, und es zu verstecken, daß die gesetzgebende Gewalt in der Tat mit eigentlichem Regierungsgeschäfte, indem sie über die Finanzen beschließt, befaßt ist. – (520 f.) Die Frage, ob das Parlament den Haushalt der Regierung verabschieden soll, mag diskutabel sein. Hegel erkennt, dass in dieser Finanzhoheit des Parlaments seine eigentliche Kontrollmacht liegt. Er argumentiert dann aber erstens sophistisch und zweitens leicht blauäugig dafür, die Exekutive zu stärken, da diese besser wisse, was nottut. Es ist zwar wahr, dass »die gesetzgebende Gewalt in der Tat mit eigentlichem Regierungsgeschäfte« befasst ist, wenn man ihr die Bewilligung des gesamten Budgets der Regierung und dabei sogar, wie in der Bundesrepublik Deutschland, des Militärs und anderer Spartenbudgets im Normalfall überlässt. Diese Macht wurde aber schon in den USA und partiell auch in Großbritannien mit gutem Grund an das Parlament gegeben – unter den bekannten Ausnahmen in Notfällen, wofür es u. a. die ebenso nötigen wie ewig umstrittenen Notstandsgesetzgebungen gibt. Das Interesse aber, welches in die Fähigkeit, den Finanzetat immer wieder von neuem zu bewilligen, gelegt wird, daß nämlich die Ständeversammlung daran ein Zwangsmittel gegen die Regierung und hiemit eine Garantie gegen Unrecht und Gewalttätigkeit besitze, – dies Interesse ist einerseits ein oberflächlicher Schein, indem die für den Bestand des Staats notwendige Veranstaltung der Finanzen nicht nach irgend andern Umständen bedingt, noch der Bestand des Staates in jährlichen Zweifel gesetzt werden kann; so wenig als die Regierung die Veranstaltung der Rechtspflege z. B. nur immer auf eine beschränkte Zeit zugeben und anordnen könnte, um an der Drohung, die Tätigkeit solcher Anstalt zu suspendieren, und an der Furcht eines eintretenden Raubzustandes sich ein Zwangsmittel gegen die Privaten vorzubehalten. (521) 424 k
918 424 k 424 k Der objektive Geist 521 f. Die Bewilligung des Finanzetats ist in der Tat eine Art »Zwangsmittel gegen die Regierung«. Aber Hegels Argument ist doch nicht so stark, wie er denkt. Es ist zwar richtig, dass die Angestellten des Staates (Richter, Polizisten, Berufssoldaten, Lehrer etc.) nachhaltig zu alimentieren sind, so dass es absurd wäre, jedes Jahr neu mit einem Lockdown der staatlichen Behörden zu drohen. Andererseits zwingt die Finanzhoheit des Parlaments die Regierung erstens zu einer transparenten Finanzplanung, zweitens zu deren ö=entlichen Begründung. Andererseits aber beruhen Vorstellungen von einem Verhältnisse, für welches Zwangsmittel in Händen zu haben nützlich und erforderlich sein könnte, teils auf der falschen Vorstellung eines Vertragsverhältnisses zwischen Regierung und Volk, teils setzen sie die Möglichkeit einer solchen Divergenz des Geistes beider voraus, bei welcher überhaupt nicht an Verfassung und Regierung mehr zu denken ist. Stellt man sich die leere Möglichkeit, durch solches Zwangsmittel zu helfen, in Existenz getreten vor, so wäre solche Hülfe vielmehr Zerrüttung und Auflösung des Staats, in der sich keine Regierung mehr, sondern nur Parteien befänden, und der nur Gewalt und Unterdrückung der einen Partei durch die andere abhülfe. – (521 f.) Richtig bleibt, dass Regierung und Parlament kooperieren müssen. Außerdem ist es nicht falsch, wenn man sagt, dass das Parlament in besonderer Weise das Volk vertritt, auch wenn angesichts der realen Organisation diese Vertretung zunächst nur symbolisch ist, da die Parlamentarier ja als Einzelpersonen agieren. Sie sind formal sogar noch im Parteiensystem ›nur ihrem eigenen Gewissen‹ verantwortlich; es gibt kein imperatives Mandat, wohl aber das Problem der Wiederwahl und damit eine Art Fraktionszwang der Parteien. – Hegels Furcht vor einer »Zerrüttung und Auflösung des Staats, in der sich keine Regierung mehr, sondern nur Parteien befänden«, wäre nur dann begründet, wenn die Parteien wirklich nur partikulare Interessen verfolgen würden und nicht selbst schon eigene politische Organisationen wären, wie sie sich aber erst um die Zeit des Amerikanischen Bürgerkrieg herausgebildet haben. Die Einrichtung des Staats als eine bloße Verstandes-Verfassung, d. i. als den Mechanismus eines Gleichgewichts sich in ihrem Innern
522 Die Sittlichkeit 919 einander äußerlicher Mächte vorzustellen, geht gegen die Grundidee dessen, was ein Staat ist. (522) Hegel hat freilich recht, dass ohne moralisch-sittliche Gesinnung und politische Verantwortung der Akteure für das gesamte Gemeinwesen und den Rechtsstaat keine Staatsverfassung, auch keine Regierungseinrichtung, der Aufgabe des Schutzes der Freiheitsrechte aller Bürger gerecht werden kann. Es ist daher in der Tat partiell eine Illusion, rein durch eine ›Verstandesverfassung‹ oder einen schematischen »Mechanismus eines Gleichgewichts« der Gewalten einen stabilen Rechtsstaat oder eine ›Demokratie‹ im heutigen Sinn gegen alle Gefährdungen zu sichern. Denn es drohen keineswegs nur Gefahren von oben, also vom Monarchen oder Präsidenten bzw. seiner Regierung als Exekutivmacht, sondern auch von der Seite, der Armee und den bewa=neten Kräften, und sogar von unten in einem latenten oder realen Bürgerkrieg des vulgus, wie ihn z. B. die SA der Nazis führte, bis sie nach der Machtübernahme Hitlers ausgedient hatte.126 § 545 Der Staat hat endlich die Seite, die unmittelbare Wirklichkeit eines einzelnen und natürlich bestimmten Volkes zu sein. (522) Die Verantwortung für die Politik eines Staates besonders im Verhalten zu anderen Staaten liegt angesichts stiller Duldung durch ›das Volk‹ immer auch bei diesem. Die Ausrede, es habe keine aktive Mitbestimmung gegeben, verfängt daher nicht oder nur zum Teil. Man ist immer auch für empraktische Anerkennungen verantwortlich. Als einzelnes Individuum ist er ausschließend gegen andere ebensolche Individuen. In ihrem Verhältnisse zueinander hat die Willkür und Zufälligkeit statt, weil das Allgemeine des Rechts um der autonomischen Totalität dieser Personen willen zwischen ihnen nur sein 126 Im Blick auf die reale politische Geschichte Deutschlands, etwa angesichts des neurotischen Populismus Wilhelms II. und der latenten Stimmung eines Revanchismus in der Weimarer Republik, ist es wohl eher ein Aberglaube, dass eine besondere Autoritätsgläubigkeit und die Anerkennung eines Obrigkeitsstaates, wie ihn angeblich Hegel unterstützt haben soll, zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt hätten. Freilich war und ist dieser Aberglaube bequem, weil er ›das Volk‹ exkulpiert. 424 424 f .
920 Der objektive Geist 522 soll, nicht wirklich ist. Diese Unabhängigkeit macht den Streit zwischen ihnen zu einem Verhältnisse der Gewalt, einem Zustand des Krieges, für welchen der allgemeine Stand sich zu dem besondern Zwecke der Erhaltung der Selbständigkeit des Staats gegen andere, zum Stand der Tapferkeit, bestimmt. (522) Zunächst ist es ganz richtig zu sagen, dass sich Staaten zueinander in einer Art ›Naturzustand‹ willkürlicher Kooperation und zufälliger Antagonismen befinden. Es gibt hier erst einmal keine dritte Instanz unabhängiger Richter, die über die Einhaltung von geschlossenen Verträgen urteilen, zumeist auch kein vorab anerkanntes Sanktionssystem. Verträge können vielmehr, wie es scheint, jederzeit aufgekündigt werden. D. h., die Staaten kooperieren, wenn sie kooperieren, frei. Und wenn sie sich ›ungerecht‹ behandelt oder bedroht fühlen, nicht nur, wenn sie wirklich bedroht werden, greifen sie u. U. einseitig zu den Wa=en. Das dabei relevante Militär heißt bei Hegel nicht ohne spürbare Ironie Stand der Tapferkeit. 425 § 546 Dieser Zustand zeigt die Substanz des Staates in ihrer zur abstrakten Negativität fortgehenden Individualität, als die Macht, in welcher die besondere Selbständigkeit der Einzelnen und der Zustand ihres Versenktseins in das äußerliche Dasein des Besitzes und in das natürliche Leben sich als ein Nichtiges fühlt, und welche die Erhaltung der allgemeinen Substanz durch die in der Gesinnung derselben geschehende Aufopferung dieses natürlichen und besondern Daseins, die Vereitlung des dagegen Eiteln vermittelt. (522) Hegel interessiert sich hier nicht etwa für eine Analyse eines ›gerechten Krieges‹, sondern für die sich im Fall von Kriegen zeigende »Substanz des Staates« in ihrer »Individualität«, als einheitliche Militärmacht gegen andere. Und er interessiert sich für das Phänomen des Patriotismus: Im Kriegsfall erscheint das jeweils einzelne Leben eines Soldaten als unwichtig in Relation zum Erhalt des Ganzen – zu dem freilich auch die eigene Familie gehört, so dass die mögliche Selbstaufopferung nicht völlig ohne Eigeninteresse ist. Hegels Wortspiel am Schluss sagt nur, dass die bloß auf die Rettung des eigenen Lebens ausgerichtete Dienstverweigerung gegen das allgemeine Gute und Notwendige nichtig, eitel und unedel wäre. (In der alten
523 Die Sittlichkeit 921 Sprache bedeutete »eitel« sogar noch »edel«!) Die Vereitelung des Eitlen ist also Vernichtung des Nichtigen. Das Paradigma soll nur zeigen, dass es für die Person und den Bürger höhere Werte als das eigene Leben gibt. Das ist keineswegs ein Lob des Krieges, sondern Diagnose. Sie ist nicht überholt, auch wenn man ho=en mag, dass sie mehr für gefährliche Einsätze von Polizei, Feuerwehr und Soldaten im Katastropheneinsatz als im Krieg relevant wird.127 β) Das äußere Staatsrecht § 547 Durch den Zustand des Krieges wird die Selbständigkeit der Staaten auf das Spiel gesetzt und nach Einer Seite die gegenseitige Anerkennung der freien Völkerindividuen bewirkt (§ 430) und durch FriedensVergleiche, die ewig dauern sollen, sowohl diese allgemeine Anerkennung als die besondern Befugnisse der Völker gegeneinander festgesetzt. Das äußere Staatsrecht beruht teils auf diesen positiven Traktaten, enthält aber insofern nur Rechte, denen die wahrhafte Wirklichkeit abgeht (§ 545); teils auf dem sogenannten Völkerrechte, dessen allgemeines Prinzip das vorausgesetzte Anerkanntsein der Staaten ist und daher die sonst ungebundenen Handlungen gegeneinander so beschränkt, daß die Möglichkeit des Friedens bleibt; – auch die Individuen als Privatpersonen vom Staate unterscheidet; und überhaupt auf den Sitten beruht. (523) Hegels schwierige Formulierung soll wohl sagen, dass in einem wirklichen oder auch nur möglichen Krieg zwischen Staaten deren Unabhängigkeit auf dem Spiel steht. Friedensverträge und Nichtangri=spakte werden zur Sicherung gegen diese Gefahr zwar auf unbestimmte Zeit geschlossen, aber ihre Geltung ist sozusagen nur moralisch. Das gilt auch für andere internationale Verträge, die jederzeit einseitig gekündigt werden können. Ein echtes Völkerrecht in einem System anerkannter Staaten gäbe es erst, wenn Schiedsverfahren und Sanktionen gegen Rechtsbrüche allgemein etabliert und 127 Russlands Angri=skrieg und Chinas Drohungen gegen Taiwan zeigen allerdings, wie wenig eine sichere und friedliche Weltordnung ohne die militärische Macht von Verteidigungsbündnissen denkbar ist. 425
922 Der objektive Geist 523 anerkannt wären. Trotz der Organisationen des Völkerbundes und der UN ist das bis heute keineswegs allgemein der Fall. γ) Die Weltgeschichte 426 426 § 548 Der bestimmte Volksgeist, da er wirklich und seine Freiheit als Natur ist, hat nach dieser Naturseite das Moment geographischer und klimatischer Bestimmtheit; er ist in der Zeit und hat dem Inhalte nach wesentlich ein besonderes Prinzip und eine dadurch bestimmte Entwicklung seines Bewußtseins und seiner Wirklichkeit zu durchlaufen; – er hat eine Geschichte, innerhalb seiner. Als beschränkter Geist ist seine Selbständigkeit ein Untergeordnetes; er geht in die allgemeine Weltgeschichte über, deren Begebenheiten die Dialektik der besondern Völkergeister, das Weltgericht, darstellt. (523) Politische Institutionen, Wissen und Techniken entwickeln sich regional, zum Teil unter dem Einfluss natürlicher Bedingungen der Geographie und des Klimas. Man denke als Beispiele an Ägypten und die Pharaonenherrschaft oder an das zerklüftete, daher in kleine Kantone und Städte gegliederte Griechenland oder an die Schweiz. Politische und andere institutionelle Formen werden unmittelbar kopiert, so z. B. die Handels- und Kolonienpolitik der Phönizier und Punier, erst recht alle ›technischen‹ Errungenschaften, vom Gebrauch des Pferdes bis zur Erfindung des Rades, vom Schi=sbau bis zu Metallverarbeitung etc. Diese Kopien gehören sozusagen zur positiven Seite des ›Weltgerichts‹, von dem Hegel hier spricht. Negativ gesehen rächen sich Mängel, z. B. die Vernachlässigung der Armee im späteren römischen Reich, nicht zuletzt aufgrund der Verweigerung der dazu nötigen höheren Steuern, aber auch jede Überschätzung militärischer Macht, wie man sie bei Napoleon sehen kann. So erreicht man keine nachhaltige Anerkennung. § 549 Diese Bewegung ist der Weg der Befreiung der geistigen Substanz, die Tat, wodurch der absolute Endzweck der Welt sich in ihr vollführt, der nur erst an sich seiende Geist sich zum Bewußtsein und Selbstbewußtsein und damit zur O=enbarung und Wirklichkeit seines an
524 Die Sittlichkeit 923 und für sich seienden Wesens bringt, und sich auch zum äußerlich allgemeinen, zum Weltgeist, wird. Indem diese Entwicklung in der Zeit und im Dasein und damit als Geschichte ist, sind deren einzelne Momente und Stufen die Völkergeister; jeder als einzelner und natürlicher in einer qualitativen Bestimmtheit ist nur Eine Stufe auszufüllen und nur Ein Geschäft der ganzen Tat zu vollbringen bestimmt. (524) Die Rede vom absoluten Endzweck der Welt und dass ein oder der Weltgeist ihn tätig verfolge, klingt heute mystischer und pathetischer, als sie gemeint ist. Es geht ›nur‹ um die Entwicklung der Menschheit in den oben genannten Dimensionen, wobei die politische Sphäre wegen der Sicherung von Freiheit und Recht, Kooperation und damit auch von Wohlstand eine besondere Bedeutung erhält. Die Entwicklung des Selbstbewusstseins betri=t die Explikation der Formen des Wissens und gemeinsamen Handelns, damit des Ethos und der Politik, zunächst als ›O=enbarung‹, also in der Form mythischer Geschichten und Narrative. Zum Weltgeist werden diese erst zusammengeführt in der spätantiken Rede von dem einen Gott – und der Würde und Rechte aller Menschen, nicht nur der Christen und nicht nur der internen Umma des Islam. Daher hat auch die Logik reflektierten Verstehens von Sprache und Wissen, Institutionen und Praxisformen eine »Entwicklung in der Zeit« und damit eine Geschichte. Hier gibt es Abstufungen, wobei wir uns nur für ganz allgemeine Momente und Stufen interessieren. Schon das phönizische Alphabet oder die griechische Mathematik arithmetischer und geometrischer Proportionen wären z. B. schon zu speziell, trotz ihrer inzwischen weltweiten Verbreitung (in Varianten). Die Rede davon, dass jedes Volk ›seine Zeit hat‹ und ein Geschäft in der Entwicklung des Weltgeists vollbringe, liefert m. E. nur eine nette Dramaturgie für eine grobe Allgemeingeschichte, die man in ihrer Bedeutung nicht überschätzen sollte. Man kann dann sagen, dass Persien den organisierten Staat, Hellas die Demokratie, Rom die Republik, Jerusalem die Würde der Person in der freien Gemeinde in die Welt gebracht haben. Und man kann später Deutschland vielleicht mit der Reformation, die iberische Halbinsel mit der Entdeckung der weltweiten Seewege, Großbritannien mit Industrialisierung und
924 426 k 426 k Der objektive Geist 524 Kolonisierung der Welt, Frankreich mit der Revolution verbinden und die USA, wie Hegel und Goethe, zum Land der Zukunft erklären. Viele scheinbar augenfällige Unterschiede von regionalen Entwicklungen sind aber nicht wirklich nachhaltig wesentlich. Es folgt eine methodologische Erwägung bzw. eine Verteidigung der nur scheinbar ›apriorischen‹ Methode der allgemeinen Gliederung der Geistes- und Kulturgeschichte. Daß die Voraussetzung eines an und für sich seienden Zweckes und der sich aus ihm nach dem Begri=e entwickelnden Bestimmungen bei der Geschichte gemacht wird, ist eine apriorische Betrachtung derselben genannt und der Philosophie über apriorisches Geschichtschreiben Vorwurf gemacht worden; es ist hierüber und über Geschichtschreibung überhaupt eine nähere Bemerkung zu machen. (524) Hegel weist zunächst jede naive Vorstellung darüber zurück, was es heißt, dass sich etwas aus seinem Begri= entwickelt. Es bedeutet z. B. nicht, dass am Anfang ein Wort stünde, aus dem sich eine Institution entwickelte. Es bedeutet auch nicht, dass man den bisherigen Verlauf der Geschichte aus einem im Lehnstuhle erfundenen Anfang nach ebenfalls erfundenen Entwicklungsgesetzen e;zienzkausal oder final, also teleologisch erklärt – und das insgesamt ›a priori‹. Daß der Geschichte, und zwar wesentlich der Weltgeschichte ein Endzweck an und für sich zum Grunde liege und derselbe wirklich in ihr realisiert worden sei und werde – der Plan der Vorsehung, – daß überhaupt Vernunft in der Geschichte sei, muß für sich selbst philosophisch und damit als an und für sich notwendig ausgemacht werden. (524) Freilich stolpert man leicht über die Voraussetzung, dass der »Weltgeschichte ein Endzweck an und für sich zum Grunde« liegen soll. Man beachte aber, dass dieser schon »wirklich in ihr realisiert worden« ist, und das heißt zunächst zumindest auch, dass die Geschichte des Vergangenen jeweils in der heutigen Gegenwart endet. Das wiederum ist reine Tautologie: Prognosen gehören nicht mehr zur Geschichtsschreibung, schon gar keine utopische Futurologie. Warum aber spricht Hegel von einem »Plan der Vorsehung« und einem »Endzweck«? Wird damit nicht mehr gesagt, als sich methodisch verantworten lässt? Völlig ungläubig wiegen dann gerade His-
Die Sittlichkeit 925 toriker die Köpfe, wenn sie lesen, dass die Philosophie gezeigt habe oder zeigen könne, dass »Vernunft in der Geschichte sei« und dass das sogar »als an und für sich notwendig ausgemacht« gelten müsse. Es scheint nichts leichter, als das entweder für einen dogmatischen Glauben, einen Irrtum, oder gleich ganz für Unsinn zu erklären. Angesichts der Einfachheit dieser Kritik ist es andererseits kaum zu verstehen, warum viele stolz darauf sind, Hegel in ihr endgültig widerlegt zu haben. Unglücklicherweise liegen die Dinge keineswegs so einfach, wenn man nachdenkend zu lesen beginnt. Denn Hegel hat – in der Logik – in der Tat gezeigt, dass jede Geschichte der Kriterien unseres Unterscheidens und der Formen und Normen des verständigen Unterscheidens und des vernünftigen Schließens und Handelns eine Rekonstruktion ist, welche die Form einer Fortschrittsgeschichte annehmen muss. Deren Ergebnis ist gerade das, was wir selbst als Kriterien des Vernünftigen in unserem eigenen reflexionslogischen Bewerten von Urteilen, Schlüssen und Handlungen unterstellen und anerkennen. Der Fehler der üblichen Lektüre Hegels liegt also darin, dass man die Welt und ihre Geschichte von der Seite eines überzeitlichen Gottes anzusehen versucht und gerade nicht, wie Hegel fordert und vorführt, je aus unserer eigenen heutigen Perspektive im Bewusstsein der von uns heute transzendental präsupponierten Kriterien des Wahren, Guten und Schönen. Der jeweilige Endzweck einer vernünftig rekonstruierten Weltgeschichte sind die von uns empraktisch anerkannten Normen des Urteilens über richtig und falsch, gut und schlecht und damit immer auch unser eigenes geistiges Vermögen – freilich nicht immer nur einfach als mein oder dein aktuales Vermögen, sondern als das, was man heute wissen und können könnte, weil manche es wissen und können. Damit kann Hegel auch den religiösen Gedanken einer ›göttlichen Vorsehung‹ so säkularisieren, dass alle trivial falschen Lesarten schon ausgeschlossen sind. Gemeint ist nicht, dass Gott Baumwolle hat wachsen lassen, damit wir uns kleiden und Textilfirmen reich werden, oder dass er die angeblich bösen Taten eines Julius Cäsar oder Octavian Augustus zugelassen hat, damit sich das Christentum in einem politisch relativ stabilen und rechtlich relativ sicheren, auch trotz aller Verfolgung von Sturköpfen weitgehend liberalen, römischen Reich
926 426 f . k Der objektive Geist 524 hat ausbreiten können. Gemeint ist, dass wir die relativ einfachen Ursprungseinsichten in ein gutes personales Leben und die zentralen Begri=e ihrer Artikulation auffinden können, die sich als reale Ideen und im Verhalten, in Handlungen und Haltungen implementierte Formen stufenweise entwickelt haben – so dass sie zu Verhältnissen führen könnten und manchmal auch führen, die wir heute als ausreichend vernünftig bewerten würden oder könnten und manchmal auch so bewerten. Im Fall des Wissens und der Wissenschaft, der Technik und sogar der Kunst und Literatur zweifelt niemand ernsthaft an dieser Art von Entwicklung und Fortschritt – wenn wir einmal von ho=nungslos romantischen Vorstellungen über eine privat erfundene Vergangenheit absehen. Womit die Leute Probleme haben, ist Hegels Einsicht, dass es nicht nur keinen Grund dafür gibt, sondern sogar absurd ist, das Wissen über relativ gute politische Institutionen und das Wissen über Moral und Ethik hiervon auszunehmen. Dasselbe gilt für die Bewertungen ihrer Implementierungen als gut, besser oder schlechter – samt der Beurteilung der Leitungen zugehöriger Personen. Tadel kann es nur verdienen, willkürliche Vorstellungen oder Gedanken vorauszusetzen und solchen die Begebenheiten und Taten angemessen finden und vorstellen zu wollen. Dergleichen apriorischer Verfahrungsweise haben sich aber heutzutage vornehmlich solche schuldig gemacht, welche reine Historiker sein zu wollen vorgeben und zugleich gelegentlich ausdrücklich gegen das Philosophieren teils überhaupt, teils in der Geschichte sich erklären; die Philosophie ist ihnen eine lästige Nachbarin, als welche dem Willkürlichen und den Einfällen entgegen ist. (524) Es geht überhaupt nicht darum, irgendwelche zufälligen »Vorstellungen oder Gedanken vorauszusetzen« oder dogmatisch eine ›e;zienzkausale Erklärung‹ für gegenwärtige Verhältnisse zu setzen. Hegel dreht den Spieß einfach um. Er geht bewusst von heute und uns aus. Er macht damit gerade nicht den Fehler einer Betrachtung der Weltgeschichte von der Seite eines allwissenden Gottes. Indem man Historie rein objektiv unmittelbar zu Gott schreiben will, wie Leopold von Ranke und schon Tacitus angeblich sine ira et studio, oder eine rein empirische Sozialwissenschaft frei von vorausgesetzten Normen des Wahren, Guten und ohne alle Ideale betreiben will, hat
524 f. Die Sittlichkeit 927 man schon einen methodischen Fehler begangen. Objektivität erhält man durch Bewusstmachen der eigenen subjektiven Perspektiven und Normen, nicht durch die Illusion, man sei frei von ihnen. Die fromme Rede von Pluralität hilft erst recht nicht. Philosophie als Logik und Methodologie des Wissens ist für den Historismus aus zwei Gründe lästig. Auf der einen Seite schränkt sie die Leistung bloß erst archäologisch-philologischer Forschung ein und besteht auf einer rationalen Rekonstruktion gegenwärtiger Kriterien des Wahren und Guten. Auf der anderen Seite kritisiert sie einen allzu willkürlichen Einsatz vermeintlicher Genealogien zur Apologetik oder zur Kritik gegenwärtiger (nationaler) Vorurteile. Dergleichen apriorisches Geschichtschreiben ist zuweilen von einer Seite, woher man es am wenigsten erwarten sollte, von der philologischen her vornehmlich, und in Deutschland mehr eingerissen als in Frankreich und England, wo die Geschichtsschreibung sich zu einem festern und reifern Charakter gereinigt hat. Erdichtungen zu machen, wie die von einem Urzustande und dessen Urvolk, das sich im Besitze der wahrhaften Gotteserkenntnis und aller Wissenschaften befunden habe, von Priestervölkern, und in speziellerem z. B. von einem römischen Epos, welches die Quelle der für historisch geltenden Nachrichten über die ältere Geschichte Roms gewesen sei usf., ist an die Stelle der pragmatisierenden Erfindungen von psychologischen Gründen und Zusammenhängen getreten, und es scheint in einem weiten Kreise für das Erfordernis einer aus den Quellen schöpfenden, gelehrten und geistreichen Geschichtschreibung angesehen zu werden, solche hohle Vorstellungen auszuhecken und sie aus einem gelehrten Auskehricht entfernter äußerlicher Umstände, der beglaubigtsten Geschichte zu Trotz, keck zu kombinieren. (524 f.) Wie weit Hegels Kritik am Zustand der Philologie in Deutschland im Unterschied zu »Frankreich und England, wo die Geschichtsschreibung sich zu einem festern und reifern Charakter gereinigt hat«, berechtigt ist, lasse ich o=en. Die angegebenen Details sind nur zur Kenntnis zu nehmen. Wenn wir diese subjektive Behandlung der Geschichte bei Seite stellen, so ist die eigentlich entgegengesetzte Forderung, daß die Geschichte nicht nach einem objektiven Zwecke betrachtet werde, im ganzen mit der noch mehr berechtigt scheinenden gleichbedeutend, 427 k 427 f . k
928 Der objektive Geist 525 f. daß der Geschichtschreiber mit Unparteilichkeit verfahre. Diese Forderung pflegt insbesondere an die Geschichte der Philosophie gemacht zu werden, als in welcher keine Zuneigung zu einer Vorstellung und Meinung sich zeigen, wie ein Richter für keine der beiden streitigen Parteien ein besonderes Interesse haben soll. Bei einem Richter wird zugleich angenommen, daß er sein Amt albern und schlecht verwalten würde, wenn er nicht ein Interesse, ja das ausschließende Interesse für das Recht, es nicht zum Zwecke und alleinigen Zwecke hätte, und wenn er sich des Urteilens enthielte. Dies Erfordernis an den Richter kann man Parteilichkeit für das Recht nennen und weiß diese hier sehr wohl von einer subjektiven Parteilichkeit zu unterscheiden. Bei der an den Geschichtschreiber geforderten Unparteilichkeit aber wird in dem nüchternen, selbstgefälligen Gerede jener Unterschied verlöscht und werden beide Arten von Interessen verworfen, wenn verlangt wird, der Geschichtschreiber solle keinen bestimmten Zweck und Ansicht, nach welcher er die Begebenheiten aussondere, stelle und beurteile, mitbringen, sondern sie gerade in der zufälligen Weise, wie er sie vorfindet, in ihrer beziehungs- und gedankenlosen Partikularität erzählen. So viel wird zugestanden, daß eine Geschichte einen Gegenstand haben müsse, z. B. Rom, dessen Schicksale, oder den Verfall der Größe des römischen Reichs. Es gehört wenig Überlegung dazu, einzusehen, daß dies der vorausgesetzte Zweck ist, welcher den Begebenheiten selbst, sowie der Beurteilung zum Grunde liegt, welche derselben eine Wichtigkeit [geben], d. h. nähere oder entferntere Beziehung auf ihn haben. Eine Geschichte ohne solchen Zweck und ohne solche Beurteilung wäre nur ein schwachsinniges Ergehen des Vorstellens, nicht einmal ein Kindermärchen, denn selbst die Kinder fordern in den Erzählungen ein Interesse, d. i. einen wenigstens zu ahnen gegebenen Zweck und die Beziehung der Begebenheiten und Handlungen auf denselben. (525 f.) Die »subjektive Behandlung der Geschichte«, die Hegel jetzt beiseitelegt, ist die Erfindung historischer Romane. Die von Sir Walter Scott sind in der Zeit berühmt. Aber auch bloß einfühlende ›kausale Erklärungen‹ des Geschehens taugen nur bedingt. So erzählt z. B. Bert Brecht eine Geschichte über Cäsar, die sehr interessant ist, aber mit der historischen Realität weniger zu tun hat als Shakespeares Drama.
Die Sittlichkeit 929 Übrigens ist Friedrich Schiller in diesen Dingen interessanter, als viele meinen, gerade weil er bewusst mit Erdichtungen umgeht, in denen Formen des Denkens und Handelns dargestellt werden, ohne Anspruch auf wörtliche historische Wahrheit. Allerdings braucht jede Geschichtsschreibung nicht nur einen Plot, wie Hayden White betont, auch wenn es eher ein falscher Zungenschlag ist zu sagen, dass Klio schon damit dichte; sie braucht auch einen expliziten Fokus und ein explizites Interesse. So wie es absurd wäre, die Neutralität von Richtern dadurch herzustellen, dass sie, wie in der Allegorie der Gerechtigkeit, wirklich blind urteilen, ist es absurd, von reinen Historikern reine Berichte von Fakten zu erwarten, zumal es solche Berichte trotz aller Archive ohne Textkritik und inhaltliche Übersetzung des Überlieferten gar nicht gibt. So sind z. B. Cäsars De bello gallico und De bello civile keine rein authentischen Berichte über seinen Gallischen Krieg und den Bürgerkrieg, sondern zumindest auch geniale mediale Schachzüge der Selbstpromotion, die geschichtlich ihresgleichen suchen – und vielleicht erst wieder in Winston Churchills Der Zweite Weltkrieg 128 ein Pendant finden. Noch Leopold von Rankes Versuch, ganz objektiv aus der Zeit heraus das Geschehen darzustellen, kommt sogar in seiner großen Geschichte der Päpste129 an ihre o=enbaren Grenzen. Ende April 1830 schreibt Ranke an Gentz, er wolle eine unparteiische Geschichte des Pontifikats schreiben, d. h. eine solche, die über den Schatten- die Lichtseiten nicht übersehe.130 Rankes Bonmot, dass jede Zeit unmittelbar zu Gott ist, ist zwar von hegelscher Dichte und Wahrheit. Dennoch unterschätzt er den Unterschied zwischen der Zeit des Geschehens und der Zeit der geschichtlichen Darstellung, die Di=erenz zwischen der Lage bzw. dem beschränkten Wissen der Akteure und 128 Winston S. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 6 Bde., Bern: A. Scherz Verlag 1949–1954. 129 Leopold von Ranke, Die Geschichte der Päpste. Die Römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten. Kardinal Consalvi und seine Staatsverwaltung unter dem Pontifikat Pius VII, hg. von Willy Andreas. Wiesbaden: Emil Vollmer Verlag 1957. 130 Willy Andreas im Vorwort zu Leopold von Ranke, Die Geschichte der Päpste, S. VII.
930 428 k Der objektive Geist des Geschichtsschreibers mit seinen besonderen Grundüberzeugungen: Das wird jedenfalls nicht ausreichend zum Thema gemacht. Wie Leibniz in seiner Monadologie modellhaft zeigt, kann niemand aus seiner Haut heraus. Objektivität scha=en wir daher nur, wie Hegel sieht, durch Explikation der eigenen Standpunkte in Anerkennung der Verschiedenheit der Sichtweisen und durch den Versuch der Artikulation ihrer Beziehungen. Dabei soll etwa Ranke und Niebuhr ihr Bemühen um eben diese Objektivität nicht etwa abgesprochen werden. Das Problem des bei ihnen beginnenden Historismus des 19. Jahrhunderts liegt eher darin, dass unter der Flagge eines objektiven Geschichtswissens sich die besserwisserische Überheblichkeit des ›europäischen‹ 19. Jahrhunderts und eben damit auch die Ideologie des Kolonialismus weit e=ektiver ausbreiten konnte als in der hegelschen Anerkenntnis der Absolutheit präsentischer Sichtweisen. Anders gesagt: Die Erklärung, man verzichte auf eigene Interessen, steht in der Gefahr, das implizite Dabeisein des Autors nur vollends zu vertuschen. Die erwünschte Unparteilichkeit eines Blicks von der Seite gibt es also nicht. Es gibt sie erst recht nicht in der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften. So wie ein Richter für das Recht parteiisch sein muss, gibt es eine sinnvolle Wissenschafts- und Philosophiegeschichte nicht als rein philologisch und historisch ›objektiven‹ Bericht über das, was frühere Wissenschaftler und Philosophen ›gesagt‹, ›gemeint‹ und ›getan‹ haben (pace Diogenes Laertios). Denn der Übergang zu Inhalten setzt auch dann schon die heutige Einordnung ihres Denkens und Handelns als Beiträge einer Wissenschafts- und Philosophie-Entwicklung voraus, die gerade zu der Stelle führt, die wir heute als Stand des Wissens anerkennen (können und müssen), wenn wir uns um eine Rekonstruktion damaligen Wissens bemühen. Diese Bemühung lässt sich sehr wohl von einer bloß subjektiven Parteilichkeit unterscheiden, so wie man z. B. Rankes Position zur katholischen Kirche als relativ aufgeklärte Variante einer preußischprotestantischen Sicht im mittleren 19. Jahrhundert auffassen kann. Der Rest der Passage versteht sich jetzt von selbst. In dem Dasein eines Volkes ist der substantielle Zweck, ein Staat zu sein und als solcher sich zu erhalten; ein Volk ohne Staatsbildung (eine Nation als solche) hat eigentlich keine Geschichte, wie die Völ-
526 Die Sittlichkeit 931 ker vor ihrer Staatsbildung existierten und andere noch jetzt als wilde Nationen existieren. Was einem Volke geschieht und innerhalb desselben vorgeht, hat in der Beziehung auf den Staat seine wesentliche Bedeutung; die bloßen Partikularitäten der Individuen sind am entferntesten von jenem der Geschichte angehörigen Gegenstand. (526) Das Ziel eines Volkes – heute sagt man: einer Gesellschaft, um die biologistische Umdeutung des 19. Jahrhunderts loszuwerden – ist es, in nachhaltiger staatlicher Selbstverwaltung ein freies gemeinsames Leben zu formen. Das jeweilige Staatsvolk heißt Nation – und ist nie auf eine Ethnie zu begrenzen. Dass »Völker vor ihrer Staatsbildung existierten und andere noch jetzt als wilde Nationen existieren«, aber keine Geschichte haben, heißt natürlich nicht, dass sie keine Vergangenheit hätten oder keine Mythen und Erzählungen über diese. Es heißt, dass es keine kontrollierte Erinnerung an die Entwicklung des Projekts einer staatlich und rechtlich gesicherten Einheit von Gesellschaft oder Nation geben kann, wo es das Projekt, die Idee gar nicht gibt. Wenn in dem Charakter der ausgezeichneten Individuen einer Periode sich der allgemeine Geist einer Zeit überhaupt abdrückt und auch ihre Partikularitäten die entferntern und trübern Medien sind, in welchen er noch in geschwächten Farben spielt, sogar oft Einzelnheiten eines kleinen Ereignisses, eines Wortes, nicht eine subjektive Besonderheit, sondern eine Zeit, Volk, Bildung in schlagender Anschaulichkeit und Kürze aussprechen, dergleichen auszuwählen nur die Sache eines geistreichen Geschichtschreibers ist, so ist dagegen die Masse der sonstigen Einzelnheiten eine überflüssige Masse, durch deren getreue Aufsammlung die der Geschichte würdigen Gegenstände gedrückt und verdunkelt werden; die wesentliche Charakteristik des Geistes und seiner Zeit ist immer in den großen Begebenheiten enthalten. Es hat ein richtiger Sinn darauf geführt, dergleichen Schildereien des Partikulären und das Auflesen der Züge desselben in den Roman (wie die berühmten Walter Scottschen und dergl. sind) zu verweisen; es ist für guten Geschmack zu halten, die Gemälde der unwesentlichen, partikulären Lebendigkeit mit einem unwesentlichen Sto=e zu verbinden, wie ihn der Roman aus den Privatereignissen und subjektiven Leidenschaften nimmt. Im Interesse der sogenannten Wahrheit aber die individuellen Kleinigkeiten der 428 f . k
932 Der objektive Geist 526 =. Zeit und der Personen in die Vorstellung der allgemeinen Interessen einzuweben, ist nicht nur gegen Urteil und Geschmack, sondern gegen den Begri= objektiver Wahrheit, in deren Sinne dem Geist nur Substantielles, nicht aber die Gehaltlosigkeit äußerlicher Existenzen und Zufälligkeiten das Wahre, und es vollkommen gleichgültig ist, ob solche Unbedeutenheiten förmlich beglaubigt oder aber, wie im Romane, charakteristisch erdichtet und diesem oder jenem Namen und Umständen zugeschrieben sind. – Das Interesse der Biographie, um sie hiebei zu erwähnen, scheint direkt einem allgemeinen Zwecke gegenüber zu stehen, aber sie selbst hat die historische Welt zum Hintergrunde, mit welchem das Individuum verwickelt ist; selbst das Subjektiv-Originelle, Humoristische usf. spielt an jenen Gehalt an und erhöht sein Interesse dadurch; das nur Gemütliche aber hat einen andern Boden und Interesse als die Geschichte. (526 =.) Hegel plädiert hier für eine paradigmatische Strukturgeschichte, die sich deswegen an den großen Personen orientiert, weil in deren Leben, Reden und Handeln das Allgemeine immer klarer zum Ausdruck kommt als im ›normalen‹ Leben der Privatleute. Eine Geschichte von unten wird jeweils nur beschränkte Statusrollen darstellen oder statistische Häufigkeiten des Verhaltens, der Haltungen, des Handelns, auch des Redens. Das ist alles auch interessant und wichtig, aber nicht Thema von Hegels philosophischer Reflexion, sondern Sache der Geschichte als Sachwissenschaft. Man braucht immer auch Schematisierungen in »schlagender Anschaulichkeit und Kürze« und ›geistreiche‹, bei Schiller noch ›philosophische‹ Geschichtsschreiber. Ranke oder Jacob Burckhardt gehören übrigens dazu. Deren ›Streit‹ mit Hegel beruht auf Missverständnissen. Denn trotz aller Dunkelheit der Artikulation ist sich Hegel der Logik, Probleme und Methoden der Geschichtswissenschaften bewusster als die working historians. Details dazu sind hier nicht mehr mein Thema. Dabei setzt Hegel auch die romanhaften Bilder der Vergangenheit in ihr relatives Recht.131 131 Zu den großen Geschichtsschreibern für den Endverbraucher gehören z. B. Edward Gibbon oder Theodor Mommsen zur Römischen Geschichte, Golo Mann mit seiner Biographie Wallenstein oder Barbara Tuchman mit ihrer Charakteristik ganzer Epochen. Für den Bücherschrank des Bildungs-
528 Die Sittlichkeit 933 Die Anforderung der Unparteilichkeit an die Geschichte der Philosophie, ebenso, kann man hinzusetzen, der Religion teils überhaupt, teils an die Kirchengeschichte, pflegt näher die noch ausdrücklichere Ausschließung der Voraussetzung von einem objektiven Zwecke zu enthalten. Wie vorhin der Staat als die Sache genannt war, auf welche das Urteil die Begebenheiten in der politischen Geschichte zu beziehen hätte, so müßte hier die Wahrheit der Gegenstand sein, auf welche die einzelnen Taten und Begebenheiten des Geistes zu beziehen wären. Es wird aber vielmehr die entgegengesetzte Voraussetzung gemacht, daß jene Geschichten nur subjektive Zwecke, d. i. nur Meinungen und Vorstellungen, nicht den an und für sich seienden Gegenstand, die Wahrheit, zum Inhalt haben sollen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es keine Wahrheit gebe. Nach dieser Annahme erscheint das Interesse für die Wahrheit gleichfalls nur als eine Parteilichkeit im gewöhnlichen Sinne, nämlich für Meinungen und Vorstellungen, die als von gleicher Gehaltlosigkeit sämtlich für indi=erent gelten. Die geschichtliche Wahrheit selbst hat damit den Sinn nur von Richtigkeit, genauem Berichte des Äußerlichen, ohne Urteil als über diese Richtigkeit selbst, womit bloß qualitative und quantitative, keine Urteile der Notwendigkeit und des Begri=s (vergl. Anm. zu § 172 u. 178) zugelassen sind. (528) Im Falle der Geschichte der Philosophie taugt der erzählende Zugang der Biographien von Diogenes Laertios bis zu Wilhelm Weischedels immerhin schon im Titel tief ironischem Werk »Die philosophische Hintertreppe« bloß erst für Anfänger. Das gilt aber auch für Übersichten wie z. B. bei Brucker und Tennemann, später dann auch bei Schelling, Heinrich Heine, Theodor Gomperz (»Griechische Denker«), Störig (im Lesering), Hischberger (katholisch) oder Will Durant, um nur einige zu nennen, erst recht aber für die üblichen Religionsgeschichten. In den meisten dieser Fälle wird, wie Hegel fast sarkastisch schreibt, die Voraussetzung gemacht, dass eine Geschichte der Philosophie, Politik und Religion »nur Meinungen und Vorstellungen, nicht [. . . ] die Wahrheit, zum Inhalt haben« könne, »und zwar aus bürgers erzählt Otto Zierer seine Weltgeschichte und Egon Friedell seine Kulturgeschichten. Auch die vielen Bücher über Cäsar, Karl oder Otto den Großen oder Napoleon und seine Zeit (Walter Markov) etc. gehören hierher. 429 k
934 429 k 429 f . k Der objektive Geist 528 f. dem einfachen Grunde, weil es« in diesem Themenbereich, wie zu ergänzen ist, angeblich gar »keine Wahrheit gebe«. Gerade Bertrand Russell bedient diese Meinung in voller Frivolität. Für keine andere Art des Wissens würde man eine solche arrogante Haltung tolerieren.132 In der Tat aber, wenn in der politischen Geschichte Rom oder das deutsche Reich usf. ein wirklicher und wahrhafter Gegenstand und der Zweck sind, auf welchen die Erscheinungen zu beziehen und nach dem sie zu beurteilen sind, so ist noch mehr in der allgemeinen Geschichte der allgemeine Geist selbst, das Bewußtsein seiner und seines Wesens ein wahrhafter und wirklicher Gegenstand, Inhalt und ein Zweck, dem an und für sich alle andern Erscheinungen dienen, so daß sie durch das Verhältnis zu ihm, d. h. das Urteil, in welchem sie unter ihn subsumiert sind und er ihnen inhäriert, allein ihren Wert sowie sogar ihre Existenz haben. (528 f.) Im Fall der Politik meint man inzwischen auf verblasene Weise, es gingen uns die internen Zwecke des römischen oder deutschen Reiches nicht weiter an, relevant sei nur, wie es den Leuten gegangen ist. Aber auch an der allgemeinen Geschichte des allgemeinen Geistes sieht man nur noch das äußere Reden und Tun der Leute. Daß in dem Gange des Geistes (und der Geist ist es, der nicht nur über der Geschichte wie über den Wassern schwebt, sondern in ihr webt und allein das Bewegende ist) die Freiheit, d. i. die durch seinen Begri= bestimmte Entwicklung das Bestimmende und nur sein Begri= sich der Endzweck, d. i. die Wahrheit, sei, da der Geist Bewußtsein ist, oder mit andern Worten, daß Vernunft in der Geschichte sei, wird teils wenigstens ein plausibler Glaube sein, teils aber ist es Erkenntnis der Philosophie. (529) Hegel selbst dementiert hier explizit und zugleich ironisch das beliebte Bild, dass der Geist »über der Geschichte wie über den Wassern schwebt«. Er wendet sich dann aber schneller, als die meisten Leser seiner geistigen Beweglichkeit folgen können, dem Bild selbst wieder positiv zu, indem er sagt, der Geist webe in der Geschichte und sei in ihr »allein das Bewegende«. Das legt nun aber wieder ein Bild vom Geist nahe, der die Kugeln der Geschichte anstößt wie ein Billardspieler. Aber gerade diese Lesart wurde eben dementiert. Denn 132 Die erwähnten Bücher sind im Literaturverzeichnis gelistet.
529 Die Sittlichkeit 935 der Geist selbst besteht in nichts als der gemeinsamen ›Ausführung‹ bzw. ›Anerkennung‹ unserer eigenen institutionellen Entwicklungen der Bedingungen der Möglichkeiten eines gut verfassten Lebens in Freiheit. Dazu gehört die Entwicklung von Wissen und Bewusstsein als Rahmen für den Zugang zu Möglichkeiten überhaupt, aber dann sofort auch des Staates als Rahmen für eine freie Lebensführung als Person und Bürger und für die freie Kooperation mit anderen Personen in der bürgerlichen Gesellschaft. Dass dabei »Vernunft in der Geschichte sei«, ist nach Kant »wenigstens ein plausibler Glaube«. Hegels Leistung ist, dass »es Erkenntnis der Philosophie« wird – in genau dem Sinn, wie ich ihn erläutert habe. § 550 Diese Befreiung des Geistes, in der er zu sich selbst zu kommen und seine Wahrheit zu verwirklichen geht, und das Geschäft derselben ist das höchste und absolute Recht. (529) Hegels Sprechweise ist hier ohne Übersetzung in eine andere Ausdrucksform schlicht nicht zu verstehen – was die Ursache vieler Fehldeutungen ist. Die »Befreiung des Geistes« besteht einfach in der empraktischen Teilnahme an der Idee, und das heißt, an dem realen Projekt einer freien Gesellschaft. Zu sich selbst kommt der Geist im begri=lichen Wissen um diese Idee und damit um die Form eines freien Lebens. Seine »Wahrheit zu verwirklichen« bedeutet, das Projekt im Ganzen voranzutreiben. Daran mit guten neuen Ideen oder Formvarianten aktiv teilzunehmen, »ist das höchste und absolute Recht« jeder Gesellschaft, meinetwegen auch jedes Volkes und jedes Bürgers bzw. jeder Person. Das Selbstbewußtsein eines besondern Volks ist Träger der diesmaligen Entwicklungsstufe des allgemeinen Geistes in seinem Dasein und die objektive Wirklichkeit, in welche er seinen Willen legt. (529) Selbstbewusstsein verlangt immer ein gewisses Maß an expliziter Reflexion auf die Idee oder das Projekt, die Lebensform freier Personen voranzubringen. Das Selbstbewusstsein eines Volkes besteht daher in den bereitgestellten allgemeinen Möglichkeiten oder den normalen Praktiken selbstbewusster Reflexion auf Gemeinwesen 430 430
936 430 430 Der objektive Geist 529 und Person, also auf den Staat und die Gesellschaft seiner Bürger.133 Die leicht missverständliche Rede von der objektiven Wirklichkeit, in welche der Volksgeist seinen Willen legt, meint gerade die Idee selbstbewussten Lebens. Es ist die gemeinsame Praxis des Volkes, das als generisch-gemeinsames Tun den Begri= realisiert – nach Maßgabe der erreichten Entwicklungsstufe. Gegen diesen absoluten Willen ist der Wille der andern besondern Volksgeister rechtlos, jenes Volk ist das weltbeherrschende; ebenso aber schreitet er über sein jedesmaliges Eigentum als über eine besondere Stufe hinaus und übergibt es dann seinem Zufall und Gericht. (529) Hegels Rede vom weltbeherrschenden Volk meint also m. E. klarerweise kein Imperium. Der »Wille der anderen besonderen Volksgeister« wird »rechtlos« nur dann, wenn klar ist, welche Rechtstaatsverfassung ihren allgemeinen Möglichkeiten nach als ›vernünftig‹ und ›fortschrittlich‹ zu werten ist. Es wäre an der Zeit, diese Einsicht gerade auf die rein vorgeschobene Ablehnung internationaler Kritik und das Pochen auf das ›Recht‹, die so genannten inneren Angelegenheiten als souveräne Staaten nach reinem Belieben zu lösen, auch im Verstoß gegen Menschenrechte und Rechtsstaat. Das betri=t Russland wie China und Nordkorea, Afghanistan wie den Iran oder ganz Arabien, die Türkei wie sogar noch Ungarn oder Polen. § 551 Indem solches Geschäft der Wirklichkeit als Handlung und damit als ein Werk Einzelner erscheint, so sind diese in Rücksicht auf den substantiellen Inhalt ihrer Arbeit Werkzeuge, und ihre Subjektivität, die ihr Eigentümliches ist, ist die leere Form der Tätigkeit. (529) 133 Als Beispiel können wir die besondere Bedeutung des jüdischen Volkes nennen. Dieses spielt für die Weltgeschichte deswegen eine so große Rolle, weil die von ihren Nachbarn für den Handel erfundene Buchstabenschrift in seinen Heiligen Schriften zur nachhaltigen Artikulation und Reflexion des Ethos des Volkes eingesetzt wird. Paulus überschreitet dieses Nationalethos o=enbar unter bewusster Betonung von Propheten wie Jesaia – und unterstützt eine durch Rom abgesicherte Ökumene, also das friedliche und freie Zusammenleben aller Ethnien.
530 Die Sittlichkeit 937 Wieder lädt die Formulierung zu einer falschen Deutung ein. Denn wenn Hegel Einzelpersonen als Werkzeuge des Geistes bezeichnet, denken die Leute an einen mythischen Gott mit Menschen als Marionetten in seiner Hand. Es ist zwar richtig, dass Hegel explizit auf dieses Bild anspielt. Falsch ist es, zu glauben, es sei von ihm wörtlich gemeint. Das wird schon dadurch klar, dass Hegel das Bild explizit »auf den substantiellen Inhalt ihrer Arbeit« einschränkt. Dieser Inhalt zeigt sich deutlich zumeist erst im Rückblick.134 Was sie daher durch den individuellen Anteil, den sie an dem substantiellen, von ihnen unabhängig bereiteten und bestimmten Geschäfte genommen, für sich erlangt haben, ist eine formelle Allgemeinheit subjektiver Vorstellung, – der Ruhm, der ihre Belohnung ist. (529) Protagonisten einer Idee wie z. B. Sokrates, Jesus oder Paulus, aber etwa auch Cäsar und Octavian etc. erhalten berechtigten Ruhm für »den individuellen Anteil, den sie an dem substantiellen, von ihnen unabhängig bereiteten und bestimmten Geschäfte genommen« haben. § 552 Der Volksgeist enthält Natur-Notwendigkeit und steht in äußerlichem Dasein (§ 483); die in sich unendliche sittliche Substanz ist für sich eine besondere und beschränkte (§ 549 u. 550) und ihre subjektive Seite mit Zufälligkeit behaftet, bewußtlose Sitte, und Bewußtsein ihres Inhaltes als eines zeitlich Vorhandenen und im Verhältnisse gegen eine äußerliche Natur und Welt. (530) Der Geist eines Volkes und damit das mögliche Wissen und Denken jedes seiner Mitglieder ist natürlich durch Region und Zeit beschränkt. Daher gibt es auf der subjektiven Seite dieses ›lokalen‹ oder besonderen Zugangs zu einem allgemein anzuerkennenden Inhalt allerlei 134 Was Hegel hier sagt, lässt sich vielleicht so illustrieren: Gaius Julius Cäsar hat das Prinzipat seines Adoptivsohns Octavian weder vorhergesehen noch beabsichtigt, so wenig wie Jesus die radikale Internationalisierung seiner Lehren durch den auf sein römisches Bürgerrecht o=ensichtlich stolzen Paulus. Die subjektiven Absichten von Protagonisten einer institutionellen Entwicklung gehören daher nur zur äußeren Form der Tat. Im Rückblick sieht alles anders aus. Zur Tat gehört auch die Anerkennung oder die Bekämpfung ihrer Folgen durch viele andere Personen. 430 430 f .
938 431 431 Der objektive Geist 530 Mängel des Ausdrucks und zufällige Besonderheiten. So reagiert z. B. Jesus höchst speziell auf eine »bewußtlose Sitte« seines Volkes, etwa das Verbot, mit ›unreinen‹ Personen Kontakt zu haben, oder die Sabbats- und Reinigungsvorschriften. Er wird aber allgemein bedeutend gerade durch die Art und Weise seiner Reaktion. Denn diese lässt sich ganz o=enbar verallgemeinern. Das Ergebnis ist ein universales Verständnis der Bedeutung subjektiver Urteilskraft und eines gewissenhaften Umgangs mit Inhalten, nicht bloß mit äußerlichen Gesetzen und Schemata. Hieraus ergibt sich dann sogar die Absolutheit und Würde der einzelnen personalen Subjekte und ihrer freien Gemeinschaft. Aber es ist der in der Sittlichkeit denkende Geist, welcher die Endlichkeit, die er als Volksgeist in seinem Staate und dessen zeitlichen Interessen, dem Systeme der Gesetze und der Sitten hat, in sich aufhebt und sich zum Wissen seiner in seiner Wesentlichkeit erhebt, ein Wissen, das jedoch selbst die immanente Beschränktheit des Volksgeistes hat. (530) In eben diesem Sinn ist es der aus dem Ethos seines Volkes heraus denkende Geist, der die Grenzen und Schranken verschiebt bzw. partiell aufhebt. Hegels Rede von einer ›Erhebung‹ »zum Wissen seiner in seiner Wesentlichkeit« ist zwar der Form nach veraltet, aber im Sinn eindeutig. Dass das neue Wissen weiterhin gewisse Beschränkungen des Volks- oder Zeitgeistes enthält, versteht sich von selbst. Wer sich daher z. B. am Wunderglauben um die Zeit des Jesus von Nazareth stört oder daran, dass dieser von seinen Anhängern in ihren Werbetexten selbst gläubig bedient wird, verwechselt mit einiger Sicherheit eine äußere Form mit einem nachhaltigen Inhalt. Der denkende Geist der Weltgeschichte aber, indem er zugleich jene Beschränktheiten der besondern Volksgeister und seine eigene Weltlichkeit abstreift, erfaßt seine konkrete Allgemeinheit und erhebt sich zum Wissen des absoluten Geistes, als der ewig wirklichen Wahrheit, in welcher die wissende Vernunft frei für sich und die Notwendigkeit, Natur und Geschichte nur seiner O=enbarung dienend und Gefäße seiner Ehre sind. (530) Das implizite Pathos und Selbstlob sind vielleicht abzuschwächen. Hegel selbst beansprucht hier, die Form des spekulativ denkenden Geistes in der Weltgeschichte insgesamt besser als andere begri=en
530 Die Sittlichkeit 939 zu haben. Er hat darin zwar recht; aber man versteht, warum man es nicht ausgerechnet von ihm selbst hören will, auch nicht in dieser rhetorischen Verpackung. Das Thema des Wissens des absoluten Geistes ist das Wissen um das Ganze der wesentlichen Stufen der geistigen Entwicklung der Menschheit – jeweils bis heute. Die ›ewig wirkliche Wahrheit‹ ist der je präsentische Vollzug dieser Entwicklung selbst. Von einer real ewigen Dauer ist gar nicht die Rede. Die »wissende Vernunft« ist »frei für sich«, insofern alles Nachdenken erstens frei und zweitens immer auch selbstbezüglich ist. Die religiösen Metaphern im Text würden stören, wenn es nicht darum ginge, ihren realen Gehalt im Kontext aufzuzeigen. Denn »Notwendigkeit, Natur und Geschichte« dienen nur insofern »seiner O=enbarung«, als wir uns mit den Problemen der Welt ewig werden herumschlagen müssen. Die »Gefäße seiner Ehre« sind wir selbst – aber nicht einfach als Kreaturen, die allein an ihrem eigenen Wohlleben interessiert sind. Am Ende gibt es gar keinen Unterschied zwischen uns und dem Weltgeist – so dass sich die Person zu ihrer eigenen Ehre verhält wie die psychē zur aretē, nämlich als bloß formaler ›Träger‹ oder eben in Hegels Metapher als ›Gefäß‹. Von dem Formellen der Erhebung des Geistes zu Gott ist in der Einleitung zur Logik (vergl. insbesondere § 51 Anm.) gesprochen worden. – In Ansehung der Ausgangspunkte dieser Erhebung hat Kant insofern im allgemeinen den richtigsten ergri=en, als er den Glauben an Gott aus der praktischen Vernunft hervorgehend betrachtet. Denn der Ausgangspunkt enthält implizite den Inhalt oder Sto=, welcher den Inhalt des Begri=s von Gott ausmacht. (530) Die »Erhebung des Geistes zu Gott«, die Hegel unter anderem schon im § 51 der Enzyklopädie kommentiert, hat mit einer religiöserbaulichen Erhebung der Herzen eines »sursum corda« wie in der katholischen Messe weniger zu tun, als man denken mag, auch wenn die Dinge zusammenhängen, da es um die spekulativen Reden in der ›Betrachtung‹ des Ganzen und damit des Wahren geht. Die hier erklärte Zustimmung zu Kant ist, wie immer bei Hegel, nur partiell. Kant hat zwar recht, seinen »Glauben an Gott aus der praktischen Vernunft« herzuleiten, denn der gesamte Inhalt »des Begri=s von Gott« besteht in dieser. Das heißt für Hegel aber etwas 431 k
940 431 k 431 k Der objektive Geist 530 Anderes als für Kant. Bei Hegel geht es um eine sowohl tätige als auch selbstbewusste Gesamtentwicklung in anerkennender Teilnahme an der Idee oder dem Projekt der gemeinsamen Entwicklung des politischen Ethos im Sinn der universalen Gemeinschaft der Menschen. Im Zentrum stehen Entwicklung und Schutz der Würde und Freiheit der Person. Der wahrhafte konkrete Sto= ist aber weder das Sein (wie im kosmologischen) noch nur die zweckmäßige Tätigkeit (wie im physikotheologischen Beweise), sondern der Geist, dessen absolute Bestimmung die wirksame Vernunft, d. i. der sich bestimmende und realisierende Begri= selbst, – die Freiheit ist. (530) Im Verhältnis der einzelnen Person zu Gott, wie es in traditionalen Religionen angesprochen wird, geht es nicht einfach um eine Haltung zum Sein, auch wenn es im kosmologischen Begri= Gottes als Schöpfer des Himmels und der Erde so scheint. Es geht auch nicht um ›die Frage Wozu?‹,135 also um die physikotheologische Vorstellung, die Welt wäre von Gott auf ein höheres Ziel hin eingerichtet. Stattdessen geht es um die reale Existenz des Geistes im Sinne unseres geistigen Seins. Dessen »absolute Bestimmung« ist der Vollzug eines individuell und gemeinsam als vernünftig bewerteten Urteilens, Handelns und Lebens. Vor dem Hintergrund allgemeinen Wissens ist es Teilhabe an Bestimmung und Realisierung relevanter begri=licher Bedingungen. Daß die in dieser Bestimmung geschehende Erhebung des subjektiven Geistes zu Gott in der Kantischen Darstellung wieder zu einem Postulate, einem bloßen Sollen, herabgesetzt wird, ist die früher erörterte Schiefheit, den Gegensatz der Endlichkeit, dessen Aufheben zur Wahrheit jene Erhebung selbst ist, unmittelbar als wahr und gültig wiederherzustellen. (530 f.) Die »Erhebung des subjektiven Geistes zu Gott« hat insbesondere mit Platons Mythos und Kants Postulat eines Richtergotts am Ende der Tage oder gar der Forderung, an einen solchen zu glauben, nichts zu tun. Man will durch diesen Mythos der Moralität der Menschen aufhelfen. Würde der Mythos als bloß von uns konstruierte Erzählung, 135 Vgl. Reinhard Löw, Robert Spaemann, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens. München: Piper 1981.
531 Die Sittlichkeit 941 als verbales Placebo aufgefasst, würde er, wie man meint, wirkungslos. Wie soll auch ein bloßes ›so Tun als ob‹ wirken? Vor dem Hintergrund dieses Gedankens lesen Theologie und Religion den Inhalt des Mythos unmittelbar als wörtliche Wahrheit. Sie sind in eben dieser Unmittelbarkeit nur erst naiv. Nicht anders steht es mit dem antireligiösen Atheismus. Dieser ist ebenfalls nicht in der Lage, eine Sprache zu verstehen, die keine einfachen Tatsachen berichtet und deren Bedeutung und Wahrheit anders als rein konstativ zu bewerten ist. Hegel setzt dagegen eine Ausweitung des Blicks auf das Ganze. Und er will zeigen, wie es uns dabei als Personen immer um uns selbst geht. Es ist früher von der Vermittlung, welche die Erhebung zu Gott ist, gezeigt worden (§ 192, vergl. § 204 Anm.), daß das Moment der Negation, als durch welche der wesentliche Inhalt des Ausgangspunktes von seiner Endlichkeit gereinigt wird und hiedurch frei hervorgeht, vornehmlich zu beachten ist. Dies in der logischen Form abstrakte Moment hat nun seine konkreteste Bedeutung erhalten. (531) Es gibt – der Punkt wiederholt sich – keine unmittelbare, ›objektive‹ Betrachtung der Welt von der Seite (eines Gottes). Jede Rede, jedes Urteil, jeder Schluss bleibt endlich und beschränkt. Dennoch gibt es die Möglichkeit spekulativer Rede über das wahre Ganze. In der religiösen Tradition war das der Sinn der Rede von einer »Erhebung zu Gott«. In der Logik hatte Hegel gezeigt, dass jede spekulative Rede über das Ganze der Welt gerade unter Einbeziehung von Zukunft und Modalitäten immer ›nur negativ‹ zu verstehen ist, so also, dass ich meine lokalen und perspektivischen Beschränkungen erkenne, anerkenne und nur erst verbal einklammere. Man kann das auch schon als Einsicht negativer Theologie auffassen. In der Tat führt Hegel die Kritik an jeder positiven Theologie seiner Jugend zu einer negativen Philosophie und Logik spekulativer Sätze. Hinzu kommt die Einsicht in die kontrafaktische Idealität begri=licher Sätze und aller orts- und zeitallgemeinen generischen Aussagen an sich. Jeder reale Weltbezug ist zwar durch diese vermittelt, bedarf aber einer dialektischen Verflüssigung aller Schemata der Begri=sbestimmungen in urteilskräftiger Anpassung an die reale, empirische, endliche Welt. Das Endliche, von dem hier ausgegangen wird, ist das reelle sittliche Selbstbewußtsein; die Negation, durch welche es seinen Geist 431 k 431 k
942 431 f . k 432 k Der objektive Geist 531 zu seiner Wahrheit erhebt, ist die in der sittlichen Welt wirklich vollbrachte Reinigung seines Wissens von der subjektiven Meinung und Befreiung seines Willens von der Selbstsucht der Begierde. (531) Das Endliche, das im jetzigen Kontext relevant wird, ist die beschränkte Lage, von der ich jeweils ausgehe. Es ist mein ›reelles‹, also aktuales, sittliches, beschränktes Selbstbewusstsein. Die Negation, durch die ich ho=e, einen denkenden Zugang zu einer ›ausgeweiteten Sicht‹ auf das Ganze zu erhalten, besteht in einer je konkreten, möglichst akkuraten bzw. gewissenhaften »Reinigung« meines »Wissens von der subjektiven Meinung« – soweit mir das möglich ist. In direkter Parallele dazu steht die Befreiung meines »Willens von der Selbstsucht der Begierde« – wie wir schon in der Phänomenologie des Geistes lesen konnten. Die wahrhafte Religion und wahrhafte Religiosität geht nur aus der Sittlichkeit hervor und ist die denkende, d. i. der freien Allgemeinheit ihres konkreten Wesens bewußtwerdende Sittlichkeit. (531) Wir gelangen zu einer wesentlichen Modifikation der Einsicht Kants, dass die »wahrhafte Religion und wahrhafte Religiosität« mit Moral und Ethik zusammenhängt. Sie geht nicht direkt aus einer moralischen Selbstreflexion hervor, sondern nur aus »der Sittlichkeit« im Sinne meines realen ethischen Lebens im Rahmen der konkreten Gemeinschaft und Gesellschaft, in denen ich lebe. In ihrem Inhalt ist daher jede wahre Religion nicht Glaube an einen mythischen Inhalt, sondern denkende und bewusste Teilnahme an einem universalen Welt-Ethos.136 Wahre Sittlichkeit ist sich dabei »der freien Allgemeinheit ihres konkreten Wesens bewußt«. Nur aus ihr und von ihr aus wird die Idee von Gott als freier Geist gewußt; außerhalb des sittlichen Geistes ist es daher vergebens, wahrhafte Religion und Religiosität zu suchen. (531) Wichtig für Hegel ist, die übliche Rede von einem Glauben an Gott zu überwinden. Statt der Überzeugung, dass es Gott irgendwie gibt, dass ›er‹ etwa in einer transzendenten Hinterwelt existiert und 136 Hans Küng hat durchaus Recht, im Welt-Ethos den wahren Sinn des Christentums zu sehen. Er sagt damit m. E. inhaltlich dasselbe wie Hegel, aber so, dass viele es verständlicherweise weit lieber von ihm hören oder bei ihm lesen.
531 f. Die Sittlichkeit 943 ähnlich wie eine Person sogar ›handelt‹, gibt es nur ein Wissen um den Sinn der Rede von Gott. Diese verweist auf den freien Geist als plurale, bei Hegel auch ›moralische‹ Person an sich. Diese generische Person ist der Begri= der Person. Sie wird zur Idee als realisiertem Begri= des Personseins. Dieser besteht in den konkreten Ausgestaltungen des Gemeinwesens unter Einschluss religiöser Anerkennung und philosophischer Reflexion. »[A]ußerhalb des sittlichen Geistes ist es daher vergebens, wahrhafte Religion und Religiosität zu suchen«. Damit erhalten die mythisch-metaphorischen Reden der Religionen allererst ihren wahren Gehalt. Aber dieses Hervorgehen gibt sich zugleich selbst wie überall im Spekulativen die Bedeutung, daß das zunächst als Folgendes und Hervorgegangenes Gestellte vielmehr das absolute Prius dessen ist, durch das es als vermittelt erscheint, und hier im Geiste als dessen Wahrheit auch gewußt wird. (531) Die Rede vom Hervorgehen der Religion aus der Sittlichkeit ist natürlich nicht wörtlich zu verstehen. Sie hat in ihrer spekulativen Form die Bedeutung, dass das, was in reflexionslogischer Explikation das Spätere ist, in der Praxis bzw. im Vollzug das Frühere ist. Die Reflexion auf die Idee der Entwicklung einer freien Personengemeinschaft beginnt daher mit der Rede über die Ahnen und die Götter. Erst spät lernen manche Menschen, dass und wie diese transzendenten Reden sich immanent auf uns selbst beziehen – aber nicht einfach auf bloße Tatsachen einer Anthropologie wie bei Ludwig Feuerbach, sondern sozusagen auf das ewig unvollendete Gemeinschaftsprojekt der Personwerdung des Menschen und unserer konkreten Teilhabe und Teilnahme an ihm. Es ist damit hier der Ort, auf das Verhältnis von Staat und Religion näher einzugehen und dabei Kategorien zu beleuchten, die hierüber gäng und gäbe sind. Die unmittelbare Folge des Vorhergehenden ist, daß die Sittlichkeit der auf sein substantielles Inneres zurückgeführte Staat, dieser die Entwicklung und Verwirklichung derselben, die Substantialität aber der Sittlichkeit selbst und des Staats die Religion ist. (531 f.) Zum Verhältnis von Staat und Religion ist zunächst zu sagen, dass das Projekt des Rechtsstaates nicht ohne das Ethos von Bürger und Regierung stabil entwickelt werden kann. Die Religionen artikulieren 432 k 432 k
944 432 k Der objektive Geist 532 dieses Ethos in ihren zunächst mythischen Narrativen so, dass in der Erzählung eine Übereinstimmung der Interessen der Einzelpersonen mit dem allgemeinen Guten ausgedrückt wird. Damit werden die unmittelbaren Nichtübereinstimmungen aufgehoben. Es geht dabei, wie Hegel erkennt, um den Unterschied zwischen einer unmittelbaren Kontrolle von Befriedigungen und Enttäuschungen des Subjekts und einer insgesamt ›wahrhaften‹, meinetwegen daher auch ganzheitlichen Selbstbeziehung der Person, die aus logischen Gründen eine gelassene Haltung zur ganzen Welt und sittliche Kooperation mit virtuell allen Personen, zunächst aber allen Mitbürgern der eigenen Gesellschaft einschließt. (Heute spricht man auch von Resilienz.) In diesem sehr allgemeinen Sinn sorgen religiöse Texte und Praktiken im guten Fall für die Vertiefung der ›Substantialität‹. Diese ist eine nachhaltige haltungsmäßige ›Implementierung‹ der Sittlichkeit in den Personen, wie sie für die Realisierung der Idee der Würde der Person und eines freiheitlichen Rechtsstaats notwendige Bedingung ist. Hegel selbst ist dabei o=en für alle Variationen der Ausdrucksformen in den zunächst nur äußerlich verschiedenen Religionen und dann auch in Kunst und Volkskultur. Er erlaubt sich und verlangt von uns Bewertungen der Unterschiede der besonderen Religionen im Blick auf die allgemeine inhaltliche Wahrheit im Sinn einer insgesamt guten Orientierung. Es gibt eigentlich nur eine Religion, so wie es nur eine Wissenschaft gibt. Es gibt auch nur ein Welt-Ethos, eine Sittlichkeit, trotz äußerer Variationen der Sitten. Nach Hegels Meinung sollten alle Bürger im Staat ein religiöses Bekenntnis angeben können; am Ende plädiert er für das lutherische. Bei ihm nimmt es allerdings die Form eines reinen Kulturprotestantismus an. Der Staat beruht nach diesem Verhältnis auf der sittlichen Gesinnung und diese auf der religiösen. Indem die Religion das Bewußtsein der absoluten Wahrheit ist, so kann, was als Recht und Gerechtigkeit, als Pflicht und Gesetz, d. i. als wahr in der Welt des freien Willens gelten soll, nur insofern gelten, als es Teil an jener Wahrheit hat, unter sie subsumiert ist und aus ihr folgt. (532) Dass der Staat »auf der sittlichen Gesinnung« der Bürger selbst
532 Die Sittlichkeit 945 beruht, sieht man an den Folgen, wenn eine Mehrheit sich einem ideologischen Biologismus mit seinem Kampf ums Dasein verschreibt. Die Religion insgesamt ist »das Bewußtsein der absoluten Wahrheit« im wörtlichen Sinn: Sie macht das Ganze personaler Lebenswelt in je verschiedenen Darstellungsformen explizit. Daß aber das wahrhafte Sittliche Folge der Religion sei, dazu wird erfordert, daß die Religion den wahrhaften Inhalt habe, d. i. die in ihr gewußte Idee Gottes die wahrhafte sei. (532) Jetzt erst beginnt Hegel mit der Betrachtung besonderer Irrtümer religiös-spekulativer Lehrtraditionen. Alle ›falschen‹ Elemente in den Vorstellungen des Gottes (oder im biologistischen Szientismus: der Natur) schlagen auf die Idee, also die Realisierung des Begri=s der Religion (bzw. der ›wissenschaftlichen Weltanschauung‹) durch, am Ende also immer auch auf die politische Praxis. Die Sittlichkeit ist der göttliche Geist als inwohnend dem Selbstbewußtsein in dessen wirklicher Gegenwart als eines Volkes und der Individuen desselben; dieses Selbstbewußtsein, aus seiner empirischen Wirklichkeit in sich gehend und seine Wahrheit zum Bewußtsein bringend, hat in seinem Glauben und in seinem Gewissen nur, was es in der Gewißheit seiner selbst, in seiner geistigen Wirklichkeit hat. Beides ist untrennbar; es kann nicht zweierlei Gewissen, ein religiöses und ein dem Gehalte und Inhalte nach davon verschiedenes sittliches, geben. (532) Wenn wir überhaupt sinnvoll von etwas Göttlichem sprechen können, dann beziehen wir uns, ob wir es wissen oder nicht, auf den sittlichen Geist der Person und der Personen. Religion ist primär empraktische, daher partiell noch nicht selbstbewusste Artikulation dieses Selbstbewusstseins der Person und der Personen. Im Einzelnen sind die Reflexionsstufen noch weit komplexer. Menschen, die das Reden über Göttliches und die Sprache der Religion – etwa auch in der Würde der Person – völlig ablehnen, stehen in der Gefahr, sich selbst als selbstbewusste Personen in Staat und Gesellschaft zugunsten eines bloß aktualen subjektiven Lebens schon verloren zu haben. Was man als Glauben anspricht, ist realiter eine Art Commitment, sich an einem bestimmten religiösen Narrativ zu orientieren. Zentrale Instanz ist dabei das Gewissen als reflexive Selbstkontrolle. Das 432 k 432 k
946 432 k Der objektive Geist 532 Recht der Gewissheit seiner selbst wird nur dann gewährleistet, wenn man dem religiösen Gewissen seinen Platz lässt, so aber, dass das Folgende klar bleibt: Es gibt kein von einem religiösen Denken verschiedenes sittliches Gewissen und kein religiöses Gewissen, das sich nicht vor einer vernünftig verstandenen allgemeinen Sittlichkeit auszuweisen hätte. Wer anderes glaubt, ist schon gewissenlos – und damit als Person mangelhaft. Aber der Form nach, d. i. für das Denken und Wissen – und Religion und Sittlichkeit gehören der Intelligenz an und sind ein Denken und Wissen –, kommt dem religiösen Inhalt, als der reinen an und für sich seienden, also höchsten Wahrheit, die Sanktionierung der in empirischer Wirklichkeit stehenden Sittlichkeit zu; so ist die Religion für das Selbstbewußtsein die Basis der Sittlichkeit und des Staates. (532) Dass Religion und Sittlichkeit zur Intelligenz gehören, bedeutet, dass ein Mangel eines selbstbewussten Verständnisses religiöser Texte und Praktiken immer auch ein Intelligenzproblem ist. Das gilt insbesondere dann, wenn man nur an ihren äußeren Formen schematisch festhält und die Symbole, Allegorien und Metaphern nicht in ihrem allgemeinen Inhalt begreift. Dazu sind äußerliche Varianten als gleich gültige Formen im Wesentlichen derselben Inhalte zu erkennen – was gerade Jesus und Paulus, freilich je nur in ihrem Horizont, gefordert haben. Man könnte fast sagen, dass sie in Hegels Blick eben dadurch von bloßen Volkserziehern und erbaulichen Predigern – durchaus mit Gespür für institutionelle Notwendigkeiten – zu den bedeutendsten Philosophen der Weltgeschichte gehören. Dieser Blick rückt damit in interessante Nähe zu Augustinus, der sogar demonstrativ und manieristisch in den Bekenntnissen nur noch die Bibel zitiert und ihre Texte damit der gesamten antiken Philosophie und Wissenschaft vorzieht. Hegel ist dennoch keineswegs ein Konformist, der vom religiösen Inhalt »die Sanktionierung der in empirischer Wirklichkeit stehenden Sittlichkeit« der Gesellschaft und des Staates fordert. Wer das glaubt, geht wohl schon von der falschen Voraussetzung eines Gegensatzes zwischen Ethik und Politik aus oder begreift den logischen Unterschied zwischen allgemeiner und besonderer Ebene nicht.137 137 Der wertende Umgang mit einzelnen und besonderen Mängeln ist
532 f. Die Sittlichkeit 947 Es ist der ungeheure Irrtum unserer Zeiten gewesen, diese Untrennbaren als voneinander trennbar, ja selbst als gleichgültig gegeneinander ansehen zu wollen. So ist das Verhältnis der Religion zum Staate so betrachtet worden, daß dieser für sich sonst schon und aus irgend einer Macht und Gewalt existiere, und das Religiöse als das Subjektive der Individuen nur zu seiner Befestigung etwa als etwas Wünschenswertes hinzuzukommen hätte oder auch gleichgültig sei, und die Sittlichkeit des Staates, d. i. vernünftiges Recht und Verfassung für sich auf ihrem eigenen Grunde feststehe. Bei der angegebenen Untrennbarkeit der beiden Seiten hat es Interesse, die Trennung bemerklich zu machen, die auf der Seite der Religion erscheint. Sie betri=t zunächst die Form, d. i. das Verhältnis des Selbstbewußtseins zu dem Inhalte der Wahrheit. Indem dieser die Substanz als inwohnender Geist des Selbstbewußtseins in seiner Wirklichkeit ist, so hat dieses die Gewißheit seiner selbst in diesem Inhalte und ist frei in demselben. (532 f.) Der ungeheure Irrtum der Trennung der Praktiken religiös-philosophischer Reflexion von der Politik hält an. Man instrumentalisiert Religion und Ideologie bis heute zur Bindung der Leute an eine akzidentelle staatliche Macht. Oder man erklärt, der religiöse Glaube sei Privatsache, gleichgültig. Die Verfassung des Staates stehe »für sich auf ihrem eigenen Grunde« fest, so dass für einen Verfassungspatriovon ganz anderer Art als mit allgemeinen Ideen. Es war und ist z. B. in aller Regel ebenso verkehrt zu glauben, dass ›die Leute‹ des Volkes oder der Gesellschaft ethisch gut, friedfertig und intelligent seien, wie zu meinen, dass sie egoistisch, aggressiv und dumm wären. Auch die Leitungen des Staates wie Könige, Fürsten oder Regierungen sind weder besonders gewalta;n und macht-eitel, noch besonders weise, klug und am Wohlergehen des ganzen Volkes interessiert. Die Entgegensetzung zweier Reiche, eines göttlichen Reiches der Heiligen und eines Reiches der Welt und des Eigenutzes, stellt daher nicht erst seit Augustinus und seinem Gottesstaat gegen die Heiden in De civitate dei contra paganos ein gewisses Problem dar. Übrigens bleibt das Wort »böse« im Kern ein religiöses Wort, so dass Luzifer im orientalischen Mythos als selbstgerechter Erzengel zum Prototyp des Bösen wird: Niemand ist so böse wie die, welche spekulativ und religiös, also im Allgemeinen, rein subjektiv denken und handeln, etwa als selbsternannte Diener Gottes oder als selbsternannte Anwälte der Welt. 432 f . k
948 433 k 433 k 433 k Der objektive Geist 533 ten das Grundgesetz zu einer Art heiligem Text wird, der aber für sich, wie wir alle wissen könnten und sollten, keineswegs das tragen kann, was er tragen soll. Es kann aber das Verhältnis der Unfreiheit der Form nach stattfinden, obgleich der an sich seiende Inhalt der Religion der absolute Geist ist. (533) Hegel erläutert, warum sogar die Texte und Praktiken der fortschrittlichsten Religionen in ihr Gegenteil verkehrt werden können. So haben Christen Verhältnisse der Unfreiheit geduldet, »obgleich der an sich seiende Inhalt [ihrer] Religion« der absolute Geist allgemeiner Menschenwürde und Freiheit ist. Dieser große Unterschied, um das Bestimmtere anzuführen, findet sich innerhalb der christlichen Religion selbst, in welcher nicht das Naturelement den Inhalt des Gottes macht, noch auch ein solches in den Gehalt desselben als Moment eintritt, sondern Gott, der im Geist und in der Wahrheit gewußt wird, der Inhalt ist. Und doch wird in der katholischen Religion dieser Geist in der Wirklichkeit dem selbstbewußten Geiste starr gegenübergestellt. Zunächst wird in der Hostie Gott als äußerliches Ding der religiösen Anbetung präsentiert (wogegen in der lutherischen Kirche die Hostie als solche erst und nur allein im Genusse, d. i. in der Vernichtung der Äußerlichkeit derselben, und im Glauben, d. i. in dem zugleich freien selbstgewissen Geiste, konsekriert und zum gegenwärtigen Gotte erhoben wird). (533) Der Gefahr, angesichts der generischen Vergegenständlichungen, wie sie für reflektierendes Reden und Denken unabdingbar sind, in eine Verdinglichung zu verfallen, sind nach Hegels Meinung die orthodoxe und katholische Kirche längst erlegen. Während Paulus in Ephesus den heidnischen Aberglauben dadurch charakterisiert, dass Statuen und Statuetten bzw. Ikonen selbst für göttlich gehalten werden, werde z. B. im Katholizismus ebenfalls noch »in der Hostie Gott als äußerliches Ding der religiösen Anbetung präsentiert«. Aus jenem ersten und höchsten Verhältnis der Äußerlichkeit fließen alle die andern äußerlichen, damit unfreien, ungeistigen und abergläubischen Verhältnisse; namentlich ein Laienstand, der das Wissen der göttlichen Wahrheit wie die Direktion des Willens und Gewissens von außenher und von einem andern Stande empfängt,
534 Die Sittlichkeit 949 welcher selbst zum Besitze jenes Wissens nicht auf geistige Weise allein gelangt, sondern wesentlich dafür einer äußerlichen Konsekration bedarf. (533 f.) Hegel greift insbesondere die Trennung von Klerus und Laienstand scharf an. Die Kritiklinie betri=t auch den Islam. Das »Wissen der göttlichen Wahrheit wie die Direktion des Willens und Gewissens« schreiben sich dann besondere Schriftgelehrte selbst zu. Sie vertuschen dieses Manöver, indem sie von einem Glauben sprechen, wie sie ihn vom Volk verlangen. Das Volk, laios, soll ihrer Auslegung gläubig folgen. Hier sehen wir ein internes Problem einer Theologie, die als Sachwissenschaft auftritt und Spezialisten ausbildet für die Belehrung des Volkes. Stattdessen müsste es eine Art Volkstheologie geben, in der das Wissen über die Funktionen der Rede von Gott so allgemein ist, dass ein Streit um Gottes Existenz die gleiche Form hat wie ein Streit um die Existenz von Zahlen. Denn auch dabei geht es nur um das rechte Verstehen einer besonderen Redepraxis, wobei der mathematische Fall nur deswegen besonders einfach ist, weil diese Redepraxis weitgehend nur eine Redetechnik des Verstandes ist und nicht, wie die Sätze, in denen Wörter wie »Gott« oder »Welt« vorkommen, eine Praxis selbstbewusster Vernunft, die auf ›alles‹ reflektiert. Weiteres, die teils für sich nur die Lippen bewegende, teils darin geistlose Weise des Betens, daß das Subjekt auf die direkte Richtung zu Gott Verzicht leistet und andere um das Beten bittet, – die Richtung der Andacht an wundertätige Bilder, ja selbst an Knochen, und die Erwartung von Wundern durch sie, – überhaupt die Gerechtigkeit durch äußerliche Werke, ein Verdienst, das durch die Handlungen soll erworben, ja sogar auf andere übergetragen werden können, usf., – alles dieses bindet den Geist unter ein Außersichsein, wodurch sein Begri= im Innersten verkannt und verkehrt und Recht und Gerechtigkeit, Sittlichkeit und Gewissen, Zurechnungsfähigkeit und Pflicht in ihrer Wurzel verdorben sind. Solchem Prinzip und dieser Entwicklung der Unfreiheit des Geistes im Religiösen entspricht nur eine Gesetzgebung und Verfassung der rechtlichen und sittlichen Unfreiheit und ein Zustand der Unrechtlichkeit und Unsittlichkeit im wirklichen Staate. (534) Es gibt weltweit eine abergläubische Verwechslung zwischen Beten als einer – oft sogar rein mechanischen – ›Bitte‹ um ›göttlichen 433 f . k
950 434 k Der objektive Geist Beistand‹ mit Beten als einer kontemplativen Praxisform individueller und gemeinsamer Selbstreflexion.138 Da diese Verwechslung gerade auch der Kritik der Aufklärung an den Praktiken des Betens zugrunde liegt, wurde mit der Praxis des Betens (und übrigens auch der Beichte) eine uralte Praxis ganzheitlicher Reflexion und geistiger Selbststeuerung von Haltungen und Stimmungen abgescha=t. Hier geht es nicht darum, im Einzelnen aufzuweisen, dass eine latente manische Depression moderner Menschen die Folge einer derartigen Abscha=ung religiöser Praxisformen sein kann. Es geht schon gar nicht um eine Erneuerung der Praxis oder einen Ersatz, sondern nur darum, den Mangel an logischer Intelligenz in einer überschwänglichen Kritik am Gebet aufzuweisen. Die Ausrichtung des Subjekts auf Gott in der Praxis des Betens ist dennoch nur als auf das Ganze des Seins bezogene spekulative Selbstreflexion zu begreifen. Gott ist wie der Geist an sich zunächst Reflexionsgegenstand, wird aber vorgestellt als Idealsubjekt für alles wahre Wissen, gute Handeln und sogar der Schöpfung von Natur und Welt. Realsubjekt für sich sind Gott und Geist nur als Idee, die für unsere guten Lebensformentwicklungen steht. Wir allein instanziieren ja alle geistigen Formen auf der Ebene der individuellen Subjekte und aller Gemeinschaften von Personen. Konsequenterweise ist die katholische Religion so laut als diejenige gepriesen worden und wird oft noch gepriesen, bei welcher allein die Festigkeit der Regierungen gesichert sei, – in der Tat solcher Regierungen, welche mit Institutionen zusammenhängen, die sich auf die Unfreiheit des rechtlich und sittlich frei sein sollenden Geistes, d. h. auf Institutionen des Unrechts und einen Zustand sittlicher Verdorbenheit und Barbarei gründen. Diese Regierungen wissen aber 138 Im Gebet kann unter entsprechenden Umständen die (ggf. gemeinsame) Artikulation des Inhalts von Wünschen, auch der Trauer, außerdem die deklarative Anerkennung, dass die Erfüllung nicht in unserer Macht steht, und schließlich die Ho=nung, das Erbetene könne doch noch erfüllt werden, zum ausgesprochen vernünftigen Gesamtinhalt der Sprech- oder Denkhandlung gehören. Logisch – und daher auch psychologisch – sind positive Folgen daher so wenig erstaunlich wie jede andere self-fulfilling prophecy der Verstärkung einer richtigen Haltung zu den Kontingenzen des Lebens.
534 Die Sittlichkeit 951 nicht, daß sie am Fanatismus die furchtbare Macht haben, welche nur so lange und nur unter der Bedingung nicht feindselig gegen sie auftritt, daß sie unter der Knechtschaft des Unrechts und der Immoralität befangen bleiben. Aber in dem Geiste ist noch eine andere Macht vorhanden; gegen jenes Außersich- und Zerrissensein sammelt sich das Bewußtsein in seine innere freie Wirklichkeit; es erwacht die Weltweisheit im Geiste der Regierungen und der Völker, d. h. die Weisheit über das, was in der Wirklichkeit an und für sich recht und vernünftig ist. Mit Recht ist die Produktion des Denkens und bestimmter die Philosophie Weltweisheit genannt worden, denn das Denken vergegenwärtigt die Wahrheit des Geistes, führt ihn in die Welt ein und befreit ihn so in seiner Wirklichkeit und an ihm selbst. (534) Hegels Polemik gegen die katholischen Staaten ist gewiss überzogen. Auch wird die Leistungskraft der Philosophie, die als Weltweisheit zwischen Aberglauben und wahrer Religion, damit auch zwischen Kirche, Gesellschaft und Staat vermitteln soll, überschätzt, wenn man sie nicht nur als Teil des gesamten Bildungs- und Kulturbereiches samt zugehöriger Geisteswissenschaften betrachtet. Andererseits sind die von ihr logisch bedachten Grundbegri=e und Verstehensbedingungen nachgerade zentral. Damit gibt sich der Inhalt eine ganz andere Gestalt. Die Unfreiheit der Form, d. i. des Wissens und der Subjektivität, hat für den sittlichen Inhalt die Folge, daß das Selbstbewußtsein ihm als nicht immanent, daß er als demselben entrückt vorgestellt wird, so daß er nur wahrhaft sein solle als negativ gegen dessen Wirklichkeit. In dieser Unwahrheit heißt der sittliche Gehalt ein Heiliges. Aber durch das Sich-Einführen des göttlichen Geistes in die Wirklichkeit, die Befreiung der Wirklichkeit zu ihm wird das, was in der Welt Heiligkeit sein soll, durch die Sittlichkeit verdrängt. Statt des Gelübdes der Keuschheit gilt nun erst die Ehe als das Sittliche und damit als das Höchste in dieser Seite des Menschen die Familie; statt des Gelübdes der Armut (dem, sich in Widerspruch verwickelnd, das Verdienst des Wegschenkens der Habe an die Armen, d. i. die Bereicherung derselben entspricht) gilt die Tätigkeit des Selbsterwerbs durch Verstand und Fleiß und die Rechtscha=enheit in diesem Verkehr und Gebrauch des Vermögens, die Sittlichkeit in der bürgerlichen Gesell- 434 f f . k
952 Der objektive Geist schaft; statt des Gelübdes des Gehorsams gilt der Gehorsam gegen das Gesetz und die gesetzlichen Staatseinrichtungen, welcher selbst die wahrhafte Freiheit ist, weil der Staat die eigene, die sich verwirklichende Vernunft ist; die Sittlichkeit im Staate. So kann dann erst Recht und Moralität vorhanden sein. Es ist nicht genug, daß in der Religion geboten ist: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist; denn es handelt sich eben darum, zu bestimmen, was der Kaiser sei, d. i. was dem weltlichen Regimente gehöre; und es ist bekannt genug, was auch das weltliche Regiment in Willkür sich alles angemaßt hat, wie seinerseits das geistliche Regiment. Der göttliche Geist muß das Weltliche immanent durchdringen, so ist die Weisheit konkret darin und seine Berechtigung an ihm selbst bestimmt. Jenes konkrete Inwohnen aber sind die angeführten Gestaltungen der Sittlichkeit, die Sittlichkeit der Ehe gegen die Heiligkeit des ehelosen Standes, die Sittlichkeit der Vermögensund Erwerbstätigkeit gegen die Heiligkeit der Armut und ihres Müßiggangs, die Sittlichkeit des dem Rechte des Staates gewidmeten Gehorsams gegen die Heiligkeit des pflicht- und rechtlosen Gehorsams, der Knechtschaft des Gewissens. Mit dem Bedürfnisse des Rechtes und der Sittlichkeit und der Einsicht in die freie Natur des Geistes tritt der Zwist derselben gegen die Religion der Unfreiheit ein. Es hälfe nichts, daß die Gesetze und die Staatsordnung zur vernünftigen Rechtsorganisation umgescha=en würden, wenn nicht in der Religion das Prinzip der Unfreiheit aufgegeben wird. Beides ist unverträglich miteinander; es ist eine törichte Vorstellung, ihnen ein getrenntes Gebiet anweisen zu wollen, in der Meinung, ihre Verschiedenheit werde sich gegenseitig ruhig verhalten und nicht zum Widerspruch und Kampf ausschlagen. Grundsätze der rechtlichen Freiheit können nur abstrakt und oberflächlich und daraus hergeleitete Staatsinstitutionen müssen für sich unhaltbar sein, wenn die Weisheit jener Prinzipien die Religion so sehr mißkennt, um nicht zu wissen, daß die Grundsätze der Vernunft der Wirklichkeit ihre letzte und höchste Bewährung in dem religiösen Gewissen, in der Subsumtion unter das Bewußtsein der absoluten Wahrheit, haben. Wenn, auf welche Weise es geschehe, sozusagen a priori, eine Gesetzgebung, welche die Vernunftgrundsätze zu ihrer Grundlage hätte, aber im Widerspruche mit der auf Prinzipien der geistigen
535 =. Die Sittlichkeit 953 Unfreiheit basierten Landesreligion, entstanden wäre, so liegt die Betätigung der Gesetzgebung in den Individuen der Regierung als solcher und der ganzen sich durch alle Klassen verzweigenden Verwaltung; es ist nur eine abstrakte, leere Vorstellung, sich als möglich vorzuspiegeln, daß die Individuen nur nach dem Sinne oder Buchstaben der Gesetzgebung und nicht nach dem Geiste ihrer Religion, in der ihr innerstes Gewissen und höchste Verpflichtung liegt, handeln. Die Gesetze erscheinen in diesem Gegensatz gegen das, was von der Religion für heilig erklärt wird, als ein von Menschen Gemachtes; sie könnten, wenn sie auch sanktioniert und äußerlich eingeführt wären, dem Widerspruche und den Angri=en des religiösen Geistes gegen sie keinen dauerhaften Widerstand leisten. So scheitern solche Gesetze, wenn ihr Inhalt auch der wahrhafte wäre, an dem Gewissen, dessen Geist verschieden von dem Geiste der Gesetze ist und nicht diese sanktioniert. Es ist nur für eine Torheit neuerer Zeit zu achten, ein System verdorbener Sittlichkeit, deren Staatsverfassung und Gesetzgebung ohne Veränderung der Religion umzuändern, eine Revolution ohne eine Reformation gemacht zu haben, zu meinen, mit der alten Religion und ihren Heiligkeiten könne eine ihr entgegengesetzte Staatsverfassung Ruhe und Harmonie in sich haben und durch äußere Garantien – z. B. sogenannter Kammern und die ihnen gegebene Gewalt, den Finanzetat zu bestimmen (vgl. § 544 Anm.) u. dgl. – den Gesetzen Stabilität verscha=t werden. Es ist für nicht mehr als für eine Nothilfe anzusehen, die Rechte und Gesetze von der Religion trennen zu wollen, bei vorhandener Ohnmacht, in die Tiefen des religiösen Geistes hinabzusteigen und ihn selbst zu seiner Wahrheit zu erheben. Jene Garantien sind morsche Stützen gegen die Gewissen der Subjekte, welche die Gesetze, und darunter gehören die Garantien selbst, handhaben sollen; es ist dies vielmehr der höchste, der unheiligste Widerspruch, das religiöse Gewissen, dem die weltliche Gesetzgebung ein Unheiliges ist, an diese binden und ihr unterwerfen zu wollen. (535 =.) Hegel wiederholt hier u. a. seine Meinung, dass sich die Lebensform des Zölibats und der Klöster überlebt habe und die monogamische Ehe eine Normalform sei. In Plato war die Erkenntnis über die Entzweiung bestimmter aufgegangen, die zu seiner Zeit zwischen der vorhandenen Religion 436 k
954 436 f . k Der objektive Geist 537 und der Staatsverfassung einerseits und andererseits den tiefern Anforderungen eingetreten war, welche die ihrer Innerlichkeit nun bewußt werdende Freiheit an die Religion und den politischen Zustand machte. Plato faßt den Gedanken, daß wahrhafte Verfassung und Staatsleben auf die Idee, auf die an und für sich allgemeinen und wahrhaften Prinzipien der ewigen Gerechtigkeit tiefer begründet sei. Diese zu wissen und zu erkennen, ist allerdings Bestimmung und Geschäft der Philosophie. Von diesem Gesichtspunkte her bricht Plato in die berühmte oder berüchtigte Stelle aus, worin er den Sokrates es sehr emphatisch aussprechen läßt, daß Philosophie und Staatsmacht in Eines zusammenfallen müssen, die Idee die Regentin sein müsse, wenn das Unglück der Völker ein Ende sehen soll. Plato hatte dabei die bestimmte Vorstellung, daß die Idee, welche freilich an sich der freie sich bestimmende Gedanke ist, auch nur in Form des Gedankens zum Bewußtsein kommen könne; als ein Gehalt, welcher, um wahr zu sein, zur Allgemeinheit herausgehoben und in solcher in deren abstraktester Form zum Bewußtsein gebracht werden müsse. (537) Platon verlangt eine theoretische Wissenschaft im Allgemeinen unter dem Obertitel »philosophia«, eine Wissenschaft vom Staat und vom Recht im Besonderen, und kämpft explizit für ein neues Verständnis von Gerechtigkeit, Mitbestimmung und Religion. Bei Sokrates bleibt das alles nur erst implizit und paradigmatisch. Hegel lobt Platon daher dafür, dass er sich »auf die Idee, auf die an und für sich allgemeinen und wahrhaften Prinzipien der ewigen Gerechtigkeit« stützen möchte und der Philosophie die Aufgabe ihrer Explikation zuschreibt. Dabei liest Hegel die Forderung, dass Philosophen herrschen sollen, möglicherweise wie allgemein üblich, also zu wörtlich. Platon ist es nämlich wohl nur darum gegangen, dass die politisch Verantwortlichen ausreichend gebildet sein sollten, nicht darum, dass er selbst die politischen Führer seiner Zeit hätte führen wollen. – Der Schluss der Passage ist nur noch als Dokumentation von Hegels Lesart der allgemeinen Begri=s- und Ideenlehre interessant. Um den platonischen Standpunkt in vollständiger Bestimmtheit mit dem Gesichtspunkte zu vergleichen, in welchem hier der Staat in Beziehung auf Religion betrachtet wird, so ist an die Begri=sunterschiede zu erinnern, auf die es hier wesentlich ankommt. Der
538 Die Sittlichkeit 955 erste besteht darin, daß in den natürlichen Dingen die Substanz derselben, die Gattung, verschieden ist von ihrer Existenz, in welcher sie als Subjekt ist; diese subjektive Existenz der Gattung ist aber ferner von derjenigen unterschieden, welche die Gattung oder überhaupt das Allgemeine, als solches für sich herausgehoben, in dem Vorstellenden, Denkenden bekommt. (538) Im Grunde ist das alles Wiederholung: Der nachhaltig bleibende Rahmen, die Substanz von allen Dingen und Sachen ist, wie Hegel einmal wieder bestätigt, der Begri=, das relevante Genus, die Gattung, der Gegenstandsbereich. Der jeweilige Themenbereich liefert schon die begri=lichen Unterscheidungen und die relevanten Gleichheiten und Relationen der Gegenstände an sich. Solche Bereiche, nicht bloße Prädikate in ihnen, heißen traditionell »Begri=e«. Sie werden durch Titelworte aufgerufen. Beispiele liefert die Rede vom Begri= der geometrischen Form, der natürlichen und der reellen Zahl, des Lebens, des Menschen oder der Person. Bloß prädikative Bestimmungen in einem Begri= sind zunächst selbst noch keine Begri=e in diesem Sinn, sondern definieren nur besondere Arten oder Teilmengen. Daher klingt auch die Rede über den Begri= des Hundes merkwürdig unangemessen. Allerdings hat sich in der Mathematik und formalen Logik die Rede vom Begri= der Primzahl oder des Kreises durchgesetzt. Schon bei Platon und Aristoteles wird nicht klar unterschieden, wann das Wort »eidos« für einen Begri= qua Gegenstandsbereich und wann für eine Art oder Spezies in einem Gegenstandsbereich steht.139 Diese weitere Individualität, der Boden der freien Existenz der allgemeinen Substanz, ist das Selbst des denkenden Geistes. Der Gehalt 139 Leibniz und Kant, erst recht die formale Logik der Analytischen Philosophie, unterschätzen den Unterschied zwischen der Konstitution von Begri=en qua ganzen Gegenstandsbereichen und einer sortalen Aussonderung von Teilmengen oder Arten in einem schon als definiert unterstellten Bereich. Man reflektiert insbesondere nicht zureichend auf die identitätsbestimmenden Relationen des Für-sich-Seins zwischen Repräsentationen der Gegenstände im Unterschied zu den bereichsbestimmenden Relationen des Für-Anderes-Seins zwischen verschiedenen Gegenständen. Wittgenstein scheitert mit seinem Versuch im Tractatus, alle Gleichungen aus einer Begri=sschrift zu verbannen, zwar auf der ganzen Linie, verweist aber immerhin wie Hegel auf das tiefe Problem der Identität von Gegenständen. 437 k
956 437 k 437 k Der objektive Geist 538 der natürlichen Dinge erhält die Form der Allgemeinheit und Wesentlichkeit nicht durch sich, und ihre Individualität ist nicht selbst die Form, welche nur das subjektive Denken für sich ist und jenem allgemeinen Gehalte in der Philosophie Existenz für sich gibt. (538) Inhalte sind in ihrer Allgemeinheit und ihrem Wesen immer auch durch uns bestimmt. Hegels direkt folgende idiosynkratische Rede vom menschlichen Gehalt meint dann aber schon den wesentlichen Inhalt des Personseins, die Idee der Freiheit: Der menschliche Gehalt hingegen ist der freie Geist selbst und kommt in seinem Selbstbewußtsein zur Existenz. Dieser absolute Gehalt, der in sich konkrete Geist ist eben dies, die Form, das Denken, selbst zu seinem Inhalte zu haben; zu der Höhe des denkenden Bewußtseins dieser Bestimmung hat sich Aristoteles in seinem Begri=e der Entelechie des Denkens, welches νόησις τῆς νοήσεως ist, über die platonische Idee (die Gattung, das Substantielle) emporgehoben. (538) Inhalte werden absolut im Vollzug des aktualen Nachdenkens über mich als Person und der Umsetzung im Tun. Dabei gibt es prinzipiell unendlich aufstufbare Reflexionen des Selbstbewusstseins und der Selbstbestimmung. Das spekulative Wissen über diese Form des Wissens ist zugleich höchste Form des Denkens, noēsis tēs noēseōs, Wissen vom Wissen. Sie lässt als solche das bloß erst objektstufige genos und eidos einer allgemeinen Gattung und eines besonderen Begri=s weit hinter oder unter sich. Das Denken aber überhaupt enthält, und zwar um der angegebenen Bestimmung selbst willen, ebenso das unmittelbare Fürsichsein der Subjektivität als die Allgemeinheit, und die wahrhafte Idee des in sich konkreten Geistes ist ebenso wesentlich in der einen seiner Bestimmungen, des subjektiven Bewußtseins, als in der andern, der Allgemeinheit, und ist in der einen wie in der andern derselbe substantielle Inhalt. (538 f.) Das Denken enthält »das unmittelbare Fürsichsein der Subjektivität« im Vollzug, wie z. B. in der assertiven Behauptung oder der Anerkennung eines Inhalts, auch einer Norm, aber eben auch den Inhalt in seiner Allgemeinheit, definiert durch alle relevante Inhaltsäquivalenzen verschiedener bloß äußerlicher Formenvarianten im Unterschied zu einer wesentlichen Verschiedenheit von Inhalten. Das
539 Die Sittlichkeit 957 Problem ist das übliche Schwanken zwischen einer Überschätzung und einer Unterschätzung des Subjektiven – und damit auch die transpersonale Verfassung der Inhalte. Zu jener Form aber gehört Gefühl, Anschauung, Vorstellung, und es ist vielmehr notwendig, daß das Bewußtsein der absoluten Idee der Zeit nach zuerst in dieser Gestalt gefaßt werde und als Religion in seiner unmittelbaren Wirklichkeit früher da sei denn als Philosophie. (539) Zur Form des äußeren Vollzugs und damit zur realen Instanziierung eines jeden Inhalts gehört, wie Hegel hier noch einmal meine Lektüre bestätigt, »Gefühl, Anschauung, Vorstellung«. Deswegen gesteht Hegel dem Empirismus und der Romantik deren Hervorhebung völlig zu. Auch die äußerliche Reflexion auf die absolute Idee, die Form des Personseins, kann am Anfang bloß erst allegorisch, sentimental, religiös sein. Daher ist die Religion in ihrer »unmittelbaren Wirklichkeit früher da« als die Philosophie. Diese entwickelt sich nur erst wieder aus jener Grundlage, so gut als die griechische Philosophie später ist als die griechische Religion und eben nur darin ihre Vollendung erreicht hat, das Prinzip des Geistes, der sich zuerst in der Religion manifestiert, in seiner ganzen und bestimmten Wesenheit zu fassen und zu begreifen. (539) Die Philosophie entwickelt sich als institutionelle Wissenskontrolle und logische Reflexion aus der Religion und ihrer bildlichen Volkssprache, besonders systematisch und nachhaltig in der griechischen Antike. Aber die griechische Philosophie konnte sich ihrer Religion nur entgegengesetzt aufstellen, und die Einheit des Gedankens und die Substantialität der Idee sich gegen die Vielgötterei der Phantasie, die heitere und frivole Scherzhaftigkeit dieses Dichtens, nur feindlich verhalten. Die Form in ihrer unendlichen Wahrheit, die Subjektivität des Geistes, brach nur erst als subjektives freies Denken hervor, das noch nicht mit der Substantialität selbst identisch, diese hiemit noch nicht als absoluter Geist gefaßt war. (539) Wie später die wissenschaftliche Aufklärung nach Galilei, Hobbes und Descartes konnte schon die griechische Philosophie sich zur eigenen religiösen Vorgeschichte nur polemisch verhalten. Das lag daran, dass man auf die äußeren Vollzugsformen und die nur schein- 437 k 437 k 437 k
958 437 f . k 438 k Der objektive Geist 539 bar unmittelbaren Inhalte, nicht auf die Frage nach angemessenen Inhaltsbestimmungen fokussierte. Wann immer man durch die Formen des Denkens wie durch transparente Folien unmittelbar auf eine Objektivität zu blicken meint, übersieht man die Notwendigkeit transzendentaler Reflexion auf diese Formen. Für diese allgemeine Einsicht ist niemand bedeutender als Kant, auch wenn er auf Vorgedachtes bei Augustinus, Descartes, Leibniz und auch Hume zurückgreifen konnte. Die unendliche Wahrheit ist die Absolutheit der »Subjektivität des Geistes«. Ein großer Mangel aber blieb bisher, dass die Inhalte noch rein subjektiv missverstanden wurden, also gerade nicht in ihren geschichtlich entwickelten Formen des gemeinsamen Unterscheidens und Nichtunterscheidens, durch deren Möglichkeiten allein die objektive Welt sich zeigt. In den religiösen und künstlerischen Praxisformen des absoluten Geistes feiern wir sozusagen die Einsicht, dass Verstand und Vernunft Instanziierungen des gemeinsamen Geistes ist. So konnte die Religion nur erst durch das reine, für sich seiende Denken, durch die Philosophie gereinigt erscheinen; aber die dem Substantiellen immanente Form, welche von ihr bekämpft wurde, war jene dichtende Phantasie. (539) Wir kehren jetzt zur Sicht der Antike zurück. In der Stoa erschien es so, als läge eine von der Philosophie gereinigte Lehre der alten Religionen vor. Schon lange vor Seneca oder Mark Aurel hatte sich Platons Dichterkritik gegen den Überschwang dichterischer Phantasie in religiösen Vorstellungen gerichtet. Der Staat, der sich auf gleiche Weise, aber früher als die Philosophie, aus der Religion entwickelt, stellt die Einseitigkeit, welche seine an sich wahrhafte Idee an ihr hat, in der Wirklichkeit als Verdorbenheit dar. Plato, gemeinschaftlich mit allen seinen denkenden Zeitgenossen, diese Verdorbenheit der Demokratie und die Mangelhaftigkeit selbst ihres Prinzips erkennend, hob das Substantielle hervor, vermochte aber nicht seiner Idee des Staats die unendliche Form der Subjektivität einzubilden, die noch vor seinem Geiste verborgen war; sein Staat ist deswegen an ihm selbst ohne die subjektive Freiheit (§ 503 Anm., 513 usf.). (539 f.) Die Religion ist eine der Form nach mythische Reflexion auf das gemeinsame Leben. Sie ist als solche älter als die aus ihr sich entwi-
540 Die Sittlichkeit 959 ckelnden Institutionen des Staates. Im Staat wird dann aber die Spannung zwischen seinen an sich guten Formen und der ›Verdorbenheit‹ des Personals samt der Mangelhaftigkeit mancher Formprinzipien immer klarer. Platon beginnt daher damit, »das Substantielle«, also das wesentliche Allgemeine, explizit hervorzuheben. Dabei vernachlässigt er jedoch »die unendliche Form der Subjektivität«, also die Tatsache, dass man die Menschen nach ihrem eigenen besten Wissen und Gewissen urteilen lassen muss und etwaige Irrtümer wie zufällige Unfälle zu behandeln hat. Die Großleistung des Christentums liegt nach Hegel darin, diese »unendliche Form der Subjektivität« anzuerkennen. Zugleich wird eine freie, kommunitarische, transethnische Gemeinde und Gemeinschaftlichkeit entwickelt, sozusagen unterhalb der Gesellschaft der Tauschökonomie und weit über den Rechtsschutz der Bürger durch den Staat hinaus. Staat und Gesellschaft bleiben aber explizit anerkannt. Das Revolutionäre besteht also in der Selbstorganisation freier religiöser Gemeinden unter Ausweitung des Zugangs auf alle. Die Wahrheit, welche dem Staate inwohnen, ihn verfassen und beherrschen sollte, faßt er darum nur in der Form der gedachten Wahrheit, der Philosophie, und tat so jenen Ausspruch, daß, so lange nicht die Philosophen in den Staaten regieren oder [diejenigen,] die jetzt Könige und Herrscher genannt werden, nicht gründlich und umfassend philosophieren werden, so lange werde dem Staate keine Befreiung von den Übeln werden noch dem menschlichen Geschlechte; so lange könne die Idee seiner Staatsverfassung nicht zur Möglichkeit gedeihen und das Licht der Sonne sehen. Plato war es nicht verliehen, dahin fortgehen zu können, zu sagen, daß, so lange nicht die wahrhafte Religion in der Welt hervortritt und in den Staaten herrschend wird, so lange ist nicht das wahrhafte Prinzip des Staates in die Wirklichkeit gekommen. (540) Natürlich hat Hegel es schwer, seine Verteidigung eines sozusagen neu gelesenen Christentums sowohl gegen eine radikale Aufklärung als auch gegen die Rückfälle des Christentums selbst in das antike heidnische Denken samt seinem Wunderglauben durchzusetzen. So lange aber konnte dies Prinzip auch nicht in den Gedanken kommen, von diesem nicht die wahrhafte Idee des Staates erfaßt werden, – der substantiellen Sittlichkeit, mit welcher die Freiheit 438 k 438 k
960 438 f . k Der objektive Geist 540 des für sich seienden Selbstbewußtseins identisch ist. Nur in dem Prinzipe des sein Wesen wissenden, des an sich absolut freien und in der Tätigkeit seines Befreiens seine Wirklichkeit habenden Geistes ist die absolute Möglichkeit und Notwendigkeit vorhanden, daß Staatsmacht, Religion und die Prinzipien der Philosophie in Eins zusammenfallen, die Versöhnung der Wirklichkeit überhaupt mit dem Geiste, des Staats mit dem religiösen Gewissen, ingleichen dem philosophischen Wissen sich vollbringt. (540) Wir selbst sind der an sich absolut freie Geist. Wir müssen also »Staatsmacht, Religion und die Prinzipien der Philosophie in Eins zusammenfallen« lassen und für die »Versöhnung der Wirklichkeit überhaupt mit dem Geiste, des Staats mit dem religiösen Gewissen, ingleichen dem philosophischen Wissen« sorgen. Indem die fürsichseiende Subjektivität absolut identisch ist mit der substantiellen Allgemeinheit, enthält die Religion als solche wie der Staat als solcher, als Formen, in denen das Prinzip existiert, in ihnen die absolute Wahrheit, so daß diese, indem sie als Philosophie ist, selbst nur in einer ihrer Formen ist. Aber indem auch die Religion in der Entwicklung ihrer selbst die in der Idee enthaltenen Unterschiede (§ 566 =.) entwickelt, so kann, ja muß das Dasein – in seiner ersten unmittelbaren, d. h. selbst einseitigen Weise erscheinen und ihre Existenz zu sinnlicher Äußerlichkeit und damit weiterhin zur Unterdrückung der Freiheit des Geistes und zur Verkehrtheit des politischen Lebens verdorben werden. Aber das Prinzip enthält die unendliche Elastizität der absoluten Form, dies Verderben ihrer Formbestimmungen und des Inhalts durch dieselben zu überwinden und die Versöhnung des Geistes in ihm selbst zu bewirken. So wird zuletzt das Prinzip des religiösen und des sittlichen Gewissens ein und dasselbe, in dem protestantischen Gewissen, – der freie Geist in seiner Vernünftigkeit und Wahrheit sich wissend. Die Verfassung und Gesetzgebung wie deren Betätigungen haben zu ihrem Inhalt das Prinzip und die Entwicklung der Sittlichkeit, welche aus der zu ihrem ursprünglichen Prinzip hergestellten und damit erst als solcher wirklichen Wahrheit der Religion hervorgeht und daraus allein hervorgehen kann. Die Sittlichkeit des Staates und die religiöse Geistigkeit des Staates sind sich so die gegenseitigen festen Garantien. (540 f.)
Die Sittlichkeit 961 Man mag gern zugeben, dass Religion und Philosophie, Gesellschaft und Staat, subjektives Gewissen und bestmögliche Orientierung für alle nur im Idealfall in Harmonie stehen. Das Problem liegt im Detail. Für das Detail aber interessiert sich Hegel nicht. Für uns Leser bleibt daher die Aufgabe, die allgemeine Ebene und das allgemeine Ergebnis festzuhalten, die Details aber noch expliziter den besonderen Wissenschaften der Theologie und Religionsgeschichte, Politik- und Staatwissenschaften samt der Geschichte dieser Gegenstände und des Wissens über sie zu überlassen.

Dritte Abteilung. Der absolute Geist § 553 Der Begri= des Geistes hat seine Realität im Geiste. (542) Der Satz ist einerseits zunächst obskures Orakel, andererseits rein tautologisch. Denn der Begri= des Staates hat seine Realität im Staat. Der Begri= des Menschen hat seine Realität in den Menschen. Der Begri= des Tiers hat seine Realität in den Tieren – usf. Daß diese in der Identität mit jenem als das Wissen der absoluten Idee sei, hierin ist die notwendige Seite, daß die an sich freie Intelligenz in ihrer Wirklichkeit zu ihrem Begri=e befreit sei, um die dessen würdige Gestalt zu sein. (542) Die Identität des Begri=s des Geistes mit der Idee als der Realität geistig-personalen Lebens ist Inhalt des Wissens der absoluten Idee. Hegel spielt, wie in solchen Fällen fast immer, mit einer doppelten Lesart des Genetivs. Als genetivus obiectivus gelesen, besteht das Wissen, was die absolute Idee ist, im Wissen, dass wir es sind, soweit wir volle Personen mit hinreichender Intelligenz sind. Als genetivus subiectivus gelesen, ist alles Wissen, das wir als absolute Idee oder pluralgenerisches Wissenssubjekt haben, im Grunde ein Wissen über uns selbst. Als intelligente Wesen sind wir an sich frei. Das sind wir aber in Wirklichkeit nur so weit, wie wir diese Freiheit als begri=lich zugänglich gemachten Spielraum begreifen. Dazu gilt es zu wissen, wie der allgemeine Begri=, das System allgemeinen Wissens, ein freies begri=sgeleitetes Urteilen, Schließen und Handeln allererst ermöglicht. Die »würdige Gestalt« der Freiheit ist sich in ihrem Verhältnis zum begri=lichen Wissen bewusst. Der subjektive und der objektive Geist sind als der Weg anzusehen, auf welchem sich diese Seite der Realität oder der Existenz ausbildet. (542) Der subjektive Geist der (Inhalte der) Reflexionen auf mich und der objektive Geist unserer spekulativen Analysen gemeinsamen Seins bilden zusammen einen Weg, der zum absoluten Geist und zu seiner 440 440 440
964 Der absolute Geist 542 Liturgie führt. Diese feiert, dass wir gemeinsam geistige Wesen, also Personen sind. 440 440 440 k § 554 Der absolute Geist ist ebenso ewig in sich seiende als in sich zurückkehrende und zurückgekehrte Identität; die Eine und allgemeine Substanz als geistige, das Urteil in sich und in ein Wissen, für welches sie als solche ist. (542) Die zunächst ganz dunkle Formel ist aufzulösen. Der absolute Geist ist ein Modus des Wir, damit auch des Ich, also von uns und mir. Das Wort »ewig« ist nicht im zeitlichen Sinn wörtlich zu verstehen, eher so, wie wir das Wort »immer« verstehen, das nur »jeweils« meint. Es geht hier also um die absolute Reflexion von mir und uns im Wissen um die Identität von Inhalt und Anerkennung des Inhalts. Inhalte sind die allgemeine geistige Substanz mit variablen äußeren Formen der Repräsentation und Realisierung. Die Religion, wie diese höchste Sphäre im allgemeinen bezeichnet werden kann, ist ebensosehr als vom Subjekte ausgehend und in demselben sich befindend, als objektiv von dem absoluten Geiste ausgehend zu betrachten, der als Geist in seiner Gemeinde ist. (542) Dass die höchste ›Sphäre‹ spekulativer Reflexion die der Religion ist, überrascht jetzt nur, wenn man die bisherigen Überlegungen noch nicht nachvollzogen hat. Im Vollzug geht die Religion in ihren Reden und Praktiken je von uns als aktualen Subjekten hier und jetzt aus. Betrachtet aber wird unser ganzes natürliches und geistiges Sein. Wir kommen damit der schwierigen Sache schon näher. Diese Sache ist: daß wir unseren eigenen Geist objektiv nur »von dem absoluten Geiste ausgehend« betrachten können. In einer für ihn typischen Wendung zur religiösen Formulierung führt Hegel die Erläuterung so fort: Der absolute Geist ist im Grunde einfach der Gemeinschaftsgeist freier Gemeinden. Daß hier nicht und daß überhaupt Glaube dem Wissen nicht entgegengesetzt, sondern Glauben vielmehr ein Wissen ist und jenes nur eine besondere Form von diesem, ist oben § 63 Anm. bemerkt worden. – Daß heutigentags so wenig von Gott gewußt und bei seinem objektiven Wesen sich aufgehalten, desto mehr aber von Religion, d. i. dem Inwohnen desselben in der subjektiven Seite,
543 Der absolute Geist 965 gesprochen und sie, nicht die Wahrheit als solche gefordert wird, enthält wenigstens diese richtige Bestimmung, daß Gott als Geist in seiner Gemeinde aufgefaßt werden muß. (542) Soweit es um die reale Praxis der Versicherung und Feier der Gemeinschaft in der Gemeinde geht, ist von einem Glauben nicht die Rede. Man weiß, was man dabei realiter sagt und tut. Daher gibt es hier zunächst gar keinen Gegensatz von ›Glaube‹ und ›Wissen‹. Der Titel »Glaube« steht bestenfalls für die vertrauensvolle Zugehörigkeit zur Community oder Gemeinde. Wenn man meint, dass die Gegenstände der Religion nur eine Sache des Glaubens seien, weiß man schon nicht mehr, wovon man redet. Daher ist es ironischerweise ganz wahr zu sagen, dass man heute nichts mehr von Gott weiß. Man spricht deswegen auch lieber von Religion, Religiosität oder, noch verblasener, Spiritualität – und sucht diese in sich, im Gefühl. Hegel setzt mit noch größerer Ironie nach: Indem man sagt, dass es kein Wissen von Gott gebe, sagt man damit wenigstens insofern etwas Wahres, als »Gott als Geist in seiner Gemeinde aufgefasst werden muss« – und als solcher eine Sache der religiösen Praxis oder der religiösen Praktiken, nicht eines verbalen, theoretischen Wissens ist. § 555 Das subjektive Bewußtsein des absoluten Geistes ist wesentlich in sich Prozeß, dessen unmittelbare und substantielle Einheit der Glaube in dem Zeugnis des Geistes als die Gewißheit von der objektiven Wahrheit ist. (543) Die Passage bestätigt meine Lesart, nach welcher alles Absolute ein Sein im Vollzug ist, wenn man den Genetiv, wie man sollte, auf zweierlei Weisen liest. Dann ist nämlich nach dem genetivus subiectivus das »subjektive Bewußtsein des absoluten Geistes« das Wissen des Geistes im Vollzug, nach dem genetivus obiectivus ist es ein Wissen darüber, wer oder was der absolute Geist ist, nämlich Form und Prozess der Manifestation des Selbstbewusstseins in der geistigen Entwicklung der Einzelpersonen und der Personengemeinschaft. Dabei liegt die unmittelbare und nachhaltige Einheit je meines subjektiven Geistes oder Bewusstseins meiner selbst und der Welt in erworbenen subjektiven Überzeugungen, auch Gewissheiten, als 440 f .
966 441 Der absolute Geist grundsätzlichen Haltungen zu dem, was wir als Idealbegri= und möglichst zu realisierende Idee objektiver Wahrheit gerade auch in ihrer möglichen Verschiedenheit von unserem Glauben kennen. Der Glaube, zugleich diese unmittelbare Einheit und sie als das Verhältnis jener unterschiedenen Bestimmungen enthaltend, ist in der Andacht, dem impliziten oder expliziertern Kultus, in den Prozeß übergegangen, den Gegensatz zur geistigen Befreiung aufzuheben, durch diese Vermittlung jene erste Gewißheit zu bewähren und die konkrete Bestimmung derselben, nämlich die Versöhnung, die Wirklichkeit des Geistes zu gewinnen. (543) Wie schon im Fall des Gebets besteht der wahre Sinn der Rede von einem religiösen Glauben in einer Praxis. Hegel nennt sie bewusst Andacht, erstens weil das Wort schon als Ausdruck christlichen Gottesdienstes eingeführt ist, zweitens weil es um ein (gemeinsames) Andenken, Nachdenken und Bedenken geistiger Kultur im (»impliziten oder expliziertern«) Kultus, also der Liturgie der (freien) Gemeinde (auch im Fall reiner Zivilreligion) und aller in sie eingelassenen Kunst ist. In der Demonstration der Gemeinsamkeit dokumentieren wir – und bewähren sich – subjektive Gewissheiten des Vertrauens, auch der Versöhnung von Ich und Uns. Es zeigt sich so die Wirklichkeit des gemeinsamen Geistes. A. 441 543 Die Kunst § 556 Die Gestalt dieses Wissens ist als unmittelbar (– das Moment der Endlichkeit der Kunst) einerseits ein Zerfallen in ein Werk von äußerlichem gemeinem Dasein, in das dasselbe produzierende und in das anschauende und verehrende Subjekt, andererseits ist sie die konkrete Anschauung und Vorstellung des an sich absoluten Geistes als des Ideals, – der aus dem subjektiven Geiste gebornen konkreten Gestalt, in welcher die natürliche Unmittelbarkeit nur Zeichen der Idee, zu deren Ausdruck so durch den einbildenden Geist verklärt ist, daß die Gestalt sonst nichts anderes an ihr zeigt; – die Gestalt der Schönheit. (543) Das »Moment der Endlichkeit der Kunst« ergibt sich nicht nur aus
Die Kunst 967 der trivialen Endlichkeit ihrer Objekte. Sie ergibt sich aus der Absolutheit, und das heißt, aus der Vollzugsform von Kunst. Nur durch ihre Einbettung in (zivil-)religiöse Vollzüge sind Gegenstände oder Sachen (also auch Aufführungen) ›wahre‹ Kunst im vollen Sinn. Ein Gegenstand oder eine Performance wird zu Kunst nicht etwa (nur) aufgrund einer auf Schönheit, also Perfektion ausgerichteten Technik, sondern (bloß) in seiner Funktion im Rahmen der oben genannten ›Andacht‹. Es gibt also einen implizit sakralen Inhalt von ›Kunst‹ als notwendige Bedingung – so dass die Rede von Kunstwerken oder Kunstgegenständen, die man in Kellern von Museen oder privaten Sammlungen aufheben kann, schon privativ, begri=lich wenigstens ambivalent ist. Das implizit Sakrale der Kunst auch in der modernen Zivilreligion zeigt sich übrigens außerhalb von Tempeln und Kirchen klar an der geforderten Ungestörtheit in Museen und der Stille im Theater und Konzertsaal, inzwischen auch im Ballett und der Oper. Filmevents wie die Rocky Horror Picture Show und besonders die allgemeine Erlaubnis zum Konsum von Snacks im Kino zeigen, inwiefern das Filmtheater insgesamt nur bedingt ein Raum der Kunst ist, sondern wie Operette, Musical und die alte italienische Oper ›nur‹ Ort gemeinsamer Unterhaltung. Analog dazu verliert reine Kunst am Bau zumeist ihren Nimbus. Das gilt erst recht für alle ›Kunstgegenstände‹ zur Verschönerung von Büro und Heim. Ihr hoher Tauschwert bedeutet nur, dass sie im Kontext eines gesellschaftlichen Renommee-Spiels einen neuen Platz gefunden haben. Daher könnte man auch alle ›Raubkunst‹ aus Kellerdepots getrost zurückgeben. Allerdings könnte die ›Andacht‹ an ihre Geschichte in den Ländern des ›Raubs‹ wichtiger sein als der Wertzuwachs an Eigentum derer, die von einer Rückgabe profitieren. Kurz, Kunst ist nur, wenn man gemeinsam durch das Werk auf den durch es repräsentierten Geist als Ideal ›blicken‹ kann und jeweils auch aktual so ›blickt‹ oder hört, also denkt. In eben diesem Sinn ist Kunst seit jeher, besonders klar in der mediterranen Antike, »konkrete Anschauung und Vorstellung des an sich absoluten Geistes«, das Werk aber je »nur Zeichen der Idee«. Das Sakrale drückt Hegel durch das Wort »Verklärung« aus. In genau diesem Sinn wird Arthur C. Dantos Transfiguration of the commonplace im deutschen Titel »Verklärung des Gewöhnlichen«
968 Der absolute Geist 543 f. wiedergegeben.140 Danto erkennt den sakralisierenden Umgang mit irgendwelchen Gegenständen: In der modernen Kunst kann, wie mehr oder weniger erstmals von Marcel Duchamp, ein sogenanntes readymade wie ein Urinal zum symbolischen Kunstwerk deklariert werden, indem man es in die sakrale Umgebung eines Museums setzt und einen Titel wie »Brunnen« hinzufügt. Ding, Überschrift und Ort geben dann dem Betrachter zu denken, nämlich gerade über das Profane und Sakrale. Damit kommen auch in der modernen (Konzept-)Kunst die Provokationen an, die zum eigenen freien Denken zwingen, wie sie in religiösen, philosophischen und literarisch-poetischen Gnomen, orakelförmigen Aphorismen oder dialektisch-ironischen Gleichnissen immer schon enthalten sind. Diese logische Form ist aber keineswegs immer leicht zu erkennen und zu begreifen. Für alle Religion und alle schöne Kunst betont Hegel, dass zunächst eine »Gestalt sonst nichts anderes an ihr zeigt« als die Gestalt selbst. Eben diese kann nun aber auch auf »die Gestalt der Schönheit« aller Dinge verweisen. 441 f . § 557 Die sinnliche Äußerlichkeit an dem Schönen, die Form der Unmittelbarkeit als solcher, ist zugleich Inhaltsbestimmtheit, und der Gott hat bei seiner geistigen zugleich in ihm noch die Bestimmung eines natürlichen Elements oder Daseins. – Er enthält die sogenannte Einheit der Natur und des Geistes, – d. i. die unmittelbare, die Form der Anschauung; – somit nicht die geistige Einheit, in welcher das Natürliche nur als Ideelles, Aufgehobenes gesetzt und der geistige Inhalt nur in Beziehung auf sich selbst wäre; es ist nicht der absolute Geist, welcher in dies Bewußtsein eintritt. – (543 f.) Seit Duchamp verschwinden langsam die schematischen Vorstellungen darüber, was Kunst und Kunstschönes, Naturschönes und ›bloße‹ Dinge, Sachen oder Geräte sind, wobei unter vielen möglichen Künstlernamen Joseph Beuys als weiterer Protagonist moderner Kunst aufgrund seiner direkten Rückkoppelung von Kunst, Politik und Naturschutz wenigstens exemplarisch eine Erwähnung verdient. 140 Der deutsche Titel Verklärung des Gewöhnlichen tri=t die Sache sogar besser.
Die Kunst 969 Dabei beginnt schon Hegel in Entgegensetzung zu Kant explizit nicht mit einer unmittelbaren Schönheit der Natur. Das Nette und Angenehme, Hübsche, gar Ebenmäßige, hat als solches mit Schönheit viel weniger zu tun, als man üblicherweise meint. Schönheit ist Perfektion im Ganzen, nicht bloß in äußerer Gestalt. Dass die »sinnliche Äußerlichkeit an dem Schönen, die Form der Unmittelbarkeit als solcher« dennoch »zugleich Inhaltsbestimmtheit« ist, liegt daran, dass wir zu Inhalten immer nur auf dem Weg über Äußeres gelangen. Dabei kommt es auf die Bewertung des Wesentlichen an. Man kann dann sogar das Leben durch den Tod, den Tag durch die Nacht, das Schöne und Gute ex negativo über das Hässliche, Triviale oder Schlechte indirekt bedenken. Dass das manchmal der bessere Weg ist, zeigen Tragödien wie die Ilias, die des Sophokles oder Euripides schon völlig klar, um von Realtragödien wie etwa des Sokrates und Jesus gar nicht zu reden. Novalis’ große Hymnen an die Nacht haben unter anderem dies zum Thema. Man beachte hier besonders Hegels Distanz zu Gott im Ausdruck »der Gott«. Dieser weist zugleich darauf hin, dass es hier in erster Linie (aber nicht nur) um die Kunstreligion der (vorzugsweise griechischen) Antike geht. Das ›Göttliche‹ der Schönheit als Idee einer Perfektion im Ganzen kann, wie Hegel jetzt sagt, durch hergestellte oder natürliche Gegenstände deswegen symbolisch vertreten werden, weil es in »seiner geistigen zugleich in ihm noch die Bestimmung eines natürlichen Elements oder Daseins« enthält. So verweist alle Kunst auf die »sogenannte Einheit der Natur und des Geistes«. Die unmittelbare Anschauung ist, wie man sagt, transparent: Man abstrahiert unmittelbar von aller Vermittlung durch Symbole, Repräsentationen, Vorstellungen und Erscheinungen und fokussiert, wie man meint, direkt auf die objektive Sache. In diesem Sinn ist Anschauung vermeintlich direkter Durchgang zum Objekt. Das Besondere der Praxis des künstlerischen und damit gleichzeitig profanen und sakralen Blicks auf natürliche oder hergestellte Sachen besteht darin, dass wir in ihr auf uns selbst im performativen Vollzug verweisen und wie in der Philosophie die Naivität einer reinen, unmittelbaren Bezugnahme auf Sachen und Inhalte hinter uns lassen. Damit bemerken wir auch das Absolute des momentanen Seins. Kunst steht daher wie Religion
970 442 Der absolute Geist 544 in ihrer Liturgie immer schon im Kontext einer interessanten symbolischen Vertretung ihrer selbst – als geistiges Vermögen, Intelligenz und durchaus auch als Technik der Herstellung und des Anschauens. Die bloße Anschauung ist aber auch dann noch nicht »die geistige Einheit«, »in welcher das Natürliche nur als Ideelles, Aufgehobenes gesetzt und der geistige Inhalt nur in Beziehung auf sich selbst« zu verstehen ist. Anders gesagt, eine nur erst reflektierende Betrachtung ›schöner‹ Objekte und ein bloßes Reden über ›Inhalte‹ führt uns noch nicht zum absoluten Geist, dem wahren Thema wahrer Kunst. Nach der subjektiven Seite ist die Gemeinde wohl eine sittliche, weil sie ihr Wesen als geistiges weiß und ihr Selbstbewußtsein und Wirklichkeit hierin zur substantiellen Freiheit erhoben ist. (544) Hegels Text ist hier allzu dicht. Es gibt zu viele zu unterscheidende Subthemen. Zunächst betrachtet er die Gemeinde als das Subjekt von Kunst und Kultus. Das, was heute als ›Hochkultur‹ von bloßer Unterhaltungskunst unterschieden wird, wie z. B. bei Adorno seine ›ernste‹ ›E-Musik‹ von seiner ›U-Musik‹,141 ist schlicht das Erbe einer in die Religion eingebetteten Kultur, ob man das weiß oder nicht. Im Kultus ist die Wirklichkeit der Gemeinschaft »zur substantiellen Freiheit erhoben«. Das bedeutet, dass wir uns die Teilhabe an der gemeinsamen Form personalen Seins bewusst machen. Im Kultus ›weiß‹ die Gemeinde also ›explizit‹, nämlich aufgrund von Verge- 141 Adornos ›ernste‹ Kultur möchte Agent des Selbstbewusstseins der Gesellschaft sein. Allerdings ist eine scharfe Abgrenzung zu einer Volksund Unterhaltungskultur keineswegs sinnvoll. Der religiöse Kultus enthält z. B. immer auch Bacchanalien wie die der Fastnacht oder der mediterranen Stadtfeste nach Art von San Firmin am 7. Juli in Pamplona, um nur zwei Beispiele für den gesamten mediterranen Raum unter Einschluss des Karnevals oder ›Faschings‹ fast überall in der Nähe des Rheins zu nennen. Sogar die Liturgie von Messen und Gottesdiensten ist explizit für das Volk (leitos, die Leute) bestimmt.
544 Die Kunst 971 genständlichungen142 und Vergegenwärtigungen, um ihr »Wesen als geistiges« und um dessen sittlichen Gehalt.143 Aber behaftet mit der Unmittelbarkeit, ist die Freiheit des Subjekts nur Sitte, ohne die unendliche Reflexion in sich, ohne die subjektive Innerlichkeit des Gewissens; hiernach ist auch in weiterer Entwicklung die Andacht und der Kultus der Religion der schönen Kunst bestimmt. (544) Der Mangel antiker Kultur liegt nach Hegel insgesamt in ihrer Unmittelbarkeit, genauer, Konventionalität: Die »Freiheit des Subjekts« ist hier nur »Sitte«. Es fehlt noch »die unendliche Reflexion in sich« des Gewissens, die erst im Christentum entwickelt wird und dessen 142 Das logisch Interessante der Reinigungsbewegungen von Bilderstürmern aller Art, grob gesagt: vom Islam über dessen byzantinische Kopien bis zum Protestantismus, besteht in der Einsicht, dass alle Inhalte, erst recht die religiösen, durch eine Gleichgültigkeit variabler Repräsentanten und besonderer Darstellungen, auch von Texten, bestimmt sind. Inhaltsverstehen verlangt daher immer die Überwindung rein schematischer, wörtlicher, also nur erst oberflächlicher Verständnisse. Die Kritik richtet sich zwar mit Recht gegen Überschätzungen äußerer Formen. Ihre große Torheit besteht aber darin, dass man weder den anderen noch sich selbst die Fähigkeit zutraut, durch die äußeren Formen hindurch auf den Inhalt zu fokussieren, der sogar ganz einfach in der Gemeinsamkeit des Feierns bestehen kann. Noch die Kritik am Kölner Karneval ist von der Form derartiger Torheiten. Alle äußeren Formen sind dabei so wie die Metaphern in unserem Reden zu begreifen. Bei einem Mangel an selbständiger Urteilskraft und Vernunft ›erlauben‹ sie scheinbar immer auch allerlei abergläubische Fehldeutungen. Das gilt auch für das Wissen der Wissenschaften. Statt sie in einem Bildersturm mit der Forderung nach rein ›wörtlicher‹ Rede abzuscha=en, sind Formen und Techniken ihres angemessenen Gebrauchs im kompetenten, vernünftig reflektierten Verstehen zu lernen. 143 Hegels Haltung zum Minimalritus der Liturgie der Eucharistie folgt Luther darin, dass sowohl an der katholischen Kirche als auch an den Schweizer Reformatoren Kritik geübt wird. Es geht um eine gegenständlich vermittelte, symbolische Vergegenwärtigung der durch Christus repräsentierten göttlichen Person in ihrem Verhältnis zum göttlichen Geist, also zu ›Gott Vater‹. Eine bloße Erinnerung an den historischen Jesus wie bei Zwingli wäre zu schwach. Eine Hypostasierung der Hostie wie im Katholizismus ist dagegen verdinglichender Rückfall in die heidnische Identifikation der Götter mit ihren Darstellungen, gegen welche bekanntlich Paulus in Ephesus anpredigt. 442
972 Der absolute Geist 544 Form von Andacht bestimmt. In seinem Kultus wird das Christentum so zur wahren »Religion der schönen Kunst«. 442 442 k § 558 Die Kunst bedarf zu den von ihr zu produzierenden Anschauungen nicht nur eines äußerlichen gegebenen Materials, worunter auch die subjektiven Bilder und Vorstellungen gehören, sondern für den Ausdruck des geistigen Gehalts auch der gegebenen Naturformen nach deren Bedeutung, welche die Kunst ahnen und innehaben muß (vergl. § 411). Unter den Gestaltungen ist die menschliche die höchste und wahrhafte, weil nur in ihr der Geist seine Leiblichkeit und hiemit anschaubaren Ausdruck haben kann. (544) Zwar greift alle Kunst ein äußerlich gegebenes Material auf, wozu Hegel interessanterweise auch alle naheliegenden oder eingeübten »subjektiven Bilder und Vorstellungen« zählt. Man muss aber den Formen noch einen auf das Denken über den Geist bezogenen Inhalt geben. Das Genie des Künstlers besteht nicht nur in der perfekten technischen Ausführung des Werkes, sondern in einer Art divinatorischer Ahnung von Wirkung und Rezeption. Dabei bleibt der menschliche Leib höchstes Symbol des Geistes. Die Vermeidung seiner Darstellung in allen Formen des Ikonoklasmus ist ironischerweise selbst Zeichen eines religiösen Aberglaubens, der in guter Absicht meint, dem Anthropomorphismus in der Rede und den Vorstellungen von Gott durch ein Bilderverbot begegnen zu können. Aufgeklärtere Kunstreligion wird sich daher trotz der Gefahren des Missverständnisses nicht davor scheuen, den göttlichen Geist in seiner Leiblichkeit darzustellen. Daher wird es auch allererst möglich, einen Menschen in einer halbbiographischen Frohen Botschaft zu heroisieren und dann sogar selbst zu vergöttlichen.144 Es erledigt sich hierdurch das Prinzip der Nachahmung der Natur 144 Dabei steht die Sterbensgeschichte des Menschensohns zwar in größtmöglichem Kontrast zu einer normalen Erfolgsgeschichte oder auch nur zu einem ›natürlichen‹ Ideal des guten Lebens; aber gerade daher eignet sie sich als Trost für alle Menschen. In genau diesem Sinn wird der Stein, den die Bauleute verworfen haben – gemeint sind die früheren Lehrer des
545 Die Kunst 973 in der Kunst, über welche keine Verständigung mit einem ebenso abstrakten Gegensatze möglich ist, solange das Natürliche nur in seiner Äußerlichkeit, nicht als den Geist bedeutende, charakteristische, sinnvolle Naturform genommen wird. (544) Spätestens jetzt erledigt sich Kants Auffassung von Kunst als Nachahmung des Naturschönen, zumal der darzustellende Geist über allem bloß erst unmittelbar schönen Schein unendlich erhaben ist, indem er alle Spannungen und Negativitäten nicht nur aushält, sondern als Moment des schönen Ganzen zu begreifen vermag. § 559 Der absolute Geist kann nicht in solcher Einzelnheit des Gestaltens expliziert werden; der Geist der schönen Kunst ist darum ein beschränkter Volksgeist, dessen an sich seiende Allgemeinheit, indem zur weitern Bestimmung ihres Reichtums fortgegangen wird, in eine unbestimmte Vielgötterei zerfällt. (545) Das absolute Kunstwerk ist für Hegel sozusagen das Neue, nicht etwa das Alte Testament. Alle moderne Kunst seither entstammt daher den Illustrationen des Evangeliums. Im Geist der bloß erst schönen Kunst der Antike (und dann auch der Renaissance oder des Klassizismus) findet sich darum nur »ein beschränkter Volksgeist« des naiven Polytheismus und der Nationalreligionen der Antike. Mit der wesentlichen Beschränktheit des Inhalts wird die Schönheit überhaupt nur zur Durchdringung der Anschauung oder des Bildes durch das Geistige, – zu etwas Formellem, so daß der Inhalt des Gedankens oder die Vorstellung ebenso wie der Sto=, den er zu seiner Einbildung gebraucht, von der verschiedensten und selbst unwesentlichsten Art, und das Werk doch etwas Schönes und ein Kunstwerk sein kann. (545) Sofern wir uns die Beschränktheit jeder polytheistischen Kunst klarmachen, können wir die Idealisierung der Körper der Helden und Götter samt den Darstellungen der Tragik eines Laokoon oder einer Niobe, auch eines Achill, Ajax oder Hektor dennoch weiterhin als große Kunstwerke ansehen. Paulus – zum Eckstein eines neuen, tieferen Verständnisses von Religion, nicht etwa nur einer ›neuen Lehre‹ (Psalm 118, 22). 442 442
974 443 443 443 Der absolute Geist 545 § 560 Die Einseitigkeit der Unmittelbarkeit an dem Ideale enthält (§ 556) die entgegengesetzte, daß es ein vom Künstler Gemachtes ist. (545) Die griechische Kunst hebt einerseits äußerliche und damit besondere Aspekte perfekter Schönheit hervor, lässt aber gerade auch in der Darstellung des Hässlichen und Schlimmen die technische Perfektion der Künstler sehen. Das Subjekt ist das Formelle der Tätigkeit und das Kunstwerk nur dann Ausdruck des Gottes, wenn kein Zeichen von subjektiver Besonderheit darin, sondern der Gehalt des inwohnenden Geistes sich ohne Beimischung und von deren Zufälligkeit unbefleckt empfangen und herausgeboren hat. (545) Hegel spricht über das Formelle in Bezug auf äußere Vollzüge, also Tätigkeiten. Er betont, dass die Stereotypen der Darstellung der Götter alle subjektiven Besonderheiten tilgen. Das hat zur Folge, dass sie nur vermenschlichte Allegorien für besondere Kräfte und Mächte sein können und damit gerade nicht besonders gut als Darstellung der allgemeinen Göttlichkeit von Mensch und Person im Ganzen taugen. Aber indem die Freiheit nur bis zum Denken fortgeht, ist die mit diesem inwohnenden Gehalte erfüllte Tätigkeit, die Begeisterung des Künstlers, wie eine ihm fremde Gewalt als ein unfreies Pathos; das Produzieren hat an ihm selbst die Form natürlicher Unmittelbarkeit, kommt dem Genie als diesem besondern Subjekte zu – und ist zugleich ein mit technischem Verstande und mechanischen Äußerlichkeiten beschäftigtes Arbeiten. Das Kunstwerk ist daher ebensosehr ein Werk der freien Willkür, und der Künstler der Meister des Gottes. (545) Es ist ein durchaus vernichtendes und doch ganz korrektes Urteil, dass die Freiheit der Griechen »nur bis zum Denken«, also zu weisen Reden, nicht zu einem vernünftigen politischen Handeln und einer selbstbewussten Religion führte. Die griechische Kunst erlaubt zwar eine gewisse freie Entwicklung von Formen wie im jeweiligen Plot der Ilias und der Odyssee bzw. der Tragödien, bleibt aber im Wesentlichen künstlerische Technik: Ein Dichter wie Homer wird zum »Meister des Gottes« insofern, als es in den aus rhapsodischen Erzähltraditionen stammenden Zusammenstellungen und interpolierenden Erfindungen von Geschichten über Götter und Menschen kaum tiefere religiöse
546 Die Kunst 975 Wahrheiten mehr gibt. Heraklits und Platons entsprechende Kritik ›an den Dichtern‹ richtet sich bei geeigneter Lektüre sogar noch gegen den scheinbar frommen Hesiod. Man beachte, dass der trockene Hegel ganz anders als Hölderlin oder Nietzsche die griechische Antike auf keine Weise romantisiert. § 561 In jenem Erfülltsein erscheint die Versöhnung so als Anfang, daß sie unmittelbar in dem subjektiven Selbstbewußtsein vollbracht sei, welches so in sich sicher und heiter, ohne die Tiefe und ohne Bewußtsein seines Gegensatzes gegen das an und für sich seiende Wesen ist. (546) Es sind am Ende nur subjektive Gefühle der Befriedigung der Künstler mit ihrem Werk und eine gewisse Unterhaltung des Publikums, keine allgemeinen Inhalte, welche sich in ihren Werken ausdrücken, wenn man von den pädagogischen Tragödien mit ihren Ansätzen einer negativen Versöhnung von Spannungen zwischen verschiedenen Normen und Interessen im Leben – wie z. B. zwischen Antigone und Kreon – durch eine ›Reinigung‹ (Katharsis) des Denkens der Zuschauer über die Vorführung der katastrophalen Folgen im Stück einmal absieht. In der Komödie geschieht dies alles auf heitere Weise, aber ohne Tiefe: Die Spannung zwischen der Subjektivität der Akteure und dem allgemein Richtigen an sich verflacht. Jenseits der in solcher Versöhnung geschehenen Vollendung der Schönheit in der klassischen Kunst liegt die Kunst der Erhabenheit, die symbolische, worin die der Idee angemessene Gestaltung noch nicht gefunden ist, vielmehr der Gedanke als hinausgehend und ringend mit der Gestalt als ein negatives Verhalten zu derselben, der er zugleich sich einzubilden bemüht ist, dargestellt wird. (546) Dass Hegel hier in der Tat von der griechischen Tragödie spricht, bestätigt seine Rede von der »Vollendung der Schönheit in der klassischen Kunst«. Ihr gegenüber positioniert er »die Kunst der Erhabenheit«. Diese ist hauptsächlich, aber nicht nur, die Kunst des Christentums. Soweit diese, etwa auch in der religiösen Poesie des Islam, zunächst bloß erst symbolische Kunst ist, so scheint Hegel zu sagen, ist vor der Entwicklung des bürgerlichen Dramas und der Gedankenlyrik von Shakespeare bis Schiller die »angemessene 443 443
976 443 Der absolute Geist 546 Gestaltung« der Idee, also der spannungsvollen politischen Realisierungsform der Freiheit »noch nicht gefunden«. Die Bedeutung, der Inhalt zeigt eben damit, die unendliche Form noch nicht erreicht zu haben, noch nicht als freier Geist gewußt und sich bewußt zu sein. Der Inhalt ist nur als der abstrakte Gott des reinen Denkens oder ein Streben nach demselben, das sich rastlos und unversöhnt in allen Gestaltungen herumwirft, indem es sein Ziel nicht finden kann. (546) Am bloß erst pathetischen Inhalt sieht man, dass die »unendliche Form noch nicht erreicht« ist. Diese besteht in der potentiell unendlichen, realiter aber immer willkürlich beendeten Reflexion des personalen Subjekts. Daher haben Luther und Pascal zwar völlig recht, dass das innere Gespräch mit Gott etwa im Gebet nie beendet sein kann, wir also allein schon aufgrund der logischen Form der Selbstreflexion und Selbstbewertung nie wissen können, ob unsere Urteile und Handlungen den von uns selbst anerkannten Bedingungen ausreichender Erfüllung genügen,145 zumal das unendliche Ideal der Perfektion vollkommener Wahrheit, Güte und Schönheit, das wir mit der Denkinstanz Gott als innerem Gesprächspartner in unseren spekulativen Reflexionen auf das Ganze des Seins verbinden, per definitionem im Endlichen der realen Welt auf ewig unerreichbar ist. Aber sie ziehen in ihrer unheilbaren Angst, vor ihrem Gott möglicherweise keine Gnade zu finden, durchaus die falschen Schlüsse. Dabei hatte Pascal ganz recht, die am Ende zumindest nach außen hin allzu selbstgewisse Antwort des Descartes auf seine methodischen Zweifel als unhaltbar zu durchschauen. Spekulative Wahrheit über das Ganze ist nur im Modus der Erwähnung (mention) ›von der Seite‹, nicht im Modus eines eigenen Wissensanspruchs zu erreichen. Unsere subjektiven Gewissheiten und das Gewissen unserer immer bloß provisorischen Moral (Descartes’ morale provisoire) aus der 145 Als große Beispiele für die Darstellung der ewig hängenden und nur willkürlich beendbaren Reflexion des Subjekts könnte man z. B. an Shakespeares tragische Figur des Hamlet denken, wobei der Hinweis auf seine Ausbildung in Wittenberg ernstzunehmen ist, oder auch an die komische des Tristram Shandy, den der größte Romantiker aller Zeiten, Laurence Sterne, in seinem Bewusstseinsstrom nie zu Ende kommen lässt.
Die Kunst 977 Perspektive der ersten Person sind, wie Hegel mit Luther, Descartes und Pascal sieht, auf ewig fallibel. Dennoch bleibt die traditionelle Lehre von der göttlichen Gnade ambivalent. Denn Luther und Pascal, im Grunde sogar noch Kant und Kierkegaard, verweigern dem Subjekt für sich jede Versöhnung. Das geschieht sozusagen aus Furcht vor Selbstgerechtigkeit. Sie leben daher in ständiger Angst, möglicherweise vor Gott nicht gerettet zu sein. Ihrem bloßen Glauben des ›Herzens‹ fehlt daher sozusagen noch das Wissen über Gott. Das hat die unglückliche Konsequenz, dass sie zwischen der Depression des Gefühls eigener Verworfenheit und der Selbstsicherheit eines »Ich kann nicht anders, so wahr mir Gott helfe«, durchaus dauernd schwanken. Das ist eine Folge dessen, dass sie Gott als äußere Instanz der Beurteilung von der Seite ansehen und damit ontisch hypostasieren, also trotz aller reformierten Theologie immer noch partiell heidnisch verdinglichen. Descartes verteidigt immerhin schon die Absolutheit der conscientia, des Bewusstseins und des Gewissens. Hegel fügt dem ›nur‹ die Analyse der Freiheit hinzu – in radikaler Überwindung der logisch in der Tat noch verwirrten Freiheitsanalyse sowohl Luthers als auch Kants.146 Bei Kant ist die Furcht vor Selbstgerechtigkeit besonders irritierend, weil seine Verfahren und Formeln des Kategorischen Imperativs selbst der Selbstgerechtigkeit einer autonomistischen Kritik an allen Traditionen des Sittlichen Vorschub leisten. Hegel bestätigt meine Lesart hier zunächst dadurch, dass er der symbolischen Kunst der Erhabenheit – von den Gedichten der Patristik bis in die Poesie eines Rumi oder sogar noch des 16. Jahrhunderts – als Inhalt den abstrakten »Gott des reinen Denkens« zuschreibt »oder ein Streben nach demselben«. Die Folge ist, dass sich die Seele oder Person im Leben »rastlos und unversöhnt« herumwirft, bis sie »ruhet in Gott«, wie Augustinus durchaus auch zweideutig sagt, so dass Hegel trocken entgegnen kann, eben das bedeute, dass sie ihr »Ziel nicht finden kann«. 146 Vgl. dazu auch Jörg Noller, Georg Sans (Hgg.) Luther und Erasmus über Freiheit. Rezeption und Relevanz eines gelehrten Streits, Freiburg: Alber 2020.
978 444 444 444 k Der absolute Geist 546 § 562 Die andere Weise aber der Unangemessenheit der Idee und der Gestaltung ist, daß die unendliche Form, die Subjektivität, nicht wie in jenem Extreme nur oberflächliche Persönlichkeit, sondern das Innerste ist und der Gott nicht als seine Gestalt nur suchend oder in äußerer sich befriedigend, sondern sich in sich nur findend, hiemit im Geistigen allein seine adäquate Gestalt sich gebend, gewußt wird. (546) Das zentrale Problem der Gestaltung Gottes besteht darin, dass sich weder die Absolutheit der Subjektivität und Innerlichkeit noch die Formidee der Person und damit des Geistes darstellen lässt, und zwar weder im Bild noch in Worten. Der Verzicht auf Bilder aufgrund der Erhabenheit Gottes über alle Einzelpersonen, so verständlich er sein mag, mystifiziert die Rede von Gott vollends, wie noch zu sehen sein wird. So gibt die – romantische – Kunst es auf, ihn als solchen in der äußern Gestalt und durch die Schönheit zu zeigen; sie stellt ihn als nur zur Erscheinung sich herablassend, und das Göttliche als Innigkeit in der Äußerlichkeit, dieser selbst sich entnehmend dar, welche daher hier in Zufälligkeit gegen ihre Bedeutung erscheinen darf. (546 f.) Die romantische Kunst meint die der Gotik, nicht die der heute so genannten Romantik. Seit dem Hochmittelalter wird Gott immer weniger selbst als Herrscher oder Baumeister »und durch die Schönheit« gezeigt, sondern mehr und mehr »als zur Erscheinung sich nur herablassend«, also als Christus, mit der durchaus äußerst positiven Folge, dass zwischen dem Äußeren und dem Wesen als dem Inneren zu unterscheiden ist. Die Philosophie der Religion hat die logische Notwendigkeit in dem Fortgang der Bestimmungen des als das Absolute gewußten Wesens zu erkennen, welchen Bestimmungen zunächst die Art des Kultus entspricht, wie ferner das weltliche Selbstbewußtsein, das Bewußtsein über das, was die höchste Bestimmung im Menschen sei, und hiemit die Natur der Sittlichkeit eines Volkes, das Prinzip seines Rechts, seiner wirklichen Freiheit und seiner Verfassung, wie seiner Kunst und Wissenschaft dem Prinzip entsprechen, welches die Substanz einer Religion ausmacht. (547) Während die Religion selbst wie die kirchliche Lehre und Litur-
547 Die Kunst 979 gie eine Praxis der Erbauung des Volkes ist, hat die Philosophie der Religion für eine Sicherung des rechten Verstehens religiöser Ausdrucksformen zu sorgen. Sie wird damit zur wahren Theologie als Logik aller Reden über Göttliches und Gott. Das wahre Ganze verlangt eine Übersicht über die notwendigen Zusammenhänge der Sittlichkeit (eines Volkes) mit (allgemeinen) Prinzipien des Rechts, wirklicher Freiheit und politischer Verfassung, mit Kunst, Wissenschaft und den besonderen religiösen Texten, Reden und Praktiken samt ihrer Geschichte – die am Ende das einzige Thema traditioneller Theologie und Exegese ist, wo sie nicht schon zu bloßer Gefühlshomiletik geworden ist. Daß alle diese Momente der Wirklichkeit eines Volkes Eine systematische Totalität ausmachen und Ein Geist sie erscha=t und einbildet, diese Einsicht liegt der weitern zum Grunde, daß die Geschichte der Religionen mit der Weltgeschichte zusammenfällt. (547) Das Wort »Volk« ist hier weit weniger zu betonen, als man üblicherweise meint. Hegel interessiert sich gar nicht für das, was erst viel später zum reichsdeutschen Volk wird – wie man aus der Sicht Österreichs (und der Schweiz) sagte. Hegels Volk ist wie die französische Nation praktisch immer Staatsvolk des jeweiligen Staates oder ›Reiches‹. Die Nation bildet auch dann eine Einheit, wenn es verschiedene Sprachen gibt. Für Hegel betre=en auch die Religionszugehörigkeiten nur die kirchliche Organisation und ggf. besondere Mängel des Verständnisses religiöser Reden und Praktiken, nicht deren wahre Gehalte. Diese sind in seiner Sicht weltweit so allgemein wie alle anderen begri=lichen Gehalte. Über den engen Zusammenhang der Kunst mit den Religionen ist die nähere Bemerkung zu machen, daß die schöne Kunst nur denjenigen Religionen angehören kann, in welchen die konkrete in sich frei gewordene, noch nicht aber absolute Geistigkeit Prinzip ist. (547) Der Mangel der griechischen Religion und ihrer schönen Künste besteht, wie wir jetzt zusammenfassen können, darin, dass sie zwar Individuen typisch darstellt, aber nicht die allgemeinen Formen des Geistes, also des Personseins und der personalen Subjektivität. In den Religionen, in welchen die Idee noch nicht in ihrer freien Bestimmtheit o=enbar geworden und gewußt wird, tut sich wohl das Bedürfnis der Kunst hervor, um in Anschauung und Phantasie die 444 k 444 k 444 f . k
980 445 k 445 k Der absolute Geist 547 f. Vorstellung des Wesens zum Bewußtsein zu bringen, ja die Kunst ist sogar das einzige Organ, in welchem der abstrakte, in sich unklare, aus natürlichen und geistigen Elementen verworrene Inhalt sich zum Bewußtsein zu bringen streben kann. Aber diese Kunst ist mangelhaft; weil sie einen so mangelhaften Gehalt hat, ist es auch die Form; denn jener ist es dadurch, daß er die Form nicht immanent in ihm selbst hat. Die Darstellung behält eine Seite von Geschmackund Geistlosigkeit, weil das Innere selbst noch mit Geistlosigkeit behaftet ist, daher nicht die Macht hat, das Äußere frei zur Bedeutung und zur Gestaltung zu durchdringen. Die schöne Kunst dagegen hat das Selbstbewußtsein des freien Geistes, damit das Bewußtsein der Unselbständigkeit des Sinnlichen und bloß Natürlichen gegen denselben zur Bedingung, sie macht dieses ganz nur zum Ausdruck desselben, es ist die innere Form, die nur sich selbst äußert. – (547 f.) Zunächst sind in allen Religionen die bildende Kunst und die Poesie »das einzige Organ, in welchem der abstrakte Inhalt« des Geistigen überhaupt darstellbar wird. Dabei ist die schöne Kunst der Griechen so interessant, weil sich in der Bewunderung der Perfektion der Tempel, Skulpturen und Bilder das Geistige des freien Könnens selbst zeigt, samt einer Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Form, Repräsentation und Inhalt. Damit hängt die weitere, höhere Betrachtung zusammen, daß das Eintreten der Kunst den Untergang einer an sinnliche Äußerlichkeit noch gebundenen Religion anzeigt. (548) Der Untergang der Kunstreligion ist damit aber vorprogrammiert. Zugleich, indem sie der Religion die höchste Verklärung, Ausdruck und Glanz zu geben scheint, hat sie dieselbe über ihre Beschränktheit hinausgehoben. Das Genie des Künstlers und der Zuschauer ist in der erhabenen Göttlichkeit, deren Ausdruck vom Kunstwerk erreicht ist, mit dem eignen Sinne und Empfindung einheimisch, befriedigt und befreit; das Anschauen und Bewußtsein des freien Geistes ist gewährt und erreicht. Die schöne Kunst hat von ihrer Seite dasselbe geleistet, was die Philosophie, – die Reinigung des Geistes von der Unfreiheit. (548) Hegels Gedankenführung ist aufgrund der leicht verqueren Formulierung schwer zu folgen. Einerseits scheint die griechische Kunst der griechischen Religion höchsten Glanz zu geben. Andererseits lässt sie
548 Die Kunst 981 das »Genie des Künstlers und der Zuschauer« spüren – damit aber auch die Di=erenz zur »erhabenen Göttlichkeit, deren Ausdruck vom Kunstwerk erreicht ist«, als das ganz Andere der bloß anschaulichen Schönheit. Die parallelen Leistungen einer relativen Befreiung von bloß traditionalen Konventionen in Kunst und Wissenschaft bzw. Philosophie liegen gerade im Aufweis von Technik und Methode. Jene Religion, in welcher sich das Bedürfnis der schönen Kunst und eben deswegen erst erzeugt, hat in ihrem Prinzip ein gedankenloses und sinnliches Jenseits; die andächtig verehrten Bilder sind die unschönen Götzenbilder, als wundertätige Talismane, die auf eine jenseitige geistlose Objektivität gehen, und Knochen tun denselben oder selbst bessern Dienst als solche Bilder. (548) Die frühen ›heidnischen‹ Religionen des Ahnenkults mögen noch ein unmittelbarer Glaube an ein Jenseits gewesen sein, mit »unschönen Götzenbilder[n]«, die »als wundertätige Talismane« gebraucht werden. Die Knochen der Heiligen in den katholischen Kirchen »tun denselben oder selbst bessern Dienst als solche Bilder«. Die Ironie sollte klar sein. Aber die schöne Kunst ist nur eine Befreiungs-Stufe, nicht die höchste Befreiung selbst. – Die wahrhafte Objektivität, welche nur im Elemente des Gedankens ist, dem Elemente, in welchem allein der reine Geist für den Geist, die Befreiung zugleich mit der Ehrfurcht ist, mangelt auch in dem Sinnlich-Schönen des Kunstwerks, noch mehr in jener äußerlichen, unschönen Sinnlichkeit. (548) Wahre Befreiung vom Aberglauben an ein Jenseits, bevölkert von dämonischen Geistern der toten Ahnen, verlangt weit mehr als bloß deren Verschönerung zu Göttern und Helden. Nötig wird ein besseres Verständnis des Geistes an sich und seiner Erhabenheit. § 563 Die schöne Kunst (wie deren eigentümliche Religion) hat ihre Zukunft in der wahrhaften Religion. Der beschränkte Gehalt der Idee geht an und für sich in die mit der unendlichen Form identische Allgemeinheit, – die Anschauung, das unmittelbare, an Sinnlichkeit gebundene Wissen in das sich in sich vermittelnde Wissen, in ein Dasein, das selbst das Wissen ist, in das O=enbaren, über; so daß der 445 k 445 k 445
982 Der absolute Geist 549 Inhalt der Idee die Bestimmung der freien Intelligenz zum Prinzip hat und als absoluter Geist für den Geist ist. (549) Hegel deutet ab jetzt die aus seiner Sicht insgesamt fortschrittlichste, im Ganzen trotz allem Restaberglauben wahre Religion, also das Christentum, als systematische Fortsetzung der Religion der Kunst Griechenlands einerseits, der Religion der Erhabenheit Persiens und Israels andererseits. B. 446 Die geo=enbarte Religion § 564 Es liegt wesentlich im Begri=e der wahrhaften Religion, d. i. derjenigen, deren Inhalt der absolute Geist ist, daß sie geo=enbart, und zwar von Gott geo=enbart sei. Denn indem das Wissen, das Prinzip, wodurch die Substanz Geist ist, als die unendliche für sich seiende Form das selbstbestimmende ist, ist es schlechthin Manifestieren; der Geist ist nur Geist, insofern er für den Geist ist, und in der absoluten Religion ist es der absolute Geist, der nicht mehr abstrakte Momente seiner, sondern sich selbst manifestiert. (549) Hegels Gedankenspiel besteht darin, an den traditionellen Formeln christlicher Religion festzuhalten, ihnen aber einen haltbaren Sinn zuzuordnen bzw. diesen von Fehldeutungen nach Möglichkeit zu bewahren. Hier geht es um das Verständnis der Formel, dass das Wissen über Gott als dem absoluten Geist uns von diesem selbst geo=enbart sei. Hegel erläutert diesen Satz so: Es ist, wie wir aus der Logik wissen, das allgemeine Wissen jeweils eines Volkes und dann auch der Menschheit der Anfang und die Grundlage dafür, dass wir als Einzelpersonen geistige Wesen sind. Das sind wir, indem sich in unserem gemeinsamen und individuellen Reden über Möglichkeiten und in unserem auf individuelle und gemeinsame Zwecke ausgerichteten Handeln die allgemeine Form geistiger Selbstbestimmung manifestiert. Wir sind geistige oder, wie man zumeist sagt, vernünftige Wesen also nur vermöge der Teilnahme an einer gemeinsamen Praxis. Die empraktische Instanziierung von Vollzugsformen im performativen Verhalten und Handeln geht ihren explikativen Vergegenständlichungen auf jeder Ebene des Tuns vorher. Dabei ist alles Unterscheiden
Die geo=enbarte Religion 983 und Tun längst schon durch die Entstehungsgeschichte der Praxisformen reflektiert. Das gemeinsame Subjekt dieser impliziten Reflexion sprechen wir dabei als generisches Wir an oder auch als Geist. Es ist, grob gesagt, das plurale Subjekt des Wissens, nach dem man etwas weiß, wenn manche von uns es wissen. Jede O=enbarung ist nun, so lese ich Hegel, eine Explikation der uns implizit schon bekannten Formen. Gerade so wären also die O=enbarungen der ›heiligen‹ Schriften des Judentums und Christentums über unsere personale Sittlichkeit, über das Göttliche und die Seele zu verstehen, also über die Form des Personseins. Es geht um eine ausreichend selbstbewusste, damit explizit gemachte, spekulative, also hinreichend umfängliche Selbstreflexion. Das meint Hegels Formel, dass es den Geist nur ›für‹ den Geist gibt, also in geistigen Selbstbezugnahmen. Der theos oder deus der Antike ist nicht etwa nur im hellenisierten Judentum ein einziger Gott. Er wird zum absoluten Geist im Christentum als der absoluten Religion in dem Sinn, dass der Vollzug der Selbstbezugnahme das Tun des Paraklets, des sogenannten Heiligen Geistes, sowohl im Gebet als auch in den liturgischen Feiern der Gemeinde ist. Hegel erkennt damit, dass unter dem Titel ho theos erstens die eine ganze Welt und zweitens die eine und ganze personale Gemeinschaft aller Menschen angesprochen ist. In seiner abstrakten Form aber ist der Gott nur erst impliziter und uns als Einzelsubjekten nur erst äußerlich entgegengestellter Gegenstand der Verehrung. Das gilt für das Judentum als eine der wesentlichen Vorformen christlicher O=enbarung ebenso wie für den Islam, der ebenfalls ältere Formen erhabener Theologie internationalisiert. Von dem Aberglauben, dass Gott, Sohn und Heiliger Geist drei Götter seien, können wir schlicht absehen. Die nicht nur im Islam verbreitete Ansicht, die Trinitätslehre des Christentums zeige, dass dieses kein reiner Monotheismus sei, ist ungefähr so intelligent, wie wenn man in der Mathematik die reinen Zahlen an sich, die Zahlterme für uns und die Anzahlen von konkreten Dingmengen nicht unterscheiden wollte. Der alten Vorstellung der Nemesis, nach welcher das Göttliche und seine Wirksamkeit in der Welt nur als gleichmachende Macht, die das Hohe und Große zertrümmere, vom noch abstrakten Ver- 446 f . k
984 Der absolute Geist 549 f. stande gefaßt worden, setzten Plato und Aristoteles entgegen, daß Gott nicht neidisch ist. Man kann dies gleichfalls den neuen Versicherungen entgegensetzen, daß der Mensch Gott nicht erkennen könne; – diese Versicherungen, denn mehr sind diese Behauptungen nicht, sind um so inkonsequenter, wenn sie innerhalb einer Religion gemacht werden, welche ausdrücklich die geo=enbarte heißt, so daß sie nach jenen Versicherungen vielmehr die Religion wäre, in der von Gott nichts o=enbar wäre, in der er sich nicht geo=enbaret hätte, und die ihr so Angehörigen »die Heiden« wären, »die von Gott nichts wissen«. Wenn es mit dem Wort ›Gott‹ überhaupt in der Religion Ernst ist, so darf und muß die Bestimmung auch von ihm, dem Inhalte und Prinzip der Religion, anfangen, und wenn ihm das Sicho=enbaren abgesprochen wird, so bliebe von einem Inhalte desselben nur dies übrig, ihm Neid zuzuschreiben. Wenn aber vollends das Wort Geist einen Sinn haben soll, so enthält derselbe das O=enbaren seiner. Bedenkt man die Schwierigkeit der Erkenntnis Gottes als Geistes, die es nicht bei den schlichten Vorstellungen des Glaubens bewenden lassen [kann], sondern zum Denken, zunächst zum reflektierenden Verstand fortgeht, aber zum begreifenden Denken fortgehen soll, so mag es fast nicht zu verwundern sein, daß so viele, besonders die Theologen, als näher aufgefordert, sich mit diesen Ideen beschäftigen, darauf verfallen sind, leichter damit abzukommen, und so willig das aufgenommen haben, was ihnen zu diesem Behufe geboten worden; das allerleichteste ist das angegebene Resultat: daß der Mensch von Gott nichts wisse. (549 f.) Hegel gibt der Überlegung jetzt noch eine überraschende Wendung in dem zentralen Satz, dass Gott nicht neidisch ist. Die Formel antwortet auf ein Bedenken gegen die gegebene Erläuterung, dass das Wissen über das Wissen als Wissen des Geistes über den Geist göttliche O=enbarung ist. Sie weist gerade die Bedenken zurück, welche man gegen die Identifikation des Gottes mit dem Menschensohn als Sohn Gottes vorzubringen geneigt sein mag, aber auch gegen die Identität des Gottes mit dem ›heiligen‹ Geist der Gemeinde. Einen unterstellten ›Neid‹ des Gottes diagnostiziert Hegel in folgender ›Argumentation‹ von Anhängern einer Religion der Erhabenheit: Würde Gott nicht als das ganz Andere der Welt gedacht, würde er
550 Die geo=enbarte Religion 985 nicht erhaben genug gedacht. In dieselbe Rubrik gehören nach Hegel auch alle ›christlichen‹ Theologen, die versichern, »daß der Mensch Gott nicht erkennen könne«. Hegels Überlegung zur »alten Vorstellung der Nemesis«, »nach welcher das Göttliche und seine Wirksamkeit in der Welt nur als gleichmachende Macht« zu verstehen sei, »die das Hohe und Große zertrümmere«, so wie Jahwe als Rächergott oder Allah als geistiger Gottkönig, ist große und tiefe Ironie. In einem derartigen Gottesbild bleibt nämlich per Willkürbeschluss alles Wahre, Gute und Schöne unbegri=enes Jenseits. Hegel hebt daher den inneren Widerspruch hervor, nach welchem der Inhalt der genannten drei Religionen als von Gott geo=enbart dargestellt wird. Er führt die Ironie dadurch auf die Spitze, dass gerade die Anhänger der O=enbarungsreligionen aufgrund der übergroßen Erhabenheit ihres ontisch vorgestellten Gottes zu Heiden werden, die per definitionem »von Gott nichts wissen«. Es ist allerdings in der Tat nicht leicht zu begreifen, was uns zu geistigen Wesen macht. Es ist erst recht schwer zu verstehen, wie wir schon seit Jahrtausenden über den Geist und das Göttliche sprechen. Hierin liegt eine doppelte »Schwierigkeit der Erkenntnis Gottes als Geistes«. Hegel treibt seine Kritik an jedem Glauben an einen uns unbekannten Gott jetzt dennoch so auf die Spitze: Es »bei den schlichten Vorstellungen des Glaubens bewenden lassen«, heißt, das Begreifen des geglaubten Inhalts schon aufgegeben zu haben. Dabei mag sogar schon ein Denken nach Art des reflektierenden Verstandes schwer sein. Aber die billige Antwort besonders von Theologen, »daß der Mensch von Gott nichts wisse«, kann und darf hier nicht befriedigen. Was Gott als Geist ist, dies richtig und bestimmt im Gedanken zu fassen, dazu wird gründliche Spekulation erfordert. (550) Hegel fordert hier eine das wahre Ganze der Rede über Gott und die religiöse Praxis umfassende logische Analyse und begri=liche Reflexion. Seine niederschmetternde Diagnose zum Stand zeitgenössischer Theologie lautet: Wegen eigener Unfähigkeit wird eine solche Analyse verweigert und vorsichtshalber für unmöglich erklärt. Doch eben damit hat man jede Theologie aufgegeben. Es sind zunächst die Sätze darin enthalten: Gott ist nur Gott, insofern er sich selber weiß; sein Sich-wissen ist ferner sein Selbstbe- 447 k 447 k
986 Der absolute Geist 550 wußtsein im Menschen und das Wissen des Menschen von Gott, das fortgeht zum Sich-wissen des Menschen in Gott. – Siehe die gründliche Erläuterung dieser Sätze in der Schrift, aus der sie genommen: Aphorismen über Wissen und Nicht-wissen usf. von C. F. G. . . ..1. Berlin 1829. (550) Hegel zitiert nun noch mit demonstrativer Zustimmung einen Autor, der nicht zum theologischen Establishment gehört: 1. »Gott ist nur Gott, insofern er sich selber weiß«. Das »insofern« verlangt o=enbar eine ontisch oder existenzpräsuppositional massiv abgeschwächte Lesart: Göttlich sind nur Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis. 2. ›Gottes Selbstwissen ist sein Selbstbewusstsein im Menschen‹. Die Rede von Gott und seinem Wissen ist klar auf die Menschen zu beziehen. Geist, der an sich göttlich ist, hat im vollen Ausmaß nur, wer weiß, was es heißt, geistige Person zu sein. 3. Das ›Wissen des Menschen von Gott muss fortgehen zum Sichwissen des Menschen in Gott.‹ Man weiß sich in Gott, im Geist, nur dann, wenn man weiß, dass und wie die eigene Intelligenz, also alles eigene Verstehen und geistige Können, von einem allgemeinen Wissen abhängt. 447 § 565 Der absolute Geist in der aufgehobenen Unmittelbarkeit und Sinnlichkeit der Gestalt und des Wissens ist dem Inhalte nach der an und für sich seiende Geist der Natur und des Geistes, der Form nach ist er zunächst für das subjektive Wissen der Vorstellung. (551) »Unmittelbarkeit und Sinnlichkeit« im Umgang mit äußeren Gestalten als Repräsentationen von Inhalten und Wissen sind immer durch einen Übergang zu den wesentlichen Wahrheiten, also z. B. zu groben gemeinsamen Unterscheidungen von Sachen und Handlungen aufzuheben. Das gilt nicht nur für symbolische Repräsentationen, sondern auch für präsentische Anschauungen. Es gilt sogar für alle tätigen und damit absoluten Vollzüge in unseren Welt- und Selbstbezugnahmen. Wenn es bei den letzteren um ein Begreifen des Geistes selbst geht, ist unser konkretes Wissen über Natur und Kultur, Geist und Welt das Thema. Der äußeren Form nach aber ist jedes derartige
551 Die geo=enbarte Religion 987 Wissen und damit der Geist selbst je für mich eine Vorstellung oder Repräsentation – und wenn es sich zunächst nur um Wörter handelt. Diese gibt den Momenten seines Inhaltes einerseits Selbständigkeit und macht sie gegeneinander zu Voraussetzungen und aufeinander folgenden Erscheinungen und zu einem Zusammenhang des Geschehens nach endlichen Reflexionsbestimmungen; andererseits wird solche Form endlicher Vorstellungsweise in dem Glauben an den Einen Geist und in der Andacht des Kultus auch aufgehoben. (551) Hegel kommentiert hier die Funktionsweise metaphorischer Vorstellungen von nicht unmittelbar darstellbaren Verhältnissen, wie etwa auch von Prozessformen und ihren Momenten. In jedem Fall ist der recht verstandene Inhalt der symbolischen Zugänge zum allgemeinen Geist des Personseins immer noch durch weitere kommentierende Erläuterungen abzusichern.147 § 566 In diesem Trennen scheidet sich die Form von dem Inhalte und in jener die unterschiedenen Momente des Begri=s zu besondern Sphären oder Elementen ab, in deren jedem sich der absolute Inhalt darstellt, α) als in seiner Manifestation bei sich selbst bleibender, ewiger Inhalt; β) als Unterscheidung des ewigen Wesens von seiner Manifestation, welche durch diesen Unterschied die Erscheinungswelt wird, in die der Inhalt tritt; γ) als unendliche Rückkehr und Versöhnung 147 Das metaphorische Bild von einem Vater im Himmel und dessen Sohn unter den Menschen ist nicht wörtlich zu verstehen, auch wenn das paulinische Christentum schon damit beginnt, Jesus zu vergöttlichen. Eine Heidenmission ohne Zugeständnisse an den religiösen Zeitgeist des Volkes wäre wohl kaum möglich gewesen. Noch Athanasius hat daher in einem gewissen Sinn ›politisch‹ recht, sich gegen Arius zu stellen, da jede Reduktion des Christentums auf eine bloße Erinnerung an einen göttlichen Menschen der Verbreitung seines Anliegens im Wege steht. Der Vater vertritt sozusagen ein umfängliches Wissen; ›er‹ beurteilt den Sohn; dieser kann ›ihm‹ seine Nöte vortragen, ›ihn‹ um Rat bitten usf. Dass der Vater im Himmel, nicht auf der Erde ist, drückt seine Idealität aus. In gewissem Sinn sind der beratende Gott und der beratene Mensch im dialogisch vorgestellten Gebet oder einer Gewissensprüfung dennoch ein und dieselbe Person. 447 447
988 Der absolute Geist 551 der entäußerten Welt mit dem ewigen Wesen, das Zurückgehen desselben aus der Erscheinung in die Einheit seiner Fülle. (551) Das Symbolisieren ist vom Symbolisierten zu unterscheiden, die repräsentierende Form vom Inhalt. Wie bei jedem Begri= ist auch im Fall des Begri=s des Geistes der generisch zeitallgemeine oder ›ewige‹ Inhalt an sich als abstrakter Gegenstand der Reflexion von seinen einzelnen Manifestationen oder Instanziierungen in der realen Welt der Erscheinungen zu unterscheiden. Die Metapher von der unendlichen »Rückkehr und Versöhnung der entäußerten Welt mit dem ewigen Wesen« meint die beurteilte Bezugnahme auf hinreichend gute geistige Vollzüge. Die Einheit der Fülle ist ausreichende Erfüllung der Bedingungen vernünftigen Urteilens und Handelns. 447 f . § 567 α) In dem Momente der Allgemeinheit, der Sphäre des reinen Gedankens oder dem abstrakten Elemente des Wesens ist es also der absolute Geist, welcher zuerst das Vorausgesetzte, jedoch nicht verschlossen Bleibende, sondern als substantielle Macht in der Reflexionsbestimmung der Kausalität Schöpfer Himmels und der Erde ist, aber in dieser ewigen Sphäre vielmehr nur sich selbst als seinen Sohn erzeugt, ebenso in ursprünglicher Identität mit diesem Unterschiedenen bleibt, als diese Bestimmung, das von dem allgemeinen Wesen Unterschiedene zu sein, sich ewig aufhebt und durch diese Vermittlung der sich aufhebenden Vermittlung die erste Substanz wesentlich als konkrete Einzelnheit und Subjektivität, – der Geist ist. (551 f.) Die Rede vom Geist an sich bleibt zunächst wie die vom Begri= an sich auf der abstrakten Ebene allgemeiner Gegenstände verbal denkender Reflexion. Diese sind schon aufgrund der logischen Redeform generisch, zeitallgemein, so dass man sich über die ›Ewigkeit‹ Gottes oder des Geistes nicht allzu sehr wundern sollte. Als absoluter Geist ist Gott schon tätig im Vollzug gedacht. Daher ist es wichtig, die Einheit des personalen Wir und unserer Welt, also auch von Geist und Natur, angemessen zu begreifen. In der großen Armbewegung spekulativer Reflexion wird Gott zum »Schöpfer [des] Himmels und der Erde« – freilich im Rahmen einer teils e;zienzkausalen, teils handlungstheoretischen, teils formen-
552 Die geo=enbarte Religion 989 logischen Metapher. Nach der ersten ist Gott sozusagen Ursache aller Ursachen, nach der zweiten stellt man sich spätestens seit Platons Timaios den göttlichen Geist als großen Architekten vor, dessen Baupläne wir in den Wissenschaften rekonstruieren, nach der dritten steht er für unsere Modelle, mit denen wir allgemeine Erfahrungen darstellen und erklären. Dass der Gott am Ende »sich selbst als seinen Sohn erzeugt«, ist mythisch-mystischer Ausdruck für die oben schon angesprochene komplexe Identität Gottes mit dem Geist der Person, die mit sich selbst über sich selbst und damit über die Welt nachdenkt. § 568 β) Im Momente der Besonderheit aber des Urteils ist dies konkrete ewige Wesen das Vorausgesetzte, und seine Bewegung ist die Erscha=ung der Erscheinung, das Zerfallen des ewigen Moments der Vermittlung, des einigen Sohnes, in den selbständigen Gegensatz, einerseits des Himmels und der Erde, der elementarischen und konkreten Natur, andererseits des Geistes als mit ihr im Verhältnis stehend, somit des endlichen Geistes, welcher als das Extrem der in sich seienden Negativität sich zum Bösen verselbständigt, solches Extrem durch seine Beziehung auf eine gegenüberstehende Natur und durch seine damit gesetzte eigene Natürlichkeit ist, in dieser als denkend zugleich auf das Ewige gerichtet, aber damit in äußerlicher Beziehung steht. (552) Hegels Deutung der Trinität von Vater, Sohn und Geist als Allegorie für ein logisches Verhältnis im Begri=lichen überfordert unvorbereitete Leser. Wie schon Zeus als Jupiter steht Gott der Vater am Anfang nur erst für das Allgemeine des Lebens auf der Erde. In Personalunion mit seinen Kindern Apollo und Minerva steht er dann aber auch für alle menschlichen Künste und alle Normen des Sittlichen und des Rechts. Gottes Sohn steht zunächst für die einzelnen personalen Subjekte, welche das Begri=liche nicht nur verständig, also formal richtig anzuwenden haben, sondern vernünftig, mit freier Urteilskraft unter Berücksichtigung der eigenen Erfahrungen, aber auch in der Begrenztheit der eigenen Perspektive. Der lebendige Geist der Kontrolle des Gewissens auch in der Gemeinschaft der Gemeinde vermittelt zwischen der ›ewigen‹ Ebene des 448
990 Der absolute Geist Allgemeinen und der ›endlichen‹ Ebene der immer nur im Einzelnen hier und jetzt vollzogenen absoluten Realität. Wir müssen schon mindestens so viel über das wissen, worum es geht, um Hegels Sätze hier überhaupt mit Verstand lesen zu können. Dabei ist klar, dass jedes Urteil ein Moment der Besonderheit hat, nämlich aufgrund von Kontext, Situation und Einzelsubjekt. Das Problem des personalen Subjekts besteht darin, mit reflektierender Urteilskraft für Kontext, Situation und eigene Rolle passende Formenbestimmungen zu finden. Diese sind so zu typisieren, dass sich das ›ewige Wesen‹ der mit der Form verständiger Intelligenz vorausgesetzten Begri=e gut anwenden lässt. Diese Anwendung ist subjektiv frei. Sie orientiert sich dennoch an der herzustellenden Gemeinsamkeit. Sie ist vernünftig nur, soweit sie nachvollziehbar ist und als für die jeweiligen Sachtypen angemessen gelten kann. Von der subjektiven Seite her kann dies je nur nach bestem Wissen und Gewissen geschehen. Das für mich Bestmögliche ist nicht immer das Bestmögliche überhaupt. Wir sehen also, dass die ›Erscha=ung‹ von Erscheinungen in gewissem Sinn das Zerfallen der realen Welt in einzelne Phänomene (›Gegenstände‹, ›Sachen‹, ›Ereignisse‹) im je einzelnen Zugang zu ihr von mir und anderen Einzelwesen her meint. Das ewige Moment der Vermittlung des einigen Sohnes bezieht sich damit auf das instanziierende Verhältnis von Begri= oder Artform und Einzelnem in seinen vielfältigen Erscheinungen. Im besonderen Fall des personalen Subjekts geht es um das Verhältnis des allgemeinen Personseins und individuellen Subjektseins. Der Gegensatz des Himmels zur Erde und zu den Menschen steht damit sozusagen in der ganzen Welt (auch in China als Tien) für eben dieses Verhältnis. 448 f . § 569 γ) Im Momente der Einzelnheit als solcher, nämlich der Subjektivität und des Begri=es selbst, als des in seinen identischen Grund zurückgekehrten Gegensatzes der Allgemeinheit und der Besonderheit, stellt sich 1) als Voraussetzung die allgemeine Substanz aus ihrer Abstraktion zum einzelnen Selbstbewußtsein verwirklicht, und dieses als unmittelbar identisch mit dem Wesen, jenen Sohn der ewigen Sphäre in die Zeitlichkeit versetzt, und in ihm das Böse als
552 Die geo=enbarte Religion 991 an sich aufgehoben dar; aber ferner diese unmittelbare und damit sinnliche Existenz des absolut Konkreten sich in das Urteil setzend und in dem Schmerz der Negativität ersterbend, in welcher es als unendliche Subjektivität identisch mit sich, aus derselben als absolute Rückkehr und allgemeine Einheit der allgemeinen und einzelnen Wesenheit für sich geworden ist, – die Idee des als ewigen, aber lebendigen und in der Welt gegenwärtigen Geistes. (552) Hegels Anspielung auf Jesus als den paradigmatischen Gottmenschen ist nicht zu übersehen, auch wenn sie schon auf die Ebene einer allgemeinen Form gehoben ist: Die »Idee des [. . . ] ewigen, aber lebendigen und in der Welt gegenwärtigen Geistes« ist die von Jesus selbst in Anspruch genommene bzw. vom Paraklet gelehrte Vermittlung zwischen Gott und uns als konkreten Personen in freier, dabei auch immer subjektiver Fortsetzung einer ›heiligen‹ Tradition. Die Sphäre der Einzelheit ist dabei nicht einfach schon als Klasse von Einzelsachen zu verstehen, sondern eher als das, was wir als den Grund (qua Ur-Sache) ihrer subjektiven Auffassungen ansehen, wobei die Identität der Sache selbst durch ihren Begri= bzw. ihr Artwesen auf der Basis äquivalenter Zugänge von verschiedenen perspektivischen Stellen her bestimmt ist. Die weitere Passage klingt aufgrund von Hegels idiosynkratischer Ausdrucksform zunächst verrückt. Die »allgemeine Substanz« ist aber nur das, was wir stabil wissen. Dabei stellt sich im Fall des personalen Subjekts die Relation zwischen dem idealen Vater-Sein des Gottes und dem endlichen Sohn-Sein bzw. der Sphäre des Zeitallgemeinen und der Zeitlichkeit als Instanziierung des Göttlichen in der Welt dar. Das heißt insbesondere, dass jeder Mensch Sohn Gottes ist und in sich die idealperfekte Form des Göttlichen finden kann, wenn er nur gewissenhaft genug sucht. § 570 2) Diese objektive Totalität ist die an sich seiende Voraussetzung für die endliche Unmittelbarkeit des einzelnen Subjekts, für dasselbe daher zunächst ein Anderes und Angeschautes, aber die Anschauung der an sich seienden Wahrheit, durch welches Zeugnis des Geistes in ihm es wegen seiner unmittelbaren Natur zunächst sich für sich als das Nichtige und Böse bestimmt, und weiter nach dem Beispiel 449
992 Der absolute Geist 553 seiner Wahrheit, vermittelst des Glaubens an die darin an sich vollbrachte Einheit der allgemeinen und einzelnen Wesenheit, auch die Bewegung ist, seiner unmittelbaren Naturbestimmtheit und des eignen Willens sich zu entäußern und mit jenem Beispiel und seinem Ansich in dem Schmerze der Negativität sich zusammenzuschließen und so als vereint mit dem Wesen sich zu erkennen, welches 3) durch diese Vermittlung sich als inwohnend im Selbstbewußtsein bewirkt und die wirkliche Gegenwärtigkeit des an und für sich seienden Geistes als des allgemeinen ist. (553) Hegels Rede von einer »Anschauung der an sich seienden Wahrheit« meint wohl das teils implizit-empraktische, teils explizit gelernte Wissen darüber, was allgemein als wahr bzw. gut und perfekt gilt. Die gegenwärtige Welt, in der je ich als Subjekt lebe, bildet als Gesamtrahmen eine objektive Totalität, die sich mir zunächst als angeschaute Gegenstandswelt so darstellt, als könnte ich mich von ihr distanzieren. Aber eben dieser Gedanke des Ironismus Friedrich Schlegels in Radikalisierung von Kants autonomistischer Moralität ist für Hegel das Böse. Jedes menschliche Individuum ist im Lebensvollzug Subjekt. Wir alle urteilen immer rein aus unserer Perspektive. Diese ist sozusagen die Erbsünde. Von ihr werden wir nur dadurch erlöst, dass man sie als Grundtatsache anerkennt. Das führt zur ›Erlaubnis‹ zum freien subjektiven Urteilen, freilich unter der Bedingung der ›Pflicht‹, sich dabei nach bestem Wissen und Gewissen an den normativ-allgemein in Geltung gesetzten Bedingungen tradierter Sittlichkeit zu orientieren. Es ist also die natürliche Ich-Perspektive nur zunächst »als das Nichtige und Böse bestimmt«. Wenn wir uns aber mit freier und damit in der Anwendung kritischer praktischer Vernunft an unserer ethischen Tradition orientieren, wie Jesus als der Sohn Gottes in Parabeln lehrt und durch sein eigenes Leben paradigmatisch zeigt, ist das allgemeine Gute mit der Subjektivität des eigenen Gewissens schon versöhnt. Damit das geschieht, bedarf es freilich der Vermittlung eines gebildeten Gewissens, »inwohnend im Selbstbewußtsein«. Dieses ist »die wirkliche Gegenwärtigkeit des an und für sich seienden Geistes«, so dass wir jetzt verstehen können, was es bedeutet, wenn nicht nur christliche Mystiker sagen, dass Gott, das Göttliche oder der Geist in uns ist und nur in uns existiert.
553 Die geo=enbarte Religion 993 § 571 Diese drei Schlüsse, die den Einen Schluß der absoluten Vermittlung des Geistes mit sich selbst ausmachen, sind die O=enbarung desselben, welche dessen Leben in dem Kreislaufe konkreter Gestalten der Vorstellung expliziert. (553) Hegels Schluss E -B-A (a) verbindet das Einzelne mit dem Allgemeinen durch die Vermittlung des Besonderen. Im Schluss A-E -B (b) vermittelt das Einzelne das Allgemeine mit dem Besonderen. Im Schluss E -A-B (c) wird das Einzelne mit dem Besonderen durch das Allgemeine vermittelt. In der nur scheinbar verrückten logischen Deutung der Lehre von Erbsünde, Erlösung und Trinität steht der Vatergott für A und damit das tradierte allgemeine Gesetz, Wissen und Ethos, der Sohn für E und der Geist für B. Der Geist der praktischen Vernunft verknüpft das Einzelsubjekt mit den allgemeinen Normen (a). Aber nur im Urteilen und Handeln des Einzelsubjekts kann das allgemeine Gute traditionaler Normen so instanziiert werden, dass die Bedingungen des Geistes, also der Vernunft des jeweils hier und jetzt Angemessenen, erfüllt werden (b). Das Gesetz tradierter Sittlichkeit, also A, vermittelt dabei immer zwischen dem Einzelvollzug im Urteilen und Handeln E und der Vernunft (c); die Vernunft B ist damit der konkretisierte Geist des Wahren, Guten und Schönen. Die O=enbarungsreligion des Christentums expliziert, Hegel zufolge, den Kreislauf dieser ›Schlüsse‹ in erster Näherung. Aus ihrem Auseinandertreten und zeitlichen und äußerlichen Aufeinanderfolgen nimmt sich die Entfaltung der Vermittlung in ihrem Resultat, dem Zusammenschließen des Geistes mit sich selbst, nicht nur zur Einfachheit des Glaubens und der Gefühlsandacht zusammen, sondern auch zum Denken, in dessen immanenter Einfachheit ebenso die Entfaltung ihre Ausbreitung hat, aber gewußt als ein untrennbarer Zusammenhang des allgemeinen, einfachen und ewigen Geistes in sich selbst. In dieser Form der Wahrheit ist die Wahrheit der Gegenstand der Philosophie. (553) Man kann und darf bei der bloß allegorischen Darstellung dieser Verhältnisse nicht stehen bleiben. Ohne philosophische Erläuterung und theologische Vertiefung der mythisch-religiösen O=enbarungen jüdisch-christlicher Tradition bleiben diese selbst noch fast wertlos. 449 449 f .
994 450 k Der absolute Geist Daher ist ihre Verbindung mit dem Geist griechischen Wissens und römischer Rechtspraxis so bedeutsam. Hegel spricht abstrakt von einem »Auseinandertreten und zeitlichen und äußerlichen Aufeinanderfolgen« der Einsichten und verlangt von uns Lesern, dass wir uns erinnern, worum es geht: Am Anfang (a) steht das Problem der ›Subsumtion‹ des Einzelnen unter das Allgemeine. Dazu gehören die Erziehung, Bildung und Formung von Person und Volk (E -B-A). Es folgt die Klarstellung (b), dass es immer um das Einzelne und den Einzelnen geht. Das zeigt unter vielem anderen gerade auch die paradigmatische Biographie des Jesus von Nazareth. Es folgt »die Entfaltung der Vermittlung in ihrem Resultat, dem Zusammenschließen des Geistes mit sich selbst« in der Gemeinde, so dass, wie Paulus auf leicht überhörbare Weise sagt, das scheinbar bloß utopische Reich Gottes in Ansätzen schon da ist. Hegel besteht darauf, dass diese ›O=enbarung‹ als Entwicklung von Vernunft in der Geschichte religiöser und damit spekulativer Reflexion nicht, wie noch im Evangelium und den paulinischen Briefen, nur in der »Einfachheit des Glaubens und der Gefühlsandacht« bleibt, sondern wie schon im (Neu-)Platonismus der Patristik (besonders der Ostkirche) und für den Westen besonders bei Augustinus, Boethius und dann wieder neu in der Scholastik und ihrer ›Mystik‹ wenigstens in Ansätzen zum Denken fortschreitet. Dabei geht es wesentlich um den untrennbaren »Zusammenhang des allgemeinen, einfachen und ewigen Geistes in sich selbst«. Das Geheimnis der Trinität Gottes erweist sich jetzt als das Geheimnis der Trinität des Personseins. Die Dreifaltigkeit der (göttlichen) Person enthält also eine reflexionslogisch-spekulative Vergegenständlichung der Einheit eines jeden personalen Subjekts, des geistigen Ichs der Person im Wir der Personengemeinschaft aller Menschen. Damit scha=t Hegel den Übergang zur Philosophie, welche das wahre Ganze des Personseins so auszulegen hat, dass die Formen des Geistes weder in einen uns gegenübergestellten Gott verlegt werden noch in eine Zufallsentwicklung kultureller Traditionen. Wird das Resultat, der für sich seiende Geist, in welchem alle Vermittlung sich aufgehoben hat, in nur formellem, inhaltslosem Sinne genommen, so daß der Geist nicht zugleich als an sich seiender
554 Die geo=enbarte Religion 995 und objektiv sich entfaltender gewußt wird, so ist jene unendliche Subjektivität das nur formelle, sich in sich als absolut wissende Selbstbewußtsein, die Ironie, welche allen objektiven Gehalt sich zunichte, zu einem eiteln zu machen weiß, somit selbst die Gehaltlosigkeit und Eitelkeit ist, die sich aus sich und damit einen zufälligen und beliebigen Inhalt zur Bestimmung gibt, Meister darüber bleibt, durch ihn nicht gebunden ist und, mit der Versicherung, auf der höchsten Spitze der Religion und der Philosophie zu stehen, vielmehr in die hohle Willkür zurückfällt. (554) Hegels Kritik an Friedrich Schlegels romantischer Ironie sollte uns nicht blind dafür machen, dass er selbst seine zentrale Einsicht in die Absolutheit des Subjekts erst in Auseinandersetzung mit Schlegels Vorlesungen in Jena entwickelt hat. Wir haben sogar den gesamten Schluss der Enzyklopädie mit seinem Ausblick auf das orientalische Denken als eine ihm vielleicht nur partiell bewusste Hommage an die Leistungen der Brüder Schlegel auf diesen Gebieten zu lesen, trotz aller Sticheleien, mit denen Hegel sich selbst in Stellung bringt. Im Blick auf seine Polemik ist zu bedenken, dass die Auseinandersetzungen zwischen Intellektuellen immer hart und schwer zu ertragen waren und sind. Nur indem die reine unendliche Form, die bei sich seiende Selbstmanifestation, die Einseitigkeit des Subjektiven, worin sie die Eitelkeit des Denkens ist, ablegt, ist sie das freie Denken, welches seine unendliche Bestimmung zugleich als absoluten, an- und fürsichseienden Inhalt und ihn als Objekt hat, in welchem es ebenso frei ist. Das Denken ist insofern selbst nur das Formelle des absoluten Inhalts. (554) Die Meinung der Romantiker, die Inhalte des Denkens – auch des Anschauens – seien je meine Inhalte, ist einer der folgenreichsten logischen Irrtümer. Man verwechselt dabei die Performation, die je meine ist, mit dem allgemeinen Gehalt, der durch geformte Trägerhandlungen von mir, dir oder uns mit dem Allgemeinbegri= verbunden ist. 450 k
996 Der absolute Geist C. 450 554 f. Die Philosophie § 572 Diese Wissenschaft ist insofern die Einheit der Kunst und Religion, als die der Form nach äußerliche Anschauungsweise der erstern, deren subjektives Produzieren und Zersplittern des substantiellen Inhalts in viele selbständige Gestalten, in der Totalität der zweiten, deren in der Vorstellung sich entfaltendes Auseinandergehen und Vermitteln des Entfalteten, nicht nur zu einem Ganzen zusammengehalten, sondern auch in die einfache geistige Anschauung vereint und dann darin zum selbstbewußten Denken erhoben ist. (554 f.) Das Wissen der Philosophie reflektiert immer auch wesentlich auf das Wissen, das sich in den äußeren Formen der Kunst und der Religion manifestiert. Die Kunst vergegenwärtigt den Vollzug von Anschauungsweisen und damit unserer Weltbezugnahmen exemplarisch. Dabei haben wir schon gesehen, dass die Form einer paradigmatischen Vorführung eines Inhalts als ›innerer‹ Form nicht anders ›implizit‹ ist als die jeder Allegorie, Metapher oder figurativen Trope. Denn es wird eine kompetente Bewertung der relevanten Formund Inhaltsgleichheit äquivalenter Äußerungen unterstellt – zusammen mit der Fähigkeit, Verschiedenheiten der Form und des Inhalts zu erkennen und zu beurteilen. Im Fall von Metaphern sieht man klar, dass nicht alle Hörer oder Leser aus einer Metapher des Sprechers oder Schreibers eine passende Analogie machen können. Eine solche Analogie ist eine strukturelle Isomorphie insofern, als gewisse prädikative Worte und Relationsausdrücke ›ana logon‹ sowohl im Urbild als auch im Bild gebraucht werden. Man denke als Beispiele an die Analogie der Welle im Wasser und dann auch in der Luft und schließlich in der Lichtausbreitung. Dabei geht es immer darum, Relationen und Inferenzen aus dem Urbildbereich angemessen auf den Bildbereich zu übertragen. In der Religion drücken z. B. Bilder von Tieren und Menschen natürliche und politische Mächte aus. Hier sehen wir den Sinn von Hegels Rede über ein »Produzieren und Zersplittern des substantiellen Inhalts in viele selbständige Gestalten«. Nicht die Kunst nämlich, sondern nur erst die abstrakte Sprache der Religion scha=t es, die Zersplitterung der Welt in einzelne Formen wieder zu einer Totalität
555 Die Philosophie 997 zu vereinigen – in der Rede von dem einen Gott seit Xenophanes einerseits, der Entwicklung der jüdischen Religion zunächst zu einem ›Henotheismus‹ eines einzigen Nationalgottes andererseits, der sozusagen nur in manchen Texten wie bei Jesaia auch andere Völker einlädt, ihn zu ehren. Unter dem Einfluss persischer und hellenistischer Kultur entsteht daraus ein Monotheismus des einen und einzigen Gottes der Welt und der Menschen. Dies Wissen ist damit der denkend erkannte Begri= der Kunst und Religion, in welchem das in dem Inhalte Verschiedene als notwendig und dies Notwendige als frei erkannt ist. (555) Philosophie (i. e. S.) ist historisch-systematisches Wissen über die spekulative Reflexionslogik von Kunst und Religion, aber natürlich auch von Technik und Wissenschaft. In ihr gibt es allererst einen ›denkend erkannten Begri= der Kunst und Religion‹, aber eben auch der gemeinsamen Entwicklung imitativ oder verbal lernbarer und damit relativ leicht reproduzierbarer Formen technischen Könnens und begri=sbestimmenden Wissens. Dabei gilt es immer, die zu einem Inhalt gehörigen sinnäquivalenten Verschiedenheiten von äußeren Ausdrucksformen als notwendig zu erkennen, zugleich aber auch die Freiheiten in diesen notwendigen Repräsentationen und Präsentationen von Inhalten. § 573 Die Philosophie bestimmt sich hienach zu einem Erkennen von der Notwendigkeit des Inhalts der absoluten Vorstellung sowie von der Notwendigkeit der beiden Formen, einerseits der unmittelbaren Anschauung und ihrer Poesie und der voraussetzenden Vorstellung, der objektiven und äußerlichen O=enbarung, andererseits zuerst des subjektiven Insichgehens, dann der subjektiven Hinbewegung und des Identifizierens des Glaubens mit der Voraussetzung. (555) Wir finden hier nicht eine Erläuterung des alten Begri=s der philosophia als Gesamt aller theoretischen Wissenschaften, wie er sich noch bis ins 20. Jahrhundert in der Einheit der philosophischen Fakultät erhalten hat, sondern eine Themenbenennung einer neu zu verstehenden Disziplin der Philosophie. Es ist gerade der Begri= der Philosophie, den wir heute weltweit haben und über den man seit 450 451
998 451 Der absolute Geist Hegel im Ausgang von der metaphilosophischen Frage »Was ist Philosophie« diskutiert. Diese neue Philosophie unterscheidet sich nicht nur ganz wesentlich von den angewandten Hybridwissenschaften wie der Jurisprudenz, der Medizin und der theologischen Ausbildung zum Lehrer und Seelsorger, sondern auch von philosophisch-theoretischen Naturwissenschaften mit ihrem jeweiligen Sachfokus, wie der Mechanik, der Physik, Chemie und Biologie, den ebenfalls ›theoretischen‹ Geisteswissenschaften der Geschichtsschreibung und den Gesellschaftswissenschaften. »Die Philosophie bestimmt sich hienach«, sagt Hegel, in ihrer Entwicklung seit Kant über die sachliche Notwendigkeit spekulativer Reflexion besonders auf den wahren Inhalt der üblichen Reden über ›das Absolute‹ bzw. den Gebrauch von Wörtern wie »absolut«, »objektiv« und »wirklich«, damit auch von »Wahrheit«, »Gott« und »Welt«. Dazu sind Methoden einer topographischen Reflexionslogik auf Begri=e und Inhalte an sich zu entwickeln und damit auch auf alle absoluten Vorstellungen des Ganzen der Welt und des Geistes. Begri=lich aufgeklärte Philosophie erkennt damit, anders als der nur gläubige Szientismus einer bloß erst oberflächlichen wissenschaftlichen Aufklärung, die »Notwendigkeit der beiden Formen« des Zugangs zu einem Ganzen an, der unmittelbaren Anschaulichkeit von Beispielen wie in der bildenden Kunst und Poesie einerseits und der ebenfalls noch allegorischen oder metaphorischen sprachlichen Ausdrucksformen wie in Religion und Theologie andererseits. Sogar noch die Analogien der Logik des Äußeren und Inneren, der Formen und der Inhalte sind von dieser Form. Die objektive und äußerliche O=enbarung der moderneren Religionen besteht dabei seit der Antike in der Produktion von Textkonvoluten und ihrer Kanonisierung in einer immer auch schon philologischhermeneutischen Kultur einer Schriftreligion einerseits, einer empraktischen Lehrtradition »des subjektiven Insichgehens« andererseits, wie wir sie vom Christentum über den Islam und den Hinduismus bis zum Buddhismus kennen, dessen Prägungen für die Kultur des Fernen Ostens wesentlich ist. Dies Erkennen ist so das Anerkennen dieses Inhalts und seiner Form und Befreiung von der Einseitigkeit der Formen und Erhe-
555 Die Philosophie 999 bung derselben in die absolute Form, die sich selbst zum Inhalte bestimmt und identisch mit ihm bleibt und darin das Erkennen jener an und für sich seienden Notwendigkeit ist. (555) Im Unterschied zu bloß mantisch-zeigenden Vergegenständlichungen und Vergegenwärtigungen des eigenen geistigen Seins in der Welt durch Kunst und Religion besteht das Erkennen der relevanten Inhalte zunächst in der Anerkennung der Gleichwertigkeit vieler verschiedener äußeren Formen. Das ist schon eine Befreiung »von der Einseitigkeit der Formen«. Wahre Religion hat daher nur, wer ihre äußeren Formen als bloße Ausdrucksvarianten desselben allgemeinen Inhalts zu verstehen in der Lage ist. Auch jedes volle Verständnis wissenschaftlichen Wissens muss robust genug in Bezug auf Übersetzungen und abkürzende Zusammenfassungen oder Verdichtungen sein. Nur über solche Verdichtungen können wir uns ausreichend gut an einem sonst viel zu unübersichtlichen Wissen orientieren. Wer sich daher mit der vermeintlichen neuen Unübersichtlichkeit des angeblich so komplexen Wissens der Wissenschaften zufriedengibt, hat das Unternehmen Wissenschaft selbst noch nicht gut genug verstanden. Dasselbe gilt für die Liebhaber der Pluralität der Religionen oder gar Philosophien und die wunderbar abstrakte Verteidigung von Diversität. Es wäre zumindest hilfreich, das gleich Gültige und damit Gleichgültige bloß unterschiedlicher Ausdrucksformen zu erkennen. Nur so begreift man Inhalte. Daher haben alle, die zu sehr auf einzelne Ausdrucksformen fokussieren, ein Intelligenzproblem. Die Erhebung von religiösen oder spekulativen Inhalten »in die absolute Form« meint bei Hegel keineswegs ihre Darstellung in einer ganz bestimmten kanonischen Form, etwa der, die er zunächst für sich und dann auch für uns, obzwar nicht ohne Zumutungen, entwickelt. Vielmehr ist die absolute Form immer nur die, die je ich verstehe. Das Selbstverstehen wird nun »selbst zum Inhalte bestimmt«, so dass das Thema der Philosophie, der Geist, identisch mit der Person bleibt, die philosophiert, so wie schon Gott und Seele in den entwickeltsten aller ›Theologien‹, der christlichen, islamischen, hinduistischen, und dann auch in der (zen-)buddhistischen Mystik. (Im Buddhismus spricht man freilich nicht von einer Theologie.)
1000 451 451 k Der absolute Geist 555 Diese Bewegung, welche die Philosophie ist, findet sich schon vollbracht, indem sie am Schluß ihren eigenen Begri= erfaßt, d. i. nur auf ihr Wissen zurücksieht. (555) Philosophie ist so wie Kunst und Religion eine selbstbezügliche Bewegung. Sie ist das in einer ganz und gar bewussten und selbstbewussten, verbal expliziten Form, wie es sich die Kunst sozusagen als Genre verbieten muss. Kunst kann Formen nur paradigmatisch, damit im Grunde nur metaphorisch bzw. allegorisch zeigen. Die ebenfalls ›zeigende‹, aber artikulierte Rede spekulativer Reflexion und hochstufiger Kommentierungen ist ihr wie auch der Religion per Genre und Sachbereich versagt. Das ist so, weil es zum ›Spiel‹ bildender Kunst gehört, dass nicht der Künstler selbst den Inhalt kommentiert. Jetzt ist das meiste der nötigen philosophischen Überlegungen zu Kunst und Religion »schon vollbracht«, so dass am Schluss der Enzyklopädie die Dinge nur noch zusammenzufassen sind. Es könnte hier der Ort zu sein scheinen, das Verhältnis der Philosophie zur Religion in einer bestimmten Auseinandersetzung abzuhandeln. Worauf es ganz allein ankommt, ist der Unterschied der Formen des spekulativen Denkens von den Formen der Vorstellung und des reflektierenden Verstandes. Es ist aber der ganze Verlauf der Philosophie und der Logik insbesondere, welcher diesen Unterschied nicht nur zu erkennen gegeben, sondern auch beurteilt oder vielmehr die Natur desselben an diesen Kategorien selbst sich hat entwickeln und richten lassen. Nur auf den Grund dieser Erkenntnis der Formen läßt sich die wahrhafte Überzeugung, um die es sich handelte, gewinnen, daß der Inhalt der Philosophie und der Religion derselbe ist, abgesehen von dem weitern Inhalte der äußern Natur und des endlichen Geistes, was nicht in den Umkreis der Religion fällt. (555 f.) Der teils berichtende, teils wertende, teils sogar erbauliche Schlusstext versteht sich fast von selbst. Es ist bloß noch die Leitfrage des Endes des Werkes hervorzuheben, ob ein philosophisches Verständnis von Theologie eine Art Pantheismus oder gar Atheismus ist oder nicht. Denn den »Unterschied der Formen des spekulativen Denkens von den Formen der Vorstellung und des reflektierenden Verstandes« kennen wir schon, auch wie und warum nur die Philosophie als spe-
556 Die Philosophie 1001 kulative Logik das Verhältnis professionell beurteilen und damit alle bloße Intuition hinter sich lassen kann. Aber die Religion ist die Wahrheit für alle Menschen, der Glaube beruht auf dem Zeugnis des Geistes, der als zeugend der Geist im Menschen ist. (556) Hegel bestätigt hier explizit, was ich schon früher mehrfach sagte: »die Religion ist die Wahrheit für alle Menschen«. Den Geist ›gibt‹ es immer nur als Geist im Menschen, genauer: ›in‹ den Menschen und ›in‹ der Menschheit. Wer an Außerirdische glaubt, kann ebenso gut an Engel und Götter glauben – und umgekehrt. Dies Zeugnis an sich substantiell, faßt sich, insofern es sich zu explizieren getrieben ist, zunächst in diejenige Bildung, welche die sonstige seines weltlichen Bewußtseins und Verstandes ist; hiedurch verfällt die Wahrheit in die Bestimmungen und Verhältnisse der Endlichkeit überhaupt. Dies hindert nicht, daß der Geist seinen Inhalt, der als religiös wesentlich spekulativ ist, selbst im Gebrauche sinnlicher Vorstellungen und der endlichen Kategorien des Denkens gegen dieselbe festhalte, ihnen Gewalt antue und inkonsequent gegen sie sei. Durch diese Inkonsequenz korrigiert er das Mangelhafte derselben; es ist darum dem Verstande nichts leichter, als Widersprüche in der Exposition des Glaubens aufzuzeigen und so seinem Prinzipe, der formellen Identität, Triumphe zu bereiten. Gibt der Geist dieser endlichen Reflexion nach, welche sich Vernunft und Philosophie (– Rationalismus) genannt hat, so verendlicht er den religiösen Inhalt und macht ihn in der Tat zunichte. Die Religion hat dann ihr vollkommenes Recht, gegen solche Vernunft und Philosophie sich zu verwahren und feindselig zu erklären. (556) In allen Reflexionen auf unsere eigenen Seinsformen gebrauchen wir sinnliche Vorstellungen als Metaphern und die »endlichen Kategorien des Denkens«. Die logisch-semantischen Formen des Normalgebrauchs relationaler oder taxonomischer Prädikate und Benennungen muss ›der Verstand‹ oder ein formaler Logiker als inkonsequent oder sogar widersprüchlich ansehen, und zwar deswegen, weil die Voraussetzung nicht erfüllt ist, dass hier schon als diskret definierte Gegenstände unter sortale Prädikate fallen oder nicht. Doch gerade durch diese Inkonsequenz korrigieren wir das Mangelhafte in den aufgerufenen Analogien. So darf man z. B. das ›empirische Allwissen‹ 451 k 451 f . k
1002 452 k Der absolute Geist Gottes in der spekulativen Erläuterung historischer Wahrheit nicht in die Zukunft ausdehnen. Die Metapher, dass Richard ein Löwe ist, umfasst nicht das Verhalten von Löwen zu fremdem Nachwuchs. Wenn man z. B. mit Platon im Timaios Gott als perfekten Physiker konzipiert, dann ist nicht zu vergessen, dass ein solcher den empirischen Zufall und die Lokalitäten der Einzeldinge und subjektiven Perspektiven der Einzelpersonen hier und jetzt gar nicht kennen kann. Die fast schon unfassbare Größe von Platon als Logiker zeigt sich darin, dass er selbst schon im Dialog Parmenides das Problem ganz klar hervorhebt. Dass sich die dem Gott oder dem allgemeinen Geist in verschiedenen Redekontexten zugesprochenen Eigenschaften widersprechen, ist zwar wahr, aber kein Grund, die Rede von Gott deswegen aus dem Verkehr zu ziehen. Man müsste dann mit noch mehr Grund das Wort »ich« verbieten, wie schon Heraklit weiß: Ich bin es und bin es nicht, wenn ich zweimal in den gleichen Fluss steige. Alle ontischen Verdinglichungen Gottes, der Welt oder des Geistes gehören so in die Rubrik höherer Torheit – allerdings samt der Unterstellung, es gäbe nur eine Lesart religiöser und theologischer Texte, und diese laufe immer auf abergläubische Hypostasierungen hinaus. Diese Form von Vernunftkritik ist als antiquiert zu überwinden. Stattdessen gilt es, religiöse Rede allererst in ihrem Sinn richtig zu verstehen. Man geht also an der Sache von vornherein vorbei, wenn man nicht sieht, dass und wie es in der Rede von Gott um diverse Momente holistischer, meinetwegen auch ›ganzheitlicher‹ Selbstreflexion geht. Ein Streit lohnt sich also erst, wenn beide, Kritiker und Verteidiger, Verächter und Liebhaber der Religion logisch schon so gebildet sind, dass sie wenigstens den rein formalen Gebrauch schematischer Definitionen und Schlüsse auf den Bereich beschränken, in dem allein sie universal gültig sind, nämlich die reine Mathematik, und die besonderen Formen und Inhalte zeitlich-endlicher und zeitallgemeingenerischer Rede, aber besonders auch spekulativer Reflexion kennen und anerkennen. Ein anderes aber ist es, wenn sie sich gegen die begreifende Vernunft und gegen Philosophie überhaupt und bestimmt auch gegen eine solche setzt, deren Inhalt spekulativ und damit religiös ist. Solche Entgegensetzung beruht auf dem Mangel an Einsicht in die
556 f. Die Philosophie 1003 Natur des angegebenen Unterschieds und des Werts der geistigen Formen überhaupt und besonders der Denkformen, und am bestimmtesten an Einsicht in den Unterschied des Inhalts von jenen Formen, der in beiden derselbe sein kann. Es ist auf den Grund der Form, daß die Philosophie von der religiösen Seite her, und umgekehrt wegen ihres spekulativen Inhalts, daß sie von einer sich so nennenden Philosophie, ingleichen von einer inhaltslosen Frömmigkeit, Vorwürfe und Beschuldigungen erfahren hat; für jene hätte sie von Gott zu wenig in ihr, für diese zu viel. (556 f.) Verteidiger von Religion und Theologie sind allerdings dann selbst inkompetent, wenn sie die Philosophie insgesamt als irrelevant für den Glauben ansehen. Sie zeigen damit, dass sie sich für den Unterschied von Form und Inhalt, auch Glauben und Wissen, Geist und Welt gar nicht interessieren. Damit aber können sie auch ihre eigenen Themen nicht mehr voll begreifen. Die bloße Attitüde von Spiritualität kann daher auch im Fall von kirchlich organisierten Religionen so blasiert, sinnleer und eitel sein wie etwa in Fritjof Capras ›Tao der Physik‹, in der gesamten Bewegung des ›New Age‹ oder in anderen pseudoreligiösen Moden. In einer Philosophie als bloßer Disziplin, die den Anschluss an die Philosophie der Jahrhunderte sozusagen verpasst hat, meint man – übrigens bis heute –, dass in Hegels spekulativer Logik zu viel Gott vorkomme, ohne zu bemerken, dass es dabei immer um das wahre Ganze geht. Einer Theologie und Religion nur für die Frommen scheint dagegen in Hegels Entwicklung der Philosophie zu wenig Gott zu finden sein. Hegel selbst benutzt das Wort »Gott« hier klarerweise ironisch als Massenterm wie Wasser, Salz oder Mehl.148 148 Zwei große Geistesverwandte, nämlich Søren Kierkegaard und Heinrich Heine, Hegels mutmaßlicher Lieblingsschüler, gehen dabei in typischer Weise an Hegels Denken vorbei. Nach allem, was wir über das Verhältnis von Professor und Student von Heine selbst wissen, kann man nämlich einen berühmten Kolportagespruch Hegels im Klartext durchaus so lesen: Nur Heine hat mich verstanden, und auch der hat mich nicht verstanden – wie Heines »Geständnisse« im Alter zeigen, in denen er sich den alten ontischen Trostgott realer Unsterblichkeit zurückwünscht und ihm, wie Kierkegaard, Hegels Gott als zu abstrakt erscheint. Dabei will Hegel gar nicht, wie ihm unterstellt wird, die philosophischen Kommentare zur Rede von
1004 452 k Der absolute Geist 557 Die Beschuldigung des Atheismus, die man sonst häufig der Philosophie gemacht hat, – daß sie zu wenig von Gott habe, ist selten geworden, desto verbreiteter aber ist die Beschuldigung des Pantheismus, daß sie zu viel davon habe, so sehr, daß dies nicht sowohl für eine Beschuldigung als für ein erwiesenes oder selbst keines Beweisens bedürftiges, für ein bares Faktum gilt; besonders die Frömmigkeit, die in ihrer frommen Vornehmigkeit sich des Beweisens ohnehin entübrigt glaubt, überläßt im Einklange mit der leeren Verstandesphilosophie, der sie so sehr entgegengesetzt sein will, in der Tat aber ganz auf dieser Bildung beruht, sich der Versicherung, gleichsam als nur der Erwähnung einer bekannten Sache, daß die Philosophie die All-Eins-Lehre oder Pantheismus sei. Man muß sagen, daß es der Frömmigkeit und der Theologie selbst mehr Ehre gemacht hat, ein philosophisches System, z. B. den Spinozismus, des Atheismus als des Pantheismus zu beschuldigen, obgleich jene Beschuldigung auf den ersten Anblick härter und individiöser aussieht (vgl. § 71 Anm.). Die Beschuldigung des Atheismus setzt doch eine bestimmte Vorstellung von einem inhaltsvollen Gott voraus und entsteht dann daher, daß die Vorstellung die eigentümlichen Formen, an welche sie gebunden ist, in den philosophischen Begri=en nicht wieder findet. (557) Hegel repliziert auf die Kritik, seine Philosophie sei atheistisch, wie üblich völlig souverän, d. h. mit logisch-dialektischer Ironie. Zunächst stellt er fest, dass auf die große Tradition der Philosophie von Platon und Aristoteles über Descartes bis Kant der Vorwurf des Atheismus nicht passt und daher auch seltener geworden sei. Umso verbreiteter aber sei die Meinung, es gäbe in der Philosophie zu viel Gott – nicht zuletzt aufgrund einer Tendenz zum Pantheismus schon seit Plotins »es ist alles eins« und seit Spinozas Orakel »deus sive natura«. Wie in der modernen Kunst werde damit am Ende irgendwie ›alles‹ als geheiligt angesehen, lautet die Kritik. Gott an die Stelle der tradierten Redeformen setzen. Er will keineswegs nur solche Reden zulassen, die man auf keinen Fall als metaphysisch missverstehen kann. Denn das würde uns sprachlos machen. Es wird nie möglich sein, alle möglichen Fehlverständnisse ein für alle Mal auszuräumen. Das gilt noch nicht einmal für die Wahrheiten der Mathematik.
557 f. Die Philosophie 1005 Es kann nämlich wohl die Philosophie ihre eigenen Formen in den Kategorien der religiösen Vorstellungsweise sowie hiemit ihren eigenen Inhalt in dem religiösen Inhalte erkennen und diesem Gerechtigkeit widerfahren lassen, aber nicht umgekehrt, da die religiöse Vorstellungsweise auf sich selbst nicht die Kritik des Gedankens anwendet und sich nicht begreift, in ihrer Unmittelbarkeit daher ausschließend ist. Die Beschuldigung des Pantheismus statt des Atheismus gegen die Philosophie fällt vornehmlich in die neuere Bildung, in die neue Frömmigkeit und neue Theologie, welcher die Philosophie zu viel Gott hat, so sehr, daß er ihrer Versicherung nach sogar Alles, und Alles Gott sein solle. Denn diese neue Theologie, welche die Religion nur zu einem subjektiven Gefühle macht und die Erkenntnis der Natur Gottes leugnet, behält sich damit weiter nichts als einen Gott überhaupt ohne objektive Bestimmungen. Ohne eigenes Interesse für den konkreten, erfüllten Begri= Gottes betrachtet sie solchen nur als ein Interesse, welches andere einmal gehabt haben, und behandelt deswegen das, was zur Lehre von der konkreten Natur Gottes gehört, als bloß etwas Historisches. (557 f.) Philosophie kann gerade aufgrund ihrer universell auf alle Sprachen, Ausdrücke, Vollzüge, Formen und Bedeutungen reflektierenden Darstellungsformen die wesentlichen Inhalte religiöser Ausdrucksweisen so wiedergeben, wie es religiöse Lehr- und Erbauungstexte gerade nicht können. Denn es ist nicht umgekehrt möglich, »die religiöse Vorstellungsweise auf sich selbst« anzuwenden. Der bloß erst empraktische Gebrauch von Paradigmen, Parabeln und Allegorien schließt ja einen explizierenden Kommentar insbesondere auf den sinngebenden Gesamtrahmen und die Ausdruckstechnik als formfremd aus, so wie z. B. auch der Gesang eines Liedes die Analyse von Melodie oder Rhythmus. Die ›Unmittelbarkeit‹ des Verstehens schattet alle Reflexion auf das Verstehen ab – wie in jeder rein sachoder objektbezogenen Ausdrucksform. Im romantischen Gefühlsprotestantismus wird Gott dann sogar noch von allen objektiven Bestimmungen befreit. Die ironische Folge ist, dass diese sogenannte Theologie eigentlich noch weit atheistischer ist als jeder Spinozismus. Es bleiben nur, ähnlich wie in Felix Mendelssohns wunderbarem Lied ohne Worte, performative Attitüden ohne Inhalt stehen. Man denke etwa an eine große Sehnsucht 452 f . k
1006 453 k 453 k Der absolute Geist 558 oder Ho=nung oder ein Gefühl der Liebe oder Erhabenheit – ohne Gegenstand. Zugleich wird alles historisch – ohne »eigenes Interesse für den konkreten, erfüllten Begri= Gottes«. Der unbestimmte Gott ist in allen Religionen zu finden; jede Art von Frömmigkeit (§ 72), die indische gegen A=en, Kühe usf., oder gegen den Dalai-Lama, die ägyptische gegen den Ochsen usw., ist immer Verehrung eines Gegenstandes, der bei seinen absurden Bestimmungen auch das Abstrakte der Gattung, des Gottes überhaupt, enthält. Wenn jener Ansicht solcher Gott hinlänglich ist, um Gott in allem, was Religion genannt wird, zu finden, so muß sie solchen wenigstens auch in der Philosophie anerkannt finden und kann diese nicht wohl des Atheismus mehr bezichtigen. (558) In Hegels Bewertung, wie fern oder nahe die äußerlichen religiösen Formen dem religiösen Gehalt sind, kommen die indischen Religionen nicht gut weg. Die Gründe werden zu besprechen sein. Dabei gibt es in allen Religionen die Schrump=orm des unbestimmten Gottes – man kann ja den Buddhismus sogar als typisch für eine atheistische Religion ansehen. Aber in aller konkreten Bestimmung der Götter, des Gottes oder des Göttlichen bleibt »das Abstrakte der Gattung, des Gottes überhaupt« enthalten, auch wenn man alle Konkretion einklammert, etwa indem man erklärt, dass man Gott nicht kennen könne, so dass der unbekannte Gott des Glaubens in der Tat schon fast der unbestimmte des bloßen Gefühls ist. Hegels Ironie besteht hier darin, dass die Kritik an seiner Philosophie als atheistisch von Seiten eines religiösen Glaubens stammt, der sich nur auf einen unbestimmten Gott oder ein indefinit Göttliches bezieht, so dass er selbst von einem Atheismus oder meinetwegen auch einer pantheistischen ›Spiritualität‹ gar nicht mehr unterscheidbar ist. Die Milderung des Vorwurfs des Atheismus in den des Pantheismus hat daher nur in der Oberflächlichkeit der Vorstellung ihren Grund, zu welcher diese Mildigkeit sich Gott verdünnt und ausgeleert hat. Indem nun jene Vorstellung an ihrer abstrakten Allgemeinheit festhält, außerhalb welcher alle Bestimmtheit fällt, so ist ferner die Bestimmtheit nur das Ungöttliche, die weltliche Existenz der Dinge, welche hiedurch in fester ungestörter Substantialität verbleibt. Mit solcher Voraussetzung wird auch bei der an und für sich seienden Allgemeinheit, welche von Gott in der Philosophie
558 f. Die Philosophie 1007 behauptet wird und in welcher das Sein der äußerlichen Dinge keine Wahrheit hat, vor wie nach dabei geblieben, daß die weltlichen Dinge doch ihr Sein behalten, und daß sie es sind, welche das Bestimmte an der göttlichen Allgemeinheit ausmachen. So machen sie jene Allgemeinheit zu der, welche sie die pantheistische nennen, – daß Alles, d. h. die empirischen Dinge ohne Unterschied, die höher geachteten wie die gemeinen, sei, Substantialität besitze, und dies Sein der weltlichen Dinge sei Gott. – Es ist nur die eigene Gedankenlosigkeit und eine daraus hervorgehende Verfälschung der Begri=e, welche die Vorstellung und Versicherung von dem Pantheismus erzeugt. (558 f.) Das eigentliche Problem des Pantheismus liegt in der Verwechslung von Haltungen zu endlichen Einzeldingen mit Haltungen zur ganzen Welt. Zwar kann man das Ganze durch Einzelnes vertreten, aber Gott bzw. die Wahrheit zeigt sich nie unmittelbar. Die »äußerlichen Dinge« haben »keine Wahrheit«. Sie sind nur Stellen in einem Ganzen. Manche Leser glauben, Hegel verachte damit die empirische Realität des Endlichen und behaupte, wie angeblich auch schon Platon, dass Wahrheit nur in einer Art Ideenschau zu erreichen sei. Es ist o=enbar schwer, diesen Aberglauben über einen vermeinten Aberglauben von Parmenides bis Hegel aufzuheben. Allerdings sind Hegels Formulierungen in der Tat ambivalent. Denn es klingt so, als spräche er hier den weltlichen Dingen ihr Sein ab. Tatsächlich sagt er nur, dass sich in ihnen die wahren begri=lichen Unterscheidungen »der göttlichen Allgemeinheit« nicht unmittelbar zeigen. Der Pantheismus begeht daher den Fehler, »die empirischen Dinge ohne Unterschied« unmittelbar als göttlich aufzufassen, womit natürlich auf jede Unterscheidung zwischen Wesen und Schein bzw. der realen Welt der endlichen Erscheinungen und einer nachhaltig-substantiellen Wahrheit gerade verzichtet wird. Ein ephemeres Sein von bloßen Tagwesen ist die Folge. Es ist die Selbstanimalisierung im ordinären Pantheismus, gegen welche sich Hegels Polemik hier richtet. Der klarerweise falsche Stichund Schlagsatz dieses Naturalismus lautet in meinem Vorschlag zu seiner Präzisierung: »Das Sein der endlichen Erscheinungen der Welt ist Gott«. Aber wenn diejenigen, welche irgend eine Philosophie für Pantheismus ausgeben, dies einzusehen nicht fähig und willens sind, denn 453 f . k
1008 454 k Der absolute Geist 559 eben die Einsicht von Begri=en ist es, was sie nicht wollen, so hätten sie es vor allem aus nur als Faktum zu konstatieren, daß irgend ein Philosoph oder irgend ein Mensch in der Tat den Allen Dingen an und für sich seiende Realität, Substantialität zugeschrieben und sie für Gott angesehen [habe], daß irgend einem Menschen solche Vorstellung in den Kopf gekommen sei außer ihnen selbst allein. (559) Kein Mensch hat je wirklich an einen pantheistischen Naturalismus geglaubt. Man verzichtet dann schon lieber ganz auf die Wörter »Gott« und »göttlich« insgesamt. Im Folgenden zeigt Hegel, dass die scheinbar extremste Form des Pantheismus, der Hinduismus, noch nicht einmal ein Polytheismus ist, da ihm implizit sogar ein Monotheismus zugrunde liegt. Dazu muss man nur zwischen den blumigen äußeren Formen und den wahren Gehalten unterscheiden. Dieses Faktum will ich noch in dieser exoterischen Betrachtung beleuchten; was nicht anders geschehen kann, als daß die Fakta selbst vor Augen gelegt werden. Wollen wir den sogenannten Pantheismus in seiner poetischen, erhabensten oder, wenn man will, krassesten Gestalt nehmen, so hat man sich dafür bekanntlich in den morgenländischen Dichtern umzusehen, und die breitesten Darstellungen finden sich in dem Indischen. Unter dem Reichtum, der uns hierüber geö=net ist, wähle ich aus der uns am authentischsten vorliegenden Bhagavad-Gita und unter ihren zum Überdruß ausgeführten und wiederholten Tiraden etliche der sprechendsten Stellen aus. In der zehnten Lektion (bei Schlegel S. 162) sagt Krischnas von sich: Ich bin der Odem, der in dem Leibe der Lebendigen inwohnt; ich bin der Anfang, die Mitte der Lebendigen, ingleichen ihr Ende. – Ich bin unter den Gestirnen die strahlende Sonne, unter den lunarischen Zeichen der Mond. Unter den heiligen Büchern das Buch der Hymnen, unter den Sinnen der Sinn, der Verstand der Lebendigen usf. Unter den Rudrus bin ich Sivas, Meru unter den Gipfeln der Berge, unter den Bergen Himalayas usf., unter den Tieren der Löwe usf., unter den Buchstaben bin ich A, unter den Jahreszeiten bin ich der Frühling usf. Ich bin der Same aller Dinge, es gibt keines, das ohne mich ist, usf. (559 f.) Hegels Überdruss an manchen Tiraden in der Bhagavad-gita ist nicht als totale Ablehnung zu lesen. Aber er stellt ihr die hohe Anerkennung der »poetischen, erhabensten« Texte der arabischen und
560 Die Philosophie 1009 persischen Tradition gegenüber. Dabei sagt Hegel selbst, dass ab jetzt die Darstellung »exoterisch« ist. Es werden, heißt das, wie in den Vorlesungen die Gedanken bloß durch Beispiele illustriert. Dabei wird erzählt und geurteilt. Es werden keine Formen analysiert, expliziert und die Explikation durch weitere Kommentierungen entwickelt. Daher kann auch ich meine Kommentare auf eine Steuerung des Lesefokus beschränken. Selbst in diesen ganz sinnlichen Schildereien gibt sich Krischnas (und man muß nicht meinen, außer Krischnas sei hier noch sonst Gott oder ein Gott; wie er vorhin sagte, er sei Sivas, auch Indras, so ist von ihm nachher (11. Lekt. S. 15) gesagt, daß auch Brahma in ihm sei, nur für das Vortre=lichste von Allem, aber nicht für Alles aus; es ist überall der Unterschied gemacht zwischen äußerlichen, unwesentlichen Existenzen und einer wesentlichen unter ihnen, die Er sei. Auch wenn es zu Anfang der Stelle heißt, er sei der Anfang, die Mitte und das Ende der Lebendigen, so ist diese Totalität von den Lebendigen selbst als einzelnen Existenzen unterschieden. Man kann hiemit selbst solche die Göttlichkeit in ihrer Existenz weit ausdehnende Schilderung noch nicht Pantheismus nennen; man müßte vielmehr nur sagen, die unendlich vielfache empirische Welt, das Alles, sei auf eine beschränktere Menge von wesentlichen Existenzen, auf einen Polytheismus, reduziert. Aber es liegt schon im Angeführten, daß selbst auch diese Substantialitäten des Äußerlichexistierenden nicht die Selbständigkeit behalten, um Götter genannt werden zu können, sogar Sivas, Indras usf. lösen sich in dem Einen Krischnas auf. (560) Interessant ist, dass Krishna alles Göttliche in sich weiß, also auch Shiva, Indra, sogar Brahma. Die scheinbare Langeweile beim Lesen dieser uralten Texte in ihrer uralten Form ergibt sich nach Hegel für uns heute also nur daraus, dass Krishna – übrigens wie der Christus in der Bewegung der Jesus-People – irgendwie alles Vortre=lichste instanziiert. Damit fehlt dann aber jeder Bezug auf das Reale. Dabei unterscheidet gerade auch das indische Denken »zwischen äußerlichen, unwesentlichen Existenzen und einer wesentlichen unter ihnen« und es wird »die unendlich vielfache empirische Welt« schon auf wesentliche Artformen reduziert, die unter Götternamen zusammengefasst werden, etwa nach dem Aspekt des Aufbaus und der Erhaltung (Vishnu), der Zerstörung und Endlichkeit (Shiva) oder 454 f . k
1010 455 k Der absolute Geist 560 f. des Denkens der Gesamtheit (Brahma) der indischen Götter-Trinität (Trimurti). Man beachte hier die hohe Anerkennung des indischen Denkens, die als solche die Kritik nicht annulliert. Zu dieser Reduktion geht es ausdrücklicher in folgender Schilderung (7. Lekt. S. 7 =.) fort; Krischnas spricht: Ich bin der Ursprung der ganzen Welt und ihre Auflösung. Vortre=licher als mich gibt es nichts. An mir hängt das Universum, wie an einer Schnur die Reihen der Perlen. Ich bin der Geschmack in den Wassern, der Glanz in Sonne und Mond, der mystische Name in allen heiligen Büchern usf., das Leben in allem Lebendigen usw., der Verstand der Verständigen, die Kraft der Starken usf. Er fügt dann hinzu, daß durch die Maya (Schlegel: Magia), die auch nichts Selbständiges, sondern nur die seinige ist, durch die eigentümlichen Qualitäten, die Welt getäuscht, ihn, den Höhern, den Unwandelbaren, nicht erkenne, daß diese Maya schwer zu durchbrechen sei; die aber Teil an ihm haben, haben sie überwunden usf. – Die Vorstellung faßt sich dann in den einfachen Ausdruck zusammen; am Ende vieler Wiedergeburten, sagt Krischnas, schreitet der mit der Wissenschaft Begabte zu mir fort: Vasudevas (d. i. Krischnas) ist das All, wer diese Überzeugung hat, dieser Großsinnige ist schwer zu finden. Andere wenden sich zu andern Göttern; ich belohne sie nach ihrem Glauben, aber der Lohn solcher wenig Einsichtigen ist beschränkt. Die Toren halten mich für sichtbar, – mich, den Unsichtbaren, Unvergänglichen, usf. – Dieses All, als welches sich Krischnas ausspricht, ist ebensowenig als wie das Eleatische Eine und die Spinozistische Substanz das Alles. Dies Alles vielmehr, die unendlich-viele sinnliche Vielheit des Endlichen ist in allen diesen Vorstellungen als das Akzidentelle bestimmt, das nicht an und für sich ist, sondern seine Wahrheit an der Substanz, dem Einen hat, welches, verschieden von jenem Akzidentellen, allein das Göttliche und Gott sei. (560 f.) Auf eine vergleichende Diskussion von Hegels Lesart der eleatischen Lehre über die eine Wahrheit und des Eins-und-Alles des Neuplatonismus verzichte ich hier ebenso wie über »die Spinozistische Substanz das Alles«. Ich habe dazu schon ausreichend viel gesagt. Hegel hat aber wohl recht, dass bei Krishna das »Alles« die »sinnliche Vielheit des Endlichen« meint und dabei »als das Akzi-
561 Die Philosophie 1011 dentelle bestimmt« ist. Hegel folgt dagegen Spinoza darin, dass alle Wahrheit nur über das eine Ganze der Substanz bestimmt ist, allein schon deswegen, weil Dinge, Sachen und Gegenstände gar nicht außerhalb ihrer Stellen in einem ganzen System prozessualer Relationen bzw. di=erentiell bedingter Inferenzen arttypisch oder begri=lich bestimmt sind. Es gibt daher einen interessanten, wenn auch leider nur impliziten Konsens großer Religionen und wahrer Philosophie, dass allein das Substantielle der ganzen Welt göttlich oder Gott ist. Die indische Religion geht ohnehin zur Vorstellung des Brahma fort, der reinen Einheit des Gedankens in sich selbst, worin das empirische Alles der Welt, wie auch jene nächsten Substantialitäten, welche Götter heißen, verschwinden. Colebroke und viele andere haben darum die indische Religion in ihrem Wesentlichen als Monotheismus bestimmt. Daß diese Bestimmung nicht unrichtig ist, geht aus dem wenigen Angeführten hervor. Aber diese Einheit Gottes, und zwar geistigen Gottes, ist so wenig konkret in sich, sozusagen so kraftlos, daß die indische Religion die ungeheure Verwirrung ist, ebensosehr der tollste Polytheismus zu sein. (561) Hegel kritisiert die indische Religion keineswegs dafür, dass sie »zur Vorstellung des Brahma« fortgeht, »der reinen Einheit des Gedankens in sich selbst, worin das empirische Alles der Welt, wie auch jene nächsten Substantialitäten, welche Götter heißen, verschwinden«. Ihm ist diese »Einheit Gottes, und zwar geistigen Gottes«, nur zu »wenig konkret in sich«, noch zu »kraftlos«. Daher die konstante Verwechslung des inneren Monotheismus des Hinduismus mit einem äußerlichen Polytheismus. Aber die Abgötterei des elenden Indiers, indem er den A=en oder was sonst anbetet, ist immer noch nicht jene elende Vorstellung des Pantheismus, daß Alles Gott, Gott Alles sei. (561) Die Rede vom ›elenden Inder‹ ist m. E. auch nicht, wie die heutige Sprache nahelegt, abwertend zu verstehen. Hegel will nur im Vorbeigehen ausdrücken, dass die Lage der indischen Menschen im Durchschnitt elend war. Wer darauf besteht, den Text anders zu lesen, soll bei seiner Willkür bleiben. Diese tut aber nichts zur Sache. Denn die Sache besteht am Ende in einem Wortspiel bzw. der ironischen Kritik an der ›weit elenderen‹ »Vorstellung des Pantheismus, daß Alles Gott, Gott Alles sei«. 455 k 455 k
1012 455 f . k 456 k Der absolute Geist 561 Der indische Monotheismus ist übrigens selbst ein Beispiel, wie wenig mit dem bloßen Monotheismus getan ist, wenn die Idee Gottes nicht tief in ihr selbst bestimmt ist. (561) Jetzt greift Hegel sogar noch die schematische Einteilung der Religionen in Poly- und Monotheismus an. Er erklärt, dass entscheidend ist, wie »die Idee Gottes« in einer realen Praxis religiöser Welthaltung und gewissenhaften Selbstbewusstseins »in ihr selbst bestimmt ist«. Denn jene Einheit, insofern sie abstrakt in sich und hiemit leer ist, führt es sogar selbst herbei, außer ihr das Konkrete überhaupt, sei es als eine Menge von Göttern oder von empirischen, weltlichen Einzelnheiten selbständig zu haben. Jenen Pantheismus sogar könnte man konsequent nach der seichten Vorstellung desselben noch einen Monotheismus nennen; denn wenn nach derselben Gott identisch mit der Welt ist, gäbe es, da es nur Eine Welt gibt, somit in diesem Pantheismus auch nur Einen Gott. Die leere numerische Einheit muß etwa von der Welt prädiziert werden, aber diese abstrakte Bestimmung hat weiter kein besonderes Interesse, – vielmehr ist diese numerische Einheit eben dies, in ihrem Inhalte die unendliche Vielheit und Mannigfaltigkeit der Endlichkeiten zu sein. Es ist aber jene Täuschung mit der leeren Einheit, welche allein die schlechte Vorstellung eines Pantheismus möglich macht und herbeiführt. Nur die im unbestimmten Blauen schwebende Vorstellung von der Welt als Einem Dinge, dem All, konnte man etwa mit Gott verknüpfbar ansehen; nur daraus wurde es möglich, daß man dafür hielt, daß gemeint worden sei, Gott sei die Welt; denn wäre die Welt, wie sie ist, als Alles, als die endlose Menge der empirischen Existenzen genommen worden, so hätte man doch wohl nicht es auch nur für möglich gehalten, daß es einen Pantheismus gegeben, der von solchem Inhalte behauptet habe, er sei Gott. (561 f.) Einheitlichkeit und innere Verschiedenheiten von Gott wie Welt sind in einem Sinn völlig trivial, wenn wir einmal begri=en haben, was es heißt, über eine Einheit oder einen Gegenstand zu reden. Schon über eine formale Mengenbildung wird ja jeder Pantheismus oder Polytheismus zum Monotheismus. Apollo ist dann nur ein Aspekt des Zeus und auf beide wird mit dem Ausdruck »ho theos« verwiesen, also »der Gott« oder »Gott« (deus). Andererseits wird schon wegen der verschiedenen Erläuterungen und Nennungen des Göttlichen
562 Die Philosophie 1013 jeder Monotheismus formal scheinbar zu einem Polytheismus – wie z. B. die Trinität des Christentums und seine Ikonographie für das Judentum oder den Islam. Falsch wird die ›pantheistische‹ Identifikation von Gott mit der Welt aller Dinge und Sachen nur, wenn »die unendliche Vielheit und Mannigfaltigkeit der Endlichkeiten« als göttlich angesehen werden – statt etwa die Grundtatsache, dass es uns als geistige Welt in der Welt gibt, wie man schon falsch von der Seite zu sagen geneigt ist. Denn man müsste genauer sagen, dass es zur Grundtatsache unseres Seins gehört, dass die Welt als Rahmen für alles Seiende so ist, wie sie ist. Hegel polemisiert also nur gegen die ›leere Einheit‹ der Menge aller realen Sachen und Erscheinung der Welt und damit gegen die ebenso falsche wie vage »Vorstellung von der Welt als Einem Dinge, dem All«. Gott mit der Welt zu identifizieren hätte ohnehin nur dann Sinn, wenn man unseren Geist hinzunimmt – so dass die Welt auch keineswegs bloß aus Dingen oder Erscheinungen besteht. Nur als Ausdruck einer geistigen Haltung zu allem, was es gibt, damit aber wesentlich auch zu uns selbst und allen geistigen Inhalten, hätte ein Pantheismus überhaupt Sinn. Will man, um noch einmal auf das Faktische zurückzukommen, das Bewußtsein des Einen, nicht nach der indischen Spaltung einesteils in die bestimmungslose Einheit des abstrakten Denkens, andernteils in die ermüdende, selbst litaneiartig werdende Durchführung am Besondern, sondern es in der schönsten Reinheit und Erhabenheit sehen, so muß man sich bei den Muhammedanern umsehen. Wenn z. B. bei dem vortre=lichen Dschelaleddin Rumi insbesondere die Einheit der Seele mit dem Einen, auch diese Einheit als Liebe hervorgehoben wird, so ist diese geistige Einheit eine Erhebung über das Endliche und Gemeine, eine Verklärung des Natürlichen und Geistigen, in welcher eben das Äußerliche, Vergängliche des unmittelbaren Natürlichen wie des empirischen, weltlichen Geistigen, ausgeschieden und absorbiert wird.149 (562) 149 Fußnote Hegels: Ich kann mich nicht enthalten, zum Behuf einer nähern Vorstellung etliche Stellen hier anzuführen, die zugleich eine Vorstellung von der bewundernswürdigen Kunst der Übertragung des Herrn Rückert, aus der sie genommen sind, geben mögen: 456 k
1014 Der absolute Geist Diese Haltung der Erhabenheit von Gott und Ich, Schöpfung und Welt findet Hegel »bei dem vortre=lichen Dschelaleddin Rumi«. Hier sei weit besser als bei Krishna »die Einheit der Seele mit dem Einen« samt der Liebe zu Gott und Welt im Enthusiasmus hervorgehoben. III. Ich sah empor, und sah in allen Räumen Eines, Hinab, und sah in allen Wellenschäumen Eines. Ich sah ins Herz, es war ein Meer, ein Raum der Welten Voll tausend Träumen, ich sah in allen Träumen Eines. Luft, Feuer, Erd’ und Wasser sind in Eins geschmolzen In deiner Furcht, daß dir nicht wagt zu bäumen Eines. Der Herzen alles Lebens zwischen Erd’ und Himmel Anbetung dir zu schlagen soll nicht säumen Eines. V. Obgleich die Sonn’ ein Scheinchen ist deines Scheines nur, Doch ist mein Licht und deines ursprünglich Eines nur. Ob Staub zu deinen Füßen der Himmel ist, der kreist; Doch Eines ist und Eines mein Sein und deines nur. Der Himmel wird zum Staube, zum Himmel wird der Staub, Und Eines bleibt und Eines, dein Wesen meines nur. Wie kommen Lebensworte, die durch den Himmel geh’n Zu ruh’n in engen Räumen des Herzensschreines nur? Wie bergen Sonnenstrahlen, um heller aufzublühn, Sich in die spröden Hüllen des Edelsteines nur? Wie darf Erdmoder speisend und trinkend Wasserschlamm, Sich bilden die Verklärung des Rosenhaines nur? Wie ward, was als ein Tröpflein die stumme Muschel sog, Als Perlenglanz die Wonne des Sonnenscheines nur? Herz, ob du schwimmst in Fluten, ob du in Gluten glimmst: Flut ist und Glut Ein Wasser; sei deines reines nur. IX. Ich sage dir, wie aus dem Tone der Mensch geformt ist: Weil Gott dem Tone blies den Odem ein der Liebe. Ich sage dir, warum die Himmel immer kreisen: Weil Gottes Thron sie füllt mit Widerschein der Liebe. Ich sage dir, warum die Morgenwinde blasen: Frisch aufzublättern stets den Rosenhain der Liebe. Ich sage dir, warum die Nacht den Schleier umhängt: Die Welt zu einem Brautzelt einzuweih’n der Liebe. Ich kann die Rätsel alle dir der Schöpfung sagen: Denn aller Rätsel Lösung ist allein die Liebe.
Die Philosophie 1015 Der Enthusiasmus der geistigen Einheit sei »Erhebung über das Endliche und Gemeine, eine Verklärung des Natürlichen und Geistigen«. Ich enthalte mich, die Beispiele von den religiösen und poetischen Vorstellungen zu vermehren, die man pantheistisch zu nennen gewohnt ist. Von den Philosophien, welchen man eben diesen Namen gegeben, z. B. der Eleatischen oder Spinozistischen, ist schon früher (§ 50 Anm.) erinnert worden, daß sie so wenig Gott mit der Welt identifizieren und endlich machen, daß in diesen Philosophien dies Alles vielmehr keine Wahrheit hat, und daß man sie richtiger als XV. Wohl endet Tod des Lebens Not, Doch schauert Leben vor dem Tod. So schauert vor der Lieb’ ein Herz, Als ob es sei vom Tod bedroht. Denn wo die Lieb’ erwachet, stirbt Das Ich, der dunkele Despot. Du laß ihn sterben in der Nacht Und atme frei im Morgenrot! Wer wird in dieser über das Äußerliche und Sinnliche sich aufschwingenden Poesie die prosaische Vorstellung erkennen, die von dem sogenannten Pantheismus gemacht wird, und die vielmehr das Göttliche in das Äußerliche und Sinnliche herabversetzt? Die reichen Mitteilungen, welche uns Hr. Tholuck in seiner Schrift: Blütensammlung aus der morgenländischen Mystik, von den Gedichten Dschelaleddins und anderer gibt, sind eben in dem Gesichtspunkte gemacht, von welchem hier die Rede ist. In der Einleitung beweist Herr Th., wie tief sein Gemüt die Mystik erfaßt hat; er bestimmt daselbst auch näher den Charakter der morgenländischen und den der abendländischen und christlichen gegen dieselbe. Bei ihrer Verschiedenheit haben sie die gemeinschaftliche Bestimmung, Mystik zu sein. Die Verbindung der Mystik mit dem sogenannten Pantheismus, sagt er, S. 33, enthält die innere Lebendigkeit des Gemüts und Geistes, welche wesentlich darin besteht, jenes äußerliche Alles, das dem Pantheismus zugeschrieben zu werden pflegt, zu vernichten. Sonst läßt Hr. Th. es bei der gewöhnlichen unklaren Vorstellung von Pantheismus bewenden; eine gründlichere Erörterung derselben hatte zunächst für den Gefühlsstandpunkt des Hrn. Verfs. kein Interesse; man sieht ihn selbst aber durch eine nach dem gewöhnlichen Ausdruck ganz pantheistisch zu nennende Mystik von wunderbarer Begeisterung ergri=en. Wo er jedoch sich auf das Philosophieren einläßt (S. 12 f.), kommt er über den gewöhnlichen Standpunkt der VerstandesMetaphysik und ihre unkritischen Kategorien nicht hinaus. 457 f . k
1016 458 f . k Der absolute Geist 563 =. Monotheismen und, in Beziehung auf die Vorstellung von der Welt, als Akosmismen zu bezeichnen hätte. Am genauesten würden sie als die Systeme bestimmt, welche das Absolute nur als die Substanz fassen. (563 =.) Ich lasse mich, wie oben schon gesagt, nicht auf eine Besprechung von Hegels neuplatonisch angehauchter Deutung der Philosophie der Eleaten ein. Spinoza ist zumindest kein Pantheist, der die Erscheinungen schon für göttlich halten würde. Der schwierige Titel »Akosmismus« bedeutet wohl nur, dass der Kosmos der Dinge nicht die Welt ist, welche Spinoza als Natur mit Gott identifiziert. Das Problem Spinozas aber ist tatsächlich, dass der zeitallgemeine Blick, der »das Absolute nur als die Substanz fassen« will, an der Subjektivität aller realen Weltbezugnahmen vorbeigeht. Er fasst damit die generisch-ewigen Sätze des begri=lichen Wissens über Arttypen falsch auf. Spinoza arbeitet zwar den Unterschied zwischen bloßen empirischen Akzidenzen der Erscheinungswelt und der Welt als göttlicher Substanz gut heraus, sieht aber nicht, dass diese Substanz immer auch Subjekt und nie bloß Gegenstand ist, und zwar insbesondere als allgemeines Wir (A), konkret-generisches Wir (B) und distributives Wir (E ).150 In genau diesem dreifachen Sinn ist der dreigeteilte Gott dreifaltiger Geist. Dabei ist interessanterweise der Heilige Geist die Idee als besondere, aber je von Einzelsubjekten zu aktualisierende Urteilskraft. Das Bild Jupiters, Jahwes oder Gottvaters steht für den objektiven Geist tradierter Sittlichkeit und allgemeinen Wissens an sich. Das Bild des Menschensohnes steht für den subjektiven Geist des jeweiligen Individuums als einzelnes Vollzugssubjekt hier und jetzt. Von den orientalischen, insbesondere muhammedanischen Vorstellungsweisen kann man mehr sagen, daß das Absolute als die schlechthin allgemeine Gattung erscheint, welche den Arten, den Existenzen, einwohnt, aber so, daß diesen keine wirkliche Realität zukommt. Der Mangel dieser sämtlichen Vorstellungsweisen und Systeme ist, nicht zur Bestimmung der Substanz als Subjekt und als Geist fortzugehen. (565) 150 Beispielssätze sind: »Wir Menschen bilden unsere Begri=e« (A). »Wir Deutschen haben eine Verantwortung für unsere Vergangenheit« (B). »Wir alle singen gerade ein Kirchenlied« (E ).
565 Die Philosophie 1017 Im Folgenden geht es um einen Mangel an Verständnis des absoluten Geistes im subjektiven Vollzug, also auch im individuellen Denken und gemeinsamen Handeln. Krishna, Parmenides, Plotin, die Patristik, Rumi und Spinoza meinen alle, so Hegel, das Absolute sei »die schlechthin allgemeine Gattung« aller Arttypen. Diese Typen zeigen sich in den Einzelphänomenen, so aber, dass Letzteren »keine wirkliche Realität zukommt«. Hegel spricht hier nur scheinbar im Indikativ, in Wahrheit im Modus der bloßen Erwähnung. D. h., er redet über Urteile anderer Denker. Anders als z. B. mein leider viel zu früh verstorbener Freund und Kollege Jens Halfwassen ausgeführt hat, setzt sich Hegel damit vom Neuplatonismus (und Spinozismus) ab. Ich wiederhole dazu den von mir eben ausgelegten Satz: »Der Mangel dieser sämtlichen Vorstellungsweisen und Systeme ist, nicht zur Bestimmung der Substanz als Subjekt und als Geist fortzugehen.« Diese Vorstellungsweisen und Systeme gehen von dem Einen und gemeinschaftlichen Bedürfnisse aller Philosophien wie aller Religionen aus, eine Vorstellung von Gott und dann von dem Verhältnis desselben und der Welt zu fassen. (565) In der folgenden Überlegung führt Hegel kurz die logischen Missverständnisse vor, die zur Religion des Erhabenen und zu einer Philosophie der ewigen Substanz führen. Man wünscht sich eine einheitliche und gegenständliche »Vorstellung von Gott«. Man will dann etwas wissen oder glauben über die Relationen zwischen Gott und den Dingen und Sachen der Welt. In der Philosophie wird es näher erkannt, daß aus der Bestimmung der Natur Gottes sich sein Verhältnis zur Welt bestimmt. (565) Die Philosophie weiß aber eigentlich schon seit der Antike, dass die relationalen Verhältnisse zwischen Gott und Welt sich nur aus der logisch-definitorischen »Bestimmung der Natur Gottes« ergeben können. Dabei gibt es allerlei Dar- und Vorstellungen von Gott, auch Phantasien dazu, wie ›er‹ auf Gemüt und Gefühl wirkt – was ›er‹ ja in der Tat auch tut, nämlich indem es das Gemüt und Gefühl selbst tut. Gott ›wirkt‹ hier also so, wie der Regen regnet. Der reflektierende Verstand fängt damit an, die Vorstellungsweisen und Systeme des Gemüts, der Phantasie und der Spekulation zu verwerfen, welche den Zusammenhang Gottes und der Welt ausdrücken, und um Gott rein im Glauben oder Bewußtsein zu haben, 459 k 459 k 459 k
1018 459 k 459 k Der absolute Geist 565 wird er als das Wesen von der Erscheinung, als der Unendliche von dem Endlichen geschieden. (565) Der reflektierende Verstand fängt seine reinigende Kritik damit an, dass er die Phantasien und Spekulationen zu verwerfen beginnt, »welche den Zusammenhang Gottes und der Welt ausdrücken«. Er will »Gott rein im Glauben oder Bewußtsein« haben. Das erreicht man am schnellsten, indem man ihn »als das Wesen von der Erscheinung, als der Unendliche von dem Endlichen« unterscheidet. Damit unterstellt man aber nur noch einen ontisch-transzendenten Denk- und Redegegenstand, der unter den Namen oder Titel »Gott« gestellt ist. Eben damit hat man die traditionalen Wesensbestimmungen schon über Bord gehen lassen. Nach dieser Scheidung tritt aber die Überzeugung auch von der Beziehung der Erscheinung auf das Wesen, des Endlichen auf den Unendlichen, und so fort, und damit die nun reflektierende Frage nach der Natur dieser Beziehung ein. Es ist in der Form der Reflexion über sie, wo die ganze Schwierigkeit der Sache liegt. Diese Beziehung ist es, welche das Unbegreifliche von jenen, die von Gottes Natur nichts wissen wollen, genannt wird. (565 f.) Von der Seite her gesehen wird, wie noch bei Kant, das Wesen oder Gott und damit auch die generische »Beziehung der Erscheinung auf das Wesen, des Endlichen auf den Unendlichen« usw. notwendigerweise zu etwas Unerkennbaren. Am Schlusse der Philosophie ist nicht mehr der Ort, auch überhaupt nicht in einer exoterischen Betrachtung, ein Wort darüber zu verlieren, was Begreifen heiße. Da aber mit dem Auffassen dieser Beziehung das Auffassen der Wissenschaft überhaupt und alle Beschuldigungen gegen dieselbe zusammenhängen, so mag noch dies darüber erinnert werden, daß, indem die Philosophie es allerdings mit der Einheit überhaupt, aber nicht mit der abstrakten, der bloßen Identität und dem leeren Absoluten, sondern mit der konkreten Einheit (dem Begri=e) zu tun und in ihrem ganzen Verlaufe ganz allein es damit zu tun hat, – daß jede Stufe des Fortgangs eine eigentümliche Bestimmung dieser konkreten Einheit ist, und die tiefste und letzte der Bestimmungen der Einheit die des absoluten Geistes ist. (566) Am Schluss seiner gesamten Philosophie sei es eigentlich viel zu
566 Die Philosophie 1019 spät, sagt Hegel, noch einmal etwas zum Begreifen in der Philosophie zu sagen. Und doch gehe es der Philosophie um das Begreifen des Ganzen und damit um die Einheit der Welt, aber so, dass der Unterschied zwischen Welt und Natur, Begri= und Artform (bzw. Wort) und eben damit auch Geist und Natur klarwerden möge. Der spekulative Blick der Philosophie ist nur der theoretischen Form nach der des ›göttlichen‹ Geistes. Die Rede über diesen darf weder hypostasiert noch vereinnahmt werden. Das Absolute in »der konkreten Einheit (dem Begri=e)« ist und bleibt je mein und je unser Geist im wirklichen vernünftigen Urteilen und Handeln, im Seinsvollzug. Man darf den Geist zwar durchaus in seiner Erhabenheit feiern, aber eben nicht als etwas uns Äußerliches oder gar Außerweltliches, sondern als Form in unserem eigenen personalen Leben. Denjenigen nun, welche über die Philosophie urteilen und sich über sie äußern wollen, wäre zuzumuten, daß sie sich auf diese Bestimmungen der Einheit einließen und sich um die Kenntnis derselben bemühten, wenigstens so viel wüßten, daß dieser Bestimmungen eine große Vielheit und daß eine große Verschiedenheit unter ihnen ist. Sie zeigen aber so wenig eine Kenntnis hievon und noch weniger eine Bemühung damit, daß sie vielmehr, sowie sie von Einheit – und die Beziehung enthält sogleich Einheit – hören, bei der ganz abstrakten, unbestimmten Einheit stehen bleiben und von dem, worin allein alles Interesse fällt, nämlich der Weise der Bestimmtheit der Einheit, abstrahieren. (566) Hegel weiß genau, dass eine seiner tiefsten und wichtigsten Einsichten die logische Form jeder Einheit, also der formalen Gegenstände des Denkens betri=t, die Identität bzw. Gleichheit überhaupt, vermittelt durch Gleichsetzungen vieler verschiedener Präsentationen, Erscheinungen und symbolischen Repräsentationen der betre=enden Einheit. Man kann und muss diese Form als Form der Abstraktion begreifen. Es geht darum, sie konkret zu beherrschen. Wenn man nur erst formal mit Gleichungen und Namen rechnet, weiß man sozusagen noch nicht oder nicht mehr, wovon man redet. Von der Abstraktion selbst als logischem Verfahren transsubjektiver Bezugnahme hat man damit schon abstrahiert. Das gilt für die Rede von Dingen, Zahlen oder Mengen nicht anders als für die von Gott und der Welt. 459 f . k
1020 459 f . k Der absolute Geist 566 So wissen sie nichts über die Philosophie auszusagen, als daß die trockne Identität ihr Prinzip und Resultat, und daß sie das Identitätssystem sei. (566) Hegel wehrt jetzt noch eine bis heute übliche Polemik gegen das ›Identitätssystem‹ und damit eine Kritik an ihm und an Schelling ab – auch wenn sein früherer Kollege nie anerkennt, dass Hegel sich weiter mit ihm solidarisiert. In wenigen Worten erklärt er, dass die Kritiker und auch andere Leute die analysierte Identität von Geist und Welt offenbar nur so lesen können, als würde eine unmittelbare Identität von Geist und Natur behauptet, so dass nach der naturalistischen Lesart der Identitätsphilosophie alles Natur sein soll und sich daher gemäß den begri=lichen Schemata der Naturwissenschaften ›erklären‹ ließe – oder auch nur vom erhabenen Gott als natürliche Welt erscha=en ist. Nach der Lesart der Identitätsphilosophie als absolutem Idealismus im naiven Sinn, der nicht der Hegels ist, ist irgendwie alles Geist. Man mag diese Vorstellung im subjektiven Idealismus von George Berkeley zu finden meinen.151 Der Witz der zunächst gemeinsamen Unternehmung Schellings und Hegels bestand nun einerseits in einer Verweltlichung des Geistes, welche die Gefahren des Naturalismus und damit auch aller Naturalisierung von Epistemologie und Verstand vermeidet, andererseits in einer wissens- und wahrheitstheoretischen begri=slogischen Analyse. Es ging darum, alle ontischen Hypostasierungen reflexionslogischer Gegenstände aufzuheben. Im Fall des Geistes besteht der zentrale Fortschritt Hegels gegenüber Kant und dessen Nachfolgern bis in die Analytische Philosophie des 20. Jahrhunderts darin, dass er den logischen Unterschied zwischen einem bloß erst schematischen Verstand, der sprachlich nur auf der generischen Ausdrucksebene und handlungsbezogen nur auf der allgemeinen Formenebene operiert, und der dialektischen 151 In jedem Fall sind die begri=lichen Schemata der Naturwissenschaften von uns verfasste, aber an allgemeine Erfahrungen angepasste Darstellungsund Erklärungsformen. Das betri=t, wie Hegel vorführt, klarerweise den Mechanismus der Massenpunktbewegungen, dann aber auch den Chemismus aller dispositionellen Reaktionen in der gesamten Physik und schließlich die Teleologie in allen ethologischen Darstellungen autopoietischen Lebens.
Die Philosophie 1021 Vernunft kontext-, situations- und sprechaktbezogener Urteilskraft klar erkennt. Der Verstand denkt, urteilt, schließt und handelt nur erst formal, sozusagen schriftwörtlich, fast mathematisch. Dialektische Vernunft aber verlangt ein situationsbezogenes Urteilen vor dem Hintergrund von Kenntnis, Anerkennung und freier Anwendung tradierter Konventionen des Normalfallurteilens, Defaultschließens und kooperativen Handelns. Kant ›vereinfacht‹ alles in unzulässiger Weise. Ein Beispiel ist das unmittelbare Verfahren der gedanklichen Universalisierung subjektiver Maximen in einer autonomen gesetzesprüfenden Vernunft. Eben damit kollabieren Vernunft und Urteilskraft in die bloße Rationalität schematischen Regelfolgens. Zugleich halten auf unbemerkte Weise Zufall und Willkür Einzug in die seit Kant sich weltweit verbreitende Illusion einer verfahrensförmigen praktischen Vernunft. Denn es sind rein subjektive Einfälle möglicher ›Maximen‹ als Formschemata des Urteilens, Schließens und Handelns, die den Ausgang des autonomistisch-moralischen Urteilens in der gedachten Universalisierung der Maxime als allgemeine Norm oder Regel bilden. Alles tradierte Wissen und insbesondere alle etablierten Kooperationsformen der Sittlichkeit und unsere allgemeinen Erfahrungen mit ihnen werden damit zumindest zunächst formal aufgehoben. Damit entsteht die Gefahr, dass sie vom ›selbstdenkenden‹ revolutionären Subjekt so mit Füßen getreten werden wie im orientalischen Mythos die Anordnungen des Gottes durch Luzifer, Gottes Generalbevollmächtigten, also durch den sittlich bösen Geist, der sich autonomistisch selbst seine Normen des Wahren, Schönen und Guten setzt – und sie dabei sogar für von Gott anerkennbar hält. Im Fall der Natur liefert Hegel eine klare Disambiguierung zwischen dem bloß erst Natürlichen als dem Gegenbegri= des Geistes und einer umfänglichen Welt, zu der auch unser eigenes Leben gehört. Daher kann er zeigen, wie der Naturalismus im E=ekt zu einer ReAnimalisierung des Menschen führen, zunächst im kosmologischbiologistischen Welt- und Selbstbild, das als Ideologie gegen alle Religion gestellt wird, dann aber auch in der ›Freiheit‹ und ›Rationalität‹ des homo oeconomicus als Charaktertyp eines Bewohners eines geistigen Tierreichs und schließlich in einer politisch-rechtlichen Abscha=ung der Würde der freien Person und der Grundformen des
1022 460 k 460 k Der absolute Geist 566 f. Rechts zugunsten eines kollektiven Nutzens einer Menge von Individuen. Dabei spielt es für den Fehler der Form nach keine Rolle, ob man das Kollektiv weit oder eng definiert, auch wenn man bis heute meint, hierin läge der wesentliche Unterschied zwischen Unmoral und Moral. Man unterscheidet daher einen Nationalismus, der den kollektiven Nutzen im Nationalstaat halten will – unter einem Slogan wie »Deutschland über alles« oder auch »America First« –, von einem Sozialismus, der eine soziale Schicht weltweit emanzipieren, also gleichstellen will, und diesen von einer utilitaristischen ›Ethik‹, welche die ›Menschheit‹ großzügig um höhere Tierarten erweitert und allerlei weitere ökologische Pflichten naturethisch postuliert. Alle drei Nutzensethiken opfern aber die Einzelnen dem Allgemeinen. An diesen begri<osen Gedanken der Identität sich haltend, haben sie gerade von der konkreten Einheit, dem Begri=e und dem Inhalte der Philosophie, gar nichts, sondern vielmehr sein Gegenteil gefaßt. (566 f.) Die Identitäten von Geist und Welt, auch von wahrer Sittlichkeit und Religion, von individueller Seele und Gott, nämlich von subjektivem und objektivem Geist in der Person, lassen sich nicht so wie mathematische Gleichungen verstehen, obwohl selbst in diesen immer ganz verschiedene ›Dinge‹ gleichgesetzt werden. Es ist daher kein Wunder, dass alle, die gleichheits- und abstraktionslogisch nicht ausreichend gebildet sind, Hegels Gedankenführung nicht nachvollziehen können. Denn diese besteht gerade darin, zwischen den vielen äquivalenten äußeren Präsentationen und Repräsentationen, auch den Vollzügen und den Vergegenwärtigungen der Einheit des individuellen bzw. gemeinsamen Geistes, also der Person und der Personengemeinschaft(en), zu unterscheiden. Gedanken und Inhalte sind allgemein. Sie sind an sich allen Personen zugänglich. Eine Person bin ich in der Allgemeinheit meiner Besonderheiten. Im Verhältnis zu den anderen personalen Subjekten bin ich daher ebenso ganz verschieden wie ganz gleich. Wer es fassen kann, der fasse es. Sie verfahren in diesem Felde wie in dem physischen die Physiker, welche gleichfalls wohl wissen, daß sie mannigfaltige sinnliche Eigenschaften und Sto=e, – oder gewöhnlich nur Sto=e (denn die Eigenschaften verwandeln sich ihnen gleichfalls in Sto=e), vor sich
567 Die Philosophie 1023 haben und daß diese Sto=e auch in Beziehung aufeinander stehen. Nun ist die Frage, welcher Art diese Beziehung sei, und die Eigentümlichkeit und der ganze Unterschied aller natürlichen, unorganischen und lebendigen Dinge beruht allein auf der verschiedenen Bestimmtheit dieser Einheit. Statt aber diese Einheit in ihren verschiedenen Bestimmtheiten zu erkennen, faßt die gewöhnliche Physik (die Chemie mit eingeschlossen) nur die eine, die äußerlichste, schlechteste auf, nämlich die Zusammensetzung, wendet nur sie in der ganzen Reihe der Naturgebilde an und macht es sich damit unmöglich, irgend eines derselben zu fassen. – (567) Hegels Urteil, dass es in der Atomistik unmöglich sei, irgendein reales Naturgebilde konkret zu erfassen, hebt den alles entscheidenden Punkt hervor. Dieser betri=t sozusagen Platons Methexis, also die Frage nach der Projektionsform des theoretischen Modells auf die realen Erscheinungen und Phänomene. Dabei geht es erstens um die Relationen zwischen den theoretischen Entitäten im Modell der Mathesis, zweitens um die prozessualen Verhältnisse zwischen den Erscheinungen, drittens um die Beziehungen zwischen modellinternen Entitäten und Relationen mit realen Dingen, Sachen und Prozessen. Nur so lassen sich die »Eigentümlichkeit und der ganze Unterschied aller natürlichen, unorganischen und lebendigen Dinge« begreifen. Das Begreifen »beruht allein auf der verschiedenen Bestimmtheit dieser Einheit«. Es wäre reiner Unverstand, das zu bezweifeln. Jener schale Pantheismus geht so unmittelbar aus jener schalen Identität hervor; die, welche dies ihr eigenes Erzeugnis zur Beschuldigung der Philosophie gebrauchen, vernehmen aus der Betrachtung der Beziehung Gottes auf die Welt, daß von dieser Kategorie, Beziehung, das Eine, aber auch nur das Eine Moment, und zwar das Moment der Unbestimmtheit, die Identität ist; nun bleiben sie in dieser Halbheit der Auffassung stehen und versichern faktisch falsch, die Philosophie behaupte die Identität Gottes und der Welt, und indem ihnen zugleich beides, die Welt so sehr als Gott, feste Substantialität hat, so bringen sie heraus, daß in der philosophischen Idee Gott zusammengesetzt sei aus Gott und der Welt; und dies ist dann die Vorstellung, welche sie vom Pantheismus machen und welche sie der Philosophie zuschreiben. Die, welche in ihrem Denken und Auffassen der Gedanken nicht über solche Kategorien 460 k
1024 460 k Der absolute Geist 567 f. hinauskommen und von denselben aus, die sie in die Philosophie, allwo dergleichen nicht vorhanden ist, hineintragen, ihr die Krätze anhängen, um sie kratzen zu können, vermeiden alle Schwierigkeiten, die sich beim Auffassen der Beziehung Gottes auf die Welt hervortun, sogleich und sehr leicht dadurch, daß sie eingestehen, diese Beziehung enthalte für sie einen Widerspruch, von dem sie nichts verstehen; daher sie es bei der ganz unbestimmten Vorstellung solcher Beziehung und ebenso der nähern Weisen derselben, z. B. der Allgegenwart, Vorsehung usf., bewenden lassen müssen. (567 f.) Hegel kehrt nun deswegen zum Pantheismus zurück, weil man diesen ganz o=enbar leicht verwechselt mit der Philosophie des dialektischen Monismus, also Hegels eigener Philosophie, da diese auch eine Art der Identität von Gott und Welt, Geist und Natur lehrt. Dabei fokussiert er jetzt auf Naivitäten in der Rede von Beziehungen. Man meint, in der »Beziehung Gottes auf die Welt« müsse Gott eine unbestimmte Entität mit Identität sein, so dass die Form einer mathematischen Relation g R w angenommen wird mit Identitätsbedingungen für g , also Gott, und w als Element oder Moment in der Welt, wenn man nicht gleich die ganze Welt w als ein Ding oder einen totalen Gegenstand auffasst. In einem nächsten Schritt bleibt der Verstand vollends stehen, indem man Hegels Philosophie so liest, als behaupte sie einfach »die Identität Gottes und der Welt«, also g = w. Man meint dabei, »beides, die Welt so sehr als Gott«, hätte »feste Substantialität«. Da die Welt w aus allem Einzelnen und Besonderen zusammengesetzt und Beliebiges die eine und einzige Welt w repräsentiert, ist auch Gott von der Art, dass ›er‹ sich auf alle Dinge w in der Welt verteilt. In diesem Sinn ist ›er‹ in allen Dingen, wobei manche das »in« leider so lesen, als wohne Gott in Poren der Materie wie ein Maulwurf in Erdlöchern. Glauben heißt in diesem Sinne nichts anderes, als nicht zu einer bestimmten Vorstellung fortgehen, auf den Inhalt sich weiter nicht einlassen wollen. (568) Glauben heißt nach Hegels ironischer Polemik, »auf den Inhalt sich weiter nicht einlassen« zu wollen. Die Kritik tri=t aber nicht nur die Theologie. Sie tri=t auch die vermeintliche ›skeptische‹ Bescheidenheit einer bloß pragmatischen Wissenstheorie nach Hume und Kant, gemäß welcher wir jeweils nur einigermaßen gut mit Erschei-
568 Die Philosophie 1025 nungen und Techniken umgehen, aber über die Welt an sich nichts wissen können. Daß Menschen und Stände von ungebildetem Verstande mit unbestimmten Vorstellungen befriedigt sind, ist zusammenstimmend; aber wenn gebildeter Verstand und Interesse für die reflektierende Betrachtung in dem, was für höheres und das höchste Interesse anerkannt wird, mit unbestimmten Vorstellungen sich begnügen will, so ist schwer zu unterscheiden, ob es dem Geiste mit dem Inhalt in der Tat Ernst ist. (568) Man mag verstehen, dass Menschen normalerweise mit anderem beschäftigt sind als mit dem Nachdenken über sich. Man wird sich daher »mit unbestimmten Vorstellungen« über Geist, Seele und Gott befriedigt zeigen. Aber den Theologen, Philosophen oder auch nur den Personen mit höherer Bildung können wir das so nicht durchgehen lassen. Dabei mag es schwer sein zu unterscheiden, ob es den Leuten ernst ist, wenn sie sich so naiv zu den religiösen und ethischen Inhalten verhalten, wie sie sagen, indem sie deklarieren, die Gegenstände ihres Glaubens seien nicht erkennbar. Diese Erklärung, man könne etwas nicht wissen oder verstehen, schützt nur scheinbar vor jeder Kritik an den Mängeln des eigenen Kennens und Verstehens.152 Wenn es aber denen, die an dem angegebenen kahlen Verstande hängen, z. B. mit der Behauptung der Allgegenwart Gottes in dem Sinne Ernst würde, daß sie den Glauben daran in bestimmter Vorstellung sich präsent machten, in welche Schwierigkeit würde der Glaube, den sie an wahrhafte Realität der sinnlichen Dinge haben, sie verwickeln? Sie würden Gott nicht wohl wie Epikur in den Zwischenräumen der Dinge, d. i. in den Poren der Physiker, wohnen lassen wollen, als welche Poren das Negative sind, was neben dem Materiell-Reellen sein soll. Schon in diesem Neben würden sie ihren Pantheismus der Räumlichkeit haben, – ihr Alles, als das Außereinander des Raumes bestimmt. (568) Hegel selbst bringt jetzt noch einmal Epikurs nette Geschichte von den »Zwischenräumen der Dinge« ins Spiel. In diese leeren Räu152 Wunderbar selbstimmunisierend ist die Lehre, es sei schlimmste Todsünde, nämlich Sünde gegen den Heiligen Geist, begreifen zu wollen, was der haltbare Sinn der Rede von Gott und religiösen Praxisformen ist. 460 f . k 461 k
1026 461 k Der absolute Geist 568 f. me kann man allerlei unsichtbare geistige und göttliche Kräfte des Denkens, also Seelen und Dämonen ähnlich wie die Kräfte und Dispositionen der Physiker und Chemiker latent wohnen lassen – sozusagen neben dem Materiell-Reellen. Das Bild ist luftig-lustiger Unfug. Indem sie aber Gott eine Wirksamkeit auf und in dem erfüllten Raum, auf und in der Welt, in seiner Beziehung auf sie, zuschreiben würden, so hätten sie die unendliche Zersplitterung göttlicher Wirklichkeit in die unendliche Materialität, sie hätten die schlechte Vorstellung, welche sie Pantheismus oder All-Eins-Lehre nennen, in der Tat nur als die eigene notwendige Konsequenz ihrer schlechten Vorstellungen von Gott und der Welt. Dergleichen wie die vielbesprochene Einheit oder Identität aber der Philosophie aufzubürden, ist eine so große Sorglosigkeit um Gerechtigkeit und Wahrheit, daß sie nur durch die Schwierigkeit, sich Gedanken und Begri=e, d. h. nicht die abstrakte Einheit, sondern die vielgestalteten Weisen ihrer Bestimmtheit, in den Kopf zu scha=en, begreiflich gemacht werden könnte. Wenn faktische Behauptungen aufgestellt werden und die Fakta Gedanken und Begri=e sind, so ist es unerläßlich, dergleichen zu fassen. Aber auch die Erfüllung dieser Anforderung hat sich dadurch überflüssig gemacht, daß es längst zu einem ausgemachten Vorurteil geworden, die Philosophie sei Pantheismus, Identitätssystem, Alleinslehre, so daß derjenige, der dies Faktum nicht wüßte, entweder nur als unwissend über eine bekannte Sache oder als um irgend eines Zwecks willen Ausflüchte suchend behandelt würde. – Um dieses Chorus willen denn habe ich geglaubt, mich weitläufiger und exoterisch über die äußere und innere Unwahrheit dieses angeblichen Faktums erklären zu müssen; denn über die äußerliche Fassung von Begri=en als bloßen Faktis, wodurch eben die Begriffe in ihr Gegenteil verkehrt werden, läßt sich zunächst auch nur exoterisch sprechen. Die esoterische Betrachtung aber Gottes und der Identität wie des Erkennens und der Begri=e ist die Philosophie selbst. (568 f.) Wenn man logisch und damit sinnkritisch zu denken in der Lage ist, kann man nicht von unterschiedenen Sachen reden, die mit keinen Unterscheidungen in der Welt auf prinzipiell nachvollziehbare Weise zusammenhängen. Das gilt für Tatsachen und mögliche Ereignisse ebenso wie für Gedanken und Begri=e.
569 Die Philosophie 1027 § 574 Dieser Begri= der Philosophie ist die sich denkende Idee, die wissende Wahrheit (§ 236), das Logische mit der Bedeutung, daß es die im konkreten Inhalte als in seiner Wirklichkeit bewährte Allgemeinheit ist. Die Wissenschaft ist auf diese Weise in ihren Anfang zurückgegangen, und das Logische so ihr Resultat als das Geistige, daß es aus dem voraussetzenden Urteilen, worin der Begri= nur an sich und der Anfang ein Unmittelbares war, hiemit aus der Erscheinung, die es darin an ihm hatte, in sein reines Prinzip zugleich als in sein Element sich erhoben hat. (569) Philosophie ist »esoterische Betrachtung« Gottes im Sinne einer intensiven spekulativen, also auf das Ganze gehenden Analyse des Begri=s und der Idee der Wahrheit, damit dann auch des Guten und Perfekten, also des Wissens, des personalen Ethos und der Schönheit. Das Absolute ist dabei immer als das (plurale) Subjekt im Seinsvollzug zu begreifen. Mit diesem Begri= der Philosophie wird klar, dass wir sie, wie schon Aristoteles, als das Wissen des Wissens, als Wissenschaft von den Wissenschaften begreifen können und müssen. Logik ist dabei, wie ich in der Kommentierung der hegelschen Texte immer wieder hervorgehoben habe, explizite Artikulation eines für das begri=liche Unterscheiden, Schließen und Verstehen grundlegenden generisch-allgemeinen Wissens, das, wie Hegel hier sagt, »in seiner Wirklichkeit bewährte Allgemeinheit ist«. Philosophie als Wissenschaft der Logik und, in der Realphilosophie, als logisches Wissen über Wissensbereiche und Wissensformen hat damit alles Geistige zum Thema und kann am Ende sagen, was das Geistige ist, worin es besteht, wer oder was also der (göttliche) Geist ist und damit was das Wort »Gott« bedeutet. Am Anfang waren Sein, Wesen und Begri= im Urteilen vorausgesetzt und damit nur erst an sich, empraktisch, implizit bekannt. Jetzt sind sie erkannt, und zwar über eine Phänomenologie ihrer Erscheinungen und eine logisch analysierte Reflexion auf sie als Gegenstandsund als Vollzugsformen, also als Substanz und als Subjekt des Geistigen – im personalen Leben der Individuen im je präsentischen Subjektsein. 462
1028 462 462 Der absolute Geist 569 § 575 Es ist dieses Erscheinen, welches zunächst die weitere Entwicklung begründet. (569) Es ist die Phänomenologie der realen Erscheinungsformen des Geistes, mit der alle kritische Philosophie und Logik zu beginnen hat. Die weitere Entwicklung ergibt sich aus der Präsuppositionsanalyse empraktischen Könnens, also des eigenen Seins und Lebens, dann auch gleich des Redens und Handelns. Die erste Erscheinung macht der Schluß aus, welcher das Logische zum Grunde als Ausgangspunkt und die Natur zur Mitte hat, die den Geist mit demselben zusammenschließt. Das Logische wird zur Natur, und die Natur zum Geiste. Die Natur, die zwischen dem Geiste und seinem Wesen steht, trennt sie zwar nicht zu Extremen endliche Abstraktion, noch sich von ihnen zu einem Selbständigen, das als Anderes nur Andere zusammenschlösse; denn der Schluß ist in der Idee und die Natur wesentlich nur als Durchgangspunkt und negatives Moment bestimmt und an sich die Idee; aber die Vermittlung des Begri=s hat die äußerliche Form des Übergehens, und die Wissenschaft die des Ganges der Notwendigkeit, so daß nur in dem einen Extreme die Freiheit des Begri=s als sein Zusammenschließen mit sich selbst gesetzt ist. (569 f.) Jetzt greift Hegel noch einmal seine drei Schlussfiguren E -B-A, B-A-E und B-E -A auf, was den Schluss des Textes schwierig macht, obwohl es nur um einen Kommentar zum Verhältnis der drei Teile der Enzyklopädie des Wissens der Philosophie, also Logik, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes geht. Hegel erklärt, dass in der Wissenschaft der Logik das Logische der Ausgangspunkt A ist, die Natur bzw. das Wissen über die Natur die Mitte B sei, die das Logische bzw. das Wissen über den Begri= mit dem je einzelnen Geist und dem je konkreten Wissen E über den Geist vermittle: »Das Logische wird zur Natur, und die Natur zum Geiste.« Was heißt das aber genau über die Abfolge des Textes hinaus? Formal ist noch einmal festzuhalten, dass die Natur als das Besondere »zwischen dem Geiste und seinem Wesen« steht, wobei das allgemeine Wesen als Begri= Thema der Logik ist. Dabei trennt das Äußerliche realer Natur Begri= und Geist nur insofern, als es eines
570 Die Philosophie 1029 Umgangs mit äußeren Repräsentationen und Präsentationen bedarf, damit wir Inhalte verstehen und Arten erkennen können. Der Schluss A-B-E liegt hier in der konkreten, am Ende leiblichen Realisierung der allgemeinen Formen des Inhaltsverstehens. Die Natur, das Leibliche, ist daher »wesentlich nur als Durchgangspunkt« und als »negatives Moment bestimmt«. Die »Vermittlung des Begri=s« durch das leiblich vermittelte Denken oder in leiblichen Bezugnahmen auf die mich umgebende Natur »hat die äußerliche Form des Übergehens«. Denn das (erho=te) Ergebnis jedes Verstehensversuchs ist eine bestimmte (geistige) Form des (auch verbalen) Handelns, samt Haltung und Verhaltung. Die Wissenschaft dieses Ganges, d. h. der Verleiblichungen des Denkens und damit der Geistseele, ist die Psychologie. § 576 Diese Erscheinung ist im zweiten Schlusse insoweit aufgehoben, als dieser bereits der Standpunkt des Geistes selbst ist, welcher das Vermittelnde des Prozesses ist, die Natur voraussetzt und sie mit dem Logischen zusammenschließt. Es ist der Schluß der geistigen Reflexion in der Idee; die Wissenschaft erscheint als ein subjektives Erkennen, dessen Zweck die Freiheit und es selbst der Weg ist, sich dieselbe hervorzubringen. (570) Im zweiten Zusammenschluss der Form B-E -A der Natur B mit dem Allgemeinen A vermitteln die einzelnen Personen E . Hier wird die Natur als gegeben vorausgesetzt und das denkende Forschen oder erfahrungsgestützte gemeinsame Denken bringt die Phänomene der Natur auf den Begri=, artikuliert also Theorien zur Darstellung artbestimmter Normalprozesse der Natur oder in der Natur. Dieser Schluss besteht in »der geistigen Reflexion« der Begründung von Wissen über die Natur. Die Wissenschaft erscheint hier »als ein subjektives Erkennen«. Ihr Ziel ist eine Ausweitung der Freiheit im Handeln auf der Grundlage des Wissens um zu erwartende Möglichkeiten oder herstellbare Sachverhalte. 462
1030 463 Der absolute Geist 570 f. § 577 Der dritte Schluß ist die Idee der Philosophie, welche die sich wissende Vernunft, das Absolut-Allgemeine zu ihrer Mitte hat, die sich in Geist und Natur entzweit, jenen zur Voraussetzung als den Prozeß der subjektiven Tätigkeit der Idee und diese zum allgemeinen Extreme macht, als den Prozeß der an sich, objektiv, seienden Idee. Das Sich-Urteilen der Idee in die beiden Erscheinungen (§ 575/6) bestimmt dieselben als ihre (der sich wissenden Vernunft) Manifestationen, und es vereinigt sich in ihr, daß die Natur der Sache, der Begri=, es ist, die sich fortbewegt und entwickelt, und diese Bewegung ebensosehr die Tätigkeit des Erkennens ist, die ewige an und für sich seiende Idee sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und genießt. (570 f.) Der dritte Schluss ist von der Form B-A-E . Hier steht »das AbsolutAllgemeine« der Logik bzw. des logischen Denkvollzugs in der Mitte und verbindet Natur B und Geist E . Das geschieht, indem sich der Geist als Vollzug vom Gegenstand, der Natur, trennt. Hegel spricht vom »Prozeß der subjektiven Tätigkeit der Idee«. Diese besteht in der selbstbewussten Anwendung der Begri=e. In diesem Prozess der konkreten Anwendung durch das logisch denkende Einzelsubjekt E zeigt sich die ›objektiv seiende Idee‹, also Natur und Welt, vermittelt durch das allgemeine begri=liche Wissen an sich, also A. Hegel beendet nun seinen Rundgang durch das philosophische Wissen über das Wissen mit einer Hommage an Aristoteles. Das lange Zitat, das Hegel gar nicht übersetzt, soll m. E. zeigen, dass Aristoteles in seiner Analyse des Geistes so weit kommt, wie man in der klassischen Antike nur kommen konnte, nämlich zur Einsicht in das Wunder des Wissens über die Welt und sich selbst, wobei der höchste Gipfel des Wissens, also das ›Beste‹, wie er sagt, eine spekulative Theorie als Wissen des Wissens ist. Dabei erkennt Aristoteles schon, dass es nicht (nur) auf den Gegenstand oder Inhalt des Wissens ankommt, sondern auf den wissenden Vollzug selbst. Gott als der Allwissende erreicht in unserer Vorstellung dieses Wissen auf vollkommene Weise und ist eben deswegen der oder das Größte und Beste. Dieses erhabene Subjekt oder vorgestellte Ich des Gottes ist aber noch nicht angemessen verbunden mit dem Wir der vielen Subjekte. Die aristotelische Vorstellung von der Substanz
572 Die Philosophie 1031 (Ousia) des Wissens in seiner ›Identität‹ mit dem Subjekt des Wissens reicht bloß erst zu einer theologischen Philosophie. Das heißt, wir finden bei Aristoteles nur erst eine philosophische Theologie der Erhabenheit des göttlichen Subjekt-Objekts. Es fehlt noch die von Schelling zuerst unter dem Titel einer Naturphilosophie angestoßene Verweltlichung des Geistes. Deren Aufgabe übernimmt die zunächst gemeinsam entwickelte sogenannte Identitätsphilosophie. Erst Hegel liefert in der Wissenschaft der Logik die Methode, die klarmacht, wie Einheiten als Gegenstände der Rede konstituiert sind. Sie alle enthalten in sich eine Vielheit. Der Gott ist bei Aristoteles also nur erst vergegenständlichende Vorstellung eines idealen Wissenssubjekts. Die Reflexion von Gott in der Geistseele als ›Spiegelung‹ eines generisch-umfassenden Wir im Ich ist für Aristoteles im Unterschied zu den Meister Eckhart folgenden ›Mystikern‹ wie Johannes Tauler, Heinrich Seuse oder viel später dann auch Jacob Böhme oder Franz von Baader noch kein Thema. Aristoteles kennt weder die Absolutheit des personalen Subjekts noch das absolute Recht des einzelnen Bewusstseins auf sein eigenes gewissenhaftes Urteil. Aristoteles sagt zwar, Gott sei ewiges und perfektes Leben, so dass er auch ewiges und perfektes Leben habe. Das klingt wie ein Beweis seiner Existenz, ist aber nur parallel zur fast tautologischen Einsicht zu verstehen, dass die psychē oder Seele als ›Lebenskraft‹ das Leben selbst ist und nur dadurch ›ewig‹ lebt – so wie eben der Regen ›immer‹ regnet, ich ›immer‹ bin und das Sein immer ›ist‹. Die Ambivalenzen der Sätze des Aristoteles kulminieren im SchlussSatz: »Das nämlich ist Gott«, wobei o=enbar zu ergänzen ist »– nämlich seinem Begri= nach«. Der gesamte Text ist damit als Definition Gottes zu lesen, die sinngemäß so endet: »Das ist es, wie die Rede von Gott zu verstehen ist«. Die uns auch in wörtlicher Übertragung immer noch ganz fremden Worte des Aristoteles im Schlusszitat sind daher wohl am besten relativ frei in ihrem Inhalt wiederzugeben: Aristoteles Metaphysik XII 7 (572) ῾Η δὲ νόησις ἡ καθ᾿ αὑτὴν τοῦ καθ᾿ αὑτὸ ἀρίστου· καὶ ἡ μάλιστα τοῦ μάλιστα. 463
1032 Der absolute Geist Das denkende Wissen über sich selbst ist ein nachdenkendes Wissen über das Wichtigste und Beste. Es ist das umso mehr, je selbstbewusster es ist. ῾Αυτὸν δὲ νοεῖ ὁ νοῦς κατὰ μετάληψιν τοῦ νοητοῦ. Selbstbezüglich aber ist ein Denken oder Wissen, indem es selbst im Denken oder Wissen thematisch wird. νοητὸς γὰρ γίγνεται θιγγάνων καὶ νοῶν. Das Denken oder Wissen muss dabei das Gedachte oder Gewusste tre=end begreifen bzw. angemessen berühren. ὥστε τἀυτὸν νοῦς καὶ νοητόν. Das muss im Selbstwissen so geschehen, dass das denkende Wissen und sein Gegenstand im relevanten Sinn dasselbe sind. τὸ γὰρ δεκτικὸν τοῦ νοητοῦ καὶ τῆς οὐσίας, νοῦς. Dabei besteht die begreifende Vernunft des nous jeweils in der angemessenen Auffassung des Artwesens und des gedachten Begri=s. ἐνεργεῖ δὲ ἔχων· Sie (die begreifende Vernunft des nous) wirkt (und handelt) auf der Basis des Besitzes (an Wissen). ὥστε ἐκείνου μᾶλλον τοῦτου, ὃ δοκεῖ ὁ νοῦς θεῖον ἔχειν· Das (alles) bedeutet, dass der (Denk-)Vollzug göttlicher ist als sein gegenständlicher Inhalt, der zunächst als Inhalt der göttlichen Vernunft des nous erscheinen mochte. καὶ ἡ θεωρία τὸ ἥδιστον καὶ ἄριστον. Eine spekulativ-logische Topographie (theoria) ist das Schönste und Beste. Sie ist ideale Perfektion oder Gipfel des Denkens und Wissens. Εἰ οὖν οὕτως εὖ ἔχει, ὡς ἡμεῖς ποτέ, ὁ θεὸς ἀεὶ, θαυμαστόν· εἰ δὲ μᾶλλον, ἔτι θαυμασιώτερον· ἔχει δὲ ὧδε. Wenn nun der Gott eine solche theoria per definitionem voll besitzt und von seinem Gipfel spekulativer Reflexion aus das wahre Ganze und damit auch sich selbst betrachtet, so wie wir nur partiell, dann ist er in der Tat als erhaben zu verehren. Je weiter ein Gipfelblick reicht, desto erhabener (staunenswerter, bewundernswerter) ist er. Der Gott ist daher in der Tat das Erhabenste. Καὶ ζωὴ δέ γε ὑπάρχει. ἡ γὰρ νοῦ ἐνέργεια, ζωή· Im göttlichen Geist ist dann aber immer auch Leben; denn die Wirklichkeit der Vernunft besteht in einem geistvollen Leben.
Die Philosophie 1033 ἐκεῖνος δὲ ἡ ἐνέργεια· Der göttliche Geist ist wirklich, hat Wirkung. ἐνέργεια δὲ ἡ καθ᾿ αὑτὴν, ἐκείνου ζωὴ ἀρίστη καὶ ἀΐδιος. Selbstbestimmung als wirkliche Wirkung auf sich selbst ist höchste und der Zeit enthobene (›ewige‹) Lebensform. φαμὲν δὴ τὸν θεὸν εἶναι ζῷον ἀΐδιον, ἄριστον· ὥστε ζωὴ καὶ αἰὼν συνεχὴς καὶ ἀΐδιος ὑπάρχει τῷ θεῷ. Wir sagen ja tatsächlich, Gott sei ewiges und perfektes Leben, womit er auch ewiges und perfektes Leben hat. Τοῦτο γὰρ ὁ θεὸς. Das nämlich ist der Gott.

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Personenregister Abälard 818 Abraham 500 Achill 596, 973 Adam 858, 875 f. Adorno, Th. W. 970 Ajax 596–599, 973 Alexander 195, 600 Anaximander 125, 256, 314 Andreas, Willly 929 Aristoteles 17, 39, 55–80, 92, 107, 125, 146, 165, 200, 281 f., 298, 306 f., 314, 342, 385, 397, 434, 437, 454 f., 468, 476, 484 f., 515–518, 543, 547, 555, 562, 610, 733, 791 =., 886, 955 f., 984, 1004, 1027, 1030 f. Augustinus 139, 163 f., 613, 737, 777, 828 =., 946, 958, 977, 994 Augustus 884, 925 Austin, J. L. 814 Baader, Franz von 777, 1031 Bartoldy, Georg Wilhelm 368 Belnap, Nuel 71, 485 Bentham, Jeremy 778 Bernard, Louis 367 Berthollet, Claude Louis 335 f., 367–371, 380 Berzelius, Jens Jakob 355–377, 380 f. Beuys, Joseph 968 Biot, Jean-Baptiste 319, 352 Boethius 994 Böhme, Jacob 772, 777, 783, 1031 Boltzmann, Ludwig 272, 288, 291 Bonitz, H. 62 Bonsiepen, W. 11, 90 Brahma 1009 =. Brandom, Robert B. 139, 481, 520, 791 Breidbach, Olaf 10 Brentano, Franz 535, 692 Brown, George Spencer 402 Brucker, Johann Jakob 933 Bu=on 454 Burckhardt, Jacob 932 Camus, Albert 489 Cantor, Georg 131, 135, 159, 236, 281, 327 Carnap, Rudolf 145, 186 Cäsar 43, 738, 884, 903, 925, 928, 932, 937 Cato d. J. Uticensis 583 f. Chalmers, David 392, 522 Christus 971, 978, 1009 Churchill, Winston 929 Colebroke, Henry Thomas 1011 Condillac, Etienne de 671 =. Consalvi, Kardinal 929 Cooper, James Fenimore 815 Cuvier 31, 454 f. Däniken, Erich von 386 Danto, Arturo 967 f. Darwin, Charles 21, 31, 103 f., 106, 385 f., 394, 407 Darwin, Erasmus 21, 31, 103 f., 385 f., 394 Dawkins, Richard 409
1048 Personenregister Dedekind, Richard 282 Dennett, Daniel 409 Descartes, R. 19, 25, 28, 33, 47, 53, 57, 119, 126, 127, 145, 168, 171, 307 =., 416, 432, 472, 477, 481, 484, 522 f., 543, 632, 646 f., 693, 712, 780, 844, 957 f., 976 f., 1004 Detel, Wolfgang 402 Diogenes Laertios 930, 933 Dostojewski F. 18 Dummett, Michael 645 Eckhart, Meister Eckehart 772, 783, 851, 1031 Einstein, Albert 36, 124, 127, 145, 203, 222, 225, 229 Eleaten 485, 1016 Elser, Georg 836 Engels, Friedrich 19, 310, 858, 878 Epikur 522, 1025 Euklid 175, 209 Euler, Leonhard 49, 181 Euripides 969 Feuerbach, Ludwig 794, 943 Fichte, J. G. 16, 21, 25, 47d, 71, 75, 78, 111, 142 f., 145, 148 =., 404, 472, 433, 472, 497 f., 504, 569, 570, 624 =., 634 f., 646 f., 663, 676, 701, 720, 813 Firmin 970 Fischer, Ernst Gottfried 367 =. Förster, Heinz von 402 Frazer, George 327, 672 Frege, Gottlob 13, 39 =., 121, 135, 158, 236, 327, 480, 545, 645 f., 730–735, 846 Freud, Sigmund 602, 672 Fries, J. J. 505 Gabriel, Markus 17 Gadamer, Hans-Georg 476 Galilei, Galileo 102, 126, 190 =., 198 f., 202, 209, 216, 222, 307 =., 957 Gentz, Friedrich von 929 Gettier, Edmund 501 Gibbon, Edward 932 Glasersfeld, Ernst von 402 Göbbels, Joseph 836 Gobsch, Wolfram 649 Goethe, J. W. von 36, 111, 124, 238, 243, 246, 319 f., 324, 326 =., 526, 744, 815, 924 Gorgias 826 Grice, H. P. 631, 682, 728 Guyton de Morveau 366, 367 Habermas, Jürgen 26, 828 Halfwassen, Jens 1017 Hamlet 976 Hayek, Friedrich August v. 778, 876 f. Heidegger, Martin 18, 61, 71, 476, 517, 692, 780, 862, 863 Heine, Heinrich 768, 933, 1003 Heisenberg, Werner 124, 226, 265 Helmholtz, Hermann 44, 80, 300, 354, 371, 557 Henrich, Dieter 472 Heraklit 48, 65, 79, 99, 139, 207, 254 =., 266, 294, 307, 314, 382, 420 =., 480, 484 f., 534, 540 =., 566, 631, 751, 851, 975, 1002 Herder, Johann Gottfried 47, 79, 673, 826 Hesiod 975 Heyting, Arend 733 Hiob 500 Hitler, A. 710, 836, 919
Personenregister Hobbes, Thomas 17, 25, 55, 57, 144 f., 432, 443, 495, 622, 626, 635, 678, 778, 826 f., 857, 861, 890, 906, 957 Ho=mann, E. T. A. 446 Ho=meister, Johannes 30, 652 Hölderlin, Friedrich 48, 600, 663, 975 Homer 500, 974 Horkheimer, Max 503 Hösle, Vittorio 229, 516 Humboldt, Wilhelm von 673, 729 Hume, David 25 f., 35 =., 42 =., 47, 53 =., 67, 80, 94 f., 109, 145, 208, 306, 474, 477, 480 =., 501, 546, 547, 626, 635 f., 687, 697, 701, 778, 826, 958, 1024 Husserl, Edmund 692 Jacobi, F. H. 25, 504 Jahwe 985 Jakob (Israel) 500 James, William 18, 80, 170, 476, 528, 558, 672 Je=erson, Thomas 882 Jesus 56, 596, 613, 628, 818 =., 828 =., 891, 937 f., 946, 969, 971, 987, 991 =., 1009 Jonas, Hans 808, 811 Joseph 500 Kallikles 826 Kant, I. 13–16, 23 =., 47, 51–57, 75 =., 80, 83 =., 94, 102, 111, 122, 125, 128, 134–145, 157, 161, 168, 171 =., 178, 187, 207, 225 f., 229, 236, 239, 264, 274, 306–309, 367, 385 =., 404, 424, 437 f., 449, 472 =., 477, 480 f., 501–504, 517, 531 f., 543, 546 =., 568 =., 589, 1049 605, 624 =., 633–636, 642, 658, 664 f., 670 f., 677, 680 f., 685 =., 697–701, 707, 714, 724, 740, 781, 786 f., 802, 814, 835–845, 858, 865, 935, 939 f., 955, 958, 969, 977, 998, 1004, 1018, 1020 f., 1024 Kaulbach, Friedrich 43, 226 Kebes 56, 58 Kelsen, Hans 495 Kepler, Johannes 102, 112, 122, 126, 181, 194, 203, 208–212, 216, 221–224, 253 f., 281, 309, 364 Keynes. J. M. 460, 877 Kierkegaard S. 692, 768, 977, 1003 Kim Il Sun 882 Kleist, Heinrich von 617 Kleitos 600 Kopernikus 102 Krishna 1009, 1010, 1014, 1017 Kronos 144, 145, 393, 629 Krug, Traugott 110 f. Külpe, Oswald 80 Küng, Hans 942 Lagrange, Joseph Louis de 192 =., 197, 202 Laming, Richard 354 Laplace, Pierre-Simon 253 f. Lasson, Adolf 72 f. Leibniz, G. W. 33, 40, 57, 80 =., 126, 138, 140 =., 154, 158, 164, 175, 307 =., 477, 522–526, 543, 547, 570, 583, 705, 729, 730–734, 930, 955, 958 Lewis, David 791 Libet, Benjamin 196 Lichtenberg, Georg Christoph 27, 52, 268, 532
1050 Personenregister Linné, Carl von 454 Locke, John 25, 45, 55, 67, 482, 553, 566, 581, 626, 630, 635, 672 f., 685, 740, 859 Lorentz, Hendrik Antoon 124 Lorenzen, Paul 733 Löw, Reinhard 940 Lucas, H.-C. 11, 90 Ludwig XIV 881 Luhmann, Niklas 402, 906 Luther, Martin 828, 971, 976, 977 Luzifer 844, 946, 1021 Macartney, Lord 729 Malebranche, Nicolas 522 f. Malus, Etienne Louis 246 f. Mandela, Nelson 800 Marius 884 Mark Aurel 782, 958 Marx, Karl 19, 22, 310, 816, 858, 859, 860, 878, 895 Maturana, Humberto R. 402 Mauthner, Fritz 595, 678, 778 McDowell, John 12, 139, 481, 616 McTaggart 327 Mendelejew, D. I. 253, 255, 265, 371 Mendelssohn, Felix 1005 Menon 14 Meyer, Lothar 370 Michel, K. M. 10 Millikan, Ruth 402 Mill J. St. 788 Mises, Ludwig von 778 Moldenhauer, Eva 27 Montesquieu 530, 903 Müller, Johannes Peter 44, 308 Nagel, Thomas 12, 327, 392 Napoleon Bonaparte 526, 539, 596, 884, 908, 922, 932 Narski, I. S. 310 Neuser, Wolfgang 10, 30 Newton, Isaac 19, 25, 31, 36, 93, 102, 112, 124, 154, 168 f., 181, 186 =., 190–195, 199–214, 224, 235, 237 =., 241, 253 f., 263 =., 307 =., 316, 319, 327 =., 360, 404 Nicolin, F. 11, 90 Niebuhr, Barthold Georg 930 Niethammer, Friedrich Immanuel 23, 526 Nietzsche, Friedrich 18, 106, 165, 504, 517, 596, 600, 618, 657, 786, 826, 831, 975 Noë, Alva 63 Noller, Jörg 977 Novalis 47, 157, 253, 969 Odysseus 596 Ørsted, Hans Christian 308 f. Ostwald, Wilhelm 324, 367 Palaunek, Martin 891 Paracelsus 314, 364 Parfit, Derek 67, 566 Parmenides 99, 153, 280, 307, 422, 484, 1002, 1007, 1017 Pascal, Blaise 474, 548, 551, 976, 977 Paulus 613, 828 =., 891, 936 f., 946 =., 971 f., 994 Peano, G. 733 Peel, Robert 869 Peirce Ch. S. 208, 254, 634, 733 Perlo=, Michael 71, 485 Phaidon 55, 57, 58, 64 Pindar 450 Pinel, Philippe 84, 602 Platon 13 f., 39, 55–64, 73, 99, 126, 158, 167, 170, 200, 207, 254 =.,
Personenregister 261, 281 f., 306 f., 314, 422, 468, 477, 481, 484 f., 517, 558, 568, 585, 616, 737, 751, 761, 779 f., 791 =., 839, 860 =., 886, 953 =., 955, 958 f., 984, 994, 1002 =., 1007 Plotin 1017 Pöggeler, Otto 11, 90 Popper, Karl 253, 778, 828 Protagoras 208, 501, 826 Proudhon, Pierre-Joseph 841 Psarros, Nikos 22 Pyrrho 485 Quine, W. V. O. 41, 96, 139, 275, 520, 615, 627, 685 Ranke, Leopold von 926, 929, 930, 932 Reinhold, Carl Leonhard 635 Richter, Jeremias Benjamin 366–369, 380 Ritter, Johann Wilhelm 308 Robespierre, Maximilien de 497 Rödl, Sebastian 60 Rousseau, J. J 782, 802 Rückert, Friedrich 1014 Rumi 977, 1013, 1014, 1017 Russell, Bertrand 41, 55, 168, 185, 327, 480, 595, 733, 934 Sans, Georg 977 Schelling, Joseph 24 f., 44, 47, 306 =., 350, 358, 433, 557, 777, 785, 933, 1020, 1031 Schiller, Friedrich 549, 744, 929, 932, 975 Schlegel, Friedrich 47, 505, 992, 995, 1008, 1010 Schleiermacher, Friedrich 13, 505, 551 1051 Schnädelbach, Herbert 30, 793 Schopenhauer, Arthur 145, 474, 532, 570, 595, 781, 826, 865 Schröder, Ernst 733 Schultz, C. H. 400 Scott, Walter 928, 931 Searle, John R. 814 Seidl, Horst 62 Sellars, Wilfrid 139, 520 Seneca 782, 958 Seuse, Heinrich (Suso) 1031 Sextus Empiricus 485 Shakespeare, William 975 Sherlock Holmes 755 Simmias 56, 58, 725 Sokrates 14, 39, 55–58, 72, 158, 170, 484, 517, 621, 725, 758, 768, 792, 805, 818, 823, 826–829, 834, 839, 843, 870, 886, 937, 954, 969 Solon 812 Sophokles 969 Spaemann, Robert 940 Spinoza, Baruch 25, 47–51, 55 =., 64, 146 f., 154, 165, 404, 434, 443, 522, 523, 525, 526, 636, 659, 693, 759, 777, 799, 1004, 1011, 1016 f. Stau=enberg, Claus Schenk Graf von 836 Staunton, George 729 Ste=ens, Heinrich 308 Sterne, Laurence 56, 146, 202, 208, 233, 238, 241, 334, 529, 581, 976 Stirner, Max 22, 595, 678, 778 Sulla 884 Tartini, Guiseppe 288 Tennemann, Wilhelm Gottlieb 933 Thatcher, Margaret 881, 908 Theiler, W. 62
1052 Personenregister Theophrast 455 Tholuck, August 1014 Thompson, Michael 59 f. Thoreau, Henry David 782 Thrasymachos 826 Timaios 18, 254, 585, 989, 1002 Tocqueville, Alexis de 882 Tönnies, Ferdinand 495 Treviranus 531 Tristram Shandy 561, 573 =., 581, 976 Tucholsky, Kurt 584 Tugendhat, Ernst 527 Vanini, Lucilio 99, 100 Varela, Francisco J. 402 Vishnu 1009 Vogel, Matthias 157, 402 Wandschneider, Dieter 10, 36, 229 Watzlawick, Paul 661 Weber, Wilhelm 354 Weber, Max 18, 495, 778 Weischedel, Wilhelm 531 Weyl, Hermann 144, 145, 164, 225 White, Hayden 929 Wilson, Mark 275 Wittgenstein, Ludwig 22, 37, 41, 68, 128, 145, 155, 186, 327, 486, 511, 520, 574, 595, 678, 780, 955 Wol=, Christian 81, 578 Wundt, Wilhelm 80, 476, 672 Xenophanes 997 Xu, Ming 71, 485 Zeus 144 f., 393, 629, 989, 1012 Zweig, Stefan 584 Zwingli, Huldrych 971
Sachregister a posteriori 97, 481 a priori 105, 134 f., 171, 174, 191 =., 198 f., 238, 293, 481, 581, 745, 924, 952 Abbildung 98, 214 Aberglaube 18 f., 37, 49 f., 97, 103, 108, 128, 151, 175, 204, 213, 264, 410, 416, 421, 443, 504, 530, 542, 595, 639, 784, 919, 948, 951, 981 =., 1007 Ableitung 208 f. Absicht 8, 56, 111, 163, 655, 659 =., 801, 806, 814, 831–838, 845 f., 868–873, 972 Absolut 6, 44, 203, 233, 433, 492 f., 965, 1019 =., 1028, 1031 Absolutheit 22, 283, 445, 590 f., 667, 693, 788, 792 f., 828, 831, 845, 890, 906, 930, 938, 958, 967, 977 f., 995, 1032 Abstrahieren 144, 357 Abstrakt 125, 344, 534, 664, 847 Abstraktion 12, 67, 69, 75, 85, 119, 122, 142–147, 163, 174, 177, 186 f., 204, 217, 224, 234, 255, 265, 269, 277, 303, 341 f., 356 =., , 362, 372 f., 378, 384, 429, 433, 454, 630, 647, 668, 678, 712 f., 732, 825, 844, 859, 887, 990, 1020, 1029 Addition 195 Adhäsion 260 f., 276 A=ekte 557, 597 Aggregat 92 f., 296, 778, 913 Akosmismus 1017 Akzidentell 640, 1010 Allegorie 234, 716, 929, 989, 996 Allgemeinheit 68 f., 73 et passim Allmählichkeit 399 An sich 451, 507, 621, 790 et passsim Analogie 37, 50, 57, 69, 86 f., 96, 110, 157, 234, 242, 253, 264 f., 286, 309, 312, 315, 336, 410 f., 449, 574, 588, 605, 622, 628 =., 655 =., 661, 678, 704 =., 713–716, 725, 733, 996 =., 1001 Analyse 16 f., 20 et passim Analytische Philosophie 41 f., , 55, 236, 480, 545, 595, 1021 Anatomie 454 f. Andacht 949, 966 f., 971 f., 987 Anderssein 228, 627, 696 Anerkennen 496, 596, 900, 998 Angenehme, das 557, 969 Anima 65 Anionen 352 Anode 350 =. Anschauung 8, 31, 40 et passim Ansichsein 565 =., 704 Anthropologie 5, 20, 24, 49, 78, 508, 512, 681, 853 Anthropomorphismus 972 Antinomie 165, 280, 281, 477 Anziehungskraft 213 Apeiron 125, 256, 314, 377 Apperzeption 40, 226, 554, 582, 609, 626, 638, 642 f., 698 Apriori 194 Äquivalenz 102, 120, 125, 169, 255,
1054 Sachregister 270, 295, 304, 343, 367. 600, 707, 713, 759, 815 Arbeit 171, 210, 224, 334, 373, 481, 558, 596, 614, 661, 716, 813, 848 =., 855–860, 875 =., 888, 936 f. Arete 58, 830, 870 Arithmetik 40, 95, 125, 131, 154–159, 236, 715 Art 19, 23, 32 =. et passim Artform 59 =., 98, 104 f., 108, 112, 115, 146 f., 191, 278, 304, 381, 393, 407–415, 426–434, 444, 448 =., 451 f., 456, 464–469, 481, 516, 527, 565 =., 608, 615, 629, 990, 1020 Assimilation 7, 398, 399, 403 f., 414, 423, 439, 440 =. Assoziation 85, 542, 709, 714, 742 Ästhetik 140 f., 165 =., 429, 474, 497, 591, 724, 781 Atem 416, 439 Atheismus 517, 941, 1000, 1004 =. Atmosphäre 243, 249 f., 268 f., 298 Atmosphärilien 268 Atomistik 474, 856 f., 909, 1024 Attention 80 =., 84, 538, 578, 609, 698 Attitüde 893, 1003 Attraktion 172 =., 189, 214, 265, 278, 291, 314, 423 Attraktionskraft 213, 712 f. Aufgehobensein 428 Aufheben 174, 180, 271 f., 335 f., 460, 466 f., , 498, 647, 650, 653, 745, 789, 824, 839, 940 Aufhebung 127, 168, 272, 279–282, 332, 353, 439, 466 f., 487, 499, 631, 651 f., 658 f., 751, 758, 789, 822 Aufklärung 22–26, 61, 195, 227, 476, 504, 517, 568, 687, 950, 957 =., 998 Aufmerksamkeit 80 f., 84 f., 204, 213, 410, 438, 538, 578, 609, 612, 623, 676, 696 =., 702 f., 736, 747, 900 Aussageform 509 Äußeres 84, 243, 270, 400, 403, 566, 744, 969 Außersichsein 84, 120 f., 130, 224, 233 f., 245, 294 f., 467, 518 =., 599, 640, 689, 698, 949 Awareness 80, 578, 609 Axiom 179, 180 Ballistik 50, 120, 190, 199, 201d, 223, 263 Bedeutung 14, 28, 40 f. et passim Bedingung 15, 41, 52, 62, 93, 103, 134, 170, 246, 321, 327, 345, 368, 390, 396, 411, 423, 426 f., 437, 498, 513, 517 =., 528, 541, 559, 594, 618, 628, 656, 749, 756, 763, 800, 806, 833, 869, 872, 877 f., 896, 901, 905, 911, 944, 951, 967, 980, 992 Bedürfnis 27, 197, 305, 308, 429 f., 436 =., 458, 477, 729, 735, 773, 818, 864, 869, 876, 979, 981 Begehren 69, 81, 423, 427, 431, 437, 472, 599, 610, 614, 648, 652, 657, 661 f., 668, 675, 691 f., 760 =., 770–774, 786, 795, 801, 853, 893 Begeisterung 19, 263, 455, 776, 974, 1015 Begierde 8, 46, 49, 53, 82, 478, 598, 599, 603, 612 =., 623 f., 647–662, 667 f., 787, 942
Sachregister Begreifen 13, 52, 63, 108, 142, 195, 499, 589, 590 f., 682, 702, 714 f., 746, 760 f., 985 f., 1019 f., 1024 Begri= 7, 12 =. et passim Begri= an sich 13, 17, 39, 99, 121, 127, 207, 248, 354, 670, 673, 740, 902, 988 begri<iche Inhalte 606 Begri=slogik 40, 81, 87, 130, 194, 427, 441, 448, 487, 615, 634, 647, 727 Begri=sschrift 39, 158, 730–736, 955 Behaviorismus 739, 832 Beobachtung 14, 31 =., 134, 186, 192, 195, 201, 244, 273, 292 f., 324, 367, 408, 466, 475, 542, 617, 626, 734, 815, 840 Bescheidenheit 34, 502–505, 1025 Beschleunigung 179, 192, 196 =., 201, 213, 221, 224 Besitz 65 =., 82, 561, 564, 606, 628, 706 =., 804–811, 863, 868, 871, 876 Besonderheit 116, 160, 174 f., 205, 216 f., 290 f., 329 =., 387 f., 415, 418, 441, 446, 455, 592 =., 597, 603 =., 775 =., 783–786, 807, 835, 838, 856–859, 864, 875, 879, 896, 931, 974, 989 f. Beten 949 f. Betrug 580 f., 819–822 Bewegung 5, 23 =. et passim Beweis 47, 191–197, 201, 209, 235, 363, 476, 483, 585, 1032 Bewusstsein 23 f., 55 et passim Bewusstseinsphilosophie 20, 78 Bezug 34 =., 49, 56 et passim Bhagavad-Gita 1008 Bibel 491, 530, 946 1055 Bild 23 =., 36, 46 et passim Bildbrüche 715 Bildung 20, 59, 73 f., 85, 93, 195, 312, 366, 403, 456, 473, 493–496, 508, 512, 518, 525, 529, 532, 537, 580, 594 =., 601, 606, 609, 619, 671, 680, 714 f., 732, 735 f., 740, 744, 791 =., 801, 828, 847, 852, 855, 859 f., 869, 896, 931, 994, 1001, 1004 f., 1026 Biographie 932, 994 Biologismus 18, 408 f., 416, 517, 827, 945 Blutkreislauf 418 Böse, das 8, 504 f., 601, 780, 831, 837, 842–845, 990 =. Brechung des Lichts 317 Brownianismus 462 Buchstabenschrift 725, 729–737, 936 Buddhismus 570, 998 f., 1006 Chaos 266, 703 Charity 482 Chemie 18, 24, 50 et passim Chemismus 304 f., 308, 352 f., 363, 462, 1021 Christentum 17, 58, 791 =., 794 f., 812, 834, 925, 971 f., 982 f., 987, 998 Chronos 144 f., 393 Commitment 945 Computerbild 591 condition humaine 47 Dasein 19, 23 et passim De Anima 62 Deduktion 30, 111, 128 Default 430, 888 Definition 62, 130–135, 159, 180, 196, 225, 236, 282, 372, 379, 479, 492 f., , 519, 600, 730, 851,
1056 Sachregister 900, 1032 Dekonstruktion 15 Denken 8, 16, 23 et passim Denkform 611, 632, 685, 757, 1003 Determinismus 19, 49, 78, 477, 485, 528, 764, 832 Dialektik 19 f., 157, 165, 227, 262, 279 f., 346, 434, 478, 504, 599, 631, 640, 648, 665, 671–674, 728, 742, 745, 748 =., 760, 839, 922 dialektisch 715, 760, 838, 968 dialogisch 158, 482, 703, 987 Dichte 35, 156, 272–275, 279, 289, 292 =., 514, 929 Di=erentiation 196, 211 Di=erenz 34, 53, 56 et passim Di=usion 272, 283, 289 =., 295, 329 f. Dimension 119 =., 223, 241, 277, 788 Ding 19, 43, 66, 75 =., 99, 109, 111, 143–147, 151 f., 162, 166–172, 177, 226–230, 359, 485, 518, 523, 569, 598, 633 =., 640 f., 645, 648, 667, 685, 688, 693, 758, 948, 968, 1025 Ding an sich 75 =., 226, 485, 633, 635, 648, 688, 693 Diremtion 266, 332, 399 f., 403, 426, 434, 451, 457, 460, 650, 696, 757, 849 Disposition 61, 170, 228, 235, 332, 511, 532, 674, 686 Dispositionen 44, 147, 169 =., 176, 183, 228 =., 306, 311, 320 f., 338, 343 =., 352, 360 =., 407, 419, 423, 515 f., 530 =., 567, 595, 674, 685, 757, 762, 1027 Disziplin 11, 44, 156, 417, 441, 508, 601, 752, 997, 1003 Dogmatismus 485 Doppelsinn 303 Dualismus 48 =. Dynamik 19, 116, 168 f., 270, 404 dynamis 61 Ehe 537, 853 =., 951 =. Eidos 58 =., 66, 104 f., 127, 134, 403, 430, 478, 485 f., 515–518, 552, 562 Eigenschaft 16 =., 39 f., 81, 135, 174 f., 303, 316 =., 325, 330, 342, 486, 518, 547, 645 =., 676, 685, 730 f. Eigentum 8, 16, 22, 617, 706, 795, 803–817, 824, 841, 854 f., 857 f., 863, 868, 871, 878, 889 =., 896, 936, 967 Einbildungskraft 8, 37, 85 =., 253 f., 559, 689, 708 =., 716 f., 723 =., 739, 743 f. Einheit 5, 31, 34 et passim Einzelereignis 50, 101, 832 Einzelheit 175, 203, 452, 465 =., 515, 527, 694, 719, 768, 770, 844, 901, 991 Einzelnheit 99, 152, 162, 166, 172 =., 203, 206, 217, 260, 407 =., 420, 423, 440, 450 =., 457, 464 =., 515, 520, 525, 534, 585, 640 =., 650, 653 =., 660, 694, 701, 718, 762, 766–770, 781, 784, 787 =., 807, 844, 847, 850, 854, 884, 901 f., 973, 988 =. Elastizität 277–284, 960 Elektrizität 6, 283, 299–309, 331–337, 346–364, 435 f. Elektrochemie 304, 323, 369–373, 381
Sachregister Elektrolyse 117, 300, 306, 309, 342–346, 351, 355, 359 Elektromagnetismus 92, 125, 300–308 Element 6, 40, 66 et passim Emanation 91, 98, 107, 163 Embryo 403, 574 f. Empfindung 7, 66 f. et passim Empirie 281, 334, 421 f., 581 Empirismus 17, 25, 48, 53, 94 f., , 139, 145, 306, 424, 482, 502, 581, 627, 630, 635 f., 639, 666, 672, 693, 697, 705, 714, 740, 957 empraktisch 28, 52, 79, 376, 517, 676, 853, 899, 919, 945, 982, 992, 1005 enaktiv 63, 87, 95, 278, 398, 405 f., 425 =., 430 =., 441, 448 f., 467, 517, 548, 552, 638, 674, 756 Endlichkeit 23, 58, 155, 179, 193, 251, 267, 270 f., 283, 344, 382 f., 387 f., 428 f., 440, 464, 467, 488, 498, 501 =., 518, 522, 590, 598, 633 f., 637, 665, 668 f., 686, 763, 771 f., 797, 804, 866, 938, 940 f., 966 f., 1001, 1009 energeia 60 England 499, 869, 908, 914, 927 Entäußerung 400, 403, 486 f., 658, 742, 745 f. entelecheia 60=2 Entgegensetzung 45, 145, 179, 247 f., 267, 348, 364, 434, 442, 722, 760, 907, 946, 969, 1002 Enthusiasmus 585, 1015 f. Entidealisierung 501, 670 Entwicklung 11, 17 =. et passim Enzyklopädie 2, 11, 20, 23, 27, 30, 34 =., 42, 54, 57, 66, 76 f., 90, 93, 97, 119, 236, 369, 401, 475, 634, 1057 665, 712, 755, 939, 995, 1000, 1029 Epistemologie 431, 627, 685, 1021 Epoche 80, 104, 146, 152, 179, 388, 393, 486, 490, 496, 500, 510, 536, 629, 668, 811, 883, 932 Epos 927 Erbauung 56, 897, 979 Erdbeben 267 Erde 27, 31, 50 et passim Erdigkeit 261 Erfahrung 17, 42, 47, 54, 66, 93, 96, 113 f., 153dd, 155, 164, 171, 175, 188, 197, 204, 209, 213, 236, 239, 257, 266, 273 f., 292 f., 315, 318, 323, 327, 351 f., 354, 362, 421, 475, 477, 480 f., 484, 540, 551, 636, 642, 665, 672, 707, 714, 756, 767, 776, 899 f., 914 Erhabenheit 77, 113, 975–985, 1006, 1013 =., 1020, 1032 Erhebung 387, 543 f., 576, 585 f., 637, 683, 711, 748, 938–941, 998 f., 1013, 1016 Erinnerung 8, 10, 82, 87, 152 f., 240, 391, 459, 618, 689, 696–706, 712–725, 738–746, 749, 931, 971, 987 Erkennen 12, 22, 34 et passim Erkenntnistheorie 47, 626 Erklären 241, 295 Erregung 270, 364, 396, 437 =., 444, 461 Erscheinung 46, 77 et passim Erziehung 84 f., 104, 478, 495, 512, 552, 609, 704, 714 =., 740, 801, 847, 853 =., 994 Etwas 39 f., 308, 416, 489, 534, 543, 557, 589, 595, 639 f., 642, 685, 696, 725, 727, 759
1058 Sachregister Evolution 31, 106, 252, 396, 404, 514 Ewigkeit 147 f., 165, 185, 422, 498, 988 Existenz 15 f., 36 et passim Fakt 714 Faktum 31, 521 f., 1004, 1008, 1027 Fallgesetz 190–194, 199–202, 221 f. Fallibilität 541, 554, 671, 684, 688 Familie 8, 16, 495 f., 533–537, 662, 794, 807, 852–856, 880, 884, 894, 901, 920, 951 Farbe 319, 321–327, 356, 362, 405 f., 425, 462, 721 Feuer 166, 226, 231 f., 243, 254– 261, 294 =., 314, 329, 335, 342, 364 f., 378, 382, 442, 921, 1014 Figurativ 559 Fiktiv 102, 148, 389, 707 Finanzgesetz 916 Fläche 14, 131–136, 201, 221, 244, 285, 312 Flächenhaftigkeit 277 Flamme 294–297, 330 Form 12 =. et passim Formalismus 432, 435, 462, 763, 789, 837 Formation 518, 525, 610 Formidee 978 Fortpflanzung 240, 285, 397, 403, 406, 414, 422, 459, 464 Frömmigkeit 1003–1006 Funktion 40, 55, 60, 140 =., 197, 220, 247, 397 f., 420, 649, 735, 873, 967 Für-Anderes-Sein 39, 40 f., 75, 105, 127, 230, 300, 438, 480, 631, 719, 955 Fürsichsein 41, 66 =., 105, 121 =., 176, 182 f., 202, 205, 224–230, 238, 248, 258, 267 =., 321 f., 329, 442, 445, 449, 455 =., 485 f., 496, 509, 526, 538 =., 545, 552 f., 559–565, 574–578, 588, 603 =., 622 f., 645, 650, 658, 669, 757, 762, 856, 956 Galle 442, 447 Galvanismus 6, 337, 346 =., 358 Gattung 7, 14, 20 et passim Gebet 499, 950, 976, 983, 987 Gedächtnis 8, 85 =., 563, 608 f., 618, 666, 700 =., 720 f., 725, 737–754, 760 Gedanke 65, 84, 142, 199, 204, 250 =., 303, 312 =., 317, 527, 564, 694, 733, 753 =., 954, 975, 992 Gedankenbestimmungen 641 Gefühl 8, 22, 48, 72, 77, 82 f., 411 f., 417, 423–427, 456 =., 497, 535, 541, 546, 550 =., 560, 561, 571 =., 577, 593, 601, 610, 618, 624, 629, 637, 648 =., 655 =., 676, 683, 690–696, 766–771, 780, 787, 880, 915, 957, 965, 1006, 1018 Gegenstandsbereich 13, 29, 39 =., 105, 114, 121, 149, 169, 236, 248, 474, 503, 758, 819, 955 Gegenwart 50, 54, 95, 110, 138 f., 141 =., 151 =., 160 =., 240, 267, 281, 351, 376, 404, 410, 422, 467, 473, 476, 498, 526, 534 =., 625, 649, 702, 852, 855, 863, 903, 924, 945 Gehör 35, 425 Geist 7 =. et passim Geistesmetaphysik 605, 828 Gemeinde 856, 923, 959, 964–966, 970, 983 f., 989, 994
Sachregister Gemeinschaft 22, 72 f., 81, 289, 495, 499, 521, 522, 537, 613, 657 =., 695 f., 779, 797, 826, 855, 938, 940 =., 965, 970, 983, 989 Gemüt 74, 151, 508, 518, 559, 573, 576 =., 597–601, 615, 1014, 1018 Genealogie 91 generisch 15, 42, 227 Genie 972 =., 980 f., Genius 573–584, 587, 599, 601 Genos 60, 105, 403 Genus 15, 95, 111, 135, 166, 458, 478, 521, 955 Genuß 680, 806 Geometrie 14, 58, 112, 119, 123 =., 127–135, 141, 153, 156 f., 167, 195, 201, 207 =., 224, 245, 277, 301, 329, 429, 500, 542, 605, 640, 670, 687, 715 Gerechtigkeit 767, 779, 799, 818, 823, 843, 851, 868, 887 f., 892 f., 929, 944, 949, 954, 1005, 1027 Gericht 818, 843, 871, 936 Geruch 43 f., 226, 329 f., 335, 424, 425, 556 Geschichte 5, 23 =., 31, 48, 91, 101, 107, 110, 194, 384, 393, 404, 438, 472 f., 476, 497, 510, 530 =., 673, 852, 861 f., 883, 899 f., , 905, 912, 919, 922–940, 961, 967, 979, 994, 1026 Geschichtlichkeit 594 Geschichtsschreiber 932 Geschlechtsverhältnis 536 f., 852 Geschmack 43, 226, 330, 335, 405, 424 =., 556, 595, 931 f., 980, 1010 Geschwindigkeit 36, 166 f., 180 =., 188, 192, 196–200, 218 =., 235, 240, 286, 743 Gesellschaft 8, 495 =. et passim 1059 Gesetz 198 f., 209 f., 221 =., 244, 252, 311, 366 =., 437, 644, 769, 800, 820, 827, 837 f., 864–869, 888, 892 f., 908, 916, 944, 952, 993 Gesetztsein 97, 123, 365, 726, 816 Gesicht 425, 619 Gestalt 6 f., 13 et passim Gewahrsein 66, 80 f., 392, 410, 472, 478, 509, 538, 552, 555, 582, 623 f., 703 Gewalt 276 f., 300, 363, 464 f., 655 =., 706, 792, 826, 898, 901–904, 908–920, 947, 953, 974, 1001 Gewissen 550 f., 578, 651, 684, 777, 793, 818, 825, 828 =., 918, 945 f., 949, 952, 953, 959 =., 976, 990, 992 Gewissheit 116, 165, 505, 541, 618, 625, 637 =., 647, 653 f., 658 =., 683, 706, 844, 873, 946 Gewißheit 426, 450, 624, 636 =., 641, 646 f., 665, 683, 688, 841–845, 872, 945 =., 965 f. Gewohnheit 7, 69, 84, et passim Glauben 15, 20 =., 33 et passim gleichgültig 107–109, 125, 129, 136, 162 =., 179, 270, 331, 364, 383, 489, 529, 612, 620, 648, 669, 719 f., 932, 947 Gleichgültigkeit 120 f., 125 =., 154, 297, 612, 686, 737, 741, 971 Gleichheit 40, 102 f., 154, 173, 221, 244, 264, 270, 273, 277, 319 f., 359, 480 f., 527, 540, 546, 623 =., 677, 710, 735, 759, 868, 887–896, 912, 1020 Glückseligkeit 8, 786 f., 835 Gnomen 968
1060 Sachregister Gott 14 =. et passim Gottesbeweis 544 Grad 292, 382, 776 Gravitation 31, 172, 176, 192–195, 203–206, 212, 262, 265, 276 Grenze 201, 289, 327, 427 f. Größe 103, 133, 160, 166, 172–176, 183, 190 =., 200 =., 210 =., 218 =., 274 f., 282, 299, 363, 432, 455, 566, 725, 787, 928, 1002 Grund 29, 32, 52, 101, 105, 114, 180, 186, 194, 216 f., 220, 231, 244, 253, 268, 278, 328, 402, 453, 503, 564, 642 f., 646, 655 =., 683, 693, 710, 747, 759, 779, 802, 824, 862, 872, 892, 917, 926, 990 f., 1000 =., 1006 Gute, das 8, 234, 429, 612, 664, 767, 780 =., 831 =., 837–849, 920, 969, 985, 992 f. Harmonie 253, 285 =., 524, 841 f., 953, 961 Haut 81, 270, 318, 417 f., 440, 447, 532, 556, 676, 930 Heiligkeit 792 f., 821, 852, 890, 951 f. Heilung 461, 598 Hellsehen 584 f. Henotheismus 997 Herrschaft und Knechtschaft 73, 588, 654, 656 Herz 168, 420 =., 550 f., 579, 601, 684, 766, 1014 Hieroglyphenschrift 729, 735 =. Himmel 52, 106, 110, 250, 255, 318, 386, 670, 891, 987, 1014 Holismus 169, 474, 594, 667, 697 homo oeconomicus 803, 877, 1022 Hydrogen 347, 350 f., 359 Hypostasierung 54, 205, 360 f., 369, 381, 404, 475, 479, 666, 886, 971 Idea 59, 136, 500 f. Ideal 42, 83, 207, 228, 234, 429, 498 f., 503 f., 536 =., 541, 670, 687, 775, 787, 888, 967, 972, 976 Idealismus 17, 23 =., 28, 42, 47, 94 f., 121 f., 141, 145, 278, 431 =., 445, 482, 486, 516, 541, 667, 691 f., 697, 724, 1021 Idealität 47, 67 f. et passim idealmathematisch 226 Ideation 136, 500 f. Idee 2, 5, 13 f., 20 et passim Ideell 139 f., 140, 497, 968 =. Ideengeschichte 54 Identität 41, 75 et passim Ideologie 22, 283, 430, 539, 930, 947, 1022 Immanenz 333, 584, 665, 700, 884 Implizit 13, 472, 732, 826, 873 Indi=erenz 161, 336, 341 f., 433 Individualität 6, 116 f. et passim Individuum 66 =. et passim Inferenz 437, 626 Inhalt 18, 28 =. et passim Inneres 9, 74, 82, 104, 107, 115, 121 f., 138, 175, 183, 272 =., 391, 417, 438, 482, 510, 622, 643 f., 707, 712, 718, 732, 744, 754, 812, 828, 884, 943, 980 Innerlichkeit 82, 425, 488, 565, 618, 696, 699 f., 708, 714, 726, 736, 740 f., 750 f., 813, 954, 971, 978 Instinkt 429 f., 436 =., 449, 455, 728 Institution 73, 302, 468, 784, 821 =., 853, 872, 878, 882, 900, 924
Sachregister Intelligenz 71, 84 f., 700–760 et passim Intensität 274, 550, 731 Interesse 16, 34, 57, 92, 197, 256, 325, 348, 476, 487, 518, 537, 571, 611, 657, 674 f., 709, 714, 736, 747 f., 775, 781 =., 818–823, 839 f., 854 f., 868 =., 885, 888, 913 =., 928 =., 947, 1005 f., 1012 =., 1020, 1026 Intuition 387, 548, 571, 586, 637, 655, 659, 683 f., 696, 767, 1001 Intussuszeption 397, 411 Invarianten 389 Ionen 352–357, 374 Ironie 86, 106, 164, 167, 250, 466, 631, 715, 750, 786, 920, 965, 981, 985, 995, 1004, 1006 Irritabilität 415–424, 432, 460 Islam 57, 77, 923, 949, 971, 975, 983, 998, 1013 Ismen 416, 581 Jenseits 225, 975, 981, 985 Judentum 57, 793, 870, 983, 1013 Kalkül 157 =. Kampf 19, 478, 494, 568, 596 f., 623, 651–659, 782, 853, 903, 907, 945, 952 Kampf um Anerkennung 596 f., 656, 853 Kanon 115, 378, 721, 736 Kanonisierung 171, 199, 210, 731, 739, 866, 998 Kantianismus 495, 633, 639 Katachrese 71, 86, 419, 631 Kategorie 39–47, 60, 105, 142, 216, 230, 239, 245, 265, 274, 290 =., 295 f., 320, 374, 398, 542, 543, 588, 634, 638, 642, 672, 675, 684, 687, 688, 710, 719, 728, 1061 735, 757, 758, 759, 887, 901, 943, 1000, 1001, 1005, 1015, 1024 Kategorienfehler 12, 43 Kathode 350 =. Kationen 351 f. Kausal 528, 703 Kausalismus 97, 361, 626 Kausalität 109, 145, 288, 589, 590, 988 Kausalnexus 138, 213, 393 Keim 406, 465 f., 703 f. Kennzeichnung 55, 644 Kind 80, 458, 484, 536, 538, 573–576, 608, 615, 758, 775 Kindheit 19, 564 Kinematik 116, 119, 125, 128, 132, 141, 168, 172, 201, 640 Klang 6, 36, 43, 226, 271, 284 =., 288, 331, 903 Klasse 65, 92 f., 104 et passim Klima 50, 185, 262 f., 266, 269, 455, 530 f., 780 Kognition 45, 83, 443, 517, 726 Kohäsion 6, 271 f., 275 f., 283–294, 321 =., 356, 367 =., 411 f., 424 Kohlensto= 339–345, 377 f., 423, 435 Komet 249 f. Kommunitarismus 855, 867 Konkret 97, 220, 228, 249, 303, 416, 515, 684, 708 f., 1006 Konkretion 249, 303, 515, 708 f., 1006 Konstitution 15 f., 29, 38 =., 44 =., 94 f., 112, 116, 145, 154, 164, 228, 236, 295, 401, 480, 523, 633 f., 642 f., 682, 759, 859, 883, 887, 899, 955 Konstruktion 94, 173, 211 f., 401, 435, 455, 605, 779
1062 Sachregister Kontemplation 897 Kontext 41, 49 et passim Kontingenz 145, 710, 823, 851, 865 Kontinuität 160, 174, 205, 279, 285, 289 =., 312, 382 Kooperationsform 710, 779, 803 =., 850, 868, 1022 Kopula 40, 523 =., 735 Körper 6, 36, 44 et passsim Korporation 9, 875, 879, 914 Korpuskulartheorie 381 Kraft 44, 61, 168 f. et passim Krankheit 7, 456, 460–466, 564, 571 f., , 579 f., 585, 593 f., 597–602, 824 Krieg 908, 911, 921, 929 Kristall 27, 266 f., 297, 312, 316 =., 395 Kristallisation 117, 276 =., 312 f., 321 Kronos 144 f., 393, 629 Kultus 966, 970 =., 978, 987 Kunst 9, 13, 16 et passim Kunstreligion 969, 972, 980 Leben 13, 18 f. et passim Lebensalter 66, 80, 534 =. Leere 505 Leib/Leiblichkeit 43, 56, 62–75 et passim Leidenschaft 534, 599, 774 =., 781 f. Licht 6, 27, 226–266 et passim Linearität 277, 312 linguistic turn 620, 723, 739, 753 List der Vernunft 448 Logik 12, 15 =. et passim Logik des Handelns 832 Luft 6, 27, 36, 402–406, 425, 439, 440, 445, 524, 715, 771,996, 1014 Macht (potentia) 61, 67 et passim Magnetismus 117, 225, 283, 299–312, 323, 334, 336, 348, 357 f., 435 f., 477, 580 f. Mangel 14, 83 f., 336, 359, 427 =., 436 f., 449, 457, 460, 513, 557, 580, 590, 594, 597, 601 f., , 672, 766, 777, 789, 904 =., 946, 950, 958, 971, 979, 1002, 1017 f. Manifestieren 233 =., 243 =., 319 =., 982 Maschine 860 Maß 16, 65, 122, 160, 218, 221 f., 224, 269, 273 =., 281, 290, 432, 658, 702, 744, 935 Masse 35, 119, 160, 166–202, 205, 211 f., , 215, 225, 228 =., 241, 249 =., 256, 260, 267 =., 272 f., , 298, 332, 352, 356, 369, 447, 454, 556, 850, 931 Maßlogik 160 Maßstab 21, 62, 83, 221, 787 Material 74, 100, 396, 423, 436, 439 f., 454, 577, 727 f., 797, 972 materialbegri<ich 11, 150, 237, 275, 380, 590, 667 Materialismus 19, 28, 145, 226 f., 278, 300, 309 f., 393, 416, 435, 523, 622, 692 Materie 5, 53, et passim Mathematik 24, 79, 119, 123–131, 144, 148, 150, 154–165, 195, 307, 328, 384, 482, 669, 734, 760, 863, 923, 955, 983, 1002 f. Mechanik 5 f., 24, 29, 35, 43 f., 49, 92, 115 f., 119 f., 124 f., 132, 167, 172, 179 =., 185 f., 191 f., 197, 202 f., 213 =., 223 =., 263, 270, 273, 279, 284, 287, 291, 308, 329, 338, 352 f., 356, 375, 381, 453, 475, 516, 687, 876, 998
Sachregister Mechanismus 171, 198 f., 225, 266, 300, 304, 313, 335, 436 =., 477, 514, 521, 608 f., 747, 918 f., 1021 Meinung 31, 38, 51 et passim Menge 23, 58, 76 et passim Mengenbildung 1012 Mensch und Tier 271 Menschenkenntnis 473 f. Messung 38, 134, 190, 240 Metamorphose 104 =., 308, 397 f. Metapher 5, 14, 27, 30, 37, 57, 63, 72, 82, 86 f., 99 f., 106, 115, 124, 127 f., 171, 179, 249, 261, 303, 394, 417, 430 =., 451, 548, 552, 563–573, 593, 601, 622, 628, 631, 653–656, 697, 703, 715 f., 722, 725, 736, 745, 828, 861, 939, 988 f., 996, 1001 f. Metaphysik 19, 25, 26, 33, 37, 41, 54, 57, 62, 74, 124, 213 f., 283, 293, 353, 361, 373 =., 432, 443, 457, 468, 502, 598, 627, 680 f., 1015, 1032 Methexis 216, 763, 1024 Methode 11, 19, 24, 30, 37, 45, 85, 93, 112, 130, 154, 210–213, 341 f., 375, 380, 462, 553, 557 =., 613, 717, 732, 780, 791, 906, 924, 932, 981, 998, 1032 Mnemonik 743 f. Mnemosyne 725 Modalität 145 Modell 63, 117 et passim Modus 20, 32, 105, 159, 438, 511, 533, 549, 574, 621, 653, 673, 964, 976, 1018 mögliche Welten 139, 357, 387 Möglichkeit 15, 21 et passim Moment 68, 73, 80, 100 et passim 1063 Monade 142 f., 153, 161, 175, 522 =., 568 =., 583 f. Monadologie 82, 126, 139, 142, 676, 930 Monarch 903 Monotheismus 983, 997, 1008–1013 Moralität 8, 659, 728, 766, 776, 782, 807, 815, 825–828, 835, 851, 864, 868, 940, 952, 992 Mystik 254, 772, 994, 999, 1014 Mythos 57, 144, 940 f., 946, 1022 Nachdenken 92, 112, 139, 169, 295, 558, 598, 615 =., 654, 750 f., 757, 760, 766 =., 774, 788, 864, 886, 939, 966, 1026 Name 40, 305, 352, 363, 595, 733, 738, 740 =., 749, 753, 910 =., 917, 1010 narrativ 159, 237, 264, 315, 474 f., 509 =., 582, 751, 799 Nation 883, 893, 898, 930 f., , 979 Natur 2, 11 f., 18 f. et passim Naturalismus 18 f., 64 f., 145, 393, 421, 528, 569, 1007 f., 1021 f., Naturgesetz 49, 97, 198 f., 204, 264, 867 Naturphilosophie 5 =., 11, 24, 27–34, 43–49, 88, 92 f., 106, 110, 114, 173, 234, 256, 295, 302, 308, 314, 334, 345, 350 =., 357 f., 385, 416, 421, 441, 519, 556 f., 647, 1029, 1032 Naturrecht 825 f. Naturwissenschaft 11, 20, 24, 29 f., 33, 37 f., 42–50, 91 =., 114, 125 =. 154, 173, 216, 229, 251, 283, 320, 348, 454, 468, 483, 487 f., 864, 998, 1021 Naturzustand 826, 920
1064 Sachregister Negation 67, 111 et passim Negation der Negation 130 f., 289, 480, 673 Negativ 16, 96 f., 243, 247 f., 282, 444, 629, 672 f., 922, 1026 Negativität 87, 136 f., 143, 147–154, 160 f., 166, 172, 258 f., 267, 335, 434, 440 f., 486–489, 520, 627, 725 f., 757, 772, 785, 821, 920, 989 =. Negieren 284, 384 Neigung 393, 394, 578, 599, 634, 655, 658 f., 761, 774, 777, 781 f., 785, 851 Nemesis 983 =. Nominalisierung 16, 595, 623 Normalfall 40, 84 f., 90 et passim Normalfallschlüsse 19, 484, 553 Notwendigkeit 70, 91 =. et passim Nous 64, 518 Obertitel 24, 815, 954 Objekt 46, 53, 76 80 f. et passim objektive Wirklichkeit 935 objektiver Geist 494, 780, 791 Objektivität 15, 33, 56 et passim Odyssee 974 O=enbaren 489 =., 981, 984 Ontologie 55 Orakel 131, 137, 504, 521, 784, 809, 963, 1004 Organismus 7, 53, 58, 66, 115, 374, 383, 384, 387, 388–397, 408, 413 f., 422, 426, 430–435, 441–450, 455, 460–463, 477, 559 Ort 5, 12, 24, 30 =., 36, 46 f., 53 f., 102 f., 123 f., 137 =., 153, 160 =., 178, 186, 230, 244, 263, 279 =., 317 =., 357, 360, 389, 397, 410 f., 482, 503, 530, 543, 641, 687, 701 f., 724, 801, 810, 943, 967 f., 1000, 1019 Oxydierung 347 Oxygen 124, 347, 350 f., 359 Pantheismus 97, 99, 1000–1014, 1024–1027 Paradigma 13, 167, 304, 365, 591, 921,1005 Parlament 901–905, 911 =., 917 f., Pendelbewegung 185, 189 Performanz 591, 846 Person 17 =. et passim Persönlichkeit 68, 82, 586, 590, 788, 808 =., 817, 821 f., 826, 851, 889 =., 978 Perturbation 214 Perzeption 40, 63, 79, 82 f., 90, 117, 278, 415 f., 419, 427, 431 f., 481, 529, 550 =., 560, 567, 571, 626 f., 638, 756, 758 Pflanze 63 =., 101, 233, 396–411, 453, 462, 517, 530 Pflicht 634, 658, 767 =., 781 f., 802 =., 811, 830, 837–850, 870 f., 944, 949, 992 Phänomen 52, 80, 189, 233, 246, 274, 317 =., 329, 333, 356, 389, 522, 546, 920 Phänomenologie 5 =., 20, 36, 43, 54, 78 =., 92, 104, 111, 226 =., 291 =., 373, 402, 410, 416, 423, 478, 493, 497, 507 =., 547, 555, 568, 581, 587, 599, 609, 624, 632 f., 636, 640, 652, 665, 681, 703, 739, 760, 942, 1028 f. phänomenologisch 257, 275, 367, 372, 416, 445, 465, 528, 633, 668, 703 =. Phantasie 37, 85, 96, 103, 107, 207, 386, 559, 689, 707–723, 739, 957 f., 979, 1018
Sachregister philosophia 29, 92, 113, 468, 954, 997 philosophy of mind 54, 522, 591, 622 Physik 6 f., 16 =. et passim Physikalismus 18, 213, 266, 416, 622 Physiognomik 620 Physiologie 18, 36, 44 =., 66, 80, 92, 125, 287, 308, 319–323, 349, 353, 398 =., 435, 443, 446, 465, 534, 555 =., 621, 626, 685, 703 Placebo 941 Planeten 125, 146, 170, 176, 181, 193, 196, 201 f., 206–226, 250–253, 267, 281, 529 f., 729 Planimetrie 132 f. Pneumatologie 75, 475 Polarisation 246, 328, 334 f., 360, 393 Polarität 246, 302, 435, 531 Politeia 662 Polizei 9, 677, 862, 875–879, 911, 921 Polytheismus 973, 1008–1013 Poren 241, 242, 266, 273 =., 282, 379, 522, 1025 f. Postulatenlehre 842 f. Potenz 460, 463 Potenzenverhältnis 195, 201 Prädikat 13, 39, 40, 75, 105, 111, 374, 526, 566, 570, 573, 619, 692, 735, 808 Prädikatenlogik 39 prädikativ 236, 625 Pragmatismus 170, 187 praktisches Wissen 512, 746 Prämisse 274, 448 Präsentation 541, 667, 711, 753 Präsupposition 92, 216, 798, 886 1065 Prinzip 35, 38 =. et passim Privation 60, 207, 571, 597, 611, 777 Progreß 545, 822, 866 Progress 459, 545, 663, 683, 822, 823 Projekt 21–26, 31, 45, 48, 59, 345, 468, 557, 854, 931, 935, 940, 943 Prophezeiung 585 Proto-Bewusstsein 80 f., 410, 609, 638, 663 Prototyp 221, 303, 425, 499, 713, 946 Provinz 46 =. Prozess 27, 52, 62 et passim Prozessform 61 f., 153, 164, 170, 297, 310, 337 f., 352, 361, 373 f., 389, 431, 510, 519, 987 Psyche 353, 508, 511, 594, 598, 609 f., 681 psychē 55, 58, 61 f., 555, 939, 1032 Psychologie 5, 8, 20, 24, 54 f., 74 f., 78–82, 353, 443, 475 f., 508–515, 538, 556, 609, 666 =., 675, 680 f., 709, 723, 742, 769, 853, 864, 1030 Punkt 38, 69, 96 et passim Punktkörper 171 Punktualität 277, 301, 312, 321 f., 324 Qualia 94, 546 f., 627 Qualität 133, 365, 634, 748 f., 868 Quantität 125, 129, 238, 337 Rache 818, 821 =., 868, 871 Rationalismus 53, 526, 1001 Raum 5, 36, 69, 84 =. et passim Realität 60, 74 et passim Rechtspflege 9, 150, 862 =., 871–875, 880, 917 Reflexion 11 =. et passim
1066 Sachregister Reflexionsbestimmungen 74, 173, 211 f. 432, 641, 987 Regel 170, 184, 613, 803, 851, 873, 888, 946, 1022 Regen 71, 231, 268, 531, 1018, 1032 Regierung 72, 74, 499, 677, 806, 879, 887 f., 898–919, 943, 953 Regress 459, 541, 607, 813 Reibung 182, 189 =., 263, 285, 291, 294, 331, 336 Reizbarkeit 415, 418 f. Relation 39 =., 109, 162, 170, 223, 227, 505, 560, 568, 576, 592, 630, 706, 724, 736, 920, 991, 1025 Relational 245, 333 Relationslogik 732 Relevanz 28, 116, 483, 747 f., 977 Religion 9, 13, 16, 21 =. et pasim Repräsentation 41, 58, 85, 95, 121, 401, 413, 427, 438, 524, 541, 643, 646, 667, 707, 718, 720, 733, 741 f., 748, 753, 964, 980, 987 Reproduktion 63, 78 f., 136, 357, 397, 406, 415–420, 444, 450 f., 460, 564, 609, 707 =., 748 f., 753 Repulsion 172 =., 193, 202, 314, 423, 427, 809 f. Repulsivkraft 173, 205 Resultat 359, 413, 423, 450, 481, 514, 650, 845, 886 =., 984, 993 f., 1021, 1028 Rhythmus 1005 Roman 142, 148, 386, 575, 584, 701, 707, 751, 815, 931 Ruhe 162, 179, 180, 184–189, 218 f., 539, 770, 953 Ruhm 208 f., 214, 253, 315, 662, 937 Sache 16, 37 =. et passim Säkularisierung 54 Salz 183 f., 207, 261, 278, 285, 312 =., 317, 347, 359, 365, 426, 1003 Satz 27 =. et passim Sauersto= 36, 124, 242, 257, 338–351, 359, 371, 377 f., 420, 423, 435 f., 445, 460 Schacht 68, 563, 703–709, 718 Scheidung 6, 340, 345, 370, 376, 379 =., 1019 Schein 97, 108, 233, 484, 498–501, 648, 662, 681 =., 767, 787, 795, 804, 817 =., 832, 845, 874, 917, 973, 1007 schematisch 15, 30, 37, 49, 163 f., 208, 283, 308, 350, 379, 419, 509, 539, 563, 622, 638, 671, 703, 715, 736, 745, 750 =., 767, 844, 859, 888, 903, 907, 946 Schlaf 80, 516 =., 538 =., 545, 584, 601, 609, 631 Schluss 26, 148, 167, 194, 202, 205 f., 274, 302, 329, 401, 448, 524, 654, 711, 758, 920, 941, 954, 993 =., 1000, 1019–1032 Schmerz 427 =., 428 =., 488, 559, 770 =., 991 Scholastik 733, 994 Schönheit 23, 484, 966–981, 1028 Schöpfung 98, 101, 386, 950, 1014 f. Schranke 69, 427 =., 498 f., 566 =., 605, 614, 885, 938 Schwere 6, 172–230 et passim Science 207, 314, 385, 390, 592 Scorekeeping 791 Seele 5 =., 43, 54 f. et passim Seelenvermögen 767 f. Sehnsucht 1005
Sachregister Seinsweise 75, 203, 234, 250, 340, 405, 409, 412, 466, 473, 517, 611, 905 Selbstbestimmung 39, 49, 92, 401, 478, 509, 550, 625 f. 661, 679 f., 696, 720, 761, 765 f., 770, 773, 780, 785, 788 f., 826, 880, 956, 982, 1034 Selbstbewußtsein 8, 637–660, et passim Selbstdisziplinierung 847 Selbsterkenntnis 472 =., 510, 582, 986 Selbstermächtigung 720 Selbstgefühl 7, 68 =., 81, 404, 417 f., 422 f., 457 f., 462, 476 =., 543, 550 =., 560 f., 592 f., 599 f., 603 f., 609 =., 621 =., 629, 648 =., 695, 739 Selbstgewahrsein 472, 589 Selbstgewissheit 81, 625, 648–655 Selbstwissen 39, 114, 472, 481, 567, 601, 650 =., 986, 1033 Seligkeit 498 Semantik 52, 277, 408, 548, 673 f., 682, 716 Sensibilität 69, 415 =., 423 f., 432, 460 Sinn 14 =. et passim Sinnkritik 16, 509 Sinnlichkeit 71, 84, 94, 140 f., 145, 337, 342, 519, 640 f., 646 f., 697 f., 738, 981, 986 Sitte 800 =., 848, 885, 937 f., 971 Sittlichkeit 8, 103, 505, 536 f., 659, 677, 728, 764–769, 793 f., 801, 807, 825, 841, 846–855, 861–879, 904, 938–960, 978 f., 983, 992 f., , 1017, 1022 f. Skeptiker 485, 914 1067 Skeptizismus 57, 504, 541, 661 Sollen 428, 534, 549, 660, 762, 765, 770–774, 837, 843, 847 =., 870, 940 Somnambulismus 579, 582 Sophisten 485, 780 Spekulation 12, 314, 985, 1018 spekulative Sätze 14, 19, 52, 146 spekulatives Denken 523 Spinozismus 636, 1004 f., 1018 Spontaneität 626, 701 Sprache 12 =. et passim Sprachphilosophie 54, 79, 674, 778 Sprechakt 712, 814 Sprechhandlungen 68, 69, 158, 401, 791 Staatsrecht 9, 882 =., 921 Stände 46, 860 =., 885, 901, 915 f., 1026 Stenographie 724, 757 Stereotyp 108 Steresis 60 Sticksto= 340 =., 345, 378, 435, 462 Stipulation 812 =. Stoa 488 f., 661, 958 Stöchiometrie 354, 367 f., 380 Sto= 64, 228 et passim Stoizismus 57, 782 Strafe 71, 773 f., 803 f., 818–825, 867 =., 871 =. Subjekt 22, 31, 42 et passim Subjektivismus 22, 104 Substantialität 67 f., 174, 559 =., 574, 584, 589, 603 f., 629, 855, 898, 943 f., 957, 1006 =., 1024 f. Substrat 313 Subsumtion 705, 714 =., 901 f., 906, 952, 994
1068 Sachregister Sünde 1026 Supermonade 524 =., 667 Syllogistik 733 Symbol 86 f.,153, 557, 718, 722 f., 900, 946, 969 =. Syntax 674, 728 Synthese/Synthesis 700, 707, 716 =., 735, 745 Szientismus 945, 998 Tastsinn 556 Tautologie 59, 781 =., 829, 891 f., 924 Teilbarkeit 67, 116, 119 =., 125, 165, 565 Teleologie 61, 117, 171, 252, 378, 388, 437, 449, 453, 478 f., 513, 521, 615 f., 1021 Temperatur 259, 290 =., 296, 354, 367 =. Tendenz 22, 115 f., 179, 186, 212, 270, 292, 295, 304, 312, 336, 436, 445, 493, 532, 542, 558, 578 =., 623, 754, 831, 835, 848, 905, 1004 Theologie 18, 23, 37, 55, 76 f., 99, 151, 511 f., 522, 551, 636, 941, 949, 961, 977 =., 983 =., 998–1005, 1025, 1032 Theorie 28, 35, 42, 45 f., 52, 117, 124 =., 167, 181, 189–195, 204 f., 209 =., 239, 242, 246, 250, 314, 318 f., 326 =., 352, 363, 368, 373, 381, 386, 404, 422, 433, 475, 627, 635, 1031 Thermodynamik 43, 291 f. Tier 31, 49, 101, 138, 146, 153, 241, 391, 397, 409–412, 425, 431, 440 f., 450, 453, 455, 456 =., 463 =., 478, 514 f., 529 f., 571, 617, 620, 629, 637, 648, 671, 758, 811, 819 Titelwort 738, 955 Topik 28 f. Topographie 114, 156, 237, 295, 402, 483, 680, 1033 Totalität 6, 12, 68 et passim Tractatus 22, 68, 149, 486, 678, 955 Trägerformen 587 transzendentale Apperzeption 82 Transzendentalphilosophie 48, 78, 306, 433, 472, 665 Traum 154, 390, 540, 544, 599, 733 Trieb 49, 413, 426–430, 436 f., 449, 457 =., 646 =., 774, 782, 795 Trinität 989, 993 f., 1010, 1013 Tropen 728 Tugend 503, 851, 891 Typ 12, 18, 38, 49, 95, 106, 109, 120, 142, 191, 242, 326, 342, 352, 376, 441, 448, 453, 523, 600, 701, 740, 753 =., 758, 762, 1018 Übel, das 771 f., 803, 867 Übergehen 151, 160, 284, 413, 416 f., 503, 514, 850 Umschlagen 218, 440 Umwelt 29, 49, 70, 90, 97, 107, 114, 140, 177, 299, 411 f., 415, 421 =., 439 =., 455, 456, 464 =., 487, 538, 571, 775, 798 Unantastbarkeit 792, 821, 890 Und-so-weiter 123, 165, 459 Undurchdringlichkeit 226, 317 unendliches Urteil 820 Unendlichkeit 64, 125, 160, 427 =., 459, 498, 669, 686, 843 f., 866 Ungleichheit 154, 161, 220, 325 =., 527, 654, 710, 887 f., 894 f. Universum 436, 1010 Unmittelbarkeit 7, 25, 69 et passim
Sachregister Unrecht 8, 175, 223, 314, 815–822, 869, 876 f., 916 f. Unterschied 6, 33, 36, 50 et passim Urknall 142, 387 Ursache 15, 19, 158, 180, 185, 232, 243, 268, 294, 308, 320, 381, 404, 424, 433, 437, 445 =., 453, 458, 477, 555, 592 f., 598, 626 =., 634 f., 640, 666, 693, 696, 757, 772, 854, 863, 935, 989 Urteilskraft 14, 37, 63, 155 =., 262, 376, 482 f., 500, 503, 509, 633 f., 642, 671, 682 f., 714 f., 736, 752, 760, 789, 839, 938, 971, 989 f., 1017, 1022 Urvolk 927 Urzeugung 103, 107, 385 f. Utilitarismus 786 f., 888 Utopie 167, 499, 660, 733 Variablen 17, 144, 527, 603, 640, 694, 713, 734 f., 759 Verbrechen 17, 800, 803 f., 820 =., 836, 870, 875, 891 Verdauung 382, 423, 442–446 Vereinung 6, 345 =., 380 f., 854 Vergangenheit 31 =., 91, 106, 110, 138, 141, 148, 151 =., 240, 395, 459, 485, 625, 815, 926, 931 f., 1017 Vergegenständlichung 81, 127, 594, 718, 994 Verrücktheit 479, 501, 530, 594 =., 597–602 Verschiedenheit 123, 173, 220, et passim Versöhnung 22, 48, 659, 960, 966, 975 =., 987 f. Vertrag 8, 791, 812–817, 827 Vertrauen 57, 517, 581, 683, 850 =., 862 f., 867, 906 Vigilanz 80, 538, 609, 623, 703 1069 Völkerrecht 921 Volksgeist 905, 922, 936 =., 973 Vollzugsform 12, 20, 48, 60 =., 81, 126, 140 f., 167, 295, 421, 437, 451, 466 f., 485, 490, 507 f., 514, 520, 523, 561 f., 569, 578, 623, 633, 670, 749, 762, 833, 846 f., 957, 967, 982, 1028 Vollzugssubjekt 75, 409, 569, 1017 Voltaische Säule 337, 363 Vorsatz 8, 655, 803, 831–836, 845, 872 f. Wachheit 80 f., 538 =., 543, 583, 609, 663, 703 Wahlverwandtschaft 253, 338, 366, 367, 368, 372, 715 wahre Religion 942, 982 Wahrnehmung 40, 74, 95, 166, 248, 316, 359, 417, 430, 481, 484, 541, 545, 552–560, 588, 607, 626, 643, 649, 698, 701, 755 Wärmegrade 272, 292 Wissenschaft 12 =. et passim Wissenschaftslehre 111, 472 Wohl 8, 61, 107, 510, 537, 768, 834–842, 875, 1014 Wohlfahrt 875, 884 Wolken 52, 267 f., 316, 359 Wunsch 35, 41, 372, 475, 765, 786 =., 801, 804, 842 Zeitlichkeit 18, 33, 58, 98, 141, 240, 284, 285, 990 f. Zeitmoment 179, 192, 195 Zeitpunkte 138, 160, 209, 280 Zentralkörper 190, 251 Zentrifugalkraft 205, 211, 217 =. Zentripetalkraft 193 =., 211 f., 217 =. Zufall 97, 108 f., 113, 251, 392, 410 f., 440, 453, 629, 706, 712,
1070 Sachregister 730, 781, 833, 855 f., 861, 867, 875, 936, 1002, 1022 Zukunft 33, 95, 138, 141, 147, 150–153, 241, 459, 485, 571, 657, 707, 756, 882, 900, 924, 941, 981, 1002 Zutrauen 204, 853 Zwang 792, 824, 892 Zweck 44 =., 61, 68, 84, 90 =., 106, 413, 422, 436 =., 448, 454, 476, 611–615, 671, 675, 682, 689, 744, 763 =., 780 f., 786–800, 808, 834–842, 875–879, 913, 928 =., 934, 1030 Zweifel 328, 386, 438, 544, 653, 684, 917, 976