Author: Otte M.  

Tags: wirtschaft   finanzen  

ISBN: 978-3-658-23178-1

Year: 2019

Text
                    Max Otte

Die Finanzmärkte
und die ökonomische
Selbstbehauptung Europas
Gedanken zu Finanzkrisen, Marktwirtschaft
und Unternehmertum


Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas
Max Otte Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas Gedanken zu Finanzkrisen, Marktwirtschaft und Unternehmertum
Max Otte IFVE Institut für Vermögensentwicklung Köln, Deutschland ISBN 978-3-658-23178-1 ISBN 978-3-658-23179-8 https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8 (eBook) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichenund Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Fundierte Analysen und Vorschläge Erfolgreiche Crash-Gurus brauchen eine saubere Analyse, die Fähigkeit komplizierte Sachverhalte einfach und breitenwirksam zu erklären und etwas Glück. Max Otte hat mit Der Crash kommt im Jahr 2006 alle drei Voraussetzungen erfüllt und dürfte deshalb zu Recht der erfolgreichste deutsche Crash-Guru aller Zeiten sein. Das richtige Timing von Prognosen ist äußerst schwierig. Dementsprechend selten treffen sie zu. Schon der englische Nationalökonom John Maynard Keynes hat früh erkannt, dass das mit dem Timing von Vorhersagen so ein Problem ist: „Markets can remain irrational a lot longer than you and I can remain solvent.“ Märkte können also viel länger irrational sein, als die finanziellen Mittel des dagegen spekulierenden Investors reichen. Die Geschichte ist voll von diesen Beispielen. Max Otte lag mit seinem Timing perfekt. Schon im Jahr 2007 begann die größte Finanz- und Wirtschaftskrise seit der großen Depression der 1930er Jahre. Er hat die Grundursachen sauber analysiert, sich die Mühe gemacht, seine Thesen allgemein verständlich zu formulieren, Empfehlungen zum Vermögensschutz gegeben und das Ganze in Buchform pünktlich veröffentlicht. Aus diesem Grunde lohnt es sich, gut zuzuhören, wenn Professor Otte sich zu Wort meldet. Er blickt weiter als die meisten, er formuliert klarer und vor allem hat er den Mut, sich entsprechend zu äußern. Aller Kritik und Häme die man als Mahner manchmal erleiden muss zum Trotz. Der vorliegende Band umfasst die gesamte Bandbreite des Schaffens von Professor Otte. Es zeigt sich, dass er bei seinen Analysen aus einem tiefen Wissensfundus aus den Bereichen der Ökonomie und Sozialwissenschaft, der Geschichtswissenschaft, der Politikwissenschaft und der Philosophie schöpft. Damit ist er in der Lage, so unterschiedliche Themen wie die Corporate-Social-Responsibility-Debatte, die Bedrohung des europäischen Wirtschaftsmodells oder die Verbindungen zwischen Internet- und Finanzwirtschaft zu analysieren. Eine erfreuliche und lohnende Lektüre. Berlin, im August 2018 Dr. Daniel Stelter V
Vorwort War die Finanzkrise vorhersehbar? „Natürlich war sie das!“, argumentiere ich in „Die Finanzkrise, der Crashprophet und die Wissenschaft von der Ökonomie“, einem Aufsatz, der aus dem Kölner Vortrag für Wirtschafts- und Sozialgeschichte hervorging und der im Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte veröffentlicht wurde. Noch mehr als das: Ich lege dar, warum Ökonomen gegenüber möglichen Finanzkrisen zumindest halb blind sind und warum sich daran so schnell nichts ändern wird. Und wie ich letztlich zu meiner punktgenauen Prognose kam. Die vorliegenden Gedanken zu Finanzkrisen, Finanzmärkten, Wirtschaft und Unternehmertum habe ich mir im Jahrzehnt nach der Finanzkrise gemacht. Sie erschienen in verschiedenen Fachzeitschriften und liegen hier erstmals in gesammelter Form vor. Durch mein Buch „Der Crash kommt“ aus dem Jahr 2006 wurde ich nach Eintreffen der Finanzkrise einer größeren Öffentlichkeit bekannt und war regelmäßig in Nachrichtensendungen, Talkshows und bei Konferenzen zu Gast. Ich hielt über 500 Vorträge vor den verschiedensten Teilnehmerkreisen: der Konferenz der nordischen Gewerkschaften im Finanzwesen, dem Treffen der holländischen CFOs, vor Germanisten an der Universität Hamburg, Zahnärzten, Unternehmen, Großbanken, Raiffeisenbanken und Volksbanken, Sparkassen. Immer wieder machte ich mir grundlegende Gedanken zur Form einer nachhaltigen Finanzarchitektur, zum ethischen Wirtschaften, zum Umbau des deutschen Bankwesens, aber auch zum Finanzkapitalismus und dem mitteleuropäischen Wirtschaftsmodell und – für das österreichische Verteidigungsministerium – zur ökonomischen Selbstbehauptung Europas. „Wie können wir unser Finanzsystem stabiler und unsere Wirtschaft ethischer gestalten?“, war eine Frage, die ich mir ständig gestellt habe. Viele Antworten finden sich in diesem Buch, zum Beispiel in „Grundlagen einer neuen Finanzmarktarchitektur“, Gedanken, die ich mir für die Konrad-Adenauer-Stiftung gemacht habe. In derselben Zeit baute ich auch meine Finanzunternehmen auf. In „Wie ich zum Unternehmer wurde – Lehren für junge Entrepreneure“ ziehe ich für den Entrepreneurship VII
VIII Vorwort Summit in Berlin Bilanz meines bisherigen Unternehmerlebens und leite einige Lehren für Jungunternehmer ab. In „Ganz passabel“ beschreibe ich für das Kursbuch 1964 des Münchner Soziologen Armin Nassehi, was die Menschen ungefähr meines Alters von der 68er-Generation unterscheidet. In „The Star and the Many“ gehe ich der Frage nach, warum heute Bekanntheit so schnell kommt und auch wieder geht, und was das mit uns macht. Die Künstler Elmgren & Dragset hatten mich gebeten, zum Begleitband einer ihrer Ausstellungen beizutragen. Leider befindet sich die Welt ein Jahrzehnt nach der Finanzkrise nicht wirklich auf einem guten Kurs. Populismus, Handelskonflikte und die Instabilität im System nehmen zu. In „Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus“ werfe ich einen Blick auf die Prognosen, die dieser Prophet des Niedergangs (John Farrenkopf) für die Spätphase des Kapitalismus gemacht hat. In „Der BREXIT und andere ‚Unfälle‘ – Tiefere Ursachen und Konsequenzen für die deutsche Wirtschaft“ gehe ich den aktuellen Verwerfungen in der Weltwirtschaft auf den Grund und leite Konsequenzen und Handlungsmaximen für die deutsche Wirtschaft ab. Es wird Zeit, dass wir die Konsequenzen aus mehreren Jahrzehnten weitgehend verfehlter Wirtschafts- und Finanzpolitik ziehen. Ich bin als selbstständiger Finanzunternehmer unabhängig und muss nicht – wie zum Beispiel Forschungsinstitute – nach dem nächsten Regierungsauftrag schauen. Das macht frei. Meine Vorschläge, wie das funktionieren könnte, habe ich hier niedergeschrieben. Wenn das Buch ein klein wenig zur Debatte über den zukünftigen Kurs unserer Wirtschaft beitragen kann, würde ich mich freuen. Köln, im August 2018 Max Otte
Inhaltsverzeichnis Fundierte Analysen und Vorschläge ........................................................................... V Vorwort ........................................................................................................................ VII Teil 1: Der Crashprophet und die Finanzmärkte ............................................... 1 1 Der Jahrgang 1964: Ganz passabel ................................................................. 3 2 Die Finanzkrise und das Versagen der modernen Ökonomie ...................... 2.1 Ursachen ................................................................................................... 2.2 Folgen: Wo stehen wir heute? .................................................................. 2.3 Regulierung der Finanzmärkte ................................................................. 2.4 Eine neue Ökonomie? .............................................................................. 2.5 Literatur .................................................................................................... 7 8 10 12 15 17 3 Die Finanzkrise, der Crashprophet und die Wissenschaft von der modernen Ökonomie .............................................................................. 3.1 Die Finanzkrise und die Ökonomen ........................................................ 3.2 Der „Crashprophet“ .................................................................................. 3.3 Schweigen und Fehlprognosen der Ökonomen: eine institutionenökonomische Erklärung ................................................ 3.4 Theoretische und empirische Wirtschaftsforschung: Grenzen und Probleme des Modelldenkens .................................................................. 3.5 Methodologischer Individualismus, historische Schule, Wirtschaftsgeschichte und politische Ökonomie ..................................... 3.6 Nach der Finanzkrise: Eine (sehr) kurze Standortbestimmung ............... 3.7 Literatur .................................................................................................... 19 19 23 26 30 34 39 43 IX
X Inhaltsverzeichnis 4 Wie ich zum Unternehmer wurde: Lehren für zukünftige Entrepreneure ... 49 5 The Star and the Many ..................................................................................... 5.1 The Age of Disinformation ...................................................................... 5.2 The End of Reason ................................................................................... 61 62 65 Teil 2: Die Finanzmärkte ........................................................................................ 67 6 Fiktion und Realität im Finanzwesen .............................................................. 6.1 Fiktion und Fakten ................................................................................... 6.2 Die Grenzen der Ökonomie als exakte Wissenschaft .............................. 6.3 Die Wechselwirkungen von „Realökonomie“ und Fiktionalität am Beispiel von fünf zentralen Begriffsfeldern der Ökonomie ............... 6.4 Die Hyperrealität der Geldwirtschaft ....................................................... 6.5 Literatur .................................................................................................... 69 69 70 7 Grundlagen einer neuen Finanzmarktarchitektur ........................................ 7.1 Warum Finanzmärkte besonders streng reguliert werden müssen .......... 7.2 Raubtierkapitalismus, Moral Hazard und das Wolfsrudel ....................... 7.3 Hypertrophe Spekulationsmärkte und Spekulationsförderungswirtschaft 7.4 Prinzipien der Regulierung von Finanzmärkten ...................................... 7.5 Aktionsfelder ............................................................................................ 7.6 Stand der Maßnahmen ............................................................................. 7.7 Deutschlands Rolle .................................................................................. 7.8 Literatur .................................................................................................... 83 83 84 86 87 88 94 96 97 8 Für einen schlanken, starken Staat .................................................................. 8.1 Warum insbesondere Finanzmärkte reguliert werden müssen ................ 8.2 Elf Punkte für eine umfassende und marktkonforme Regulierung .......... 8.3 Literatur .................................................................................................... 101 101 102 104 9 Finanztransaktionssteuer ................................................................................. 105 10 Ethik und Marktordnung im Finanzwesen .................................................... 10.1 Ideologie: Von der Marktordnung zur Marktgläubigkeit ........................ 10.2 Ethik ......................................................................................................... 10.3 Regulierung I: Von Eigenverantwortung zu Bürokratismus ................... 10.4 Regulierung II: Vom kreditorientierten (kontinentaleuropäischen) zum kapitalmarktorientierten (angelsächsischen) System ....................... 73 79 81 109 109 114 116 118 11 Das deutsche Bankwesen .................................................................................. 123 11.1 Einleitung .................................................................................................. 123 11.2 Das dreigliedrige deutsche Banken- und Finanzsystem: Eine kurze Geschichte .............................................................................. 125
Inhaltsverzeichnis 11.3 11.4 11.5 11.6 11.7 Die Große Depression und ihre Folgen: Die Finanzmärkte kommen an die Kette .............................................................................................. Neuere Entwicklungen: Vom Siegeszug des Neoliberalismus und entfesselte Finanzmärkte über die deutsche Wiedervereinigung bis zur Finanzkrise ................................................................................... Bewertung des deutschen Bankensystems: Ist die Kapitalmarktorientierung der Weisheit letzter Schluss? ............... Leitplanken, Brandschutzmauern und Entschleuniger: Ansätze zur Reform ................................................................................. Literatur .................................................................................................... 12 Volks- und Raiffeisenbanken als Stabilitätsfaktor in Wirtschaftskrisen .... 12.1 Finanzmarktregulierung, Bankensystem und Finanzkrisen ..................... 12.2 Das Geschäftsmodell der Volks- und Raiffeisenbanken: Historische Perspektive und Aktualität in der Krise ................................ 12.3 Die Volks- und Raiffeisenbanken und die Finanzkrise ........................... 12.4 Herausforderungen und Chancen ............................................................. 12.5 Schlussbemerkung ................................................................................... 12.6 Literatur .................................................................................................... XI 129 130 136 140 146 149 149 152 157 158 161 162 13 Negativzinsen: Der Marsch in den Kontrollstaat ........................................... 165 13.1 Literatur .................................................................................................... 169 14 Finanzmärkte und Netzwirtschaft: Wenn der Überbau zum Mythos wird .. 171 Teil 3: Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell .................. 177 15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus ............................... 15.1 Einleitung ................................................................................................. 15.2 Kulturzyklen, Geld und die zunehmende Abstraktion der Lebensbereiche .................................................................................. 15.3 Soziobiologie: Wirtschaft und Technik als integraler Bestandteil des einen Lebens ...................................................................................... 15.4 Relativierung der modernen Nationalökonomie ...................................... 15.5 Finanzkapitalismus – das letzte Prinzip des Westens .............................. 15.6 Priester- und Kriegerkasten: Ökonomen und Manager ........................... 15.7 Das Gegenprinzip: „Preußischer Sozialismus“ ........................................ 15.8 Kriege, der Finanzkapitalismus und die „Neue Weltordnung“ ............... 15.9 Ausblick: Zeichen des Verfalls ................................................................ 15.10 Literatur .................................................................................................... 179 179 180 184 186 187 194 199 208 210 212
XII Inhaltsverzeichnis 16 Wir machen den Mittelstand mit Bürokratismus platt ................................. 16.1 Kapitalistische Planwirtschaft .................................................................. 16.2 Die Finanzbranche ist kein Einzelfall ...................................................... 16.3 Kapitalistische Nomenklatura .................................................................. 16.4 Es ginge auch anders ................................................................................ 215 215 216 217 217 17 Government statt Governance – warum die Corporate-SocialResponsibility-Debatte in die falsche Richtung führt .................................... 17.1 Die Ethik des Marktes .............................................................................. 17.2 Die „Betriebssysteme“ der Wirtschaft ..................................................... 17.3 Regulierung des Finanzsystems ............................................................... 17.4 Schluss ...................................................................................................... 219 220 223 225 229 18 Zum Umgang mit Griechenland ...................................................................... 18.1 Der Geburtsfehler der Europäischen Währungsunion ............................. 18.2 Grundstein- oder Krönungstheorie? ......................................................... 18.3 Die Krise in Griechenland (und in den PIIGS) ........................................ 18.4 Wege aus der Krise .................................................................................. 18.5 Institutionen und Akteure ......................................................................... 18.6 Instrumente ............................................................................................... 18.7 Außenpolitische Ungleichgewichte ......................................................... 18.8 Weitergehende Lösungen ......................................................................... 18.9 Literatur .................................................................................................... 231 232 233 234 235 237 238 238 239 240 19 Globalisierung, mitteleuropäisches Wirtschaftsmodell und angelsächsischer Kapitalismus ......................................................................... 19.1 Zusammenfassung ..................................................................................... 19.2 Der Hintergrund ....................................................................................... 19.3 Das europäische Wirtschaftsmodell ......................................................... 19.4 Europa als ökonomisches Objekt ............................................................. 19.5 Europa als ökonomisches Subjekt ........................................................... 19.6 Schlussbemerkung ................................................................................... 19.7 Literatur .................................................................................................... 243 243 244 245 246 250 252 253 20 Der BREXIT und andere „Unfälle“ – tiefere Ursachen und Konsequenzen für die deutsche Wirtschaft .................................................... 20.1 Der BREXIT als Symptom einer tiefgreifenden Krise der „liberalen Wirtschaftsordnung“ ......................................................... 20.2 Die Zukunft: Protektionismus und Re-Nationalisierung? ....................... 20.3 Ein Kompass für die deutsche Industrie und Politik in einer Ära steigender Unsicherheit ........................................................ 20.4 Literatur .................................................................................................... 255 256 259 262 264
Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte 1
1 1 Der Jahrgang 1964: Ganz passabel Als der bekannte amerikanische Historiker und Kennedy-Vertraute Arthur M. Schlesinger jr. im Jahr 1986 an der American University in Washington, D. C. sein Buch The Cycles of American History vorstellte, befand sich im Auditorium auch der knapp 22-jährige Austauschstudent Max Otte. Endlich war er im Land seiner Ambitionen angekommen und saß nun einer Persönlichkeit gegenüber, über die er bereits als Teenager gelesen hatte. Unter den Austauschstudenten befand sich auch Wolfram Weimer, der spätere Chefredakteur von Welt, Cicero und Focus, ebenfalls 64er. Schlesinger legte dar, dass die amerikanische Geschichte in gewisser Weise einen zyklischen Charakter habe, bei dem das Land zwischen einer stärkeren Ausrichtung auf das Gemeinwohl („Public Purpose“) und das Individuum schwanke. In diesem Zusammenhang sei der Einfluss der Generationenfolge auf Politik, öffentliches Leben und Wirtschaft häufig unterschätzt worden und es sei an der Zeit, diesen angemessen zu würdigen. Darüber dachte ich nach und kann dem Argument bis heute viel abgewinnen. Es hat aus meiner Sicht einen erheblichen Einfluss auf das Lebensgefühl, wie wir aufwachsen. Durch welche Bedingungen sind wir, der geburtenstärkste Jahrgang der Republik, geprägt worden? Vielleicht lohnt es sich, zum Vergleich die wahrscheinlich meistbeleuchtete Nachkriegsgeneration – die Achtundsechziger – heranzuziehen. Sie fielen dadurch auf, dass sie das traditionelle Deutschland kräftig durchschüttelten („Unter den Talaren der Mief von 1000 Jahren“), Kommunen gründeten und außerparlamentarische Opposition betrieben. Der demografische Kern dieser Generation waren wohl die damals 18- bis 28-Jährigen, also die Jahrgänge von 1940 bis 1950. Dass es da an den Rändern zeitliche Unschärfen gibt und dass nicht jeder sich als typischer Vertreter seiner Generation entpuppt, versteht sich dabei von selbst. Heute fällt vor allem auf, wie etabliert diese Generation ist, wie sehr sie die Macht vor allem im öffentlich-rechtlichen Raum erobert und sich dort breit gemacht hat. Von 3 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_1
4 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte den alten Idealen ist bis auf Sonntagsreden wenig übriggeblieben, und oft nicht einmal die. Bei vielen ist die Entwicklung geradezu unappetitlich. Man denke an Daniel CohnBendit oder Joschka Fischer. Einige wenige – der Autor zählt hierzu auch Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine – haben mit den Jahren an Statur gewonnen. Wie konnte diese Generation in der Jugend so große Reden schwingen und sich später umso mehr anpassen? Ihre Mitglieder sind oft unter schwierigsten und armen Nachkriegsbedingungen groß geworden. Aber es ging ständig bergauf. Rückschläge gab es kaum. Man konnte sich fast alles erlauben – auch, beim Studium auszurasten. Das deutsche Jobwunder lief. Jeder, auch Studienabbrecher, konnten sich ziemlich sicher sein, nachher ordentlich unterzukommen. Zudem war man nahe dran an der Kriegsgeneration, den hauptsächlich von 1910 bis 1925 Geborenen. Die Achtundsechziger wurden also von zwei Motiven und einer Grundstimmung getragen: Ein Hauptmotiv war sicher, sich von den Vätern, der Kriegsgeneration, abzusetzen, ein anderes, das Leben zu genießen. Dabei gab es bei aller Ärmlichkeit des Starts das Gefühl einer hohen Grundsicherheit – es wurde alles fast unaufhaltsam immer besser. Dieses Gefühl der Grundsicherheit hatten wir Baby Boomer auch noch. Allerdings bröckelte es schon etwas. Wir mussten uns schon mehr anstrengen und wussten das von Anfang an. Denn wir waren viele. Mein Jahr 1964 markiert den Höhepunkt des Babybooms. Die Schulen waren übervoll. In meiner Grundschulklasse starteten wir mit knapp 40 Schülern. „Ja, wenn du dich anstrengst, ist dir eine gute Position in der Gesellschaft sicher,“ das war der Grundgedanke. Und es ging. Gleichzeitig hatten wir nicht das Gefühl, uns so nachdrücklich von der Kriegsgeneration absetzen zu müssen. Vor Kurzem sprach ich mit einem Bekannten aus der 68erGeneration, der früher sehr aktiv bei den Jusos war. Er erzählte davon, wie sehr ihm die Erzählungen der alten Frontsoldaten gegen den Strich gingen. Diese waren ja oft nicht so viel älter als er. Dass diese oftmals traumatisierten Menschen nicht viel mehr hatten als ihre Erinnerungen, vergaß er dabei. Auch ich hatte noch Lehrer, die im Zweiten Weltkrieg waren. Bei unserem Musiklehrer, Benno Jünemann, waren zwei Finger der linken Hand gelähmt, dennoch spielte er erstaunlich gut Klavier. Als Chorleiter verfiel er in Ekstase. Seine ungemeine Begeisterung für die Musik steckte etliche von uns an – wenn auch manchmal erst sehr viel später. Als Teilnehmer des Russlandfeldzugs kamen auch seine Traumata durch, wenn er sich ob unserer Unaufmerksamkeit geärgert hatte und die Klasse zusammenbrüllte. Ein ehemaliger Nazi war er nicht, aber ein Patriot – und das zeigte er auch. Bei einem anderen Lehrer war ich mir bezüglich der Parteizugehörigkeit zur NSDAP nicht so sicher. Wir haben die Menschen dieser Generation mit all ihren Macken so genommen, wie sie waren – und von ihnen profitiert. Wir haben auch die Bilder von Woodstock gesehen. Rockmusik hat auch uns fasziniert. Dennoch wurde die Generation der heute 50-Jährigen eine Generation der eher stillen Leistungsträger, die eine insgesamt konservativere Ausrichtung haben. Sie ist pragmatischer, differenzierter. Sie hatte nicht so viel nachzuholen, wie die Achtundsechziger und musste sich auf der anderen Seite schon mehr anstrengen. Und da sie nicht mit
1 Der Jahrgang 1964: Ganz passabel 5 ganz so hohen Idealen angetreten ist wie die Achtundsechziger, fiel der Sturz nachher auch nicht so dramatisch aus. So glaube ich, dass wir Babyboomer ein insgesamt recht passables Bild abgeben. Die Umstände, die uns formten, erwiesen sich im Nachhinein als ausgesprochen glücklich. Sorgen macht mir die Zukunft der Generation der jetzt vielleicht 20- oder 25-Jährigen. Sie sind in eine harte, ungerechte, ungleiche Gesellschaft hineingeboren, in der auch gute und kontinuierliche Leistung kein Garant mehr für ein materiell halbwegs sorgenfreies Leben ist. Die Unwägbarkeiten des Hyperkapitalismus sind stark angewachsen. Wenn ich die Studierenden an meiner Hochschule sehe, blicke ich in die Gesichter einer wie wir pragmatischen Generation mit der Energie der Jugend. Das tut gut. Es belebt. Ein Privileg meines Berufs. Aber trotz aller Verlockungen möchte ich mein Geburtsjahr nicht mit dem eines Angehörigen dieser Generation tauschen.  Ursprünglich erschienen in Kursbuch, bei Murmann Publishers, 2014.
2 2 Die Finanzkrise und das Versagen der modernen Ökonomie Verfolgte man die Berichterstattung im Sommer 2009, so hätte man den Eindruck gewinnen können, als ob die durch die Finanzkrise hervorgerufenen globalen ökonomischen Erschütterungen nun an ihr Ende gelangt seien. Positive Unternehmens und Wirtschaftsdaten dominierten die Nachrichten. Auch die Politik kehrte zunehmend zum Tagesgeschäft zurück. Die Rufe nach einer effektiven Regulierung der Finanzmärkte wurden leiser. Und auch die Selbstkritik der Ökonomen – im Herbst 2008 durchaus wahrnehmbar – ebbte schnell ab. Doch im Herbst 2009 wurde die Freude über das Ende des massiven Konjunktureinbruchs durch neue Wermutstropfen getrübt. Der Welthandel soll 2009 um zwölf Prozent einbrechen. (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2009) In den USA erreichten die problematischen Subprime-Kredite mit 9,2 Prozent aller Kredite in Zahlungsverzug oder Zwangsvollstreckung einen neuen Höchststand. Dort und in Großbritannien haben die Haushaltsdefizite mehr als zehn Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts (BIP) erreicht – Zahlen, die normalerweise nur in größeren Kriegen erreicht werden. Erst im Rückblick werden wir wissen, ob das Jahr 2009 das Ende der Finanzkrise und der sich anschließenden globalen Rezession bedeutet hat oder nicht.  Zum Zeitpunkt der Niederschrift konnte von einer „Weltwirtschaftskrise“ im klassischen Sinne des Wortes – nämlich einer globalen Depression mit Massenarbeitslosigkeit – nicht gesprochen werden. Ökonomische Vorhersagen sind immer mit sehr hoher Unsicherheit behaftet, obwohl sie in der täglichen Berichterstattung der Medien einen prominenten Platz einnehmen und umfassend diskutiert und kommentiert werden. Der Normalfall ist, dass die ökonomische 7 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_2
8 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte Entwicklung nicht quantitativ prognostiziert werden kann. Es gibt zudem viele Belege dafür, dass die Prognosen von Ökonomen und Finanzanalysten der Realität der Wirtschaft hinterherlaufen. (vgl. Montier 2007) Zudem handelt es sich bei Krisen um gesellschaftliche Phänomene, die entscheidend durch die Erwartungen und Handlungen der Akteure geprägt werden. So könnten Prognosen zu ihrer eigenen Ungültigkeit führen. (vgl. Hegel 1970) Es ist daher nur konsequent, wenn Klaus Zimmermann auf die Gefährlichkeit von Prognosen hinweist und 2009 für das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ganz darauf verzichtete. (vgl. Zimmermann 2009) 2.1 Ursachen Als ich zur Jahreswende 2005/2006 schrieb, dass uns ein Finanztsunami mit anschließender globaler Wirtschaftskrise bevorstehe, der durch amerikanische Subprime-Hypotheken ausgelöst werden würde, stand ich mit meiner Prognose ziemlich allein. (vgl. Otte 2006) Von den Ökonomen an Universitäten, in Wirtschaftsforschungsinstituten und bei den Verbänden waren auf beiden Seiten des Atlantiks keine Warnungen zu hören. (vgl. Prechter et al. 2002) Eine Ausnahme bildete der Global Financial Stability Report des Internationalen Währungsfonds (IWF) vom April 2006, der viele Risiken offen ansprach, aber keine Konsequenzen hatte. Im Rückblick ist es nicht erstaunlich, dass einige vor der Krise gewarnt haben, sondern, dass es kaum jemand getan hat. Die Finanzkrise ist durch ein System der organisierten Verantwortungslosigkeit ausgelöst worden, bei dem zumindest im Ursprungsland USA die Grundsätze soliden Finanz- und Rechtsgebarens flächendeckend ausgehebelt waren. Es lassen sich mindestens neun Gruppen von Akteuren ausmachen, die in der Krise eine Rolle gespielt haben. Alle haben massive Verantwortung für diese Krise auf sich geladen. Notenbanken. Die amerikanische Federal Reserve Bank hing seit der 18-jährigen Amtszeit von Alan Greenspan der Doktrin an, dass sich durch die Ausdehnung der Geldmenge und künstlich niedrig gehaltene Zinsen Wirtschaftswachstum fördern ließe. Eine solche Politik bestraft Sparer und lädt zur Kreditaufnahme für riskante Projekte geradezu ein. Da die Dynamik der US-Wirtschaft nach 2001 insgesamt nachließ, suchte sich das viele Geld ungesunde Wege. Diese fand es, indem eine solide Anlageklasse, deren Preise in den vergangenen Jahrzehnten scheinbar unaufhaltsam gestiegen waren, zur „größten Spekulationsblase“ der Geschichte missbraucht wurde: Wohnimmobilien.  Dabei war eine ähnliche Blase in Japan erst 1990 geplatzt; vgl. M. Otte, Der Crash kommt (Anm. 6), S. 168 ff. So entstand ein Kartenhaus von Krediten, gefördert durch verbriefte Produkte, bei denen Kredite nicht in den Büchern der Banken gehalten, sondern – zu Wertpapieren umfunktioniert – weiterverkauft wurden.
2 Die Finanzkrise und das Versagen der modernen Ökonomie 9 Investmentbanken. Das Geschäftsmodell der Investmentbanken beruht darauf, dass sie Transaktionen oder Börsengeschäfte strukturieren, bei denen sie eine Kommission erhalten, zum Beispiel Fusionen und Übernahmen, Emissionen von Aktien und Anleihen, Börsenhandel auf eigene Rechnung und die Emission von verbrieften Schulden und strukturierten Produkten. Da die emittierten Produkte nicht oder nur zu einem sehr kleinen Teil in den Bilanzen bleiben, übernehmen Investmentbanken keine mittel- oder langfristige Verantwortung für die Konsequenzen ihrer Transaktionen. In den Jahren von 2002 bis 2006 wurde die Verbriefung von Hypothekenkrediten zur größten einzelnen Gewinnquelle der Investmentbanken. (vgl. Tilson und Tongue 2009) Die Verbriefung von Krediten ist an sich ein durchaus sinnvolles Finanzprodukt: Ein Kredit wird durch einen Vermögensgegenstand hinterlegt und dann als Wertpapier an der Börse handelbar gemacht. Nicht das „Ob“, sondern das „Wie“ ist entscheidend. Mit dem deutschen Pfandbrief gibt es zum Beispiel ein verbrieftes Produkt höchster Seriosität, das seit mehr als hundert Jahren hervorragend funktioniert. Politik in den USA. Sowohl Demokraten als auch Republikaner haben die Förderung des Wohneigentums zu zentralen Punkten ihrer Politik gemacht. Da aber die direkten staatlichen Subventionen begrenzt waren, zwang man die Banken, auch riskante Kredite in einkommensschwachen Gebieten (Slums) zu vergeben, selbst wenn dort die Gefahr von Zahlungsausfällen höher war. Die US-Politik hat die Vergabe von unseriösen Krediten keinesfalls gebremst, sondern massiv gefördert. Als nach 2004 am Immobilienmarkt das ungebremste Spekulationsfieber grassierte, trauten sich weder Demokraten noch Republikaner, politisch einzuschreiten. (vgl. Tully 2004) Hypothekenbanken in den USA. In den USA werden Hypothekenkredite grundsätzlich anders als in Deutschland vergeben. Viele Hypothekenbanken agieren quasi nur als Vertriebs- und Genehmigungsinstitut: Sie nehmen die Kundendaten auf und warten darauf, dass ihnen eine andere Bank im Hintergrund den Kredit abkauft, bevor sie ihn genehmigen. Bei dieser Struktur des Kreditsystems haben die regionalen Hypothekenbanken (die man eigentlich Hypothekenvermittler nennen sollte) wenig Anreiz, auf die Qualität der Produkte zu schauen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Hypothekenbanken diesem Wunsch nachkamen und Kredite „produzierten“, und zwar mit immer unseriöseren Methoden und mit immer schlechteren Standards. (vgl. Tilson und Tongue 2009) Hauskäufer in den USA. Natürlich hätten die amerikanischen Hauskäufer nicht mitspielen und zu Spekulanten werden müssen. Allerdings gibt es einen deutlichen Unterschied zum deutschen Rechtssystem: Wenn amerikanische Hypothekenschuldner zahlungsunfähig werden, haften sie lediglich mit der Immobilie, nicht mit ihrem gesamten Einkommen. Sie können also „den Schlüssel abgeben“ und sind ihre Schulden los. Zwar ist die Kreditwürdigkeit dann erst einmal ruiniert, aber es gab (und gibt) ja SubprimeLoans, bei denen die Kreditwürdigkeit keine Rolle spielt.
10 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte Ratingagenturen. Das Rating von Wertpapieren wird derzeit von drei großen angelsächsischen Agenturen dominiert: Moody’s, Standard & Poor’s und Fitch Ratings. Diese Agenturen machten von 2002 bis 2006 ein Drittel ihrer Gewinne damit, dass sie sich von den Emittenten der verbrieften Produkte dafür bezahlen ließen, diese zu bewerten (rating). Hier ist ein eklatanter Interessenkonflikt gegeben. So war es erklärbar, dass viele verbriefte Produkte äußerst minderwertiger Qualität ein AAA-Rating bekamen. Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Im Prinzip ist es bei den großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften ähnlich. Mir ist kein Fall bekannt, bei dem eine große Wirtschaftsprüfungsgesellschaft vor Ausbruch der Krise einer größeren amerikanischen Gesellschaft das Testat für den Jahresabschluss versagt hat. Letztlich haben die Gesellschaften die Praktiken der Banken, Ratingagenturen und Hauskäufer sanktioniert. Internationale Politik und nichtamerikanische Banken. Nach dem Jahr 2004 haben zunehmend auch internationale Investoren, vor allem Banken und Versicherungen in Europa, dazu beigetragen, dass die Blase nicht in sich zusammenfiel. Zwar liegen keine genauen Zahlen vor, aber es gibt Hinweise darauf, dass Investoren in Europa einen signifikanten Anteil der riskantesten Produkte kauften. Die Ökonomen. Obwohl die Exzesse der Blase schon in den Jahren 2004 und 2005 von der amerikanischen Presse beschrieben wurden, schwiegen die Ökonomen, zumindest die an anerkannten Universitäten und in den Forschungsinstituten. Kaum jemand traute sich an das „heiße Eisen“ der Immobilienblase heran, obwohl diese deutlich erkennbar war. (vgl. Otte 2009) 2.2 Folgen: Wo stehen wir heute? Natürlich kann ein Zusammenbruch des Vertrauens auf aufgeblähten und hypertrophen Finanzmärkten nicht ohne Konsequenzen bleiben. Im 1. Quartal 2009 schlug die Krise, die zunächst eine Finanz- und Kreditkrise war, auch in Deutschland voll auf die Realwirtschaft durch. Für 2009 erwartet der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung einen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes um 5,0 Prozent, der höchste derartige Rückgang seit Bestehen der Bundesrepublik. (vgl. Sachverständigenrat 2009) Deutschland. Im Jahr 2009 sollen laut Sachverständigenrat die privaten Konsumausgaben, die 2008 56 Prozent des BIP ausmachten, immerhin um 0,4 Prozent steigen. Auch der staatliche Konsum, der 18 Prozent des BIP ausmacht, soll um 2,2 Prozent wachsen. Der Einbruch erfolgt vor allem bei den Exporten: Hier ist ein Minus von fast 15 Prozent zu verzeichnen, wobei ein Rückgang der Importe um neun Prozent dies teilweise kom-
2 Die Finanzkrise und das Versagen der modernen Ökonomie 11 pensiert. Ebenso gibt es einen dramatischen Rückgang bei den Ausrüstungsinvestitionen der Unternehmen, nämlich um fast 21 Prozent, denn die bestehenden Anlagen reichen aus, um die Nachfrage zu befriedigen. So ergibt sich für Deutschland ein zweigeteiltes Bild: Während im Konsum und in vielen Einzelbereichen von der Krise kaum etwas zu spüren ist, stellt sich die Lage beim industriellen Rückgrat der Nation dramatisch dar. Nicht so dramatisch wie manchmal gezeichnet sind dagegen die Staatschulden: Vor der Krise hatte die Bundesrepublik fast einen ausgeglichenen Gesamthaushalt. Nach der Krise werden die Staatschulden vielleicht 80 Prozent des BIP betragen. Das ist ein Drittel höher, als es die Schuldengrenze des Maastricht-Vertrags vorschreibt, und damit nicht schön, aber auch nicht katastrophal. Europa. Im restlichen Europa kommt die Krise mit unterschiedlicher Wucht an. Insgesamt halten sich die Auswirkungen in Grenzen, aber in Spanien, wo es eine Häuserpreisblase gab, und in Großbritannien, das zum großen Teil vom Finanzsektor abhängt und ebenfalls eine Häuserpreisblase zu verzeichnen hatte, ist die Lage sehr ernst, ebenso in einigen mittel- und osteuropäischen Staaten. USA. Auch in den USA ist die Lage dramatisch, was durch die offiziellen Zahlen des BIP, das im Gegensatz zu Deutschland nur um 2,5 Prozent sinken soll, eher verschleiert wird. Da viele „faule Kredite“ in den Büchern gehalten werden und die Banken sich mit Zwangsversteigerungen zurückhalten, wird das wahre Ausmaß der Krise verschleiert. Auch verläuft die Krise in den USA spiegelbildlich zu Deutschland: Die Importe gehen um 15,3 Prozent zurück, die Exporte nur um 11,6 Prozent. Prinzipiell ist dies eine Entwicklung der importsüchtigen Nation in die richtige Richtung, allerdings werden durch den steigenden Außenbeitrag in der Krise andere Volkswirtschaften belastet. Die Entwicklung in den USA wirkt also global krisenverschärfend, und ein Ende der Depression ist nicht abzusehen. Am besten lässt sich dies am Staatsdefizit der USA verdeutlichen: Es ist von 2,9 Prozent 2007 über 5,9 Prozent 2008 auf 11,9 Prozent 2009 hochgeschnellt. (vgl. Sachverständigenrat 2009) China und Asien. Während sich die Staatsverschuldung in Japan, das sich seit Anfang der 1990er Jahre in einer Art „schleichenden Depression“ befindet, die auch zu einem Szenario für die gesamte Weltwirtschaft werden könnte, unaufhaltsam von 150 Prozent des BIP auf 200 Prozent bewegt, (vgl. Hayman Advisors 2009) sind China und die jungen Volkswirtschaften in Asien Lichtblicke im insgesamt eingetrübten Bild. China hat bislang verantwortungsvoll auf die Krise reagiert und ein Konjunkturprogramm in Höhe von 20 Prozent des BIP aufgelegt, was angesichts der geringen Staatsverschuldung auch machbar war. Zum Vergleich: Das ist erheblich mehr als die rund 5,5 Prozent, welche die USA im ersten American Recovery and Reinvestment Act für die Jahre 2009 und 2010 vorsehen. In Japan wurden ebenfalls Konjunkturprogramme in Höhe von etwa fünf Prozent des BIP auf den Weg gebracht, in Deutschland beträgt der Impuls rund
12 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte zwei Prozent. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Deutschland durch eine stabile Konsumnachfrage erheblich zur Stabilisierung der Weltkonjunktur beiträgt. So wird für China für 2009 bereits wieder ein Wachstum des BIP von 7,8 Prozent und für die südostasiatischen Schwellenländer von 5,2 Prozent prognostiziert. (vgl. Sachverständigenrat 2009) Ökonomischer Gesamtausblick. Im Herbst 2008 haben die Staaten der Welt rasch und entschlossen reagiert und die Weltwirtschaft vor dem Absturz bewahrt. Daher ist ein zweites 1929 unwahrscheinlich. Allerdings haben sich die Staaten durch ihre Rettungsaktionen erhebliche Folgeprobleme eingehandelt. Eines ist die schon angesprochene Erhöhung der Staatsverschuldung, das andere ist eine massive Überschussliquidität, die heute in den Bankbilanzen lagert. (vgl. Becker, S. 2009) Zuletzt gab es 2001/2002 eine vergleichbare Überschussliquidität, als durch die Geldpolitik der Federal Reserve die Realzinsen unter Null gedrückt wurden. Die Folge kennen wir: die Immobilienblase. Im Prinzip ist zu viel Geldvermögen auf der Welt. Wir wissen noch nicht, ob dieses im Rahmen einer Inflation wie in den 1970er Jahren oder durch Deflation und Insolvenzen reduziert werden wird. (vgl. Otte 2009) 2.3 Regulierung der Finanzmärkte In einer viel beachteten Rede von 15. Oktober 2008 sagte der Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück: „Wenn es auf den Weltfinanzmärkten brennt, dann muss gelöscht werden. Auch wenn es sich um Brandstiftung handelt. Danach müssen die Brandstifter allerdings anschließend gehindert werden, so was wieder zu machen. Die Brandbeschleuniger müssen verboten werden (…).“ Es gehe darum, stabile und funktionierende Finanzmärkte zu haben. Diese seien ein öffentliches Gut. Finanzmärkte gehören reguliert. Es handelt sich um die einzigen Märkte, in denen Akteure gleichzeitig Anbieter und Nachfrager sein können. Extreme Volumina können in Sekundenbruchteilen gehandelt werden. Der amerikanische Superinvestor Warren Buffett sprach von einer „elektronischen Herde“, die jederzeit ausbrechen kann. Sony Kapoor, ein ehemaliger Investmentbanker bei Lehman Brothers (der schon lange vor der aktuellen Krise ausgestiegen ist und den Thinktank „Re-Define“ leitet), hat die grundlegenden Prinzipien benannt: Wettbewerbsfähigkeit, Diversität, Fairness. (vgl. Kapoor 2009) Wettbewerbsfähigkeit. Die Forderung nach 25 Prozent Eigenkapitalrendite zeigt nicht, dass ein Bankensystem besonders wettbewerbsfähig ist, sondern im Gegenteil, dass in den Bereichen, wo dies möglich ist (Investmentbanking; USA, Großbritannien, Italien) oligopolistische Strukturen vorherrschen, in denen der Wettbewerb eingeschränkt ist. Das deutsche Bankensystem ist oft wegen fehlender Eigenkapitalrenditen kritisiert worden. In einem hoch interessanten zweiteiligen Artikel legt Hannes Rehm, ehemaliger
2 Die Finanzkrise und das Versagen der modernen Ökonomie 13 Vorstandsvorsitzender der NordLB und jetzt Chef des Bankenrettungsfonds (SoFFin) dar, dass das deutsche Bankensystem bei allen Produktivitätskennzahlen mit Ausnahme der Eigenkapitalrentabilität gut abschneidet und daher eher als Vorbild dienen kann als die hochgradig oligopolisierten Systeme Großbritanniens oder der Wall Street. (vgl. Rehm 2008) Diversität. Ein Bankensystem sollte wie ein diversifiziertes Ökosystem verschiedenartigste Strukturen aufweisen. Es ist schädlich, wenn Banken wie Versicherungen agieren, Versicherungen wie Banken, und alle Banken auf das Investmentbanking schielen. Das deutsche Bankensystem mit den Sparkassen, den Genossenschafts-, Volks- und Raiffeisenbanken sowie den Privatbanken war in dieser Hinsicht vorbildlich und von 1870 bis etwa 1990 eines der international am besten aufgestellten Bankensysteme. (vgl. Keuper und Puchta 2009) Fairness. Eine Wirtschaftsordnung sollte fair sein. Umweltverschmutzer sollten die Kosten der Umweltverschmutzung in Form von Abgaben tragen; Finanzakteure, die große Risiken eingehen, sollten Rücklagen bilden, um die Folgen tragen zu können. (vgl. Keuper und Puchta 2009) Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte während der heißen Phase der Krise, dass es eine „lückenlose Regulierung von Produkten, Akteuren und Regionen“ geben müsse. Regeln sollten einfach sein, damit sie gut umgesetzt werden können. Im Herbst des Jahres 2008 hörte man vielfach den Ruf nach der „Rückkehr des Staates“. Aber eine solche Rückkehr fand nicht statt. (vgl. Genschel und Nullmeier 2008) Mittlerweile ist die internationale Finanzlobby so mächtig, dass das Gegenteil passiert: Das Finanzmarktstabilierungsgesetz in Deutschland wurde von einer Rechtsanwaltskanzlei geschrieben, die wenige Wochen zuvor noch die HypoRealEstate beraten hatte. Auf den Gipfeln von Washington, London und Pittsburgh – schon die Orte suggerieren, dass man hier den Bock zum Gärtner gemacht haben könnte – wurden ineffektive Regeln beschlossen, die wenig zur Regulierung der Finanzmärkte beitragen. Finanzmarktaufsicht. In Europa sollen in Zukunft ein Europäischer Rat für Systemrisiken (ESRC), dem unter anderem die Gouverneure der 27 Notenbanken angehören, sowie das Europäische System der Finanzaufsicht (ESFS), dem drei europäische Aufsichtsbehörden (für Banken, Versicherungen und Wertpapiergeschäft) sowie die nationalen Behörden angehören, die Finanzmärkte beaufsichtigen. Bei einem derart komplexen System ist abzusehen, dass lange Entscheidungswege und die Rivalität zwischen den staatlichen Akteuren sicherstellen, dass die Aufsicht immer weit hinter den Finanzmarktakteuren zurückbleibt. Größe der Banken. In den USA sind nach dem Glass-Steagall Act von 1934 die Geschäftsbanken in ihrer Geschäftstätigkeit auf einen Bundesstaat beschränkt worden. Wenn man sieht, dass es 2008 vor allem die großen Banken waren, die in Schwierigkeiten gerieten (Kaupthing: Bilanzsumme 600 Prozent des isländischen, UBS: 350 Prozent
14 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte des schweizerischen, Fortis: 300 Prozent des belgischen Sozialprodukts), wären Größenbeschränkungen sinnvoll, sodass keine Institute entstehen, die zu groß sind, als dass man sie abwickeln könnte, und die somit die Politik erpressen können. Mit der Zerschlagung der Royal Bank of Scotland und der ING in den Niederlanden hat die EU-Kommission eher einzelfallbezogen agiert. Diese „Opfer“ verhindern letztlich, dass anstelle von Einzelmaßnahmen sinnvolle Regeln verabschiedet werden. Eigenkapitalregeln. In Pittsburgh sind leicht verschärfte Eigenkapitalregeln beschlossen worden, die aber weit hinter den Erfordernissen zurückbleiben. Noch immer ist das komplexe System der Eigenkapitalrichtlinien „Basel II“ in Kraft, bei denen Eigenkapitalanforderungen durch einen Risikofaktor gewichtet werden. Zunächst einmal hat dieses System weltweit zur Ausdünnung von Eigenkapital geführt: Es kann sein, dass Banken bei Kernkapitalquoten von acht, zehn oder mehr Prozent nur drei Prozent Eigenkapital aufweisen. Durch diese Ausdünnung der Kapitaldecke wurde die Risikoanfälligkeit des Systems massiv erhöht, und auch nach der Finanzkrise ist keine Änderung in Sicht. Zudem wirkt das System prozyklisch und fördert im Aufschwung die Leichtsinnigkeit und in der Krise die Panik: Im Aufschwung erhalten Unternehmen leichter Kredite und können noch mehr expandieren, in der Krise wird der Zugang zu Krediten verteuert. Die Eigenkapitalregeln nach „Basel II“, die auf Drängen der Amerikaner in Europa eingeführt wurden, begünstigen die Finanz- und schaden der Realwirtschaft. Schließlich wurde „Basel II“ in den USA nicht umgesetzt, während es insbesondere dem deutschen und österreichischen Mittelstand hohe Kosten verursacht. In einer Podiumsdiskussion bezeichnete SoFFin-Chef Rehm dies als „regulatorische Asymmetrie, die man auf Dauer nicht hinnehmen könne“. Man könne es auch banal mit „brutale Interessenpolitik“ und „Wirtschaftskrieg“ übersetzen.  Jahrestagung der IHK zu Schwerin am 09.01.2009. Insolventes Bankensystem und Fair Value. Einige Dutzend internationale Banken mit Investmentbankinggeschäft sowie amerikanische Banken haben insgesamt so große Löcher in den Bilanzen, dass das Eigenkapital des weltweiten Bankensektors negativ wird, der selber also technisch insolvent ist. Die deutschen Sparkassen sowie die Volksund Raiffeisenbanken und die Genossenschaftsbanken stehen größtenteils höchst solide da. Im Zuge der Finanzmarktkrise wurden die internationalen Buchhaltungspflichten (IAS/IFRS) nicht etwa verschärft, sondern gelockert, sodass die Banken ihre Verluste verstecken können und nicht ausweisen müssen. Letztlich verfolgt die Politik dabei das Ziel, die Banken schnell wieder viel Geld verdienen zu lassen, damit die negativen Eigenkapitalkonten aufgefüllt werden können. Durch die Aufweichung der Bilanzierungsgrundsätze der Bilanzwahrheit, -klarheit, -vollständigkeit und -zeitnähe sind die rechtlichen Grundlagen einer komplexen Marktwirtschaft bedroht. Es fragt sich, ob hier nicht der Preis zu hoch ist und einer willkürlichen Behandlung von ökonomischen Aspekten Tür und Tor geöffnet wird. Wolfgang Bieg hat daher eine Initiative gegründet, die zum
2 Die Finanzkrise und das Versagen der modernen Ökonomie 15 Ziel hat, die konservativen und soliden Regelungen der Bilanzierung nach dem deutschen Handelsgesetzbuch (HGB) wieder einzuführen. Ratingagenturen. Auch die Funktionsweise der Ratingagenturen ist weitgehend unangetastet geblieben. Zwar sollen sie Transparenzregeln einhalten, aber sie dürfen sich weiter von den Emittenten der Produkte bezahlen lassen, die sie letztlich benoten sollen. (Nur Beratungsleistungen sollen nicht mehr möglich sein.) Auch hat es die europäische Politik bislang versäumt, eine staatliche europäische Ratingagentur als Gegengewicht zum privaten angelsächsischen Kartell zu gründen, das den Markt beherrscht. (vgl. Köppen) Regulierung von Produkten. Hedgefonds, Derivate und Zertifikate bergen erhebliche Risiken. Warren Buffet bezeichnete bereits im Jahr 2003 Finanzderivate als „finanzielle Massenvernichtungswaffen“. Dennoch werden diese Produkte auch nach der Finanzkrise kaum reguliert. In Europa soll es immerhin Regeln für Verwalter Alternativer Investmentfonds (AIFM) geben. Allerdings sind auch hier kaum harte Regeln vorgesehen – die Fonds sollen lediglich registriert und zugelassen werden und sich selber einige Regeln zum Risiko- und Liquiditätsmanagement geben. Fonds unter 100 Millionen Euro Volumen, oder unter 500 Millionen, falls kein Fonds gehebelt wird, fallen gar nicht unter die Regulierung. Die Eigenkapitalregeln kann man nur als schlechten Witz bezeichnen: AIFM müssen ein Eigenkapital in Höhe von 125.000 Euro zuzüglich 0,02 Prozent (!) auf den 250 Millionen Euro übersteigenden Betrag vorhalten. (vgl. Köppen) Es drängt sich der Eindruck auf, dass diese Eigenkapitaldecke keinesfalls zur Haftung gegenüber den Anlegern gedacht ist, sondern dafür, dass die Anwälte des Fondsmanagements ihre Honorare erhalten, falls der Fonds in Schwierigkeiten gerät. Diese fünf Beispiele – man könnte etliche weitere aufführen – zeigen, dass die Gesten der Politik bislang vor allem Säbelrasseln waren, dass aber letztlich das System, welches zur Krise geführt hat, weiter besteht. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich die nächste Blase entwickeln wird. 2.4 Eine neue Ökonomie? Seit der Tulpenmanie der Jahre 1635 bis 1637 sind größere Finanzkrisen ein regelmäßiges Phänomen des modernen Kapitalismus. Dennoch werden sie von der modernen Ökonomie weitgehend ignoriert. Im wohl bekanntesten Ökonomielehrbuch der Volkswirtschaftslehre, „Economics“ von Paul A. Samuelson und William D. Nordhaus, das in fünfzig Jahren millionenfach verkauft wurde, kommt der Begriff „Krise“ nicht vor. (vgl. Samuelson und Nordhaus 2007)
16 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte Dabei ist Ökonomie immer auch politisch. Es geht nicht darum, ob „der Markt“ oder „der Staat“ dominieren, sondern um Interessenkonflikte zwischen Staaten, sozialen Schichten, Gruppen und Branchen, also um die Frage, wer wie viel vom Kuchen bekommt. Es ist sträflich, dass die moderne mathematische Ökonomie dies vernachlässigt. Prinzipiell wird die politische Ökonomie durch drei Perspektiven informiert: die der Nation (oder Region), die der sozialen Klasse oder die von Individuen und Gruppen. (vgl. Gilpin 1987) Friedrich List begründete 1846 die nationale Perspektive. (vgl. List 2008) „Das Kapital“ von Karl Marx enthält eine der ersten Krisentheorien und behandelt das Problem aus Klassenperspektive. (vgl. Marx 2008) In den 1980er Jahren schrieb Mancur Olson „Die Logik des kollektiven Handelns“ und zeigte, wie sich in einem liberalen, schwachen Staat starke Interessengruppen die größten Stücke vom Kuchen abschneiden, bis eine Gesellschaft immobil ist – das Thema seines anderen großen Werks „Aufstieg und Niedergang von Nationen“. (vgl. Olson 2004) 1947 wurde in der Schweiz die Mont Pelerin Society gegründet, um dem Grundgedanken einer freien und liberalen Gesellschaft wieder zu Ansehen und Wirkung zu verhelfen. Schon damals zeichneten sich zwei Lager ab: diejenigen, die unbedingt an die Marktrationalität „glaubten“, und diejenigen, die einen starken Staat befürworteten, damit Märkte überhaupt funktionieren können. Bezüglich der ersten Gruppe sprach Alexander Rüstow auch von der „Religion der Marktwirtschaft“. (vgl. Rüstow 2004 und Röpke 1979) Für die Vertreter der dogmatischen und wirklichkeitsfernen („quasi-religiösen“) Richtung gab es mehrere Nobelpreise (Friedrich August von Hayek, Milton Friedman), für die des Ordoliberalismus (Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke) bisher keinen einzigen. (vgl. Otte 2009) Immer ist die Ausgestaltung von Marktformen und Haftungsregelungen wichtig, wenn wir eine funktionierende und gerechte Marktwirtschaft wollen. Wenn wir die Regeln so gestalten, dass schnelle Investmentbankinggeschäfte oder „Private Equity“ buchhalterisch und rechtlich gegenüber dem klassischen Bankgeschäft bevorzugt werden, dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir eine Ökonomie bekommen, in der die Spekulation blüht. Wenn wir die Regeln so gestalten, dass die Kreditaufnahme gegenüber der Ersparnisbildung bevorzugt wird, Manager den Lohn ihrer Spekulation einfahren, wenn es gut geht, und die Allgemeinheit die Kosten zahlt, wenn die Spekulation misslingt, begünstigen wir diejenigen, die sich auf Kosten von soliden Banken, mittelständischen Unternehmen und Bürgerinnen und Bürgern bereichern. Wenn wir die Regeln so gestalten, dass Unternehmen, die vom Staat gerettet werden müssen, NICHT verstaatlicht werden, vergreifen wir uns am Grundgedanken einer liberalen Marktwirtschaft. Wenn ein neuer Gesellschafter in ein insolventes Unternehmen eintritt, ist das Eigenkapital ausradiert, und diesem neuen Gesellschafter gehört das Unternehmen – und sei es der Staat. Man kann das Unternehmen später ja wieder privatisieren. Im Jahr 2009 wandten sich in Deutschland 83 bekannte Ökonomen – unter anderem Herbert Giersch, Rudolf Hickel, Olaf Sievert, Christian Watrin und Arthur Woll – mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit, die Lehre der Wirtschaftspolitik an den Universitäten zu retten. Zu sehr werde auf mathematische Modelle gesetzt, sodass das Denken über
2 Die Finanzkrise und das Versagen der modernen Ökonomie 17 wirtschafts- und ordnungspolitische Fragestellungen mehr und mehr in den Hintergrund gerate. (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung 2009) Ihr Aufruf droht ohne große Konsequenzen zu bleiben. Die Gefahr ist groß, dass die Priesterkaste der mathematischen Ökonomen auch in Zukunft grundlegende ordnungspolitische Zusammenhänge ignoriert und sich in esoterischen Modellen ergeht, während draußen in der Welt bereits die nächste Blase entsteht.  Ursprünglich erschienen in Aus Politik und Zeitgeschichte (52/2009) (www.bpb.de/ apuz), Societäts-Verlag, 2009. 2.5 Literatur Becker, S. (2009): Kommt die nächste globale Liquiditätsschwemme? In: Deutsche Bank Research, Aktuelle Themen 457. Frankfurt/M. Frankfurter Allgemeine Zeitung (2009): Rettet die Wirtschaftspolitik an den Universitäten! online: www.faz.net/s/RubB8DFB31915A443D98590B0D538FC0BEC/Doc~EA1E6687105BC44399 168BC77ADE64F8A~ATpl~Ecommon~Scontent.html. Zugegriffen: 23. November 2009 Genschel, P. und Nullmeier, F. (2008): Ausweitung der Staatszone – Die Machtgebärden der Politik sind eine optische Täuschung. Wenn die Krise vorbei ist, regiert wieder das Kapital, in: Die Zeit vom 6. 11. 2008. Gilpin, R. (1987): The Political Economy of International Relations, Princeton; ders. (2002): The Challenge of Global Capitalism: The World Economy in the 21st Century. Princeton. Hayman Advisors (2009): Newsletter, 3/2009, online: www.docstoc.com/docs/12642446/HaymanAdvisors-Third-Quarter-2009. Zugegriffen: 23. November 2009 Hegel, G. W. F. (1970): Die vollständigen Werke. „Das Bewusstsein bestimmt das Sein“, wusste schon Hegel zu konstatieren. Frankfurt/M. Kapoor, S. (2009): Changing a System of our own Creation, online: www.re-define.org/ Zugegriffen: 23. November 2009 Keuper, F. und Puchta, D. (Hrsg) (2009): Deutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall – Rückblick und Ausblick, S. 179–204. Wiesbaden. Köppen, M. (unveröff. Ms.): Finanzmarktregulierung: Bewertung der bisherigen Maßnahmen auf nationaler und EU-Ebene. List, F. (2008): Das Nationale System der Politischen Ökonomie. Baden-Baden. Marx, K. (2008): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bde. I–III. Berlin Montier, J. (2007): Behavioural Investing: A Practitioner’s Guide to Applying Behavioural Finance. London; dt.: Die Psychologie der Börse. Der Praxisleitfaden Behavioural Finance. 2009. München. Olson, M. (2004): Die Logik des kollektiven Handelns: Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen; ders., Aufstieg und Niedergang von Nationen. Beide Tübingen. Otte, M. (2006): Der Crash kommt. Berlin. Otte, M. (2009): Das Schweigen der Ökonomen, in: „Der Informationscrash. Berlin. Otte, M. (2009): Wir haben zu viel Geld auf der Welt, in: Börse Online vom 12./19.11.2009, S. 18–21.
18 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte Prechter, R. et al. (2002): Besiege den Crash! München. Rehm, H. (2008): Das deutsche Bankensystem – Befund – Probleme – Perspektiven, in: Kredit und Kapital, Teil I: 41 (2008) 1, S. 135–159; Teil II: 41 (2008) 2, S. 305–331. Röpke, W. (1979): Jenseits von Angebot und Nachfrage. Bern. Rüstow, A. (2004): Die Religion der Marktwirtschaft. Münster Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2009): Jahresgutachten 2009/2010: Die Zukunft nicht aufs Spiel setzen. www.sachverstaendigenrat-wirt schaft.de/gutacht/ga-content.php?gaid=55, S. 27. Zugegriffen: 13. November 2009. Samuelson, P. und Nordhaus, W. (2007): Volkswirtschaftslehre. Das internationale Standardwerk der Makro- und Mikroökonomie. München. Tilson, W. und Tongue, G. (2009): More Mortgage Meltdown. New York. Tully, S. (2004): Is the housing boom over?, in: Fortune vom 27. September 2004; Horning, F. (2006): Demütige Milliardäre, in: Der Spiegel vom 21.01.2006. Zimmermann, K. F. (2009): Warum Prognosen die Krise verschärft haben. Handelsblatt online. www.handelsblatt.com/politik/gastbeitraege/warum-prognosen-die-krise-verschaerfthaben;2208930. Zugegriffen: 20. März 2009; Konjunktur: DIW traut sich keine langfristige Prognose zu. Welt online. www.welt.de/wirtschaft/article3555024/DIW-traut-sich-keinelangfristige-Prognose-zu.html. Zugegriffen: 14. April 2009.
3 3 Die Finanzkrise, der Crashprophet und die Wissenschaft von der modernen Ökonomie 3.1 Die Finanzkrise und die Ökonomen Am 15. September 2008 meldete die US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz an. Es folgte die schwerste Finanzkrise seit 1929 – eine Liquiditäts- und vor allem Solvenzkrise der großen, kapitalmarktorientierten Banken, vor allem in den westlichen Industrienationen. Das Misstrauen der Banken untereinander verursachte ein Einfrieren der Kreditmärkte und gravierende, realwirtschaftliche Konsequenzen. In Folge mussten viele Banken durch massive Eigenkapitalhilfen gestützt werden, einige wurden abgewickelt, zerschlagen oder reorganisiert, die Notenbanken gaben Liquidität ungekannten Ausmaßes in den Markt, und viele Industrienationen stützten ab Herbst 2008 die Konjunktur mit massiven Konjunkturprogrammen. Insgesamt beliefen sich die Kosten bis Ende 2009 auf ungefähr 10,5 Billionen Dollar oder 20 Prozent des Weltsozialprodukts. Rund 1,6 Millionen Dollar mussten bei den Banken abgeschrieben werden, 4,65 Billionen betrug der Wertverlust von Immobilien und 4,2 Billionen Dollar (oder knapp fünf Prozent des Weltsozialproduktes) gingen auf verringertes Wirtschaftswachstum zurück. (vgl. Commerzbank-Studie 2009) Als Folge stiegen die Haushaltsdefizite massiv, so dass im Frühjahr 2010 eine Staatsschuldenkrise vor allem in den südeuropäischen Ländern sowie spekulative Attacken auf den Euro folgten. Dabei sahen die Haushalte der primären Verursachernationen USA und Großbritannien wesentlich schlechter aus als der Durchschnitt der Haushalte der Länder der Eurozone. Im Sommer 2010, als dieser Artikel verfasst wird, ist noch nicht abzusehen, wie lange die Finanzkrise und ihre Folgen die Weltwirtschaft beeinträchtigen werden. Zumindest die krisenhafte Entwicklung im Bereich der Staatsfinanzen wäre vorhersehbar gewesen: In einer detaillierten und erschöpfenden Studie der Finanzkrisen der 19 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_3
20 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte letzten 800 Jahre legen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff dar, dass auf Finanzkrisen historisch sehr häufig im Abstand von ungefähr zwei Jahren Krisen der Staatsschulden folgen. (vgl. Reinhart und Rogoff 2009) Außerdem hat fast kein Ökonom die Krise vorhergesehen oder vor 2007 vor einer potenziellen Krise gewarnt. Noch 2007 – als die Anzeichen offen zutage lagen – dominierten beschwichtigende Stimmen die Diskussion. In diesem Beitrag werden die Ursachen hierfür untersucht und Schlussfolgerungen für die Disziplin der Ökonomie sowie für die Zukunft abgeleitet. „Wie ein Tsunami“ sei die Krise plötzlich und unvorhersehbar hereingebrochen, sagte die damalige KfW-Chefin Ingrid Matthäus-Maier auf einer Veranstaltung mit dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank AG, Josef Ackermann, bereits im Jahr 2007. (vgl. Matthäus-Maier 2007) Diese Auffassung sowie die Meinung, dass die Insolvenz von Lehman die Hauptursache der Finanzkrise gewesen sei, wurden häufig geäußert. (vgl. Heusinger 2009) Dabei hatte es in den Jahren 2007 vor der Lehman-Pleite viele Anzeichen und konkrete Vorfälle gegeben, die zeigten, dass die Stabilität der Weltfinanzmärkte durchaus gefährdet war.          Bereits am 7. Februar 2007 warnt die HSBC vor massiven Abschreibungen in ihrem Subprime-Portfolio. Wurde die Bank damals noch als unsolide kritisiert, so stellte sich im Gegenteil heraus, dass diese frühen Abschreibungen Ausdruck eines besseren und konservativeren Risikomanagements als bei den anderen Banken war. Am 21. Juli müssen zwei Hedgefonds von Bear Stearns geschlossen werden. Am 27. Juli wird die IKB gerettet. Am 17. August 2007 kommt es zur ersten größeren Panikwelle am Kreditmarkt. Die Kreditmärkte kommen teilweise zum Erliegen, „schlechte“ und „teure“ Wertpapiere steigen, während „gute“ und „billige“ weiter fallen: Hedgefonds und Finanzakteure müssen „gute“ Positionen liquidieren, um die leer verkauften, schlechten Positionen einzudecken, weil der Kreditzugang deutlich erschwert ist. Am 14. September 2007 kommt es zum Bank-Run auf die englische Hypothekenbank Northern Rock. Am 11. Januar 2008 wird die amerikanische Countrywide Financial von der Bank of America übernommen, am 17. Februar 2008 Northern Rock verstaatlicht. Am 17. März 2008 kollabiert Bear Stearns und wird von J. P. Morgan übernommen. Am 11. Juli 2008 kollabiert die US-amerikanische Hypothekenbank Indymac, am 16. Juli 2008 tauchen Gerüchte über eine mögliche Insolvenz der staatsnahen amerikanischen Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac, mit Bilanzsummen von bis zu 50 Prozent des US-Sozialprodukts, auf. Am 7. September 2008 werden Fannie Mae und Freddie Mac verstaatlicht. Es kann also schon verwundern, wenn in Folge der Finanzkrise ausgerechnet die Lehman-Pleite als Auslöser bezeichnet wird. Viel Grund zur Besorgnis haben die Ökonomen jedenfalls den wirtschaftspolitisch Verantwortlichen in den Jahren vor dem Ausbruch der Krise nicht geliefert: Die Prognosen und Aussagen von Wirtschaftsforschungsinstituten,
3 Die Finanzkrise, der Crashprophet und die Wissenschaft von der modernen Ökonomie 21 prominenten Ökonomen und Institutionen in den Jahren vor Ausbruch der Krise zeigten fast ausschließlich in Richtung eines weiteren gesunden Wachstums der Volkswirtschaft. Im Jahr 2003 erläuterte Nobelpreisträger Robert Lucas in seiner Ansprache des Präsidenten an die American Economic Association als zentrale These, dass „die Makroökonomie ihr Ziel erreicht hat: Ihr zentrales Problem der Verhinderung von Depressionen ist gelöst worden“. (vgl. Lucas Jr. 2003) Im Oktober 2007 sprach Paul Krugman, der in seinem Buch „The Return of Depression Economics“ bereits im Jahr 2000 vor deflationären und depressionsähnlichen Zuständen gewarnt hatte, von einer „Wachstumsrezession“. Alan Greenspan bestätigte wiederholt, dass er keine signifikanten Risiken sehe. Vor dem Financial Services Committee des US-Repräsentantenhauses äußerte er im Februar 2005, dass man zwar „Charakteristika einer Häuserpreisblase in gewissen Gegenden, nicht aber in der gesamten Nation“ beobachten könne. (vgl. Greenspan 2005) Im Oktober 2005 sagte er, dass “diese zunehmend komplexen Finanzinstrumente dazu beigetragen hätten, dass sich ein weitaus flexibleres und damit widerstandsfähiges Finanzsystem entwickelt habe als noch vor einem Vierteljahrhundert.“ (vgl. Greenspan 2005) Der Global Financial Stability Report des Internationalen Währungsfonds von April 2007 beschreibt die Ursachen der Finanzkrise sehr präzise: „Moreover, competitive pressures and risk models may help to perpetuate risk-taking that, from an individual institution’s view, responds rationally to the current environment but collectively could raise systemic risks. A market correction, potentially triggered by a volatility shock, could be amplified by leveraged positions and uncertainties about concentrations of risk exposures stemming from the rapid growth in innovative and complex products, some of which have rather illiquid secondary markets.“ (vgl. Internationaler Währungsfond 2007) Dennoch verharmlosen die daraus folgenden Schlussfolgerungen die potenzielle Gefahr. Zum Beispiel geht der IWF davon aus, dass „die potenziellen Verluste im SubprimeSektor ziemlich begrenzt seien, weil fast 90 Prozent aller Subprime-Papiere mit A oder höher bewertet seien.“ (vgl. Internationaler Währungsfond 2007) Eine Krise schien immer noch ein „Vorfall mit einer geringen Wahrscheinlichkeit zu sein, aber die Risiken würden steigen, wenn viele Subprime-Probleme simultan auftauchen würden.“ (vgl. Internationaler Währungsfond 2007) Es verwundert nicht, dass die Prognosen der Wirtschaftsforscher und -forschungsinstitute ebenfalls keine Rezession vorsahen. Der Wochenbericht des DIW vom 16. Oktober 2007 – da waren die ersten Subprime-Probleme und die erste größere Klemme am Kreditmarkt bereits aufgetaucht – ist überschrieben „Weltwirtschaftliche Expansion nur leicht gedämpft – Rezession nicht wahrscheinlich.“ (vgl. Deutsches Institut für Wirtschaft 2007) Seine zweite Pressemitteilung aus dem Jahr 2007 leitet das Institut der Deutschen Wirtschaft ein mit: „U.S.-Immobilienmarkt – solides Fundament“. (vgl. Institut der Deutschen Wirtschaft Köln 2007) In einem Interview vom 24. Oktober 2007 äußerte Hans-Werner Sinn, in Bezug auf die Aussichten für 2008: „Eine Rezession steht nicht an.“ (vgl. Sinn 2007)
22 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte Bert Rürup legte am 12. April 2008 noch zu: „Die Konjunkturrisiken haben zugenommen, aber wir stehen definitiv nicht vor einer Rezession.“ (vgl. Brönstrup 2008) Im Jahr 2005 warnte der Sachverständigenrat immerhin: „Risiken für einen stärkeren Rückgang der Weltkonjunktur und damit auch für die Entwicklung in Deutschland ergeben sich abgesehen vom Ölpreis nach wie vor aus einer Korrektur des US-amerikanischen Leistungsbilanzdefizits und einem Preisrutsch auf den Immobilienmärkten.“ (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2005) Die Prognose für 2008 liest sich da viel optimistischer: „Unter der Annahme, dass es den Notenbanken wie den großen Finanzinstituten weiterhin gelingen wird, die Effekte der Finanzkrise auf die Liquidität und die Solvenz der Banken begrenzt zu halten, dürfte die Dynamik der Weltkonjunktur jedoch so stark sein, dass es im Jahr 2008 … zu einer Abnahme der Zuwachsraten des globalen, zu Marktwechselkursen berechneten BIPs von 3,7 v. H. auf 3,3 v. H. kommen wird.“ Und für 2009 geht der Sachverständigenrat von einer konjunkturellen Abschwächung in der ersten, gefolgt von einer leichten Erholung in der zweiten Jahreshälfte aus – immerhin 1,8 Prozent Wachstum. (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. 2007) Ähnlich der World Economic Outlook, zum Beispiel vom November 2007, der davon ausgeht, dass die Anpassungen im US-Immobiliensektor das Wachstum auf eine niedrige Ebene ziehen, aber keine Rezession auslösen werden. (vgl. Elmeskov 2007) Insgesamt lässt sich von einem kollektiven Versagen der Wirtschaftsforscher und der Wirtschaftsforschungsinstitute sprechen. Mit Ausnahme von Nouriel Roubini von der New York University warnte kein Ökonom einer namhaften Universität nachdrücklich vor einem Platzen der Immobilienblase und einer möglichen Weltfinanzkrise. (vgl. Leisinger 2006) Warnende Stimmen kamen vor allem aus der Praxis. George Soros, ein Mann, der sein Können an den Finanzmärkten immer wieder bewiesen hatte, warnte im Januar 2006 vor einer bevorstehenden, tiefen Rezession. (vgl. Stilz 2006) Warren Buffett sprach 2003 von Finanzderivaten als „finanziellen Massenvernichtungswaffen“. (vgl. Buffett 2002) Robert Prechter und John Rubino hatten bereits 2002 und 2003 vor einem Platzen der Immobilienblase gewarnt. (vgl. Prechter 2002. Rubino 2003) Aber nicht nur in Bezug auf eine potenzielle Warnung vor der ab 2007 hereinbrechenden Finanzkrise hat die Disziplin wenig anzubieten. Auch die theoretische Behandlung von Krisenphänomenen ist, trotz ihres regelmäßigen Auftretens, stark vernachlässigt. Krisen sind – beginnend mit der Tulpenmanie in Holland in den Jahren 1636 bis 1637 – ein regelmäßiges Phänomen des modernen Kapitalismus. In seinem 1978 erstmals erschienenen Buch „Manias, Panics, and Crashes – a History of Financial Crises“ hat Charles Kindleberger 34 Krisen zwischen der Tulpenblase und dem Platzen der Blase in Japan im Jahre 1990 gezählt. (vgl. Kindleberger 1978) Dazu gehören, neben der Tulpenmanie, der Südseeblase, der Mississippi-Blase, dem Platzen der Eisenbahnblase in England im Jahre 1836, dem Zusammenbruch des Immobilien- und Gründerbooms in Deutschland, Österreich und den USA nach 1873 (der ersten „globalen Krise der Neuzeit“), auch die Weltwirtschaftskrise und die lateinamerikanische Schuldenkrise seit
3 Die Finanzkrise, der Crashprophet und die Wissenschaft von der modernen Ökonomie 23 1982. In seiner „Geschichte der Handelskrisen“ analysierte Max Wirth bereits 1874 ein gutes Dutzend Finanz- und Wirtschaftskrisen. Schon damals verwendete er für die Krise von 1869 die Überschrift: „Der schwarze Freitag im September 1869 in New York.“ (vgl. Wirth 1874) Es ist angesichts des regelmäßigen Auftretens von Krisen erstaunlich, wie wenig sich die gängigen Lehrbücher damit auseinandersetzen. Für Gregory Mankiw ist zum Beispiel der Begriff „Wirtschaftskrise“ keiner der zehn wichtigsten Begriffe der Volkswirtschaftslehre. (vgl. Mankiw et al. 2008) In Andrew Abels und Ben Bernankes „Macroeconomics“ fehlen Begriffe wie „Blase“ oder „Finanzkrise“ im Glossar und das, obwohl Bernanke intensiv über die Große Depression geforscht hat. (vgl. Abel und Bernanke 2004) In Paul Krugmans „Essentials of Economics“ werden immerhin Bankenpaniken und die Aktienblase der New Economy erklärt. Das Buch schweigt sich aber – wie es sich für einen linksliberalen Ökonomen gehört – über die Staatsverschuldung und die Kreditkrise der 1980er Jahre aus. (vgl. Krugman et al. 2007) Michael Burda und Charles Wyplosz bringen eine kurze Beschreibung der Tulpenblase in Holland, weiter nichts. (vgl. Burda und Wyplosz 2005) Am bezeichnendsten ist, dass im wohl am meisten verbreiteten und seit Jahrzehnten millionenfach verkauften Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre von Paul Samuelson Wirtschaftskrisen nicht vorkommen. (vgl. Samuelson und Nordhaus 2007) Stattdessen zeichnen Samuelson und seine Koautoren das Bild einer Volkswirtschaft, die deutlich definierten und isolierbaren Kausalzusammenhängen gehorcht. Man fühlt sich in die Physik des 19. Jahrhunderts zurückversetzt. Und man wundert sich, dass der enge Kausalitätsbegriff, den die Physik im frühen 20. Jahrhundert zu überwinden begann, in der Ökonomie bis heute dominiert. 3.2 Der „Crashprophet“ Anfang 2006 prognostizierte ich in meinem Buch Der Crash kommt eine plötzliche und gravierende Finanzkrise für die Jahre zwischen 2007 und 2010, die mit der Wucht eines Tsunami auftreten würde (vgl. Otte 2006): Ich kann Ihnen nicht sagen, ob der Crash im Jahr 2008 kommt. Vielleicht ist es 2007 schon so weit, vielleicht erst 2009 oder 2010. Menschliches Verhalten – und um nichts anderes handelt es sich bei dem Ausbruch einer großen Wirtschaftskrise – lässt sich nicht mit mathematischer Präzision voraussagen, auch wenn es bestimmte Krisenpropheten immer wieder versuchen. Einige der stärksten Hinweise deuten eher auf das Jahr 2010 hin, andere schon auf Ende 2007. Aber wenn ich die Zeichen richtig verstehe, die uns die Weltwirtschaft derzeit überall hinterlässt, dann muss es krachen – und zwar mit einer gewaltigen Wucht. (vgl. Otte 2006)
24 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte Auch die potenziellen Ursachen identifizierte ich: die Blase bei US-Subprime Hypotheken im Zusammenspiel mit Finanzderivaten, einer Aufblähung von Finanzaktiva und massiven, weltwirtschaftlichen Ungleichgewichten zwischen den USA, Asien (China) und Europa. In Folge wurde ich gelegentlich als „Crashprophet“ tituliert, eine Bezeichnung, gegen die ich mich verwehre. (vgl. Katzenberger 2009) Meine Prognosen beruhten auf einem Blick für das Ganze, historischen Vergleichen und der politischen Ökonomie. Hier sollen die persönlichen Voraussetzungen offengelegt werden, die es mir erlaubten, meine Crashprognose zu treffen. Eine solche Offenlegung des eigenen Standpunktes ist heute in den Geistes- und Sozialwissenschaften leider immer weniger üblich. Aber Ideen und Prognosen haben ihre eigene „Geschichte“, die zum Verständnis unerlässlich ist. Hinter der, heute oft wie ein Schild vorgehaltenen, empirischen und theoretischen „Objektivität“ bleiben so oft wesentliche Aspekte einer Debatte verborgen. Es waren im Wesentlichen fünf Punkte, die die Basis für die Crashprognose bildeten: 1. Im Jahr 1986 hörte ich, als 21-jähriger Student, Charles Kindleberger, den Vater aller Crashforscher. Kindleberger las einige Stellen zur holländischen Tulpenblase aus Charles Mackays Klassiker „Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds“ vor. Kindlebergers Vortrag hinterließ einen bleibenden Eindruck. (vgl. Mackay 1841) 2. Der Eindruck Kindlebergers wäre wohl nicht so stark gewesen, wenn die Geschichtsund Geisteswissenschaften mich nicht schon immer besonders interessiert hätten. In einer idealen Welt hätte ich wohl sehr gerne Geschichte und Geschichtsphilosophie studiert, entschloss mich dann aber doch zum Studium der Volks- und Betriebswirtschaftslehre. Während meines Promotionsstudiums an der Princeton University habe ich mich mit internationaler politischer Ökonomie beschäftigt, einer Disziplin, die im neunzehnten und frühen 20. Jahrhundert entscheidend von Deutschen, wie zum Beispiel Friedrich List, Karl Marx, Max Weber, Werner Sombart, geprägt wurde, nun aber vor allem in Nischen in den USA und in Deutschland, höchstens noch als linke Theorie überlebt. Dabei ist „politische Ökonomie“ umfassender als Wirtschaftspolitik. Immerhin: Als ich in den 1980er Jahren an der Universität zu Köln studierte, traf ich noch viele Wirtschaftspolitiker an: Christian Watrin, Gerhard Fels, Karl Hansmeyer, Hans Willgerodt und Gernot Gutmann. Für mich war es ein Glücksfall. 3. Heute lege ich meine Karten offen und gestehe etwas, das ich noch nie öffentlich gesagt habe. So viel bin ich meiner Alma Mater schuldig. In Princeton las ich 1989 den Bestseller eines ansonsten unbekannten Collegeprofessors namens Ravi Batra „The Great Depression of 1990: why it’s got to happen, how to protect yourself“. (vgl. Batra 1987) Batra prognostizierte für 1990 eine große Depression, und etliche seiner Argumente ergaben Sinn. Seine Gesellschaftstheorie war zwar arg verkürzt, aber wer sich mit internationalen ökonomischen Ungleichgewichten und der Zwischenkriegszeit beschäftigt hatte, für den konnte es 1989 schon ziemlich beängstigend aussehen.
3 Die Finanzkrise, der Crashprophet und die Wissenschaft von der modernen Ökonomie 25 Es kam anders als Batra es vorhergesehen hatte, weil die 1990er eine Phase der ungebrochenen Liberalisierung und der Globalisierung waren und damit zu einem einmaligen Niveauverschiebungseffekt führten. Aber sein Buch blieb mir im Gedächtnis haften. (vgl. Batra 1999) 4. Die grundlegende Überlegung Batras war nicht falsch: Wir haben über viele Jahre die Geld- und Kreditmenge schneller als die reale Wirtschaft wachsen lassen. Dies führte zu einer immer größeren Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen, was Batra, aber auch John Kenneth Galbraith, als Krisenursachen ansehen. (vgl. Galbraith 1955) Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 forcierte Alan Greenspan diese Politik weiter, mit teilweise negativen Realzinsen in den USA. An die spekulative Blase der New Economy schloss sich nahtlos die Übertreibung bei US-Immobilien an, die ab 2002 in ihre manische Phase überging. Die US-Medien berichteten ausführlich darüber. (vgl. Tully 2004) Auch zwei von mir geschätzte Prognostiker und unabhängige Analysten, Robert Prechter und John Rubino, veröffentlichten 2002 und 2004 Bücher, in denen sie eine kommende Deflation beziehungsweise ein Platzen der Häuserblase ökonomisch logisch begründeten. (vgl. Prechter und Rubino) Nun passierte 2005 nichts, und die Häuserpreise stiegen in ungeahnte Höhen. Angesichts der Spekulationsblase, deren Volumen ein Vielfaches der New Economy ausmachte, und der grundlegenden Ungleichgewichte in der Weltwirtschaft sah ich die Wahrscheinlichkeit einer massiven Wirtschaftskrise, hervorgerufen durch den US-Subprime-Sektor, als sehr hoch an und schlug Anfang 2005 dem Econ-Verlag ein diesbezügliches Buch mit dem Arbeitstitel „Crash 2008“ vor. 5. Zu guter Letzt: Ich hätte diese Chance, mir als Prognostiker einen Ruf zu machen, sicher nicht genutzt, wenn ich Teil des normalen Wissenschaftsbetriebs oder Mitarbeiter in einem Wirtschaftsforschungsinstitut gewesen wäre. Zu groß wären die Risiken einer Fehlprognose für die Karriere gewesen, selbst wenn ich ziemlich fest davon überzeugt gewesen wäre, dass ich Recht behalten würde. Selbst, wenn ich zu 90 Prozent davon überzeugt war, Recht zu behalten, hätte ich es mir überlegt, ob ich das zehnprozentige Risiko eines Endes meiner Karriere als Wirtschaftswissenschaftler auf mich genommen hätte. Als FH-Professor in allgemeiner und internationaler BWL, Fondsmanager und Publizist sah meine individuelle Nutzenfunktion anders aus. Im Nachhinein ist die Erklärung für die Krise einfach: Es handelte sich um eine klassische übermäßige Kreditexpansion mit folgender Kreditdeflation, wie sie Ludwig von Mises in der Theorie des Geldes und der Umlaufmittel im Jahr 1912 zum ersten Mal analysierte (vgl. Mises 1912) und wie sie Friedrich August von Hayek in seiner Geld- und Konjunkturtheorie 1929 weiter vertieft hatte: (vgl. Hayek 1929) Wenn durch eine lockere Geldpolitik oder andere Faktoren ein zu optimistisches Wirtschaftsklima entsteht, beginnt eine endogene Expansion des Kreditvolumens. Durch positive Wirtschaftszahlen steigt der Optimismus weiter an, es werden immer fragilere Finanz- und Wirtschaftskonstruktionen gewagt. Am Ende ist der Aufschwung sehr labil und eine Kleinigkeit
26 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte kann zu einer schlagartigen Veränderung des Wirtschaftsklimas und damit in die Depression führen. Wo vorher Verschuldung und Wachstum im Vordergrund standen, sind es nun Kreditkontraktion und Konsolidierung. Das war 2006 auch meine theoretische Grundlage: Ich sah, mit Blick auf den USImmobiliensektor und die weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte, das Kreditsystem als massiv überspannt an. Ich schrieb: „Das globale Finanzsystem ist mittlerweile ein komplexes Kartenhaus von Krediten auf vielen Ebenen, die beim besten Willen nicht mehr zurückgezahlt werden können. Irgendwann wird die Masse der Schulden unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen.“ (vgl. Otte 2006) 3.3 Schweigen und Fehlprognosen der Ökonomen: eine institutionenökonomische Erklärung Warum also hat die überwältigende Mehrheit der wissenschaftlichen oder theoretischen Ökonomen das Problem verdrängt, ignoriert oder schlichtweg gar nicht gesehen? Als ich mein Buch auf einer Podiumsdiskussion im September 2006 in Berlin vorstellte, erwiderte mir einer der angesehensten Ökonomen Deutschlands, den wir als Teilnehmer der Podiumsdiskussion gewonnen hatten, dass man das so nicht sehen könne: Eigentlich sei das Kreditvolumen egal, denn für jede Verschuldung gebe es ja woanders eine Gegenbuchung als Guthaben. Wörtlich sagte er: „Für jedes Soll wird woanders ein Haben verbucht.“ Der Name dieses Ökonomen, der zwei Jahre später in den Medien vor einer möglichen Weltwirtschaftskrise warnte, soll nicht genannt werden. Ich habe es erwähnt, nicht weil es eine amüsante Ausnahme ist, sondern weil es den damaligen Konsens der Ökonomen weitestgehend wiedergab (und weil es bereits wieder dabei ist, zum Konsens zu werden?). Für Keynesianer bestimmt letztlich die effektive Nachfrage den Gang der Wirtschaft, für die Monetaristen ist es die Versorgung der Wirtschaft mit Geld, die möglichst stabil und am Potenzial der Wirtschaft orientiert sein sollte. Beides sind, selbst in ihren komplexen Varianten, recht mechanistische Ansätze. Dennoch bestimmen diese beiden Positionen bis heute den Methodenstreit in der Makroökonomik. Neokeynesianische oder österreichische Ansätze, die auch das Phänomen der Kreditdeflation zulassen würden, bleiben Außenseiterpositionen. Es lässt sich belegen, dass die Markt- und Konjunkturprognosen der Profis äußerst prozyklisch sind. James Montier, Experte für Behavioral Investing und Marktstrategie, hat die Gewinnprognosen von Analysen untersucht. Es zeigt sich, wie aus Abb. 3.1 ersichtlich, dass die Prognosen der Realität zeitversetzt folgen. (vgl. Montier 2007)
3 Die Finanzkrise, der Crashprophet und die Wissenschaft von der modernen Ökonomie 27 Abb. 3.1 Gewinnentwicklung und Prognosen (Quelle: James Montier, DrKW Macro Research, „Analysts lag reality“) Dieses Schema ließ sich auch bei den Konjunkturprognosen während der Finanzkrise beobachten (siehe Abb. 3.2). 4 3 2 1 0 -1 -2 -3 -4 -5 -6 2006 2007 Tatsächlich 2008 2009 Prognose des Vorjahres Abb. 3.2 Wachstum des BIP in der Bundesrepublik und Gemeinschaftsdiagnose des Vorjahrs (Quelle: Deutsche Gemeinschaftsdiagnose der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e. V. im DIW Berlin (Hrsg); Jahresberichte des Bundeswirtschaftsministeriums) Hier lässt sich dasselbe Muster beobachten. Nachdem 2006 und 2007 das tatsächliche Wachstum höher gelegen hatte als die Prognose, wurde diese 2008 angehoben, gerade als das Wachstum abflachte. Die Prognose blieb auch für das Herbstgutachten 2008 noch
28 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte auf einem hohen Niveau, als der massive Einbruch erfolgte. Ein ähnliches Muster zeigt sich bei den Prognosen des Internationalen Währungsfonds für die Weltwirtschaft (siehe Abb. 3.3). 6 5 4 3 2 1 0 -1 2006 2007 2009 2008 Tatsächlich Prognose Abb. 3.3 Wachstum des Weltsozialprodukts zu konstanten Preisen und IWF-Prognose des Vorjahres (Quelle: IWF World Economic Outlook Database) Noch im Frühjahr 2008 weigerten sich viele Institute anzuerkennen, dass es eine Rezession geben würde. Im Spätsommer 2008 wurde dann allgemein akzeptiert, dass es eine leichte Rezession geben müsse. Und im Juni 2009 warnte Norbert Walter – wiederum deutlich zu spät – dass das Schlimmste noch vor uns liege. (vgl. Walter 2009) Als einziger hat Klaus Zimmermann aus dem Totalversagen der Wirtschaftsforscher den Schluss gezogen, für das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung zunächst einmal auf Prognosen zu verzichten. (vgl. DIW 2009)  Noch etwas: Kann es etwas Unsinnigeres geben als Konsensprognosen? Wenn wir Modelle ernst nehmen, beruhen die Prognosen auf Wirkungszusammenhängen und kausaler Logik. Welchen Sinn kann es machen, verschiedene kausale Logiken zusammenzuwerfen und daraus einen Durchschnitt zu bilden? Aus der Fehlertheorie wissen wir: Wenn Sie schlechte Information mit guter Information mischen, erhalten Sie schlechte Information. Ähnlich ist es mit der Logik: Eine Vermischung zweier Logiken produziert Unsinn. Nie gab es mehr Wirtschaftsforschungsinstitute als heute. Nie waren die Ökonomen präsenter in Medien und Politik. Gibt es eine Erklärung dafür, dass die Ökonomen nicht vor einer möglichen Finanzkrise mit katastrophalen Folgen gewarnt haben?
3 Die Finanzkrise, der Crashprophet und die Wissenschaft von der modernen Ökonomie 29 Beschäftigt man sich etwas näher mit der individuellen Nutzenfunktion eines Wirtschaftsforschers an einer Hochschule, einem sonstigen Forschungsinstitut oder bei einem Verband, ist dieses prozyklische Verhalten sehr gut erklärbar. Nutzen stiften a) das Ansehen unter den Kollegen und b) die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Nutzen 1: Reputation unter Kollegen Ziel ist es, ordentliche Wissenschaft zu betreiben und das Ansehen der Kollegen zu gewinnen und zu behalten. Da fällt eine Prognose, die weit vom Konsens abweicht, schon schwer, insbesondere, wenn es eine negative Prognose ist. Nehmen wir weiter an, ein Forscher erwägt eine solch negative Prognose. Wenn er Recht hat, werden ihm seine Kollegen das nicht unbedingt danken. Sein Gehalt wird nicht steigen. Vielleicht hat er sich sogar Neid zugezogen. Wenn die stark vom Konsens abweichende, negative Prognose falsch ist, ist die Karriere des Prognostikers hingegen ernsthaft gefährdet, vielleicht ist er sogar erledigt. Bei Betrachtung dieser Kosten-Nutzen-Relation wird er sich, im Großen und Ganzen, mit der Masse seiner Kollegen bewegen. Die Tatsache, dass dies der Treffsicherheit der Prognosen nicht nützt, ist dabei ziemlich unerheblich. Warren Buffett sagte hierzu: „Als Spezies haben Lemminge einen schlechten Ruf. Aber kein einzelner Lemming ist jemals ausgesondert und für das Verhalten der Spezies verantwortlich gemacht worden.“ (vgl. Buffett 1984) Nutzen 2: Aufmerksamkeit Das Gedächtnis der Märkte ist kurz geworden. Wenn ein Ökonom oder eine Ökonomin die Medienöffentlichkeit sucht, ist er oder sie gut beraten, die Stimmung des Augenblicks zu verstärken. Mitten im Crash sind positive Aussagen wenig gefragt, sondern eher dramatisierende Aussagen. Im Aufschwung werden hingegen Krisenprognosen verdrängt. Ich gebe hier – zugegebenermaßen – anekdotische Evidenz. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Titelgeschichte der angesehenen amerikanischen Business Week, die im August 1979 eine Titelgeschichte „The Death of Equities“ (Der Tod der Aktien als Anlageklasse) brachte, wenige Jahre bevor Aktien zum größten Aufschwung des Jahrhunderts starteten. (vgl. Bloomberg Businessweek 1979) Am 10. März 2000 titelt die BILD-Zeitung treffsicher zum Höhepunkt der „New-Economy“-Blase: „Reich mit Aktien“. (vgl. Mühlauer 2008) Im Oktober 2002 titelte Der Spiegel dann „versenktes Geld“ – gerade als ein Einstieg an der Börse immer lohnenswerter wurde. (vgl. Der Spiegel 2002) Wenige Jahre später kehrten Optimismus und Euphorie zurück. Im Januar 2007 titelte Focus Money „10 Aktien, die immer steigen“. (vgl. Hoffmann et al. 2007) Am 5. Dezember 2008 warnt Norbert Walter, damaliger Chefvolkswirt der Deutschen Bank, vor einer „dramatischen Rezession“. (vgl. Focus Money 2008) Normalerweise sind von den Medien prozyklische Einschätzungen gefragt. Als zum Beispiel der Verfasser und Folker Hellmeyer, Chefökonom der Bremer Landesbank, am
30 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte 21. Mai 2010 in der 3Sat-Börse, auf dem Höhepunkt der Euro- und Griechenland-Krise, positive Einschätzungen zur Eurozone abgaben, war die Moderatorin sichtlich überrascht von der unerwarteten Wendung des Gesprächs. (vgl. Otte und Hellmeyer 2010) Die banale Logik: Das Publikum empfindet in der Mehrheit prozyklisch. Für diese Erkenntnis hat Daniel Kahneman den Nobelpreis erhalten, als er nachwies, dass unsere Geldanlageentscheidungen und ökonomischen Einschätzungen sehr häufig von Instinkten des Kleinhirns gesteuert werden. (vgl. Kahneman und Tversky 1979) Damit erhöhen sich die Werbeeinahmen eines Mediums, wenn Themen geschaltet werden, die gerade „in“ sind. Und „Experten“, die diese Themen bedienen, erhalten eine erhöhte Aufmerksamkeit. Auf der anderen Seite ist die Halbwertszeit von Statements in den Medien sehr kurz. Der „Track Record“ eines Prognostikers oder Wirtschaftsforschers ist nur sehr schwach mit dessen Erfolg und Ansehen korreliert. Die Strategie mit dem größeren Erwartungsnutzen ist also eine prozyklische. 3.4 Theoretische und empirische Wirtschaftsforschung: Grenzen und Probleme des Modelldenkens Die moderne Ökonomie arbeitet mit quantitativen Modellen. Modelle bringen grundlegende Hypothesen über Wirkungszusammenhänge in eine strenge Form und helfen so, über sie nachzudenken und sie empirisch zu testen. Es bestehen aber fundamentale Erkenntnisprobleme bei ökonomischen Makro- und Mikromodellen, wie sie von Alfred Marshall eingeführt und dann zum Beispiel im Lehrbuch von Samuelson und Nordhaus millionenfach verbreitet wurden. Ein bestimmter Wirkungszusammenhang, der postuliert, isoliert und als Modell dargestellt und getestet wurde, mag in der Vergangenheit gegolten haben, doch das sagt oft wenig über die Zukunft aus. Ich möchte hier einige Grenzen des Modelldenkens zur Diskussion stellen. 1. Stabile Nutzenfunktionen und exogene Präferenzen Bei der Mehrheit der ökonomischen Modelle werden stabile Nutzenfunktionen vorausgesetzt, die auf exogenen (= vorgegebenen) Präferenzen der am Prozess beteiligten Individuen beruhen. Oft werden bestimmte Annahmen über den Verlauf dieser Funktionen getroffen. Auch die österreichischen Ökonomen setzen solche Funktionen voraus, auch wenn sie sich dagegen wehren, dass diese im Einzelfall beschrieben werden können. Die Grundannahme, dass Präferenzen stabil und exogen gegeben sind, sowie dass nur die Präferenzen von Individuen zählen, stellt die sozialwissenschaftliche Schule des Institutionalismus in Frage. (vgl. Keohane et al. 1988) Die „Institutionenökonomik“ beschäftigt sich mit ähnlichen Fragestellungen: Wenn die bestehenden Institutionen Nutzenfunktionen und Präferenzen beeinflussen, dann sind diese nicht mehr „a priori“ oder „exogen“, sondern eben oftmals endogene Variablen.
3 Die Finanzkrise, der Crashprophet und die Wissenschaft von der modernen Ökonomie 31 Dafür gibt es durchaus ökonomische Begründungen: Coase und Demsetz haben die Idee der Transaktionskosten in die Institutionenökonomik eingeführt, Simon die der „Bounded Rationality“ und Williamson die des spezifischen Kapitals, das nur in einer bestimmten Situation und einem bestimmten Umfeld produktiv sein kann. (vgl. Coase et al. 1937) Menschen gestalten ihre Zukunft selber, in einem Wechselspiel aus Ideen und realen Gegebenheiten. Die Geschichte ist multidimensional und „im Fluss“. Wenn „der Markt“ die dominante Gedankenfigur einer Epoche ist, dann ist es nicht verwunderlich, dass immer mehr Institutionen Märkten ähneln. Wenn die Ideen der gesellschaftlichen Klasse oder der Nation breite Beachtung finden, dann werden auch diese Ideen gesellschaftliche und ökonomische Wirksamkeit entfalten. Institutionen und Gedanken können Präferenzen verändern. Wer diese Position vertritt, wird gerne als Dialektiker oder Hermeneutiker gedanklich in die Geisteswissenschaften geschoben, dabei kann diese Perspektive auch die Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften erhellen. Quantitative Modelle bilden einen bestimmten Aspekt der Vergangenheit ab. Sie können sich sogar ihre eigene Realität schaffen. Wenn wir alle glauben, dass der Staat wie ein Markt funktionieren sollte, mit Lobbygruppen, die im Markt der Meinungen bei den Ministerien und Volksvertretern um ihre Position verhandeln, dann funktioniert der Staat eben wie ein Markt. Aber das muss nicht so sein. Die Realität eines Modells besteht nur so lange, wie die Voraussetzungen des Modells gelten beziehungsweise seine Grenzen nicht überschritten werden. Insofern kann auch ein Begriff, wie der von Rudolf Hilferding geprägte des „internationalen Finanzkapitals“, durchaus hilfreich bei der Analyse von soziopolitischen Vorgängen sein. (vgl. Hilferding 1910) Er besagt letztlich nichts anderes, als dass es zwischen international mobilen Produktionsfaktoren (Manager in Großkonzernen, Hedgefonds, Großbanken, Family Offices vermögender Unternehmen) und national beziehungsweise regional gebundenen Produktionsfaktoren (Arbeiter, Angestellte, kreditgebende regionale Banken wie Volks- oder Raiffeisenbanken und Sparkassen und mittelständische Unternehmer) Interessengegensätze (unterschiedliche Nutzenfunktionen) geben kann. Der Begriff sollte daher nüchtern auf seine Nützlichkeit untersucht werden. (vgl. Otte 2010) 2. Reflexivität Indem Menschen über Märkte nachdenken, greifen sie – wie der Atomphysiker – in die Realität ein und verändern sie. George Soros hat dies als „Reflexivität“ bezeichnet und wollte darauf ein neues Paradigma für die Finanzmärkte begründen. In einem faszinierenden Insiderbericht hat der am MIT ausgebildete Ökonom und Hedgefondsmanager Richard Bookstaber, der seit Mitte der 1980er Jahre bei allen neuen Produktentwicklungen, beginnend mit der Portfolioversicherung, mitten an der Wall Street dabei war, beschrieben, dass dies nicht die Ausnahme ist, sondern normalerweise so sein muss: Je erfolgreicher ein Finanzmarktmodell für eine bestimmte Arbitragestrategie ist, desto mehr Nachahmer wird es finden, bis schließlich die Strategie nicht mehr funktioniert, oft dann auch mit der Konsequenz eines kleinen oder großen Crashs. (vgl. Bookstaber 2007)
32 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte In vielerlei Hinsicht ist die Finanzkrise auch eine Ursache des Modelldenkens: Amerikanische Immobilien waren über Jahrzehnte eine Anlageklasse mit weitgehend stabilen Renditen. Diese Daten der Vergangenheit lassen sich erfassen. Man kann Korrelationen und Modelle berechnen. Daraus lassen sich Produkte, zum Beispiel verbriefte SubprimeForderungen, konstruieren, die in der Vergangenheit phantastisch funktioniert haben. Die Preise der Vermögensklasse steigen weiter. Immer mehr Investoren kaufen diese phantastischen Produkte. Der Preisanstieg beschleunigt sich. Und – Presto! – ist die Blase da. Und da, wo die mathematischen Hedgefondsmodelle funktionieren, beuten sie Asymmetrien aus, die wohl temporär bestehen mögen, dann aber durch Arbitrage verschwinden. Manchmal wird dann auch – wie eben auch bei Subprime und den amerikanischen Immobilien – ein Schneeballsystem initiiert, das in Blase und Crash endet. 3. Irrationale Märkte Schon von Simon wissen wir, dass es rational sein kann, eingeschränkt rational zu handeln und zum Beispiel Routinen zu benutzen, um die Kosten der Informationssuche einzuschränken. Herbert Simon nennt das „bounded rationality“. In den letzten Jahren ist das Modelldenken, gerade auch im Bereich der empirischen verhaltenswissenschaftlichen Finanzforschung, erschüttert worden. Ende der 1980er Jahre haben, beginnend mit de Bondt und Thaler (vgl. de Bondt und Thaler 1985) sowie Shleifer (vgl. Shleifer 2000), etliche Kapitalmarkttheoretiker nachgewiesen, dass Märkte oftmals nicht effizient sind. Das gilt auch für Finanzmärkte, bei denen man aufgrund der geringen Transaktionskosten und der hohen Transparenz lange Zeit glaubte, hier läge die Idealform des Marktes vor. Etliche Erkenntnisse der verhaltenswissenschaftlichen Finanzforschung unterstützen Simons Konzept der „bounded rationality“. So wenden Anleger oftmals Routinen (Heuristiken) bei der Entscheidungsfindung an. Sie orientieren sich zum Beispiel an einem Fixpunkt wie dem Einstandskurs. Man nennt dies Anker-Heuristik. Weil der DAX im Jahr 2003 auf 2200 Punkte gefallen war, glaubten 2008 und 2009 viele Anleger, dass er nun wieder auf 2200 Punkte fallen würde. Oder die Anleger orientieren sich an ihrem Einstandskurs für ein Wertpapier. Beides ist völliger Unsinn: Die Kurs- und Renditeperspektiven hängen nur von der Relation des ökonomischen Wertes eines Papiers zum Kurs ab. Haben sich die Aussichten drastisch verschlechtert, werden alte Kursmarken nie mehr erreicht, haben sie sich verbessert, können alle Höchststände weit übertroffen werden. Oder die Verfügbarkeitsheuristik: Anleger orientieren sich nicht an den relevanten Daten, sondern an den Daten, die sie gerade verfügbar haben. Das sind heutzutage oftmals der Kurs eines Wertpapiers und der Chart. (vgl. Kahneman et al. 1982) Beide Größen sind aber völlig aussagelos, wenn ich sie nicht in Relation zu einem Referenzpunkt setze. Aber damit nicht genug: Gerade an den Finanzmärkten sehen wir hoch irrationales und spekulatives Verhalten. Anleger springen auf eine Blase auf, weil sie sich weitere Gewinne erhoffen. Verhalten ist insgesamt in hohem Maße prozyklisch und damit im weiteren Sinne irrational. Vor einigen Jahren lieferte Daniel Kahneman auch den empirischen Beweis für das (vgl. Kahneman und Tversky 1992), was der französische Arzt Gustave le
3 Die Finanzkrise, der Crashprophet und die Wissenschaft von der modernen Ökonomie 33 Bon im 19. Jahrhundert in seiner „Psychologie der Massen“ zum ersten Mal systematisch beschrieb: In der Masse tritt die Rationalität zurück und das Unter- und Unbewusste hervor. Die Masse handelt instinktiv. (vgl. Le Bon 1895) Kahneman legte seine Testanden in den Kernspintomographen und stellte ihnen Finanzfragen. Je komplizierter die Fragen und je schneller die Entscheidung, desto aktiver war das Kleinhirn im Vergleich zum Großhirn. Und das Kleinhirn verbindet uns evolutionsgeschichtlich mit den Reptilien. Fressen und gefressen werden, Gier und Furcht dominieren also immer noch einen Großteil unserer Finanzentscheidungen. (vgl. Otte 2006) Literaten und Historiker wussten es schon immer: Der rationale Mensch ist nur einer von vielen Menschen. Ehrgeiz, Angst, Mut, Liebe, Hass, Neid, Klein- und Großmut, Gier, Furcht sind alles Motive und Triebkräfte menschlichen Zusammenlebens. Theoretische Ökonomen, die mehrheitlich die individuelle Rationalität als Basis ihrer Arbeit ansehen, spenden vielleicht ein paar Lippenbekenntnisse, machen aber sonst weiter wie bisher. Oder noch besser: Sie versuchen, die größten Verrücktheiten als „rational“ zu deuten, wie es zum Beispiel Peter Garber für den Tulpenwahn in Holland tut. Garber argumentiert, dass Tulpenzwiebeln knapp und nicht beliebig vermehrbar gewesen seien – ergo sei es rational gewesen, wenn Menschen Haus und Hof für eine besonders schöne Zwiebel versetzten. Eine interessante Sicht von Rationalität, leider eine, die in der Ökonomie gang und gäbe ist. Hierzu noch ein Ökonomenwitz: Gehen zwei Ökonomen über die Straße. Sagt der eine: „Sieh mal, da liegt ein 100-Euro-Schein!“ Sagt der andere: „Nein. Das kann gar nicht sein. Wenn er da läge, hätte ihn schon längst jemand aufgehoben.“ Dabei liegt in der empirischen Dekonstruktion der neoklassischen Nutzenfunktion durch die verhaltenswissenschaftliche Finanzforschung die Chance auf eine realistischere Sicht der Dinge – manchmal funktionieren Märkte nach rationalen Kriterien, manchmal eben nicht. 4. Die Verwechselung von Vergangenheit und Zukunft Ein logischer Fehler, der vor allem quantitativ-empirische Modelle betrifft und der immer wieder mit Verblüffung erfüllt, ist die Verwechselung von Vergangenheit und Zukunft, sowie von Allgemeinem und Speziellem. Die Formulierung und der empirische Test von Modellzusammenhängen können ein Hochgefühl geistiger Macht verleihen. Fast alle, die überwiegend mit Modellen arbeiten, sind trotz manch einschränkender Bemerkungen versucht, die gefundenen Zusammenhänge auf die Zukunft zu projizieren. Ein besonders eklatantes Beispiel bildet die moderne Kapitalmarkttheorie, in der die historische Volatilität oder Korrelation mit dem Markt mit dem Risiko eines Wertpapiers gleichgesetzt wird. Warren Buffett und andere große Praktiker haben darauf hingewiesen, dass das Konzept logisch falsch ist. Es ist so falsch, wie es falscher gar nicht sein kann. Die historische Volatilität eines Wertpapiers hat NICHTS mit seiner zukünftigen Volatilität zu tun. Als zum Beispiel im Frühjahr 2009 die Aktie von American Express von über 60 Dollar auf unter zehn Dollar gefallen war, war nach Auffassung der klassischen Kapitalmarkttheorie durch die gestiegene Volatilität das Risiko eines Investments
34 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte in diese Aktie massiv gestiegen. Natürlich war das Gegenteil der Fall: American Express verfügt über ein außerordentlich stabiles Geschäftsmodell, und bei zehn, 15 oder 20 Dollar war das Investment in diese Aktie nahezu risikolos. Dennoch wird Volatilität beziehungsweise Kovarianz mit dem Markt (Beta) bis heute von der überwältigenden Mehrheit der Kapitalmarktforscher kritiklos als Maß für das Risiko eines Wertpapiers angewendet. 3.5 Methodologischer Individualismus, historische Schule, Wirtschaftsgeschichte und politische Ökonomie Die überwiegende Anzahl der heute forschenden Ökonomen würde sich als „methodologische Individualisten“ bezeichnen. In seiner strengen Form würde der von Joseph Schumpeter 1908 zum ersten Mal verwendete Begriff implizieren, dass wirtschaftliche und gesellschaftliche Phänomene ausschließlich durch die Motive und Handlungen von Individuen erklärt werden sollen. In seiner semistrengen Form würden auch noch die Beziehungen zwischen Individuen dazugehören. (vgl. Schumpeter 1908) Der logische Ausgangspunkt jeglicher Analyse sind Individuen, ihre Absichten (Nutzenfunktionen) und gegebenenfalls noch ihre Interaktionsbeziehungen. Institutionen und soziale Klassen sind lediglich aus den Nutzenfunktionen und dem Verhalten der Individuen zu erklären. (vgl. Mises et al. 1940) Im methodologischen Individualismus ist kein Platz für gesellschaftliche Institutionen wie den Staat als „autonome Institution“. Es ist auch kein Platz für ein Gemeinwohl, das sich nicht aus den unmittelbaren Nutzenfunktionen der Individuen konstruieren ließe. Ludwig von Mises und August von Hayek vertraten einen radikalen methodologischen Individualismus mit fast religiösem Eifer. (vgl. Mises 1998) (vgl. Hayek 1948) Die angelsächsische Tradition, die ausgerechnet von den österreichischen Denkern philosophisch neu belebt wurde, setzt die unsichtbare Hand des Marktes voraus. Sie macht damit eine äußerst einfache und in gewisser Weise vorindustrielle Organisationsform – die des Marktes – zum Ausgangspunkt ihres gesellschaftstheoretischen Denkens. Auf einer Rede in Dresden im Jahr 2008 bemerkt Bert Rürup, dass die angelsächsische Wirtschaftstheorie und -politik den Markt als „Vollautomatismus“ betrachte, die kontinentaleuropäische Tradition den Markt jedoch als „Halbautomatismus“ sehe, dessen Funktionsweise in gewissen Bereichen korrigiert werden müsse. (vgl. Rürup 2008) Diese, wenngleich griffige, Formulierung greift jedoch etwas zu kurz. Es geht letztlich um die Deutungshoheit und die Rangordnung der Subsysteme, den Primat von Politik oder Wirtschaft. Die französischen und preußischen Denktraditionen verbindet, im Vergleich zur angelsächsischen, mehr als sie trennt. In der kontinentaleuropäischen Denktradition steht das Politische logisch an erster Stelle. Märkte und andere gesellschaftliche Organisationsformen sind Resultat bestimmter politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Auch der Begriff des „Gemeinwohls“ – das sich durchaus nicht aus
3 Die Finanzkrise, der Crashprophet und die Wissenschaft von der modernen Ökonomie 35 der Summe aller einzelnen Willensentscheidungen ableiten lässt – spielt in der kontinentaleuropäischen Tradition eine wichtige Rolle, sei es nun als „Volonté Générale“ bei Rousseau, als „Kategorischer Imperativ“ bei Kant oder als „Weltgeist“ bei Hegel. In der Mont Pelerin Society kam es bald nach der Gründung zu Streit zwischen der „religiös marktgläubigen Fraktion“, die postulierte, dass der Markt Erklärungsmuster für alles sein könne und dass Märkte stets ihre eigene „spontane Ordnung“ schaffen würden, wenn man sie nur ungehindert funktionieren lasse, und der ordoliberalen Tradition, die im Gegenteil einen starken und ausgleichenden Staat als Voraussetzung für das Funktionieren der Märkte fordert. Röpke, Rüstow und Müller-Armack verließen die Gesellschaft im Streit. (vgl. Hartwell 1995) Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurde der „Methodenstreit in der Nationalökonomie“ ausgetragen, der sich zum Teil um ganz ähnliche Fragen drehte. In der kontinentaleuropäischen, vor allem deutschen, Tradition war die konkrete Betrachtung von ökonomisch-historischen Situationen vorherrschend, wie zum Beispiel in der Stufentheorie der nationalen Entwicklung Friedrich Lists (1789 bis 1846). 1883 veröffentlichte Carl Menger die Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der politischen Ökonomie insbesondere. Darin griff er den historischen Ansatz scharf an. Die Angegriffenen, allen voran Gustav von Schmoller, wehrten sich. Philosophische Grundprobleme der Sozialwissenschaften werden nie „gelöst“, sie treten immer wieder in neuen Gewändern auf. In der neuen US-Sozialwissenschaft argumentieren die „Konstruktivisten“, dass Institutionen eben auch die Erwartungen und Nutzenfunktionen von Individuen formen können, dass also Nutzenfunktionen und Erwartungen nicht einfach „a priori“ gesetzt werden können. (vgl. Berger und Luckmann 1966) Bevor man solche Überlegungen als überholt ansieht, sollte man sich überlegen, dass heute vielmals Großkonzerne die dominierenden Einheiten sind, und dass sich die Mitarbeiter und Führungskräfte solcher Konzerne anders verhielten, wenn sie ihr eigenes Geschäft betreiben würden. In diesem Sinne bin ich Hermeneutiker – soziale Realität ist konstruiert. Soziale Realitäten und die Ergebnisse gerichteter Geschichte nur auf bestimmte ökonomische Realitäten zurückzuführen, wird der Komplexität und der Offenheit historischer Prozesse nicht gerecht. Modelle können helfen, Aspekte historischer Prozesse zu beleuchten, für deterministische Prognosen taugen sie in den meisten Fällen nicht. In den letzten Jahren wird immer wieder – auch von Seiten der Ökonomen – die Erneuerung der institutionellen Ökonomie gefordert. Dass sie sinnvoll wäre, ist seit Coase und Demsetz oder Oliver Williamson unumstritten. Nur bleibt diese Erkenntnis seltsam folgenlos. Institutionalisten finden sich bei den Politologen oder Sozialwissenschaftlern, aber eigentlich nicht bei den Ökonomen. In einem Diskussionspapier vom Januar 2009 „The Crisis of 2008: Structural Lessons for and from Economics“ zieht Daron Acemoglu vom Massachussetts Institute of Technology seine Schlussfolgerungen für die Ökonomie. (vgl. Acemoglu 2009) Unter anderem fordert er:
36 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte „Wir gingen fehl in der schnell akzeptieren Annahme, dass die kapitalistische Wirtschaft in einem institutionenlosen Vakuum funktioniert, wo die Märkte durch wundersame Vorgänge opportunistisches Verhalten kontrollieren. Weil wir diese institutionellen Voraussetzungen vergessen haben, haben wir irrtümlicherweise freie Märkte mit unregulierten Märkten gleichgesetzt.“ (vgl. Acemoglu 2009) Und weiter: „Wir müssen nun anfangen, eine Theorie der Markttransaktionen zu entwickeln, die mehr im Einklang mit den institutionellen und regulatorischen Voraussetzungen der Märkte ist. Wir müssen uns auch der Theorie der Regulierung von Unternehmen und Finanzinstitutionen zuwenden und hoffentlich zusätzliche Lehren aus der aktuellen Erfahrung ziehen.“ (vgl. Acemoglu 2009) Ich denke, dass Acemoglu vielleicht etwas Zustimmung ernten wird, dass aber die vom ihm und anderen als Folge der Finanzkrise erhobenen Forderungen weitgehend folgenlos bleiben werden. Wie sollen Wissenschaftler ohne humanistische und historische Bildung – denn dafür ist in dem durch die angelsächsische Richtung dominierten Studium keine Zeit – überhaupt anfangen, sich sinnvoll mit Wirtschaftsgeschichte und politischer Ökonomie zu beschäftigen? Alexander Rüstow schrieb bereits 1949: „Die Krisentheorie hat nach Entstehung, Entwicklung, und bis zu einem gewissen Grade auch noch nach ihrer heutigen Vertretung nahe Beziehungen zum Sozialismus. Es ist klar, dass die grundsätzlichen Gegner der „kapitalistischen“ Wirtschaft den schärfsten Blick für ihre Schäden und Krankheiten haben mussten.“ (vgl. Rüstow 1949) Und weiter: „Da jedoch die Krisentheorie trotz aller Fortschritte noch weit davon entfernt ist, ihre Ergebnisse im Ganzen quantifizieren zu können, so lässt sich bisher mit theoretischer Strenge noch nichts ausmachen, welches das relative und absolute Gewicht rein endogener Krisenphänomene sein würde. Man ist für die Entscheidung dieser Frage noch weitgehend auf empirische Beobachtung und ihre mehr soziologische und morphologische als rein nationalökonomische Auswertung angewiesen.“ (vgl. Rüstow 1949) Die Vorgehensweisen von Modelltheoretiker und Historiker werden sich immer reiben. Es bleibt letztlich ein unvereinbarer Gegensatz, der sich niemals auflösen lassen wird, der aber vielleicht, wenn er denn akzeptiert wird, zu einem für die Wissenschaft produktiven Spannungsverhältnis führen würde:   Der Historiker weiß, dass menschliche Geschichte immer gerichtet ist, dass keine Situation ganz der anderen gleicht und dass immer allgemeine und besondere Faktoren zusammenwirken. Der Modelltheoretiker wird hingegen, im Triumph des Entdeckers von Zusammenhängen, versucht sein, sich von seinem eigenen Modell vereinnahmen zu lassen und dieses als zeitlos anzusehen. Die Voraussetzungen eines bestimmten Modells werden dann gerne bereits am Anfang des Arguments ausgeblendet und später nie wieder betrachtet.
3 Die Finanzkrise, der Crashprophet und die Wissenschaft von der modernen Ökonomie 37 Es ist meines Erachtens völlig unfruchtbar, sich zu streiten, ob es eine keynessche Liquiditätsfalle oder eine Kontraktion aufgrund von Nachfrageausfall geben kann, oder ob alles immer zum Gleichgewicht tendiert – Hauptstreitpunkte zwischen keynesianischen und neoklassischen Ökonomen. Mal stimmt das eine, mal das andere. Das ist der Unterschied zwischen Geschichte und Theorie. Natürlich heißt das nicht, dass wir auf Modelle verzichten können. Sie stellen Wirkungszusammenhänge unter bestimmten Voraussetzungen dar. Ohne Modelle gäbe es nur Einzelfälle. Faktensammeln alleine kann keine Wissenschaft sein. In „Manias, Panics, and Crashes – a History of Financial Crises“ entwickelte Kindleberger, damals schon emeritierter Dekan des Department of Economics am Massachusetts Institute of Technology, anhand von 34 Finanzkrisen ein Ablaufmodell: (vgl. Kindleberger 1978)      In Phase I gibt es eine ökonomische Verwerfung, die zu neuen Investitionsmöglichkeiten führe. (Nach 1989 war dies der Zusammenbruch des Kommunismus, die Globalisierung und die Liberalisierung.) Diese Verwerfung führt in Phase II zu einem Investitionsboom, der auch durch die Ausdehnung von Kredit gefördert wird. In Phase III entsteht, was Kindleberger und Minsky „Overtrading, Mania oder Bubble“ nennen. Diese entstehende Spekulationsblase kann sich unterschiedlich weit ausdehnen. Irgendwann kommt aber unweigerlich Phase IV, von Kindleberger „Financial Distress“ genannt. In dieser Phase merken mehr und mehr Akteure, dass der jüngste Aufschwung auf Sand gebaut war und versuchen, aus den spekulativen Objekten in Liquidität zu gehen. Der Zyklus endet mit Phase V, der allgemeinen Panik. (vgl. Kindleberger 1978) Schon in den 1970er Jahren musste sich Kindleberger dafür rechtfertigen, dass er kein mathematisch strenges, sondern ein auf historischen Beobachtungen beruhendes Phasenmodell präsentierte. Aus meiner Sicht hat Kindleberger Wissenschaft im besten Sinne betrieben, auch wenn das Modell zu breit ist, um es mathematisch zu fassen. Bedenklich ist eher die andere Seite, nämlich, dass Krisen nicht vorkommen dürfen, weil sie in kein formal strenges Modell passen. Die politische Ökonomie kann helfen, die Kluft zwischen abstrakter Institutionenökonomik, Konstruktivismus und Institutionalismus auf der einen und historischer Betrachtungsweise auf der anderen Seite zu überbrücken. Die Disziplin der politischen Ökonomie beschäftigt sich, neben der Entstehung von Wohlstand, auch mit dem Phänomen der Macht, welches in der gesellschaftlichen und historischen Realität nicht unerheblich ist. Es geht also neben der Entstehung von Wohlstand auch um die Verteilung desselben. In den USA hat die politische Ökonomie, wenn auch nicht bei den Ökonomen, so doch an einigen sozial- und politikwissenschaftlichen Seminaren überlebt. Robert Gilpin, der in Princeton Internationale Politische Ökonomie und Internationale Bezie-
38 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte hungen lehrte, stellt drei grundsätzliche Perspektiven der politischen Ökonomie vor, die liberale, die kommunistisch-sozialistische und die national ausgerichtete politische Ökonomie: (vgl. Gilpin 1987) 1. Die liberale Gesellschaftstheorie, die soziale Phänomene auf Einzel- und Gruppeninteressen zurückführt, ist mit Namen wie Adam Smith, Ludwig von Mises oder Friedrich August von Hayek verknüpft worden und liegt fast allen ökonomischen Modellen und Konzepten zugrunde. Der einhergehende „methodologische Individualismus“ wurde oben bereits diskutiert. Die liberale Gesellschaftstheorie ist durchaus geeignet, etliche politökonomische Vorgänge zu erklären. In einem konsequent neoliberal ausgerichteten Staat, in welchem die Politik nur Interessen bedient und keine autonomen Bereiche hat, werden sich spezielle Interessengruppen, die ihren Mitgliedern Vorteile bieten können und der Allgemeinheit diffuse Lasten aufbürden, durchsetzen. Mancur Olson zog in „Rise and Decline of Nations“ allerdings ein trauriges Fazit: Weil Interessengruppen sich immer mehr Sondervorteile erkämpfen und keine allgemeine Macht in der Lage ist, diese Sondervorteile zu beschneiden, erstarrt die Innovationsfähigkeit einer Wirtschaft und das Land geht wirtschaftlich nieder. Erst ein externer Schock, wie zum Beispiel ein Krieg oder eine große Umwälzung, können erstarrte Strukturen aufbrechen und ein neues Klima der Innovation gedeihen lassen. (vgl. Gilpin 1987) 2. Die sozialistische beziehungsweise kommunistische Gesellschaftstheorie sieht die soziale Klasse als wichtigsten Referenz- und Bezugspunkt und deutet daher die Geschichte als „Geschichte von Klassenkämpfen“. Somit ist die soziale Schicht die wichtigste Analyseeinheit. Entstanden aus der Kritik frühkapitalistischer Zustände, war die sozialistische Gesellschaftstheorie auch die erste, die eine Krisentheorie formulierte. (vgl. Rüstow 1949) 3. Die unter anderen von Friedrich List begründete nationale und an der Wohlfahrt von Staaten (Regionen) ausgerichtete Wirtschaftstheorie sieht das Gemeinwesen (Staat) als maßgebliche Analyseeinheit und Solidargemeinschaft. List erklärte in „Das nationale System der Politischen Ökonomie“ den Rückstand des zersplitterten Wirtschaftsraumes Deutschland und schlug Maßnahmen vor, um Deutschland auf die Höhe der führenden Industrienation seiner Zeit – Englands – zu heben. (vgl. List 1930) In Lateinamerika fand sein Schutzzollargument große Beachtung. Insgesamt ging es List aber nicht um einzelne Maßnahmen, sondern um die Darstellung von Wirtschaftseinheiten als „Systemen von Produktivkräften“ und damit um eine eher potenzial- als marktorientierte Wirtschaftstheorie. In der modernen Makroökonomik spielt die langfristig ausgerichtete Wachstumstheorie eher eine Nebenrolle. In den frühen 1990er Jahren beschäftigte sich Harvard-Professor Michael Porter mit dem „Wettbewerbsvorteil von Nationen“ und griff Lists Gedankengut auf. Er argumentierte, dass sich in bestimmten Regionen sich selbst verstärkende Branchencluster bilden würden, welche die Basis für nationale und regionale Wettbewerbsvorteile seien. (vgl. Porter 1990)
3 Die Finanzkrise, der Crashprophet und die Wissenschaft von der modernen Ökonomie 39 Politökonomische Modelle liegen im Abstraktionsgrad zwischen der mathematischen Ökonomie und der Wirtschaftsgeschichte. Sie können bei der Vermittlung zwischen beiden Disziplinen helfen. Auch die Finanzkrise wird sich letztlich nur durch ein politökonomisches Modell erklären lassen, welches die Rolle von Macht und Interessenstrukturen in die Erklärung einbezieht. Durch Mancur Olsons Modell lässt sich zum Beispiel erklären, dass die großen kapitalmarktorientierten Banken und Finanzakteure regulatorische Strukturen durchgesetzt haben, durch die sie im Vergleich zu Akteuren der Realwirtschaft massiv begünstigt werden. (vgl. Böschen et al. 2010) Weil diese Banken eine extrem effektive Lobby haben, konnten sich die Verursacher der Krise mit dem Geld der Allgemeinheit retten, können regulatorische Maßnahmen umgehen und werden weit unterproportional an den Kosten der Krise beteiligt. Als zweitstärkste Lobby bekam in Deutschland vor allem die Automobilbranche große Subventionen aus dem Konjunkturprogramm. Neben Gruppen- und Brancheninteressen spielen auch heute noch nationale oder regionale Interessen eine Rolle. So haben Gläubiger- und Schuldnerländer unterschiedliche Interessen, wie es im Konjunkturstreit zwischen Obama und Merkel deutlich wurde. (vgl. Neuerer 2010) Länder mit einer sehr starken Finanzbranche (USA, England) vertreten andere Interessen als Länder, in denen das produzierende Gewerbe stark ist (Deutschland, Österreich, China). So hat sich zum Beispiel die Österreichische Wirtschaftskammer anlässlich einer Anhörung vor dem Bundestag für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer ausgesprochen. (vgl. Leuenberger 2010) Die politische Ökonomie ist bei der Analyse von Weltwirtschaft, Bankensystem und ökonomischen Fragestellungen zwingend einzubeziehen. Mathematische Partialmodelle können wertvolle Erkenntnisse liefern – die Dynamik des (Gesamt)systems können sie noch (lange) nicht abbilden. 3.6 Nach der Finanzkrise: Eine (sehr) kurze Standortbestimmung Die Reaktion der Wirtschaftspolitik nach 1929 und 2008: Die unmittelbaren Reaktionen auf das Einfrieren der Märkte nach dem 15. September 2008 bestanden aus Schock und Unverständnis bei Politik und Ökonomen. (vgl. Otte 2009) Dann reagierten die Regierungen der Industrienationen allerdings schnell: Sie verhinderten den Totalabsturz durch massive Liquiditätshilfen, Eigenkapitalhilfen und Konjunkturprogramme. Die Erinnerung an 1929 und die Folgen war offenbar so präsent, dass es Konsens war, das Risiko eines Kollapses des Bankensystems und einer weltweiten Deflationsspirale auf keinen Fall zuzulassen. In der Folge stiegen die Defizite der öffentlichen Haushalte massiv – in den USA, England und Irland auf über zehn Prozent der Wirtschaftsleistung. Nachdem die Finanzbranche auf Kosten der Allgemeinheit – unter anderem durch den Verweis auf „Systemrelevanz“ – vor dem Kollaps gerettet worden war, erfolgte in puncto Regulierung seitens der Regierungen wenig. Nach 1929 wurde der Finanzsektor suk-
40 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte zessive reguliert, zum Beispiel durch das Verbot von Interstate Banking in den USA und die Durchsetzung der Trennung von Investment- und Commercial Banking. Derivate begannen erst mit der Gründung der Chicago Board Options Exchange wieder eine Rolle für Privatanleger zu spielen, nachdem sie vor 1929 durchaus umfassend genutzt wurden. Mit der Gründung der Bretton-Woods-Institutionen wurden 1944 auch die internationalen Zahlungsströme reguliert. Das Bankwesen wurde „langweilig“. (Banking became boring.) Dieses langweilige System sorgte immerhin bis in die 1970er Jahre für eine weitgehend stabile Finanzwirtschaft. Die Aufhebung der Goldkonvertibilität des Dollars durch Richard Nixon im Jahr 1973, die schrittweise Einführung flexibler Wechselkurse, die Ölschocks der 1970er Jahre und folgenden Deregulierungsmaßnahmen führten dann schrittweise zum heutigen (Nicht)System. Bereits im Dezember 2008 stellte ich Thesen zur Regulierung der Finanzmärkte vor. Die Regeln sollen dabei einfach, transparent und hart sein und von einem schlanken, aber starken Staat durchgesetzt werden. (vgl. Otte 2008) Bereits drei marktwirtschaftskonforme Regeln könnten die Bevorteilung der Finanzoligarchie gegenüber der Realwirtschaft aufbrechen, den „Casino-Kapitalismus“ (vgl. Sinn 2009) eindämmen, das MoralHazard-Problem der Branche beseitigen und eine marktwirtschaftliche Ordnung wieder herstellen: 1. Ausreichendes Eigenkapital: Eigenkapital ist die Basis einer verantwortlichen Marktwirtschaft. (vgl. Otte 2010) Die risikogewichtete Kernkapitalquote nach Basel II ist ein komplexes, manipulierbares und schwer zu durchschauendes Instrument. Es kann sein, dass eine Bank mit acht Prozent Kernkapital nach Basel II tatsächlich nur 1,5 Prozent echtes Eigenkapital hat, wie zum Beispiel die Deutsche Bank. Eine feste Eigenkapitalquote (Leverage Ratio) von sechs oder acht Prozent für alle Finanzmarktakteure (Volks- und Raiffeisenbanken sowie Sparkassen weisen diese Eigenkapitalstärke regelmäßig auf) würde das Moral-Hazard-Problem massiv eindämmen. Zudem wurden im Zuge der Finanzkrise die Bilanzierungsregeln weiter aufgeweicht. Im Basel-III-Beschluss vom September 2009 wurde tendenziell eine höhere Eigenkapitalausstattung für Banken vereinbart. Das „harte“ Kernkapital (Tier 1) soll in Schritten auf 4,5 Prozent der risikogewichteten Aktiva steigen. Was gut klingt und in die richtige Richtung weist, hat zahlreiche Schwachpunkte. So fehlt auch dann noch eine feste (nicht-risikogewichtete) Eigenkapitalquote. Hedgefonds und Private-Equity-Gesellschaften haben nach wie vor keine harten Eigenkapitalregeln. Und Basel III wird zu einer Schwächung des deutschen Finanzsystems führen, da sich die Beschlüsse gegen Sparkassen und Genossenschaftsbanken richten und Investmentbanken begünstigen. Dabei haben Sparkassen und Genossenschaftsbanken die Krise nicht verursacht und hätten sogar international Modellcharakter haben können. (vgl. Neuerer 2010) 2. Finanztransaktionssteuer: Eine Finanztransaktionssteuer von zum Beispiel 0,05 Prozent auf alle Finanzgeschäfte wäre eine marktkonforme Maßnahme, die nachhaltige und langfristig orientierte Finanzgeschäfte gegenüber hochspekulativen Geschäften begüns-
3 Die Finanzkrise, der Crashprophet und die Wissenschaft von der modernen Ökonomie 41 tigen würde. Da die Transaktionssteuer auf die gesamten Umsätze abstellt (und nicht auf die Gewinne, wie es die von der Finanzlobby in einem propagandistischen Einfall nahezu Orwellscher Sprachverdrehung benannte „financial activity tax“ machen würde), würde die Finanztransaktionssteuer vor allem Akteure treffen, die mit viel Fremdkapital arbeiten oder die ihr Vermögen häufig drehen. Die Transaktionssteuer besteuert also die spekulativen Aktivitäten. Kleinsparer hingegen würden kaum belastet, wie es die Lobby gerne glauben machen möchte. (vgl. Otte 2010) Auf dem G-20-Gipfel in Kanada im Juli 2010 wurden die diesbezüglichen Vorstöße der Bundesrepublik allerdings abgeblockt. (vgl. Süddeutsche Zeitung 2010) 3. Regulierung der Geschäftsmodelle: Das vom früheren Chairman des Federal Reserve Board Paul Volcker vorgeschlagene und von Präsident Barack Obama am 21.01.2010 befürwortete Verbot des Eigenhandels für Banken und ein Verbot für Banken, in HedgeFonds zu investieren („Volcker-Rule“) würde ebenfalls dazu beitragen, das MoralHazard-Problem zu reduzieren. Banken könnten nicht, mit Kundengeldern gehebelt, hochspekulative Geschäfte betreiben. Eine Austrocknung der Liquidität von Märkten wäre dennoch nicht zu befürchten, denn solche Geschäfte könnten weiter von Hedgefonds betrieben werden, die dann aber Kapital speziell zu diesem Zweck einsammeln. Einige Elemente der Volcker-Rule werden derzeit im amerikanischen Kongress umgesetzt, viele wesentliche Punkte werden aber wohl nicht eingeführt werden. Auch das unilaterale Vorgehen der Bundesregierung beim Verbot ungedeckter Leerverkäufe bleibt eher eine punktuelle und symbolische – wenn auch prinzipiell zu begrüßende – Maßnahme. So sind die Maßnahmen nach 2008 im Vergleich zu den Jahren nach 1929 bei weitem unzureichend. Eine ausreichende Eigenkapitalausstattung der kapitalmarktorientierten Banken ist nicht in Sicht. Die Einführung der Finanztransaktionssteuer ist blockiert. Geschäftsmodelle und Produkte werden nur unzureichend reguliert. Andere Maßnahmen, wie die Stärkung des Verbraucherschutzes oder die Beschneidung von Boni, können bestenfalls flankierende Wirkung haben, erreichen aber nicht die Wurzel des Problems. 4. Der Streit der Ökonomen: Im April 2009 veröffentlichten 83 Professoren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Aufruf „Rettet die Wirtschaftspolitik an den Universitäten“, der sich gegen die zunehmende Praxisferne ihres Fachs und die zunehmende Mathematisierung wendet und mehr Relevanz fordert. (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung 2009) Obwohl auch durch personalpolitische Entscheidungen an der Universität zu Köln motiviert, zeigt die breite Resonanz, dass hier ein wichtiges Thema angesprochen wurde. Unter anderem soll die deutsche Aufteilung des Fachs in Wirtschaftstheorie – Wirtschaftspolitik – Finanzwissenschaft erhalten werden, die zunehmend durch die angelsächsische Aufteilung Mikroökonomik – Makroökonomik – Finanzwissenschaft ersetzt wird. (vgl. Schmidt 2009) Zudem war die Kritik am eigenen Fach, nach dem vorhergehenden Totalversagen der Ökonomie, nicht ganz unberechtigt.
42 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte Aber viele Ökonomen wehren sich gegen die Kritik. „Die schiere Existenz des Streits untergrabe die Glaubwürdigkeit der eigenen Disziplin“, so der Freiburger Ökonom Thomas Gehrig. (vgl. Gehrig 2009) Rüdiger Bachmann von der University of Michigan äußerte, dass der Streit im Ausland forschenden Ökonomen die „Rückkehr nicht schmackhafter“ mache. (vgl. Bachmann) Harald Uhlig von der University of Chicago sagte, dass der Streit sich für eine Karnevalsveranstaltung eigne. (vgl. Uhlig) Trotz differenzierter Einschätzungen des Aufrufs durch theoretische Ökonomen wie Martin Hellweg, überwiegt doch bei weitem die Abwehrhaltung. Harald Uhlig und Rüdiger Bachmann initiierten den von 188 Professoren und Assistenten unterzeichneten Aufruf: „Baut die deutsche VWL nach internationalen Standards um!“ (vgl. Uhlig 2009) „Methodenvielfalt ist nicht postmoderner Selbstzweck, sondern zweckmäßig und adäquat“, schreiben Nils Goldschmidt, Gerhard Wegner, Michael Wohlgemuth und Joachim Zweynert. (vgl. Goldschmidt et al. 2009) Hans-Werner Sinn kommt zu dem Schluss, dass Theorie, Institutionenlehre und Ökonometrie gleichsam wichtig seien. (vgl. Sinn 2009) In seinem Buch Casino-Kapitalismus vertritt er dann eine ausgesprochen kritische und institutionenökonomisch begründete Sicht der Finanzbranche, die viele Parallelen mit der hier vorgestellten Perspektive aufweist. (vgl. Sinn 2009) Gleichwohl scheint die von Herbert Giersch formulierte „Bringschuld der Ökonomie gegenüber der Wirtschaftspolitik“ nicht mehr empfunden zu werden, die Logik des wissenschaftlichen Wettbewerbs scheint sich von der Wirtschaftspolitik entkoppelt zu haben. (vgl. Plickert 2010) Insgesamt scheint der Aufruf der 83 Ökonomen ein letztes Aufbäumen gewesen zu sein, der Trend zur Mathematisierung und Theoretisierung ungebrochen. Oft wird nach Betrachtung der Finanzkrisen der Geschichte die Frage gestellt, warum wir anscheinend so wenig aus der Geschichte gelernt haben, und warum sich Finanzdesaster oftmals als fast getreue Kopie ihrer Vorgänger wiederholen. In dieser Form ist die Frage zu einfach gestellt. Nach dem Crash von 1929 wurden die Konsequenzen aus dem Scheitern des Finanzkapitalismus gezogen – es wurden „Brandschutzmauern“ installiert, wie Peer Steinbrück es ausdrücken würde. Eine der letzten und stärksten Mauern war das vom Internationalen Währungsfonds überwachte Regime fester Wechselkurse, das 1944 in Bretton Woods beschlossen wurde. Leider halten die Lehren der Geschichte meist nur eine oder zwei Generationen und geraten dann in Vergessenheit. John Kenneth Galbraith schrieb, dass die „Verrückten ihren Wahn nicht wahrnehmen können und sich nicht auf einmal dazu entschließen können, vernünftig zu sein.“ Allerdings gebe es „einen gewissen Schutz, so lange es Menschen gibt, die wissen, dass die Geschichte sich wiederholt, wenn sie hören, dass nun Wirtschaftsgeschichte geschrieben werde oder dass eine neue Ära beginne. Dies hilft, die Verbreitung von Illusion zu stoppen.“ (vgl. Galbraith 1962) In eben dieser Ausgabe von 1962 fährt Galbraith fort: „Der Sinn für Geschichte der Europäer schützt diese, wenn auch nicht perfekt, so doch besser vor spekulativen Exzessen [als Amerikaner].“ (vgl. Galbraith 1962)
3 Die Finanzkrise, der Crashprophet und die Wissenschaft von der modernen Ökonomie 43 Heute (2010) bin ich da leider nicht mehr so sicher. So sind mit der hemmungslosen Liberalisierung der internationalen Kapitalmärkte, beginnend mit der de-facto-Aufgabe des Systems fester Wechselkurse durch das Leitwährungsland USA unter Präsident Richard Nixon 1971, die Lehren der Geschichte leider zunehmend in Vergessenheit geraten. Auch Europa scheint sie zu vergessen und sich einer ahistorischen Betrachtungsweise von Ökonomie und Finanzmärkten zuzuwenden. Hoffen wir darauf, dass eine neue Politikergeneration die Lehren der Geschichte wiederentdeckt. Aber rechnen wir nicht damit! Als notwendiges Korrektiv zur technisch und mathematisch orientierten Ökonomie, sind daher die Disziplinen der Wirtschaftsgeschichte und der politischen Ökonomie heute notweniger denn je.  Ursprünglich erschienen als: Otte, Max, „Die Finanzkrise, die Ökonomen, der „Crashprophet“ und die Wissenschaft von der Ökonomie“; in: Von Ziegler, Dieter (Hrsg.), Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte/Economic History Yearbook, Band 52, Heft 1, Berlin: Walter de Gruyter GmbH, 2011, S. 191–217, 3 Abb. 3.7 Literatur Abel, A. und Bernanke, B. (2004): Macroeconomics. 5th Edition, Boston. Acemoglu, D. (2009): The Crisis of 2008. Structural Lessons for and from Economics. MIT/CEPR Policy Insight 28. http://econ-www.mit.edu/files/3703. Zugegriffen: 28. Juni 2010. Bachmann, R. zit. n. W. Mussler. Die Lehren der Anderen. Batra, R. (1987): The Great Depression of 1990. Why it’s got to happen – how to protect yourself. o. O. Batra, R. (1999): The Crash of the Millennium. Surviving the Coming Inflationary Depression. New York. Berger, P. L. und Luckmann, T. (1966): The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge. Garden City. Bloomberg Businessweek (1979): The Death of Equities. How Inflation is destroying the stock market. http://www.businessweek.com/investor/content/mar2009/pi20090310_263462.htm. Zugegriffen: 28. Juni 2010. Bondt, W. F. M. de und Thaler, R. (1985): Does the Stock Market Overreact? The Journal of Finance 40/3, S. 793–805. Bookstaber, R. (2007): A Demon of our Own Design. Markets, Hedge Funds, and the Perils of Financial Innovation. Hoboken. Böschen, M. et al. (2010): „Es reicht! Drei Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise wächst der Zorn über die mit Steuergeldern geretteten Banken. Sie bereichern sich, statt Kredite zu geben; sie umgehen Gesetze und verhindern Reformen. Es ist höchste Zeit, die Bank-Risiken zu entschärfen. Was jetzt passieren muss.“ Wirtschaftswoche 9/2010, S. 92–101. Brönstrup, C. (2008): Interview mit Bert Rürup. Wir stehen nicht vor einer Rezession. Tagesspiegel, 12.04.2008. http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/wir-stehen-nicht-vor-einer-rezession/ 1209216.html. Zugegriffen: 19. Juli 2010. Buffett W. (1984): Berkshire Shareholders Inc. – Letter to Shareholders. http://www.berkshirehathaway.com/letters/1984.html. Zugegriffen: 28. Juni 2010.
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4 4 Wie ich zum Unternehmer wurde: Lehren für zukünftige Entrepreneure Ein befreundeter Professorenkollege an der FH Worms – er war damals Dekan – sagte mir vor einigen Jahren: „Lieber Kollege Otte, bei Ihnen ist das alles so einfach. Ihnen glückt alles, Sie sind in den Medien, alles geht so locker voran.“ Ich konnte darauf nur antworten: „Lieber Kollege, bei mir war nichts einfach, gar nichts.“ Tatsächlich habe ich oft bis zum Hals im Mist dringesteckt. 1995 hat mich die Bertelsmann-Stiftung Knall auf Fall gefeuert. 1996, annus horribilis, war die Freundin weg, die Doktorarbeit noch nicht fertig, ich bekam einen Hörsturz, Aufträge und Geld wurden knapp, und ich musste ein wunderschönes Grundstück in Wyoming verkaufen. Da hieß es für mich: Fokussieren. Nicht mehr herumspielen. Jetzt geht es ums Überleben. Ich flog nach Amerika, blendete alles aus und machte meine Doktorarbeit fertig. Anschließend musste ich einen Job finden. Der war bei einem amerikanischen Beratungsunternehmen. Er sollte die einzige wirkliche Festanstellung in meinem Leben bleiben. Man feierte sich und mich auf amerikanische Manier: „Hi, Max, großartig, dass du bei uns bist“, und nach einem Jahr hieß es ebenfalls sehr amerikanisch: „Du musst jetzt gehen, Max. Pack deine persönlichen Sachen zusammen und lass die Schlüssel liegen.“ Ich hatte das vorausgesehen. Mein damaliger Chef war gerade auf einem Höhenflug und hatte mich für ein recht stattliches Gehalt eingestellt, auch, weil ich zuvor für einen Wettbewerber tätig gewesen war. Mit zwei Key Clients hatte er eine völlig überdimensionierte Truppe zusammengestellt. Und nun kam ich von einer Recruiting-Tour an den besten Universitäten Amerikas zurück, an denen ich die Vorzüge unseres Unternehmens erklären sollte: Harvard, Stanford, Wharton, University of Chicago. Und wurde prompt gefeuert. Ganz ehrlich: Ich habe es genossen. Eine gefühlte volle Stunde lang habe ich mich von allen verabschiedet. Mein Vorgesetzter stand immer als Wächter hinter mir, damit ich auch ja nichts Falsches sage. Dann fiel die Tür zu. 49 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_4
50 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte 1998 kam mir die Idee zum jetzigen Unternehmen. Es hat drei gescheiterte Joint Ventures, acht Rechtsstreite und zahllose schlaflose Nächte gedauert, bis ich da war, wo ich bin. Ich habe geheult wegen der Feigheit und des Verrats von Weggefährten oder ob der brutalen Dummheit von Joint Venture Partnern, die sich mir überlegen fühlten und glaubten, sich alles erlauben zu können. Fast 15 Jahre hat es gedauert, bis das Unternehmen seine heutige, durchaus respektable Größe erreicht hat. Jetzt zumindest dürfte der weitere Weg für meine Unternehmen einigermaßen klar sein. Aber auch dafür gibt es keine Garantie. Vor Jahren schrieb Andy Grove, der Gründer von Intel, ein Buch mit dem Titel: „Nur die Paranoiden überleben.“ Heute weiß ich: Das stimmt. Was ich damit sagen will: Einfach ist Entrepreneurship nicht. Aber wenn man es wirklich will, dann ist es die beste Sache der Welt. Was also macht Entrepreneurship aus? Ich möchte meine Aussagen in sechs Thesen fassen und mit einigen Beispielen aus meinem eigenen Werdegang illustrieren: 1. Wähle den Job oder das Unternehmen, das du gewählt hättest, wenn du bereits reich wärst Mein Vorbild als Investor, der legendäre Warren Buffett, hat einmal gesagt: Mache nichts allein deshalb, weil du glaubst, damit Geld verdienen zu können. Das führt wahrscheinlich in die Sackgasse. Der Mann hat Recht, wie ich selber schmerzlich lernen sollte. 1989/90 habe ich als 25-jähriger Projektleiter die Entwicklungshilfebehörde der Vereinten Nationen umorganisiert. Ich war noch Masterstudent an der Princeton University. Aber ich hatte für meinen damaligen Auftraggeber, die Kienbaum Unternehmensberatung GmbH, ein Team zusammengestellt, an einer Ausschreibung teilgenommen und das Projekt gegen die großen amerikanischen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und auch gegen McKinsey & Co. gewonnen. Das klingt toll. Aber für mich war das total langweilig. Mit Beamten sprechen, Kästchen malen, kleinste Veränderungen anstoßen – das ist nicht mein Ding. Kienbaum war damals dick im Behördengeschäft. In der Schlussphase des Studiums hatte ich dort ein Praktikum, weil man eben auch einmal bei einem Unternehmensberater gewesen sein sollte. Bei zwei Banken und Industrieunternehmen war ich schon gewesen. Es folgte der UNO-Auftrag. Damit hatte ich den Stempel „Behördenberater“ weg. Bis ich den abgestreift hatte, vergingen sechs, sieben Jahre. Beim nächsten Arbeitgeber war ich als Projektleiter mit der Reorganisation des Bundeswirtschaftsministeriums befasst. Eine Geschichte für sich. Im Rückblick waren diese Jahre beruflich eher eine verlorene Zeit. Ich hätte mir viel früher überlegen sollen: Was willst du wirklich? Was macht dir Spaß? Auch dann, wenn du es gar nicht tun musst? Nichts anderes besagt dieser Satz: „Wähle den Job oder das Unternehmen, das du gewählt hättest, wenn du bereits reich wärst.“ Das klingt weder einfach noch ist es einfach. Aber es schafft ungemein Klarheit.
4 Wie ich zum Unternehmer wurde: Lehren für zukünftige Entrepreneure 51 2. Kenne dich selbst Als Ableitung dessen: Belüge dich nicht selbst. Kenne Dich selbst. Manche Glückliche wissen schon in jungen Jahren, wer sie sind und was sie wollen. Bei mir hat es in mancher Hinsicht bis weit in mein viertes Lebensjahrzehnt hinein gedauert. Ein fester Kern war da, aber bis ich meinen Weg gefunden habe, hat es lange gedauert. Noch heute entdecke ich an mir Dinge, die ich bislang nicht kannte. Als junger Mensch mit 16 oder 17 Jahren hatte ich eine Vision: Ich wollte in der amerikanischen Außenpolitik mitmischen. Denn nicht in Europa, sondern in Amerika fielen meiner Ansicht nach die wirklichen Entscheidungen, und da wollte ich dabei sein. Amerika als Imperialmacht der Gegenwart bestimmt das Schicksal der Welt. Einwanderer wie Henry Kissinger, Wernher von Braun und Andy Grove hatten vorgemacht, dass man es mit Ehrgeiz und etwas Fortune ganz weit bringen kann. Der Weg dorthin war mir klar: Ich müsste an einer Eliteuniversität studieren (solche gab es nämlich in den USA – im Gegensatz zu Deutschland – und sie öffneten viele Tore). Am besten promovieren. Natürlich müsste ich auch Amerikaner werden. Nur ging das nicht so einfach. Ich bin zwar in einem Elternhaus groß geworden, das viel Wert auf Bildung legte, aber mein Vater starb, als ich 18 Jahre alt war. Da konnte ich mir das Studium in Amerika zuerst einmal abschminken. Wir hatten einfach nicht genug Geld. Zwar hatte ich zusammen mit einer Mitschülerin das beste Abitur des Jahrgangs hingelegt, aber für den knallharten Wettbewerb um ein Ivy-League-Direktstipendium reichte es nicht. Punkt. Fünf Jahre später sollte es dann klappen. Da machte es mich aber nicht mehr besonders glücklich. Persönlich ist mir Geld nicht wichtig. Viel wichtiger ist es mir, zu erkennen und zu gestalten, in jeder Form. Und zu lehren und so meine Kenntnisse weiterzugeben. Glauben Sie es mir oder auch nicht. Nun stand ich zum ersten Mal vor der Situation, dass Geld ein limitierender Faktor war. Ich hatte doch gedacht, es käme nur auf die Leistung an. Tatsache ist heute: Nur mit Geld kommt man zu Einfluss, Gestaltungsmöglichkeiten und – sprechen wir das Tabu ruhig aus – Macht. Nach der Bundeswehr ging ich zum Studium nach Köln. BWL. Ich hatte also doch etwas Wirtschaftsnahes genommen, um mir den Aufstieg in der Welt des Geldes nicht zu verbauen. Jura kam für mich trotz des Wunsches meines Vaters nicht in Frage. Ich wollte mich nicht immer herumstreiten, sondern lieber etwas Produktives machen. (Die gerichtlichen und sonstigen Auseinandersetzungen aus meiner Unternehmerzeit würden mittlerweile Bände füllen. So kam ich dann doch noch zu meinem Jurastudium, in der angewandten Form.) Meine Liebe aber gehörte Politikwissenschaften, Soziologie und Philosophie. Schließlich wollte ich ja Weltpolitik mitgestalten und irgendwann an einer amerikanischen Spitzenuniversität studieren. Mit der Zeit jedoch wurde mir klar, dass der ins Auge gefasste Weg über eine Professur in die Politikberatung und dann vielleicht in die aktive Politik doch nicht mehr ganz zeitgemäß war. Ich wusste, dass sich Politiker und Politikberater mit einer sehr großen, überaus begehrlichen Klientel herumschlagen müssen, letztlich davon sehr abhängig sind und wenig entscheiden können. Leider leben wir in einer Welt, in der der gesellschaftli-
52 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte che Rang von Politikern nicht sehr hoch ist, in dem Politiker nach der Nase der Lobbys tanzen und in der jederzeit der Ruf eines Politikers zerstört werden kann. Wenn man unabhängig bleiben und wirklich Einfluss nehmen will, muss man sich eine materielle Basis aufbauen. 1986 hatte ich ein Schlüsselerlebnis. Ich war in den Sommerferien mit InterRail, einem europäischen Eisenbahnpass, unterwegs. In einem Kino in Barcelona sah ich den „Terminator“, natürlich auf Spanisch. Die Person Schwarzeneggers faszinierte mich. Hier hatte es jemand geschafft, mit einem Thema von allgemeinem Interesse – Bodybuilding – in die Medien zu kommen und sich mit deren Hilfe immer weiter zu entwickeln. Und dabei reich zu werden und politische und gesellschaftliche Ambitionen zu entwickeln. (Ob Schwarzenegger, als er dann zweimal Gouverneur von Kalifornien wurde, wirklich glücklich war, wage ich zu bezweifeln. In seiner 2012 erschienenen Autobiographie weist er darauf hin, dass ihn seine Frau gebeten habe, sich und seiner Familie eine zweite Amtszeit nicht anzutun.) Noch im selben Jahr hatte ich mein lang ersehntes US-Stipendium durch die KonradAdenauer-Stiftung erhalten. In deren Programm zur Begabtenförderung war ich 1985 aufgenommen worden. Ich studierte an der American University in Washington, praktizierte im international hoch angesehenen Institute for International Economics (heute Peterson Institute) und im Kongress. Ich war bei der Anhörung von Notenbankchef Alan Greenspan für sein Amt als Notenbankchef dabei. Ich hätte in den USA bleiben und meinen MBA machen können. Ich kehrte aber nach Köln zurück. Meiner Mutter ging es nicht gut. Außerdem hatte ich in Köln einen Professor mit einer sehr guten, internationalen Reputation. Wenn ich bei dem reüssierte, so kalkulierte ich, könnte er mich vielleicht bei einer Ivy League unterbringen, also zum Beispiel in Harvard, Princeton oder Yale. Das hat 1989 auch geklappt. Inzwischen war es aber zu spät dafür. Im Grunde habe ich die ganze Zeit von 1987 bis 1999 gebraucht, um meinen wirklichen Weg zu finden. Während des Studiums arbeitete ich als Unternehmens- und Verwaltungsberater; zahllose Praktika bei Industrieunternehmen und Banken hatte ich während meines Studiums absolviert. Und so war ich hin- und hergerissen zwischen den USA und Deutschland, einer Karriere in der Wirtschaft und meiner Leidenschaft für Erkenntnis, Politik, Lehre, der Promotion und meinen Projekten. Ich saß unzählige Male im Flugzeug über dem Atlantik. Ich wickelte Projekte in den USA, Afrika und Europa ab. 1992 und 1995 schrieb ich meine ersten Sachbücher für ein breiteres Publikum. Der Titel „Amerika für Geschäftsleute“, bei Campus erschienen, fand einen höchst erfreulichen Anklang. 1995 und 1997 wurde ich, wie eingangs erwähnt, aus zwei Jobs gefeuert. Erst Anfang 1998 hatte ich die Chance, aus meiner Nische „Verwaltungs- und Politikberatung“ auszubrechen und bei einer M&A-Boutique in meinem heimischen Sauerland anzufangen. Die verkaufte und fusionierte mittelständische Unternehmen. Ich fand das sehr spannend. Später im Jahr 1998 bin ich für meine erste Assistant Professorship nach Boston in die USA zurückgegangen. Ich tat das sehr, sehr ungern, denn in Köln hatte ich einen
4 Wie ich zum Unternehmer wurde: Lehren für zukünftige Entrepreneure 53 Freundeskreis gewonnen, der mir sehr lieb war. Der Umzug nach Amerika war zugunsten einer Tenure-Track-Position auf fünf Jahre mit der Chance auf eine Lebenszeitanstellung veranschlagt. Trotz der herzlichen Aufnahme seitens meiner Kollegen fühlte ich mich nicht besonders wohl. Auch kam mir das Einkommen eines Assistant Professor of International Relations lächerlich gering vor. Die Kollegen waren im engen Bereich des akademischen Departments gefangen und bemühten sich um Forschungsgelder von ein paar tausend Dollar. Obgleich ich mich theoretisch gerne mit ihnen auseinandersetzte und sofort eine Basis fand, war das nicht mehr meine praktische Welt. Die Infrastruktur war gleich Null – wir machten quasi alles selber. Weit weg vom Bild eines Lehrstuhlinhabers in Deutschland mit vielen Assistenten. Aber das wusste ich ja schon seit meinem ersten Studienaufenthalt an der American University und ganz bestimmt seit Princeton. Mein Herz und mein Kopf waren reif für den nächsten Schritt. Wenige Monate, nachdem ich in den USA angekommen war, hatte ich die Vision, die bis heute Grundlage meiner Unternehmen ist. Es war die Zeit der New Economy. Rund um mich herum schien das Geld auf der Straße zu liegen. Das war natürlich verlockend. Von meinem „Schwarzegger-Erlebnis“ wusste ich schon, dass eine Präsenz in den Medien sehr hilfreich ist. Das Internet faszinierte mich. Und schließlich interessierte ich mich auch wieder für Aktieninvestments. (Schon 1987 war ich zum Zeitpunkt des Crashs Praktikant an der Frankfurter Börse gewesen.) Ich war im Internet auf eine Finanzwebseite gestoßen, MotleyFool.com. Die Macher analysierten Aktien und Investments sehr intelligent und wollten Privatanlegern helfen, die Profis zu schlagen. Die Analysen waren brillant und ehrlich. Außerdem hatten die Motley-Fool-Leute eine freche Schreibe. Das wollte ich nach Deutschland holen. In dieser Vision kam alles zusammen: mein Wunsch, Wissen an Bürgerinnen und Bürger weiterzugeben, mein Interesse an Finanzen, Medien und Internet sowie die Möglichkeit, mir eine materielle Basis aufzubauen und vielleicht sogar gesellschaftspolitisch Einfluss zunehmen. Es hat lange gedauert, bis ich gemerkt habe, was ich wirklich machen wollte. Als es mit der wissenschaftlichen und politischen Karriere in den USA nicht geklappt hatte (und ich es auch selber nicht mehr wollte), musste ich mich erst mal umorientieren. Das setzt schonungslose Ehrlichkeit gegenüber sich selbst voraus. Als Entrepreneur, der über den Tag hinaus Erfolg haben will, muss man so sein. Auch gegenüber anderen. Aber am Anfang steht die Selbsterkenntnis. 3. Entrepreneurship braucht Mut Vor einiger Zeit kam ein Buch heraus mit dem Titel „Altwerden ist nichts für Feiglinge.“ Dasselbe gilt für leidenschaftliche Unternehmer: Auch Entrepreneurship ist nichts für Feiglinge. Denn da kommen zwischendurch immer wieder ziemlich harte Sachen hoch. Und oft muss man der Sache wegen beinhart bleiben. Die Gründer der amerikanischen Webseite Motley Fool saßen in Virginia. Mit ihnen wollte ich sprechen. Verwiesen wurde ich jedoch stets an deren Europavertreter in Lon-
54 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte don, ein Brite und ein Amerikaner, jünger als ich, beide perfekt in Deutsch und sehr nett. Es dauerte fünf Monate, bis ich begriffen habe, dass die beiden überhaupt kein Interesse daran hatten, den Otte in Deutschland stark werden zu lassen. Denn eine starke deutsche Tochtergesellschaft hätte ja die englische Europazentrale massiv abgewertet. Noch mal: Die beiden waren fürchterlich nett. Aber es ging nicht voran. Bis ich dann ein Team von drei bis vier Freunden aufgebaut hatte, mit dem ich in die Staaten reiste, um zusammen mit den Europavertretern den Gründern von Motley Fool das deutsche Geschäftsmodell vorzustellen. Das Konzept schien den Gründern zuzusagen. Aber mich wollten sie nicht. Ehe ich mich versah, hatte Motley Fool zwei meiner Freunde eingestellt. Ich bekam einen symbolischen Scheck über 5000 Dollar. Freundschaften zerbrachen. London, vielleicht sogar die Gründer selbst, dachten nicht im Traum daran, einen starken Otte hereinzuholen. Ich wollte Unternehmensanteile in Deutschland, ich wollte Unternehmer werden. Die wollten einen Angestellten. Daraus habe ich nach langen und wiederholt schmerzhaften Erfahrungen ähnlicher Natur ein Geschäftsprinzip gemacht: Sprich nur mit dem Entscheider. Das ist kein Bullshit: Ich will jemanden haben, von dem ich eine Aussage bekomme, Ja oder Nein. Das gilt auch für meine Kundenbeziehungen. Die Kunden sollen sich bitte entscheiden, sollen „Ja“ oder „Nein“ sagen, meinetwegen auch alternierend, aber ich will klare Aussagen. Taktieren, auch wenn es der bequemere Weg sein mag, passt nicht zu meiner Persönlichkeit. Danach ging ich zu Wall Street Online, um eine hochwertige, fundamental-analytisch orientierte Community aufzubauen. Sie können sagen: Was für eine Spinnerei! Das war es nämlich. Wallstreet-Online als Zockercommunity par Excellence, und ich wollte da etwas didaktisch Hochwertiges machen. Nach ein paar Monaten haben wir uns vorgerichtlich geeinigt und sind auseinander gegangen. Im Herbst 2000 investierte die freenet.de AG eine Million DM in mein Konzept. Endlich konnte ich starten. Aber wieder war es eigentlich schon zu spät. Ende 2001 – ich war mittlerweile ordentlicher Professor an der Fachhochschule Worms – herrschte in der Internetszene der nackte Überlebenskampf, die blanke Panik. Die ganze Szene war in Auflösung begriffen, und Freenet wollte das Unternehmen, an dem ich 25 Prozent hielt, entsorgen. Das wiederum wollte ich nicht – hier ging es um meine unternehmerische Vision, mein Lebenswerk. Nach einigem Hin und Her bin ich zum Insolvenzrichter gegangen und habe Konkurs angemeldet, um die Abwicklung „meines“ Unternehmens zu verhindern und mit einem neuen Partner zu starten. Die Muttergesellschaft wertete das als Frechheit: Wie kommt ein Professor, ein Beamter (!), dazu, Insolvenz für die Tochtergesellschaft anzumelden? Ganz angenehm war es auch für das freenetManagement nicht, denn es war, wie gesagt, in der Zeit der Auflösung der New Economy. Es folgten mehrere existenzbedrohende Rechtsstreitigkeiten. 2003 und 2004 wurden außerdem meine Kinder geboren. Um wirtschaftlich überleben zu können, verkaufte ich meine Sammlung alter E-Gitarren. Das war weiß Gott keine einfache Zeit. Hätte ich nicht die Stelle als verbeamteter Professor gehabt, ich hätte aufgeben müssen.
4 Wie ich zum Unternehmer wurde: Lehren für zukünftige Entrepreneure 55 Mit einem neuen Partner, der OnVista AG, habe ich dann die Insolvenzmasse erworben. Doch anscheinend arbeitete man bei OnVista von Anfang an darauf hin, mich auszubooten. „Professor Otte ist gut für die PR, aber das Geschäft machen wir“, frohlockte einer der Vorstände gegenüber meinen Mitarbeitern, als ich gerade einmal nicht dabei war. Also konnte auch diese Partnerschaft nicht halten, obwohl ich alles für ein faires Miteinander gegeben hätte. Ende 2002 wurde ich von einem OnVista-Vorstand gezwungen, meine Beteiligung am Joint Venture mit OnVista zu verkaufen. Der Mann war dumm und arrogant und hat sich massiv selbst überschätzt. Mit mir hätte er einen höchst engagierten Partner für wenig Geld gehabt. Natürlich verlief der Verkauf nicht so, wie dieser Vorstand es sich vorstellte. Es folgten wieder harte Rechtsstreitigkeiten. Danach hatte ich mich endlich freigeschwommen und mein eigenes Unternehmen. Ohne den Mut, für den großen Traum auch mal einen kurzzeitigen, kalkulierten Verlust in Kauf zu nehmen und existenzielle Risiken einzugehen, wäre ich nicht dahin gekommen. Das Geschäftsmodell wurde weiterentwickelt. Ich begann, Privatkunden in der Vermögensverwaltung und Vermögensberatung zu beraten, zum Teil für ganz kleines Geld. Diese Zeit hart am Boden hat mir geholfen, mein Beratungskonzept völlig unabhängig von dem, was jeweils gerade so in der Branche läuft, zu vervollständigen. 4. Kopf und Herz schlagen Kapital Machen Sie sich nicht von Kapitalgebern abhängig. Nehmen Sie sich lieber Zeit. Unterschätzen Sie weder den Zeitfaktor noch die notwendige Willenskraft, die ein Entrepreneur braucht. Manchmal muss man mit sturem Kopf vorgehen, um zu einer soliden Kapitaldecke zu kommen. Günter Faltin weist zu Recht darauf hin, dass Kopf Kapital schlägt. Aber auch das Herz muss dazukommen. Es gibt so viele gute Konzepte. Wie wenige davon werden aber von wirklichen Unternehmern – Besessenen – zu einem funktionierenden Unternehmen weiterentwickelt? Mein Antrieb war stets, etwas Einträgliches und Sinnvolles zu unternehmen. Beispielsweise, dem normalen Bürger vernünftige und verständliche Lösungen für die Geldanlage zu liefern. Neulich sagte mir ein Taxifahrer: „Hör mir bloß auf mit Aktien. Wenn ich meiner Frau mit Aktien komme, dann steigt die mir aufs Dach.“ Mit diesem Denken hat der deutsche Privatanleger den letzten Aufschwung verpasst. Um die Jahrtausendwende gingen alle in Aktien, dann ging es rauf und runter und wieder rauf und wieder runter, und mittlerweile sind alle so verunsichert, dass sie ihr Erspartes in Festgeld stecken – trotz der wahren Inflation von vier oder fünf Prozent, nicht der, die in der staatlichen Statistik ausgewiesen ist. Bei Zinsen von einem Prozent oder weniger macht das wenigstens drei Prozent minus, nach 25 Prozent minus in den letzten zehn Jahren und 40 Prozent minus in den zurückliegenden 15 Jahren. So werden die deutschen Sparer, so wird die Mittelschicht hinters Licht geführt. Ich wollte und ich will etwas Nützliches versuchen, nämlich beim Vermögensaufbau zu helfen. Ich will Menschen ein Stück weit begleiten und voranbringen. Den Beruf des
56 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte Professors habe ich ja auch nicht ganz zufällig gewählt. Nur ist es eine sehr schwere Aufgabe, Menschen zu entwickeln. Bücher kann man für Hunderttausende schreiben, Vorlesungen kann man vor 700, 800 Leuten halten. Aber Menschen, Fachkräfte, Führungskräfte wirklich zu entwickeln und zwar im Tagesgeschäft, das gelingt jedes Jahr nur mit einem oder ganz wenigen. Das dauert. Mir macht es Freude, obwohl auch viele Fehlgriffe und Rückschläge dazugehören. Die Umsetzung meines Geschäftsmodells, nämlich Privatanlegern, dem Mittelstand, Unternehmern, klassischen Familienunternehmern bei der Kapitalanlage zu helfen, hat mehrere Permutationen erfordert. Ich wollte einen Finanzverlag und eine Finanzwebsite. Das ist der Kern des Geschäfts. Ich wollte nie Finanzberatung machen. Doch dann war ich Berater. Dann war ich neben meinem deutschen Finanzverlag und meinem Schweizer Research und Fondsunternehmen auch noch an einer Vermögensverwaltung beteiligt. Ich wollte nie einen Fonds auflegen. Doch dann kam mein Schweizer Partner und sagte: „Probiere es doch mal mit Fonds.“ Mittlerweile sind es zwei – und beide sind sehr erfolgreich. Die Mission ist geblieben. Doch die Strategie und die Produkte haben sich geändert, um ihren Grundgedanken voranzubringen. Obwohl ich weitere Veränderungen nicht ausschließe, steht unsere kleine Unternehmensgruppe mittlerweile recht gut da      der Finanzverlag in Köln das Fondsmanagement- und Researchunternehmen in der Schweiz unser Kooperationspartner im Fondsmanagement in Deutschland unsere Lizenzpartner in der Vermögensverwaltung und weitere bewährte Kooperationen sorgen dafür, dass wir strategisch recht ordentlich aufgestellt sind. Ich will nicht ausschließen, dass auch hier weitere Veränderungen erfolgen, aber der Fokus liegt ganz klar auf der Optimierung der Organisation und Prozesse und der Mitarbeiterentwicklung. Ich werde nächstes Jahr 50 Jahre alt. Und mache mir Gedanken über den nächsten Schritt. Mit meinen beiden Unternehmen bin ich gut ausgelastet. Außerdem bin ich noch zu einem Viertel mit einer ordentlichen Professur am Institut für Management und Entrepreneurship der Universität Graz tätig. Mehr geht nicht. Man muss sich irgendwann entscheiden, was man hauptsächlich ist: Unternehmer oder Professor. Darin schließe ich mich Hermann Simon an, dem Gründer von Simon-Kucher & Partner mit mittlerweile 400 Professionals. Irgendwann hat er seine Professur an den Nagel gehängt, hat sich auf sein Unternehmen konzentriert und alles richtig gemacht. Zum richtigen Zeitpunkt hat er die Unternehmensleitung abgegeben und ist in den Aufsichtsrat gewechselt. Eines Tages muss das auch bei mir so sein. Doch erst noch ein Wort zur Gründerszene heute. Kopf schlägt Kapital, ganz klar. Momentan ist unglaublich viel Kapital in der Welt vorhanden, aber oft gerade nicht das Kapital, das Gründer wirklich brauchen: nämlich Human Capital. Ich meine das virtuelle Kapital, das von einem Menschen in eine Idee strömt, der von ihr überzeugt ist und sie konsequent durchzieht.
4 Wie ich zum Unternehmer wurde: Lehren für zukünftige Entrepreneure 57 Ich habe mein Unternehmen mit null Kapital begonnen, null Eigenkapital und null Fremdkapital. Ich habe weiter oben gezeigt, wie viele Querschläge kamen, wie viele Fehlschläge und wie viel Scheitern, bis sich der Erfolg eingestellt hat. Es hat Zeit gebraucht. Natürlich sind die drei Größen Zeit, Kapital und Unabhängigkeit zum Teil substituierbar. Aber wenn Sie unabhängig bleiben wollen und noch kein Kapital haben, dann sollten Sie lieber nicht fragen: „Welcher Kapitalgeber gibt mir den größten Batzen?“ Dann machen Sie lieber den Job, der Ihnen Spaß macht, fangen Sie klein an und nehmen sich Zeit. Denn was machen Sie, wenn Sie das ganz große Geld haben? Zur Zeit der New Economy, also 1999/2000, war ich Mitte 30 und die Gründer und Entrepreneure Anfang, Mitte 20. Viele von denen haben 150, 200 Millionen gemacht oder auch „nur“ 20 oder 30. Aber wie viele haben eine Idee nach der anderen hervorgebracht? Viele hatten nicht mal die nächste Idee. Viele sind „verbrannt“ von ihrem eigenen Erfolg. Bei vielen ist das Geld weg. Einige haben Haftstrafen verbüßt. Andere laufen den nächsten großen Ideen nach, ohne jemals wieder Erfolg zu haben. Viele hatten damals einfach nur Glück. Der schnelle Erfolg hat ihr Leben aus der Bahn gebracht. Ja, es gibt viel Kapital auf der Welt. Aber das gewaltige Kapital, das sich bei den Superreichen sammelt, ist Rentiers-Kapital. Das will eine schnelle, möglichst risikolose Verzinsung. In den Family Offices sitzen keine Unternehmer, sondern größtenteils Kapitalverwalter. Echtes Unternehmerkapital ist so knapp wie nie. Wenn Sie jemanden finden: All the power to you. Aber setzen Sie nicht nur auf den Kapitalgeber. Vor zehn Jahren floss Geld ohne Ende in Biotechnologie, weil das Thema unendlich gehypt wurde. Vor drei, vier Jahren war ich auf einem sogenannten Unternehmertag, wo hoffnungsvolle junge Menschen ihre Geschäftsideen präsentieren. Nach der Werbung für das 20. Ballerspiel bin ich hinausgegangen – das war die gerade angesagte Masche, und Me too ist reizlos. Letztes Jahr sprach mich ein zweifach promovierter Betriebswirt und Mediziner an, der einen Venture-Kapitalfonds leitet für Biotech-Beteiligungen. Er sagte: „Früher kam das Geld nur so rein. Die Unternehmen haben investiert, es gibt Forschungsergebnisse, aber kein neues Geld mehr. Alle haben nasse Füße bekommen.“ Also: Benutzen Sie Ihren Kopf. Die Banken geben kein Kapital, keine Kredite. Und wenn Sie Geld von professionellen Kapitalgebern nehmen, dann machen Sie sich von denen abhängig. 5. Nicht jeder hat das Zeug zum Entrepreneur Ich gehe sogar noch weiter und möchte das auch mit Professor Faltin kontrovers diskutierten: Wenige haben das Zeug zum Entrepreneur. Es ist eine harte Sache, und man muss sich seiner Sache wirklich sicher sein. Entrepreneurship braucht besonders viel Energie. Es ist die befriedigendste, die tollste Sache der Welt, aber ich glaube nicht, dass es das für jedermann ist. Es gibt so viele Leute da draußen, die einfach nur ihren Job machen wollen. Ich merke das in meinen eigenen Unternehmen. Wenn ich bei meinen Mitarbeitern auf mehr unternehmerisches Handeln dränge, dann sehe ich: Das ist eine verdammt harte Nuss. Die kriegt man nicht immer geknackt.
58 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte Es ist leicht gesagt: Finden Sie Unternehmer im Unternehmen. Bei sehr vertriebsorientierten Menschen mangelt es zuweilen an der Ehrlichkeit. Wenn Sie sehr ehrliche Menschen, gute Fachkräfte haben, dann fehlt es bisweilen an der Vertriebsorientierung und am Unternehmertum. Wie kriegt man das zusammen? Ich selbst stand und stehe ständig vor dieser Herausforderung. Ich habe fünf Assistentinnen verschlissen, weil ich bei den falschen Profilen – Assistent/in der Geschäftsleitung – gesucht habe. Ich habe viele Freiräume gegeben und selbstständiges Handeln, auch Führungsqualitäten, erwartet. Ich kann ordentlich zahlen, aber keine Mondpreise. Leistung wollte ich durch Freiräume, durch größtmögliche Delegation herausholen. Bis ich eines Tages begriffen habe, dass sich auf die Stellenanzeige Chefsekretär/-in oder Vorstandsassistent/-in immer nur ganz bestimmte Bewerber melden. Und für die ist der Job zu schwer. Mein Referent muss sehr viel selber entscheiden und vorantreiben. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass dafür wahrscheinlich schon ein akademischer Abschluss Voraussetzung ist. Der Aufgabenbereich, der jemandem zugedacht ist, die Fähigkeiten und die Entscheidungskompetenzen dieser Person, also das Wissen, das Können und das Dürfen müssen im Einklang stehen. Peter Drucker nannte das Management by Objectives. Das bedeutet: Wenn Sie Aufgaben abgeben, muss die übernehmende Person diesen gewachsen sein, und sie muss Entscheidungskompetenzen haben, die ihr erlauben, diese Aufgaben zu stemmen. Wenn Sie das nicht in Übereinstimmung bringen, bleibt das Wollen, die Motivation, auf der Strecke. Bis Sie das aber in einem schlanken Team so gestaltet haben, dass es passt, vergehen Jahre. Und wenn es nicht klappt, muss man Härte und Konsequenz an den Tag legen. Am Anfang habe ich mich damit schwergetan. Ich probiere es immer wieder, vielleicht zu oft. Aber irgendwann ist natürlich der Ofen aus. Wenn Sie also merken: Das funktioniert nicht im Team, dann ziehen Sie lieber schnell die Konsequenzen. Das ist das Fazit aus all meinen Versuchen, in denen ich Fünfe geradebiegen wollte. Glauben Sie mir: Es gibt immer jemanden, der passt – wenn es auch schwer ist, den zu finden. 6. Entrepreneurship ist die beste Sache der Welt Unternehmer sind Besessene. Denken Sie an Henry Ford, der erst angestellt war, dann selbstständig, dann fast pleite und dann seine Idee mit dem Fließband umgesetzt hat. Oder Carl Benz. Entrepreneure treibt eine Idee, sie kommen immer wieder darauf zurück. Natürlich kann man mehrere Einfälle haben und mehrere Dinge zur Reife bringen. Aber ich glaube, dass die wirklich erfolgreichen Unternehmer sich irgendwann auf eine einzige Sache konzentriert haben. Denken Sie an Steve Jobs, der Apple gegründet hat. Er war einer der wenigen SerienEntrepreneure, bei dem ich diese Bezeichnung akzeptiere. Nachdem er bei Apple mit Pauken und Trompeten herausgeflogen war, gründete er NeXT. Das war ein gigantischer Flop. Danach hat er sich an Pixar beteiligt. Pixar war eine gute Sache. Und dann hat Steve Jobs Apple wieder groß gemacht. „Apple 2.0“ sozusagen, mit einem völlig neuen Geschäftskonzept.
4 Wie ich zum Unternehmer wurde: Lehren für zukünftige Entrepreneure 59 Solche Laufbahnen sind der Mount Everest des Entrepreneurships. Von solchen Karrieren kann man lernen. Der Mann hat seine Vision stur weiterverfolgt, hat sich nicht mit tausend verschiedenen Dingen ausprobiert, hat sich fokussiert auf diese eine Idee. Oder nehmen Sie die immer noch reichste Familie der USA, die Waltons mit ihrem Wal-Mart. Sam Walton hat dieses Ding gemacht, und er hat es 40 Jahre lang mit Begeisterung gemacht. Deswegen ist er zu einem gigantischen Vermögen gelangt. Bill Gates hat Microsoft und sich selbst groß gemacht. Die beiden reichsten Deutschen, die Aldi-Brüder, haben das auch ihr ganzes Leben lang so gemacht. Natürlich kann man viele IdeenKinder in die Welt setzen und auch einige davon zum Erfolg bringen. Aber meine These ist, dass die ganz Großen sich wirklich auf eine Sache fokussiert haben und davon besessen sind. Sie könnten jetzt eine Ahnung davon haben, worauf Sie sich einlassen, wenn Sie Entrepreneur werden wollen. Natürlich gibt es immer Stars, die durchstarten und die richtig schnell richtig viel Geld verdienen. Aber Entrepreneurship ist eine Lebensaufgabe, setzt Geduld und Frustrationstoleranz voraus und ist damit auch eine Charaktereigenschaft. Insofern lege ich Ihnen meine zweite These ganz besonders ans Herz. Max Ottes sechs Prinzipien des Entrepreneurship 1. Wähle den Job oder das Unternehmen, das du gewählt hättest, wenn du bereits reich wärst: Irgendwann, wenn Sie den Unternehmer in sich haben, bricht der durch. Das können Sie gar nicht verhindern. Aber machen Sie es doch bei der Sache, die Ihnen Spaß macht. Warten Sie gegebenenfalls so lange, bis Sie es genau wissen. 2. Kenne dich selber und belüge dich nicht: In den letzten Jahren und Jahrzehnten habe ich immer mal wieder auf den Deckel bekommen und dabei vieles an mir entdeckt. Ich glaube zum Beispiel, dass ich mich selbst sehr kritisch sehe. Aber ich bin es, der die Fehlschläge verantworten musste. Wenn ich den Grund dafür nicht kenne oder wenn ich mich belügen würde, riskierte ich nur, sie zu wiederholen. 3. Entrepreneurship ist nichts für Feiglinge: Seien Sie gewiss: Es werden Zeiten kommen, in denen Sie sich wünschen, einen anderen Weg gewählt zu haben. 4. Kopf und Herz schlagen Kapital: Sie brauchen Kopf und Herz. Wenn Sie kein Kapital haben, dann brauchen Sie Zeit. Machen Sie sich nicht zu abhängig von Kapital. 5. Entrepreneurship ist nichts für jedermann oder jede Frau: Prüfen Sie sich kritisch. Aber wenn das Gen in Ihnen ist, dann umso besser. Vollgas voraus – denn: 6. Entrepreneurship ist die beste Sache der Welt.
5 5 The Star and the Many Disinformation and the Logic of the Swarm The present age is the age of the “star” – the pop star, the sports star, the political star, the star expert. Both the English and the German word “star” contain various meanings. The English connotes what is meant by celebrity, the one who stands out, while the other denotes a species of bird. In the English language, however, the word also means sun or planet. If this were a mere coincidence, it would be a most remarkable one indeed. The parallels between today’s celebrity culture and a swarm of stars gathering in fall before commencing its journey south are profound and deep: like a multitude of stars or a swarm of fish, present-day human society is organized in swarms. We see swarms gathering in politics and media around certain topics, only to move on once the topics have been exhausted. We see swarms of speculators around certain topics and areas. We see swarms at events. The logic of the swarm is the logic of the fastest, the smartest; the logic of the moment. Traditional societies, even dictatorships, have permanence and structure, whereas in the swarm there is only action. Strength remains only the strength of the moment, since everything can change within seconds: a new member leads, a new direction is taken. In the swarm, everybody has a chance to lead for a fleeting instant. The urge to be famous, however ephemeral, is very strong. The forces of the human swarm are wealth and attention. They permeate all other aspects of public existence. Everything else dwindles in comparison. Knowledge and education are of interest only insofar as they may be converted into attention or wealth. Life achievements become “history” the moment they cease to catch attention, or else they are not manifested or convertible into wealth. Attention: Andy Warhol spoke of the “fifteen minutes of fame” that each person would experience in the future. Our casting society has come dangerously close to this. In the swarm society, attention is not gained by complex argumentation. Attention results from something done at the right moment, at the right time – from a simple, con- 61 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_5
62 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte text-bound argument, from something conspicuously outrageous, from something that stands out – good, bad, beautiful, ugly; relevant or irrelevant. All of a sudden, atoms of gas display uniformity and order, as in a laser. Walter Scheel, a former President of the Federal Republic of Germany once said before the Association of German Newspaper Publishers: “Sensation is Disinformation, because it destroys the context of things.” This is as true today as it was in the 1970s, though only very few would listen. The desire to be a star, to stand out, if only for fifteen minutes, is becoming a driving force in society. While the star does not claim to be any different from his or her audience, what does set him apart from the latter is not a certain set of characteristics, but the attention and recognition he is given. In essence, the star is the audience: tomorrow, somebody else might be the star. Wealth: In the swarm society, fast wealth is not obtained by sustainable business models. Hedge funds, social networks, computer games, fast business models with a time span of a few years or less are the dominant forces. In 2005, SPD [the German Social Democratic Party] politician Franz Müntefering rightly referred to hedge funds as “swarms of locusts” descending on a vast area before moving on to ravage the next one. The extreme swings and tendencies of present-day financial markets go hand in hand with the swarm society in which it is possible to make or lose millions, even billions, within short periods of time, and without any consideration for the future: tomorrow is the next round of the game. Our political system has no interest in stabilizing financial markets. The swarm thrives on turmoil. 5.1 The Age of Disinformation The swarm society would not be possible without a growing mass of disinformation. Information is a coordinate system that allows members of a society to find their place. If reflexes – and only reflexes – are to take over, such information must be destroyed. Four major forces drive disinformation society: the interest of (large) economic actors in disinformation and confused consumers, the role of the experts, the weakness of media and journalism and the impotence of governments and politics. a) The interest of (large) economic actors in disinformation and confused consumers Information and standards are the quintessential public good. Large economic actors want us to remain in a state of confusion. They are averse to information and open standards, which, if in place, would mean that they could be compared, and so would rather impose their own standards. Consumer information on food, for example, is in small print, in many languages and misleading. Consumers simply do not have the time and knowledge to evaluate it. In Germany and Europe, the simple „traffic light model“ (green – yellow – red) has been
5 The Star and the Many 63 stopped by food and financial products lobbies. Electric utilities and telecom companies confuse us with ceaselessly changing tariff structures and price initiatives. The display of products in supermarkets changes every so often to confuse us and shake up our routines so that we can be led to new products we do not want. Even reference points – clear measures for the quality of products – are being systematically destroyed. Instead of octane numbers, a simple and clear scale for gas in a gas station, one chain now introduces names only so that consumers memorize names but fail to make an objective comparison of gasoline quality. All of a sudden, the yoghurt in the supermarket costs seven Euros-until, that is, one notes that the reference is now one kilo. b) The role of experts We live in an age of experts – something which unfortunately perpetuates confusion rather than endorses clarity. We allow experts to carry out public debates before we are then asked to judge and decide. Often, we are left confused: is there really something like global warming? What are its causes? What are we to do? What will the consequences of the financial crisis be? Many experts, many answers, many confused citizens. There is something to be said about expert culture, about careful deliberation and well-informed expert decision, so long as these remain under democratic supervision. But to throw expert knowledge at citizens without due process leads to confusion and disinformation. Knowledge has to be structured, and knowledge has to be digested, since otherwise it will lead to information overflow and ultimately disinformation. Moreover, experts themselves take on the role of stars. At various times I have been called a “star economist” after precisely predicting the current financial crisis. The label is incorrect. I do not like it at all. I was pretty much alone in making a correct prediction, which drew attention towards me. In the aftermath, I sensed that the audiences I addressed, or the media wanted to ascribe „star“ and „guru“ status to me. c) The weakness of media and journalism Unfortunately; media and journalism do little if anything to divert disinformation. Here, too, the logic of the swarm is in full action. If a topic is “hot” everybody discusses it, if it is exhausted, then on to the next one. Few media still devote themselves to continuous background coverage. The public thought that TV was a threat to objective background reporting. The rise of private broadcasting gave rise to specific TV programming for the lower classes, creating false realities, panem et circenses. But the real threat to the information society is the Internet, where business models are driven by the merciless logic of the click. Portal operators can measure the attention span of stories in real time, and those obtaining the most clicks are promoted to first page. Web.de is an Internet portal I used for news until three or four years ago. There
64 Teil 1 Der Crashprophet und die Finanzmärkte were subject categories on the first page on politics, business, finance etc. I could acquire information quickly and in self-directed manner. Nowadays, there are just a few society, sensationalist and gossip stories on the front page. How Amy Winehouse got herself to vomit, for example, or how bizarre dancers expose themselves in a talent show. Apparently; it is these that get the most clicks. Kai Diekmann, editor-in-chief of the popular German tabloid Bild, called it the inborn disease of the Internet that content is free of charge. Naturally; it is not free. We pay for content through clicks and advertising. The conventional newspaper, one of the pillars of democracy, has its back against the wall. Many newspapers will not survive the age of the click and the image. There is little hope that blogs and “citizen” reporters will rectify the situation. Citizen reporters may do well in reporting abuses in closed societies and dictatorships, and they may send pictures of airplanes conducting emergency landings in water, but they are neither trained nor paid to carry out extensive background research or investigative journalism. Social networks are the ultimate swarms. If somebody; or a video, or a topic, gets a lot of clicks, they ultimately attract more. Tomorrow, another topic might attract attention. Critical debate among citizens is heading towards zero. Thus, Twitter is the ultimate swarm machine. d) The impotence of governments and politics We cannot hope to get help from politics. Politics itself is increasingly driven by the star logic. Good-looking, articulate politicians can gain approval in “town meetings” – just because they look good and act “cool”. Arguments and positions are secondary. Relatively young and good-looking politicians are being promoted to ministerial positions. They may be smart, but they do not have the same stature as their predecessors twenty or thirty years ago. They are pawns in the game, not rooks or knights. Formally, wealth and power were always connected. But today, wealth is political power through the use of public relations agencies and lobbyists. Corporations evoke “corporate social responsibility” to justify the dismantling of governmental oversight. Remember BP? It used to paint itself especially “green”. Law firms draft laws. In Brussels, over sixty lobby groups work in finance alone, mostly behind closed doors. Politicians are being courted. Once leaving office, they are often offered lucrative positions in the private sector. Politics now often serves the largest corporations and the most powerful industries. The power of government to set standards for public interest, e.g. in the information sphere, is rapidly waning.
5 The Star and the Many 5.2 65 The End of Reason The Revolt of the Masses (Ortega y Gasset 1930) has been raging for more than a century. We are the masses! They are everywhere. We are everywhere. As the last ties to traditions are cut, as the last remaining boundaries are transgressed and social customs crumble, we increasingly begin to resemble freely mobile atoms, moving without plan or structure. Nations and traditional institutions are seen as relics of the past, social distinctions become fragile, and even the sexes become alike. But the more traditional distinctions and customs disappear, the more we think and act alike, the more we yearn for uniqueness. Such uniqueness, however, is transient. Andy Warhol’s fifteen minutes of fame for everybody has become the dominant paradigm of our times. In The Assault on Reason (2007), former U.S. Vice President Al Gore draws a frightening conclusion. We are leaving enlightenment behind us. Reason is no longer the driving force in many areas of society. Al Gore puts his hope in a citizen society. I am skeptical. Knowledge is hierarchical. Monasteries that preserved the knowledge of humanity in dark times were hierarchical. Theories are true or false, regardless of how much attention they receive or whether people agree with them. Some men are wise, some are ignorant. There is deep knowledge and there is shallow knowledge. We are not alike. The logic of the swarm, however, depends on agreement and attention, on uniformity. Taken to its extreme, the logic of the swarm would ultimately be the end of reason. We now clearly see the outcome of the great struggles of the twentieth century. Humanity had the choice to organize itself along the lines of a beehive or a swarm; it has rejected the beehive, the dictatorships that loomed large, and chose to organize in swarms. In a beehive there is a queen, and there are workers and drones. Roles are fixed. A beehive is static, but it is capable of great continuous achievements. In a flock, all participants are identical in nature. The swarm has good reflexes; it can re-act. It lives the logic of exploitation, attack and flight. With the blink of an eye, one participant leads, before being superseded by another. No social structure is permanent. We need a new balance between the swarm and the beehive, between the one and the many. We need to judge position, structure and quality, not just quantity, reflexes and speed. Uniqueness – not only by leading the swarm for a moment, but uniqueness because of true difference – must become important again.  Ursprünglich erschienen in Elmgreen & Dragset: Trilogy, Ausstellungskatalog, Sammelband, bei Verlag der Buchhandlung Walther König, 2011.
Teil 2 Die Finanzmärkte 67
6 6 Fiktion und Realität im Finanzwesen Vorab Ich hätte nie erwartet, dass mich meine Beschäftigung mit Finanzkrisen eines Tages auf eine Tagung von Germanisten führt. Vielen Dank dem Institut für Germanistik der Universität Hamburg und der Akademie der Wissenschaften in Hamburg für die Einladung. Ihre Tagung „Geldwirtschaft zwischen ‚Realökonomie‘ und Fiktionalität“ ist ein wichtiger Brückenschlag zwischen zwei Disziplinen, die gemeinhin nicht allzu viel Berührung haben. Dabei war eine solche Tagung dringend notwendig. Denn die Wirtschaft, die Sphäre des Geldes ist zur omnipräsenten, fast alle Lebensbereiche durchdringenden Realität geworden. Die Sprache und die Bildwelt der Geldwirtschaft prägen längst auch unsere Gedankenstrukturen und unsere Realität. Höchste Zeit also, dass sich Germanisten dieses Themas annehmen. 6.1 Fiktion und Fakten Was habe ich von meinem Deutschunterricht – in den ich übrigens sehr gerne ging! – zum Thema Fiktion behalten? Es ging um Metaphern, Bilder, Geschichten, Handlungen, Bedeutungsinhalte, Kontexte, Reflektion und die Entwicklung von Geschichten und Inhalten. Es ging um Stilmittel und Kunstgriffe. Es ging um die Verknüpfung von Form, Inhalten und Funktion zu etwas Ganzem, das wir dann wieder auseinandernehmen durften. 69 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_6
70 Teil 2 Die Finanzmärkte Fiktion ist etwas Erdachtes. Offensichtlich steht dieser Begriff im Gegensatz zur Realität, beziehungsweise den Fakten. Hier wird gemessen und beschrieben, was ist. Und die Fakten stehen heutzutage hoch im Kurs. Ein bekanntes deutsches Nachrichtenmagazin wirbt mit „Fakten, Fakten, Fakten“. Wenn der Deutschunterricht dann fortschreitet und seine höheren Sphären erreicht – so ab Beginn der Oberstufe – lernen wir, dass es ganz so einfach mit Fakt und Fiktion doch nicht ist. Fiktion hat ihre Entstehungsgeschichte, ihre Rezeption, ihre Wirkungsgeschichte. Fakten wiederum – insbesondere gesellschaftliche Tatbestände – beruhen oftmals auf bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen und können sich ändern. Wenn der Staat – zum Beispiel der preußische Staat bei Hegel – als höchste Stufe der menschlichen Entwicklung angesehen wird und hierüber weitgehend Einigkeit in der Gesellschaft besteht, dann ist dieser Staat Realität. Wenn das Individuum als absoluter Bezugspunkt angesehen wird – wie heute in vielen westlichen Gesellschaften – dann bekommt der Staat einen anderen Charakter und wird zur Residualgröße. In den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften nennt man die Wechselwirkung von Objekt und Betrachter „Dialektik“, in den Sprachwissenschaften wird dieser Sachverhalt mit dem Begriff „Hermeneutik“ bezeichnet. 6.2 Die Grenzen der Ökonomie als exakte Wissenschaft Die moderne Ökonomie versteht sich als faktenorientierte Wissenschaft. Was ist, wird gemessen und möglichst in mathematisch strenge Kausal- und Modellzusammenhänge gebracht. Die Ökonomie präsentiert sich somit als eine Art Physik der Gesellschaft. Am deutlichsten zu sehen ist das im Lehrbuch von Samuelson und Nordhaus, dem wohl bekanntesten Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre, das 1984 millionenfach verkauft wurde und immer noch eines der populärsten Einführungen zum Thema ist. (vgl. Samuelson und Nordhaus 2009) Hier wird die klassische Mechanik der Kausalbeziehungen zwischen Kräften und Körpern, die Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Blüte hatte, auf wirtschaftliche Phänomene übertragen – ungeachtet dessen, dass dieses Konzept in der Physik schon Ende des 19. Jahrhunderts Löcher bekam und seit dem frühen 20. Jahrhundert als überholt gilt. Es ist im Übrigen bezeichnend, dass Samuelson seine akademische Laufbahn als Physiker begann. Es wird gemessen, es werden Kausalbeziehungen konstatiert – und am Ende ist die Wirtschaft ein Kosmos, der nach einem strengen Regelwerk funktioniert. Insbesondere sollen die Modelle auch „sparsam“ sein, das heißt mit möglichst wenigen Ursachenvariablen auskommen. Je mehr Ursachen man in den Modellen zulässt, desto unschärfer wird nachher die Mathematik. Nun muss man sich nur noch über die wichtigsten Gesetze streiten – die Auseinandersetzung zwischen Monetaristen und Neoklassikern auf der einen und Keynesianern auf
6 Fiktion und Realität im Finanzwesen 71 der anderen Seite ist wohl der wichtigste Methodenstreit – und alle Probleme sind geklärt. Im Jahr 2003 konnte Nobelpreisträger Robert Lucas in seiner Ansprache des Präsidenten an die American Economic Association behaupten, dass die Makroökonomie ihr Ziel erreicht habe und ihr zentrales Problem, die Verhinderung von Depressionen, ist gelöst worden sei. (vgl. Lucas Jr. 2003) Wir wurden eines Besseren belehrt. So kann es nicht verwundern, dass die moderne Ökonomie etliche „blinde Flecken“ hat. (vgl. Senf 2007) Sie ist zum Beispiel bemerkenswert ruhig, wenn es um das Thema Finanz- und Wirtschaftskrisen geht. Krisen passen nicht gut in das Bild einer Wirtschaft, die mechanischen Gesetzen gehorcht und die sich mechanisch steuern lässt. Also kommen sie in den Lehrbüchern der Ökonomie nicht oder nur sehr am Rande – keinesfalls jedoch als zentrales Problem! – vor. (vgl. Otte 2011) Nie waren Ökonomen präsenter als heute. Und dennoch hat so gut wie keiner vor einer möglichen Finanzkrise gewarnt. (vgl. Otte 2011) In „Die Finanzkrise, die Ökonomen, der ‚Crashprophet‘ und die Wissenschaft von der Ökonomie“ habe ich die methodischen Probleme der mathematisch-modellorientierten Ökonomie erläutert. Sie bestehen, kurz gesagt, aus der Annahme stabiler Nutzenfunktionen und exogener Präferenzen, der im Widerspruch zum kausal-linearen Modelldenken stehenden Dialektik gesellschaftlicher Vorgänge und damit einhergehend der Verwechslung von Vergangenheit und Zukunft sowie der Annahme rationaler Märkte (wobei gerade Finanzmärkte kurzfristig höchst irrational sein können). Stabile Nutzenfunktionen und exogene Präferenzen: Zunächst einmal hat jede Theorie ihre Voraussetzungen, etwas das gesetzt ist und damit kein Fakt. Die Ökonomie geht vom Nutzenbegriff und individuellen Nutzenfunktionen aus. Das heißt, dass ein Individuum bei Erhalt eines Gutes einen bestimmten Nutzen verspürt, bei mehr Gütern derselben Art mehr Nutzen (wobei die Zunahme des Nutzens sich aber verflacht). Zudem sollen die Präferenzen exogen, das heißt vorgegeben und stabil sein. Diese mechanische Grundannahme fast aller ökonomischen Modelle wird der Realität nicht gerecht. Institutionalisten wissen, dass Nutzenvorstellungen durch Institutionen und gesellschaftliche Prozesse erst geprägt werden und sich daher verändern können. Hier besteht also das erste Einfallstor für Fiktionen und falsche Annahmen. Konkret: Wenn derzeit argumentiert wird, dass obszön hohe Managergehälter im hohen einstelligen Millionenbereich notwendig seien, um Spitzenmanager zu halten, so vergisst man, dass in der Bundesrepublik bis ca. 1990 Gehälter von einem Zehntel bis zu einem Viertel des heutigen Niveaus durchaus ausreichten, um Spitzenleistungen zu erhalten. Die deutsche Industrie war damals international mindestens ebenso gut positioniert wie heute. Hier muss sich also etwas in den Begriffen, den Nutzenvorstellungen der Gesellschaft, geändert haben. Dennoch geht die Ökonomie von a priori stabilen Nutzenfunktionen aus und untersucht solche Änderungsprozesse eben nicht.
72 Teil 2 Die Finanzmärkte Modelldenken und Dialektik gesellschaftlicher Vorgänge: Seit Heisenberg wissen wir, dass sich der Gegenstand nur mit einer gewissen Unschärfe messen lässt. Ökonomen wollen davon zumeist nichts wissen und halten wie Paul Samuelson an einer Ökonomie fest, die idealerweise wie die klassische Mechanik des 19. Jahrhunderts funktionieren soll. Aber noch mehr: Experimente und Beobachtungen können auch den Gegenstand verändern – in der Kernphysik genauso wie in der Gesellschaft. Der bekannte Hedgefondsmanager George Soros sprach von der „Reflexivität“ der Finanzmärkte – der Tatsache, dass menschliche Auffassungen und Eingriffe die Finanzmärkte verändern. (vgl. Soros 1994) Der amerikanische Investmentbanker Richard Bookstaber war seit Anfang der 1980er Jahre im Zentrum des Geschehens, der Wall Street, in maßgeblicher Position an den Entwicklungen beteiligt. Er stellt dar, wie geniale Finanzprodukte und brillante Tradingstrategien unweigerlich zu kleinen oder großen Zusammenbrüchen führen. (vgl. Bookstaber 2008) Nehmen wir an, ein Finanzingenieur entdeckt eine kleine Unebenheit in den Märkten, die sich mit Hilfe einer komplexen Tradingstrategie ausbeuten lässt und die regelmäßig hohe Renditen erzielt. Dann werden immer größere Volumina mit dieser Strategie gehandelt. Nachahmer treten auf den Plan. Und irgendwann bricht der Markt zusammen, weil er die Last nicht mehr aushält. Ähnlich war es auch mit den verbrieften Produkten im Immobiliensektor. Weil Wohnimmobilien in den USA in den letzten Jahrzehnten nahezu kontinuierlich gestiegen waren, wurden Finanzprodukte konstruiert, mit denen sich an diesem Anstieg partizipieren ließ. Das heizte den Preisanstieg an, was wiederum die Nachfrage nach Finanzprodukten erhöhte. Irgendwann waren dann die Preisanstiege in diesem Sektor so massiv, dass der Zusammenbruch kam. Was ist Fakt, wo beginnt die Fiktion? Rationale Märkte: Die Volkswirtschaftslehre geht immer noch vom rationalen, nutzenorientierten Menschen aus, vom „Homo Oeconomicus“. Die Fortschritte in der verhaltenswissenschaftlichen Finanzforschung in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten zeigen allerdings, dass der Homo Oeconomicus gerade dann, wenn es um Geld- und Finanzfragen geht, eher die Ausnahme als die Regel ist. Die vorhergehenden Ausführungen deuten schon an, dass es an Märkten keinesfalls immer rational zugeht. Seit einem Jahrzehnt haben wir hierfür nun den wissenschaftlichen Beweis. Daniel Kahneman erhielt den Nobelpreis dafür, dass er untersuchte, in welchen Regionen des Gehirns schnelle Geldentscheidungen getroffen werden. Kahnemans (nicht so) überraschende Erkenntnis: In vielen Fällen übernimmt das Kleinhirn, das evolutionsgeschichtlich aus der Zeit der Reptilien stammt. Was Börsianer schon lange wussten, dass nämlich Urinstinkte wie Gier und Furcht die Finanzmärkte dominieren, ist nun wissenschaftlich bewiesen. (vgl. Kahneman und Tversky 1992)
6 Fiktion und Realität im Finanzwesen 6.3 73 Die Wechselwirkungen von „Realökonomie“ und Fiktionalität am Beispiel von fünf zentralen Begriffsfeldern der Ökonomie Anhand von fünf Begriffsfeldern stelle ich im Folgenden die Wechselwirkungen zwischen Definitionen („Anschauungen“) und Realität dar: dem zentralen Begriff des Geldes, des Kredits, des Vermögens und Einkommens, der Preise und der Derivate. Geld Geld ist in der heutigen Welt, wenn nicht in aller Munde, so doch in (fast) aller Gedanken. Wer hätte es nicht gerne? Wenn man es dann hat, scheint es viel zu schnell weg zu sein. Andere wiederum haben so viel davon, dass sie es beim besten Willen nicht ausgeben können und dass es sich immer schneller vermehrt. Der vordergründig so klare Begriff des Geldes ist aber doch deutlich vielschichtiger. Was ist Geld? Sind es die Münzen und Scheine in der Tasche? Oder ist nur Gold „echtes Geld“, wie es Goldfanatiker, sogenannte „gold bugs“, behaupten? Was ist mit dem Kontoguthaben bei der Bank? Was mit Finanzderivaten? In der Wirtschaftsgeschichte gab es die unterschiedlichsten Geldformen: Münzen, Kühe, Muscheln, Zigaretten, Papierscheine und vieles andere. In der Volkswirtschaftslehre wird Geld nicht durch seine stofflichen oder sonstigen Qualitäten definiert, sondern durch seine drei Kernfunktionen – Tauschmittel, Rechenmaßstab und Wertaufbewahrungsmittel. Tauschmittel: Eine Naturaltauschwirtschaft wäre höchst unpraktisch. Vielleicht müssten Sie Geigenstunden anbieten, um im Bekleidungsladen eine Hose zu erstehen. Wenn Ihr Gegenüber aber keine Geigenstunden möchte, wäre ein komplizierter und aufwendiger Tauschvorgang notwendig. Die Existenz eines akzeptierten Tauschmittels vereinfacht die Situation sehr. Rechenmaßstab: Eng mit der Tauschmittelfunktion verknüpft ist die Funktion des Rechenmaßstabs, mit dem sich Güter und Dienstleistungen bewerten und beziffern lassen. Wertaufbewahrungsmittel: In der Ökonomie ist allgemein akzeptiert, dass Geld auch zur Wertaufbewahrung dienen soll, dass Sie also für Ihr Geld in einem oder mehreren Jahren denselben Gegenwert erhalten wie heute. Einige alternative Ökonomen halten die Wertaufbewahrungsfunktion – und insbesondere den Zins – für ein Grundübel unseres Wirtschaftssystems. Unter den meisten Ökonomen, den Verfasser eingeschlossen, ist es aber Konsens, dass Geldwertstabilität ein wichtiges Zivilisationsgut ist. Wenn Geld allerdings durch seine oben genannten Funktionen und nicht durch seine stofflichen Eigenschaften definiert wird, dann ist von besonderer Bedeutung, dass das Vertrauen in das Geld gegeben ist. Mit Vertrauen kann bloßes Papier, können bloße Computereinträge zu Geld werden, ohne Vertrauen verliert das Geld seine oben genannten Funktionen. Dann kann man nur noch auf stoffliche Werte – oft Gold – zurückgreifen. In der Zeit zwischen dem Ersten und den Zweiten Weltkrieg hingen die Banque du
74 Teil 2 Die Finanzmärkte France, die Bank of England, die Federal Reserve und die Deutsche Reichsbank noch der Idee an, bei passender Gelegenheit zum Goldstandard, also zur jederzeitigen Konvertibilität von Banknoten in Gold zurückzukehren. Nach dem Zweiten Weltkrieg besaß nur noch der Dollar eine Golddeckung. Und seit dem Nixon-Schock von 1971 ist auch diese Konvertibilität aufgehoben. Dennoch hat das internationale Geldsystem bis heute bei etlichen Störungen im Großen und Ganzen funktioniert. Vertrauen ist also ein zivilisatorisches oder öffentliches Gut. Geldproduzenten (Notenbanken) können durch ihre Politik sowohl Vertrauen fördern als auch zerstören. Wenn aber Geld vor allem auf Vertrauen beruht, dann ist Geld ein Kulturgut. Die allgemeine politische, wirtschaftliche und kulturelle Konvention, die uns Geld benutzen lässt, ist ein Faktum, allerdings eines des Geistes. Dieses Faktum kann auch zur Fiktion werden, wenn sich die Voraussetzungen ändern. Immer wieder verfallen Regierungen der Versuchung, durch die Ausdehnung der Geldmenge – es handelt sich hierbei heute, wie bereits erwähnt um bloße Computereinträge bei Notenbanken und Geschäftsbanken – Haushaltsdefizite zu stopfen. Eine größere Geldmenge kann, muss aber nicht, zu Inflation führen. Inflation wiederum kann helfen, politische Verteilungskonflikte zu lösen, weil es denjenigen Gruppen, die schleichend durch die Inflation besteuert werden, oft nicht oder nicht sofort auffällt. Inflation wiederum bedeutet, dass Geld irgendwann seine Funktionen als Rechenmaßstab, Zahlungsmittel oder Wertaufbewahrungsmittel nur noch unvollkommen erfüllen kann. Vertrauen bei einer niedrigen Inflationsrate die Bürgerinnen und Bürger noch auf die Funktionen, so wird dies bei zunehmender Inflation zunehmend zerstört, wie die Hyperinflation der 1920er Jahre in Deutschland zeigte. Auch in den 1970er Jahren war die westliche Welt kurz davor, das Vertrauen in das Geldsystem zu verlieren, bevor Paul Volcker in den USA durch eine strenge Geldpolitik dieses wiederherstellte. Die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank von der Bundesregierung zum Schutz des Vertrauens in die D-Mark war daher eine der Errungenschaften der Bundesrepublik Deutschland. Die Europäische Zentralbank erhielt zunächst ein ähnliches Statut wie die Bundesbank. Mit dem von der Europäischen Union beschlossenen Eurorettungsschirm vom 10. Mai 2010 ist allerdings die Verpflichtung der Bundesbank und der Europäischen Zentralbank auf das Ziel, die Währung zu sichern, ausgehöhlt. Kredit Geld alleine – selbst in seiner erweiterten Form als Banknote oder als Kontoguthaben – ist nur noch ein geringer Teil unserer Ökonomie, und nicht mehr der bedeutendste. Während im Mittelalter und auch im vergleichsweise viel höher entwickelten Römischen Reich das physische Geld dominierte, wird seit Beginn der Neuzeit der Kredit, die Möglichkeit, bei Bedarf über Geld zu verfügen, immer wichtiger. Kredit und die doppelte Buchhaltung, auf die ich im nächsten Abschnitt eingehen werde, sind die eigentlichen Innovationen in der Finanztechnik der Neuzeit. Der Kredit ermöglicht eine unglaubliche Dynamisierung unserer Wirtschaftsverhältnisse. Geld muss nicht mehr gehortet werden, um es bei Bedarf auszugeben, sondern
6 Fiktion und Realität im Finanzwesen 75 kann zwischenzeitlich auch verliehen werden, wenn es an anderer Stelle benötigt wird. Damit kann Geld dahin fließen, wo es aktuell benötigt wird. Solche Transfers sind zwischen Personen, Unternehmen, dem Staat und Personen sowie zwischen Nationen möglich. Die USA konnten ihren massiven Konsum in den letzten beiden Jahrzehnten nur aufrechterhalten, weil andere Nationen – allen voran China, aber auch Japan, Deutschland und andere – bereit waren, amerikanische Staatsanleihen und Dollarguthaben, Forderungen auf das amerikanische Sozialprodukt, zu horten. Der Kreditgeber lässt sich entweder Sicherheiten geben oder vertraut auf die Ertrags- und Wirtschaftskraft des Kreditnehmers (natürlich meist nach einer Prüfung der Finanzzahlen). Der Kredit wird also im Vertrauen auf Sicherheiten oder die Zahlungsfähigkeit des Kreditnehmers gegeben. Diese Tatsache alleine hat natürlich schon oft dazu geführt, dass Bilanzen gefälscht werden, also mit betrügerischer Absicht Fiktionen produziert werden, um sich Kredite zu erschleichen, zum Beispiel in den 1990er Jahren durch den Baulöwen Jürgen Schneider oder aktuell durch die Schieder-Gruppe, den ehemals größten Möbelproduzenten Europas. Die Subprime-Krise war keine Krise des Geldwertes, sondern eine Kreditkrise. Wenn eine Bank oder ein Unternehmen Kredite vergeben, sind dies Forderungen. In der Bilanz stehen Forderungen auf der Aktivseite und gelten somit als Vermögen. Mit diesem Vermögen lassen sich weitere Kredite aufnehmen. Je nachdem, wie streng oder locker die Regeln gestrickt sind, lassen sich so Kreditgebäude aus vielen Ebenen errichten, bei denen die Summe der letztlich vergebenen Kredite ein Vielfaches der Wirtschaftsleistung eines Landes erreicht. Was an diesen Vermögenswerten ist Fakt, was Fiktion? Nach der Finanzkrise stellte sich zumindest heraus, dass viele der in Immobilienkrediten gebundenen Vermögenswerte Fiktion waren. In den wenigsten Fällen waren allerdings diese Fiktionen strafbarer Betrug. Das System aus Finanzinnovationen, Ratingagenturen, Banken und Investmentbanken und Finanzvehikeln außerhalb der Bilanz ließ es zu bzw. förderte es sogar, Zahlen zu produzieren, die mit der Realität nichts mehr zu tun hatten. Hier liegt schon ein politisches Systemversagen vor. (vgl. Otte 2009) Vermögen und Einkommen Die zweite wichtige Finanzinnovation der Neuzeit ist neben der weitreichenden Nutzung des Kredits das System der doppelten Buchhaltung, bei dem jeder Geschäftsvorfall zeitgleich durch eine Soll- und eine Habenbuchung erfasst wird. Die doppelte Buchführung ermöglicht es, einerseits die Vermögenssituation eines Unternehmens durch die Bilanz zu ermitteln (Aufstellung der Vermögensbestandteile und der Kapitalherkunft), andererseits die Ertragssituation (Aufwendungen und Erträge in der Gewinn- und Verlustrechnung). Bilanzen und Geschäftsabschlüsse sind die Sprache der Wirtschaft. Bei Erstellung und Verwendung ergeben sich in vielen Fällen Interpretationsspielräume, insbesondere dann, wenn Vermögensgegenstände zu bewerten sind. Das Bild des Sees, der sich an einem Flusslauf angestaut hat, mag dies verdeutlichen. Ich kann messen, wie viel Wasser sich im See befindet (Bilanz, zeitpunktbezogen), oder
76 Teil 2 Die Finanzmärkte wie viel in einem Jahr in den See hinein- und hinausfließt (Cash-Flow-Rechnung, zeitraumbezogen). Sowohl durch Messung der Wassermenge im See an zwei Zeitpunkten als auch durch die Messung des hinein- und hinausfließenden Wassers in einem Zeitraum kann ich die Veränderung der Wassermenge im See bestimmen. Die Gewinn- und Verlustrechnung weicht allerdings von der reinen Messung der Zahlungsströme (CashFlow-Rechnung) aus gutem Grunde in etlichen Punkten ab. Wenn ein Unternehmen zum Beispiel aus vorhandenen Finanzmitteln eine Maschine kauft, wird hierfür eine große Zahlung (Mittelabfluss) fällig. Diese Maschine wird aber wahrscheinlich über viele Jahre ihren Dienst erweisen. So würde es die Gewinn- und Verlustrechnung verfälschen, wenn der gesamte Kaufpreis im Anschaffungsjahr als Kosten angesetzt würde. Also wird die Ausgabe periodisiert und über einen bestimmten Zeitraum verteilt. Wenn dann die gesamte Anschaffung als Kosten angesetzt wurde, spricht man auch von einer „abgeschriebenen“ Maschine. Wenn auch die Periodisierung zur Erfassung des Gewinns einer Periode sinnvoll ist, so öffnet sie doch auch deutlichen Raum für Interpretationen und Bemessungsspielräume („Fiktionen“). Über welchen Zeitraum soll eine Maschine abgeschrieben werden? Was passiert mit einer Forderung, deren Einbringung zweifelhaft geworden ist? Mit welchem Wert soll das Betriebsgrundstück in der Bilanz angesetzt werden? Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung – zum Beispiel Richtigkeit und Willkürfreiheit, Klarheit und Übersichtlichkeit, Einzelbewertung (Saldierungsverbot), Vollständigkeit, das Realisations- und das Imparitätsprinzip, die Abgrenzung der Sache und der Zeit nach sowie die Grundsätze der Vorsicht, der Kontinuität, der Fortführung der Unternehmenstätigkeit, das Periodisierungsprinzip und das Stichtagsprinzip wären nicht entstanden, wenn die Messung von Gewinnen und Vermögen eine rein mathematischmechanische Angelegenheit wäre. Armeen von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften – Söldnertruppen des modernen Symbolkapitalismus – beschäftigen sich mit der Produktion und Deutung von Finanzzahlen. In der konservativen deutschen Buchhaltung nach dem Handelsgesetzbuch (HGB) galt das strenge Niederstwertprinzip: Ein Vermögensgegenstand sollte zu seinen Kosten oder zu seinem Marktwert erfasst werden, was immer der niedrigere Wert sei. Diese konservative Methode konnte zu Verzerrungen der Wertansätze führen, aber sie stellte doch in den meistens Fällen (nicht immer!) sicher, dass mindestens die Wertansätze vorhanden und belastbar waren. Man spricht also von einer gläubigerorientierten Buchhaltung. Mit der Einführung der International Accounting Standards (IAS/IFRS) in den letzten Jahren wurde das Fair Value Accounting, die Bilanzierung zum „fairen“ Wert, Prinzip. Vermögensgegenstände sollen also zu ihrem fairen Wert in die Bilanz eingestellt werden. Was zunächst logisch und folgerichtig klingt, erweist sich bei näherem Hinsehen als höchst problematisch. Für viele Vermögensgegenstände des Finanzvermögens, insbesondere Derivate, aber auch Forderungen und viele andere Titel, ist es nämlich gar nicht möglich, einen objektiven fairen Wert festzustellen. Derivate, für die es keinen Markt gibt, weil sie nicht gehandelt werden, müssen mit Hilfe finanzmathematischer Modelle
6 Fiktion und Realität im Finanzwesen 77 berechnet werden. Hier können aber schon Abweichungen in den Modellannahmen von einem Prozent zu Schwankungen im errechneten Wert von mehreren hundert Prozent führen. Eine andere groteske Konsequenz des Fair Value Accounting: Verschlechtern sich die Kreditbedingungen, sind bestehende Kredite nur noch mit einem Abschlag weiterveräußerbar, weil die Käufer woanders mittlerweile als Folge des schlechteren Kreditmarktes höhere Zinsen bekommen würden. Banken jedoch können ihre Schulden dann nach Fair Value Accounting zu niedrigeren Preisen ansetzen, weil sie ja ihre Schulden billiger zurückkaufen könnten. Damit sinken buchhalterisch die Schulden der Bank, das Eigenkapital steigt, ohne dass das Management etwas dazu getan hätte. Für meine Ohren klingt das sehr nach Fiktion. Fair Value Accounting ist also, anders als sein Name es implizieren würde, zum Einfallstor für Fiktion und Dichtung in der Wirtschaft geworden. Und die wahren Dichter unserer Zeit sitzen nicht mehr in der heimischen Studierstube, sondern in den Investmentbanken und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Auch bei der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die den Wohlstand bzw. die laufende Produktion eines Landes messen soll, ergeben sich vielfach Interpretations- und Bemessungsspielräume. Anders als beim betrieblichen Rechnungswesen gilt hier auch nicht der Grundsatz der Einzelbewertung. Es werden also nicht alle Transaktionen erfasst. Ansonsten wäre es sozialistische Planwirtschaft. Durch die vielfachen Schätzverfahren kann die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung also nur sehr ungenau sein. (Das die sozialistische Planwirtschaft kein Muster an Genauigkeit war, sondern in besonderem Maße für Fiktion in der Wirtschaft stand, ist ebenfalls bekannt.) Aber die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ist nicht nur ungenau; sie ist auch in den westlichen Industrienationen vielfach politisch manipuliert. (vgl. Otte 2009) In den 1970er Jahren erfand Arthur Burns, Chairman des Federal Reserve Board, auf Drängen Richard Nixons die sogenannte „Kerninflation“ – eine Inflationsrate, bei der die besonders stark schwankenden Größen Nahrungsmittel und Energie herausgerechnet waren und die daher die Inflationsrate oft systematisch zu niedrig bemaß. In den USA werden Produktivitätsfortschritte aus Sicht des Verfassers zum Teil verfälschend in die Inflationsstatistik eingebracht, indem zum Beispiel die Rechnerleistung derart berücksichtigt wird, dass der Preis eines neuen Computers für die Statistik nach unten angepasst wird, wenn er eine höhere Rechnerleistung hat. Die fiktive nicht gezahlte Miete auf eigene Wohnimmobilien wird dem Volkseinkommen zugeschlagen. Was ist da noch Realität? Preise Ein zentraler Begriff der Marktwirtschaft ist der des Preises. Oben ist er uns schon in Form des gesamtwirtschaftlichen Preisniveaus begegnet, dessen Steigerung wir Inflation nennen. Dies wäre die makroökonomische Komponente des Begriffs. Gehen wir aber auf die mikroökonomische Ebene, die Frage wie sich einzelne Preise bilden, treffen wir auf erstaunliche Denkmuster, die von Alexander Rüstow, dem großen ordoliberalen Denker, zum Teil als vorwissenschaftlich und „religionsähnlich“ bezeichnet werden. (vgl. Rüstow 2004)
78 Teil 2 Die Finanzmärkte Die „moderne“ Ökonomie geht davon aus, dass der Marktmechanismus der freien Preisbildung der effizienteste Mechanismus zur Koordination des Güterverkehrs ist (Bild des Marktes, auf dem einfach Güter gegen Geld verkauft werden). Dieser weitgehend transparente Markt ist eine vorindustrielle Organisationsform. Wenn der Verstand aussetzt, können durch kollektiven Wahn völlig irrationale Preise entstehen, wie zum Beispiel während der Tulpenmanie in Holland von 1634 bis 1636, der Südseeblase in England im Jahr 1720, den Grundstücksspekulationen in Florida 1926 oder der Technologieblase der Jahre 1998 bis 2001. Und es lässt sich nicht behaupten, dass der Börsenmechanismus in diesen Jahren nicht funktionierte. (vgl. Mackay und de la Vega 2009) Im Gegenteil: Irrationale Preise und Blasen scheinen umso leichter möglich zu sein, je beweglicher Vermögensgegenstände sind. Die Übertreibungen am amerikanischen Häusermarkt wurden erst möglich, als die Kreditaufnahme wesentlich vereinfacht wurde und Kredite handelbar und beweglicher gemacht wurden. Der ehemalige Wirtschaftsweise Bert Rürup, der seinerseits dem Ruf des Marktes gefolgt ist und beim Finanzvertrieb AWD als Chefökonom angeheuert hat, spricht daher bildhaft von verschiedenen Grundmodellen der Marktwirtschaft. Während die Angelsachsen den Markt als „Vollautomatismus“ ansähen, würden die Kontinentaleuropäer mit ihren Modellen der Sozialen Marktwirtschaft oder des rheinischen Kapitalismus den Markt als Halbautomatismus betrachten. Die Angelsachen gingen also davon aus, dass der Markt optimale Ergebnisse erziele und dass man nun alle Markthindernisse entfernen müsse, während die Kontinentaleuropäer gewisse Korrekturen am Ergebnis von Marktprozessen als notwendig ansähen. Daneben gebe es noch die dritte Variante des asiatischen Staatskapitalismus, in welchem der Markt staatlichen Zielen untergeordnet werde. (vgl. Rürup 2008) Aber was sind „faire Preise“, wenn nicht die, die am Ende durch den Marktmechanismus bestimmt werden? Letztlich sollen faire Preise durch Konkurrenz entstehen. Aber da endet das Problem auch noch nicht. Der in Vergessenheit geratene große deutsche Ökonom Werner Sombart sprach von Leistungskonkurrenz, Suggestionskonkurrenz und Gewaltkonkurrenz. (vgl. Sombart 1916) Nur die Leistungskonkurrenz, die ihre Analogie im Sport findet, schafft nach Sombart faire und zielorientierte Ergebnisse. Suggestionskonkurrenz versucht, Tatsachen vorzutäuschen, die es so nicht gibt, also eine fiktionale Welt aufzubauen. Heute ist Suggestionskonkurrenz in Gestalt des Marketings allgegenwärtig. Aber nicht nur Produkte sollen beworben werden, auch Unternehmen sollen im Image positioniert werden. Ein aktuelles Beispiel überbordender Suggestion ist das Schlagwort „Corporate Social Responsibility“. Unternehmen wollen damit werben, dass sie besonders „gut“ und „verantwortlich“ seien. So präsentierte der Frankfurter Flughafen sich auf seiner Website mit Bildern von Wiesen und Wäldern. Das ist massivste Propaganda. Schließlich gibt es auch noch die Gewaltkonkurrenz, das Durchsetzen von Bedingungen durch Macht. Wenn früher Raubritter eine Kette über den Fluss spannten, um Abgaben abzupressen, so sorgt heute die mit raffinierten Methoden wie dem Conjoint Measurement durchgeführte Methode der „nutzenorientierten Preisfestsetzung“ dafür, dass
6 Fiktion und Realität im Finanzwesen 79 Flugtickets, die kurz vor Abflug gebucht wurden, um ein Vielfaches teurer sind als die lange im Voraus gebuchten Tickets, obwohl die bezogenen Leistungen dieselben sind. Man kann also in der modernen Marktwirtschaft mit Fug und Recht von einem Rückfall in die Wirtschaftssitten des Mittelalters sprechen. Früher wäre das, was wir unter „nutzenorientierter Preisfestsetzung“ kennen, in vielen Fällen mit „Wegelagerei“ bezeichnet worden. Nutzenorientierte Preisfestsetzung ist das Gegenteil einer zivilisierten Gesellschaft, in der es Preistransparenz und in gewissem Rahmen auch Preiskonstanz geben sollte. Noch eine Konsequenz hat die Gewaltkonkurrenz. Sie führt zur Ausschaltung des Konkurrenten, zur „Cutthroat Competition“ wie zum Beispiel in den USA um 1900 herum. Hier entstanden marktbeherrschende Monopole und Oligopole. Wenn aber die Märkte von einzelnen Akteuren beherrscht werden, die nach Belieben agieren können und die Verbraucher keine Alternativen haben, kommt nach Sombart wieder die Suggestionskonkurrenz zum Zuge. Derivate (vgl. Otte 2009) Eine besondere Spielart der Hyperrealität sind Derivate – Wetten auf die Zukunft mit Verfallsdatum. In gewissem Umfang können Derivate als Absicherungsgeschäft sinnvoll sein, aber derlei Derivate werden heute in breitem Umfang Privatinvestoren angeboten, unter solch irreführenden Namen wie Discount-, Bonus- oder sogar Garantiezertifikat. Man wettet dann zum Beispiel bei einem Discountzertifikat darauf, dass eine bestimmte Aktie oder ein bestimmter Aktienkorb in einem bestimmten Zeitraum nicht unter einen bestimmten Kurs fällt. Fallen die Basiswerte (Underlyings) darunter, bekommt der Anleger den Basiswert angedient. Derivate eignen sich sehr gut dazu, Privatanlegern Themen zu suggerieren, da kaum ein Privatanleger die finanzmathematischen Kenntnisse haben dürfte, den Wert eines Derivats wirklich zu berechnen. Banken und Finanzdienstleister können risikolos viel Geld damit verdienen, da der Privatanleger im wahrsten Sinne des Wortes immer „gegen die Bank“ spielt. Derivate sind im Zusammenhang mit der oben erwähnten neuen Buchhaltungs- und Bilanzierungsregeln oftmals reine Fiktion oder zumindest Poesie auf hoher Ebene. Sie sind mittlerweile zu einem bedeutenden Bestandteil der Geldwirtschaft geworden: Das Bruttoinlandsprodukt der Welt (BIP) liegt bei knapp 60 Billionen USDollar. Das Volumen des gesamten Finanzvermögens liegt bei knapp 2000 Billionen US-Dollar, davon alleine etwa 800 Billionen US-Dollar „Derivate“. 6.4 Die Hyperrealität der Geldwirtschaft Im real existierenden Kapitalismus beschäftigen sich viele der besten und talentiertesten Menschen mit der Geldwirtschaft. Der Milliardär Charlie Munger, kongenialer Partner des US-Superinvestors Warren Buffett, veröffentlichte im Februar 2010 seine „Parabel, wie ein Land in den finanziellen Ruin schlitterte.“ (vgl. Munger 2010) Darin schildert er, wie
80 Teil 2 Die Finanzmärkte eine einstmalig fleißige, sparsame und konservative Nation wohlhabend wird und das Spielen in Casinos entdeckte sowie langsam der Spielsucht verfiel. „So kam es, dass die Gewinne der Casinos schließlich 25 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmachten und 22 Prozent aller Löhne und Gehälter an Casinoangestellte gingen (von denen viele Ingenieure waren, die man dringend anderswo benötigt hätte).“ Irgendwann stand das Land vor einem Problem – die Exporte, die früher 25 Prozent des BIP betragen hatten, lagen nun bei 10 Prozent, die Importe waren von 15 auf 30 Prozent gestiegen. Ein weiser Mann wurde gefragt, der viele kluge Vorschläge machte, wie man die Spielsucht in den Casinos einschränken könne. Munger schreibt weiter, dass die Ratschläge dieses weisen Mannes weitgehend ignoriert wurden und dass die Ökonomen des Landes in Mehrheit deutlich gegen eine solche Regulierung waren, weil sie der Meinung waren, dass alle Resultate des Marktes effizient seien. Auch die Banken und Casinos widersetzten sich. So war der Abstieg des Landes unaufhaltsam. 1950 betrug der Anteil der Gewinne des Finanzsektors an allen Unternehmensgewinnen in den USA etwa zehn Prozent, 1960 etwa 18 Prozent, 1970 etwa 23 Prozent, 1980 etwa 20 Prozent, 1990 schon 23 Prozent, 1993 31 Prozent, im Jahr 2000 dann 40 Prozent, 2003 44 Prozent und jetzt – trotz der Finanzkrise und der zusammengebrochenen Gewinne – immer noch 33 Prozent. Für Deutschland lag der Anteil an den Unternehmensgewinnen im zuletzt gemessenen Jahr 2008 – auch trotz Finanzkrise – bei 18,5 Prozent. Ist ein ausuferndes Finanzsystem mit dem 33-fachen Volumen des Wertes der Jahresproduktion erforderlich? Ist die Versorgung mit Banken im bisherigen Ausmaß sinnvoll? Realwirtschaftlich gestützt? Noch gilt das deutsche Bankenwesen mit den drei Säulen Staatsbanken, genossenschaftliche Banken mit Verzahnung vor Ort und Privatbanken wie der Deutschen Bank als vergleichsweise gesund. Es wird berichtet, dass Finanzminister Wolfgang Schäuble fassungslos war, nachdem er einen Handelsraum der Deutschen Bank besichtigt hatte. Der Jurist und Staatsdiener konnte nicht verstehen, dass hunderte intelligenter und studierter Menschen sich an kleinen Bildschirmen mit der Manipulation von Zahlen beschäftigen. Und eigentlich ist diese Haltung verständlich. Würden wir nicht viele dieser Menschen besser in Ingenieur-, Lehr- oder Verwaltungsberufen benötigen? Oder in der Germanistik? Stattdessen spielen sie Nullsummenspiele und schichten Vermögen und Einkommen um. In einem visionären Artikel sprach Peter Drucker (1909 bis 2005), Managementvisionär und einer der letzten Universaldenker, schon 1986 davon, dass der „Aufstieg der Symbolwirtschaft“ einer der drei wichtigsten Trends der nächsten Jahrzehnte sei. Es käme nicht mehr so sehr auf die Produktion und Verteilung von Gütern an, sondern auf die Manipulation von Symbolen wie Finanzen, juristische Regelungen, Patente und Inhalte. Druckers Prognose erwies sich – wie so oft – als treffsicher. Das Ausmaß des Wandels zur Symbolwirtschaft übertrifft alle Erwartungen oder Befürchtungen, je nachdem, wie man es sieht. Germanisten beschäftigen sich mit dem Gebrauch von Sprache, und damit auch dem Gebrauch von Symbolen. Die Symbole der Hyperrealität der Finanzwirtschaft zu analy-
6 Fiktion und Realität im Finanzwesen 81 sieren, in Perspektive zu setzen, und auch Mythen zu demaskieren, wäre eine wichtige Aufgabe. Ich kann nur hoffen, dass nicht alle Talente in die Handelsräume der Großbanken gehen und einige den Ruf der Germanisten und Sozialwissenschaftler hören und helfen, kritische Distanz zum Geschehen zu entwickeln, eine Distanz, wie sie auch Wolfgang Schäuble (wenn die Anekdote stimmt), offenbart hätte. Insofern hoffe ich, dass diese Tagung der Auftakt zu einem fruchtbaren Dialog wird. Nie war er notwendiger als heute.  Ursprünglich erschienen in Christine Künzel/Dirk Hempel (Hrsg.), Finanzen und Fiktionen: Grenzgänge zwischen Literatur und Wirtschaft, bei Campus Verlag, 2011. 6.5 Literatur Bookstaber, R. (2008): Teufelskreis der Finanzmärkte: Märkte, Hedgefonds und die Risiken von Finanzinnovationen. München. Kahneman, D. und Tversky, A. (1992): Advances in Prospect Theory. Cumulative Representation of Uncertainty, Journal of Risk and Uncertainty 5/4, S. 293-323. Lucas Jr., R. E. (2003): Macroeconomic Priorities, in: American Economic Review 93, S. 1–14. Mackay, C. und de la Vega, J. (2009): Gier und Wahnsinn – warum der Crash immer wieder kommt. München. Munger, C. T. (2010): Basically, It’s Over. A parable about how one nation came to financial ruin, in: Slate. http://www.slate.com/id/2245328. Zugegriffen: 4. August 2010 Otte, M. (2009): Der Crash kommt. Komplett überarbeitete Taschenbuchausgabe, S. 147–148. Berlin. Otte, M. (2009): Finanzderivate und der Verfall der Wirtschaftssitten, in: Der Crash kommt, S. 110–136. Otte, M. (2009): Die Finanzkrise und das Versagen der modernen Ökonomie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 52. http://www.bundestag.de/dasparlament/2009/52/Beilage/002.html. Zugegriffen: 21. Dezember 2009 Otte, M. (2011): Die Finanzkrise, die Ökonomen, der „Crashprophet“ und die Wissenschaft von der Ökonomie, Kölner Vorträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2011/1. Berlin. Rürup, B. (2008): Rede auf der Landesmitgliederversammlung des Wirtschaftsrats in Dresden. 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft: Ein Auslaufmodell? Dresden. http://www.wirtschaftsrat.de/ landesverbaende/LvSACindex/LvSACmitt?archiv=1. Zugegriffen: 19. Juli 2010. Rüstow, A. (2004): Die Religion der Marktwirtschaft. Münster. Samuelson, P. und Nordhaus, W. (2009): Economics, 19. Auflage. New York. Senf, B. (2007): Die blinden Flecken der Ökonomie – Wirtschaftstheorien in der Krise. Kiel. Sombart, W. (1916): Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Band I. und Band II. München und Leipzig. Soros, G. (1994): The Alchemy of Finance: Reading the Mind of the Market. Hoboken.
7 7 Grundlagen einer neuen Finanzmarktarchitektur Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise im Herbst ließ Angela Merkel verlauten, dass in Zukunft „jeder Akteur, jede Region und jedes Produkt“ sinnvoll reguliert werden müsse. Diese Formulierung wurde Bestandteil der Abschlusserklärung des G-20-Gipfels im Washington (vgl. tagesschau.de 2008) im November 2008. In einer viel beachteten Rede vom 15.10.2008 sagte der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück: „Wenn es auf den Weltfinanzmärkten brennt, dann muss gelöscht werden, auch wenn es sich um Brandstiftung handelt.“ Anschließend müssten die Brandstifter aber daran gehindert werden, so etwas wieder zu tun. Die Brandbeschleuniger müssten verboten und für einen besseren Brandschutz gesorgt werden. Mit anderen Worten: Es muss eine angemessene Regulierung erfolgen. Am 24.06.2010 wiederholte die Bundeskanzlerin vor dem Beginn des G20-Gipfels in Toronto diese Forderung – ein Hinweis darauf, dass die Fortschritte in den dazwischenliegenden gut eineinhalb Jahren unbefriedigend waren. (vgl. FAZ 2010) In diesem Beitrag soll aufgezeigt werden, wie eine Finanzmarktarchitektur aussehen müsste, welche größtmögliche Stabilität für die Weltwirtschaft schaffen würde. Dabei konzentriert sich der Beitrag auf das Bankensystem und den Finanzmarkt, also die Regulierung der privaten Akteure. Zahlungsbilanzfragen, Staatsschulden und Währungen – also die Gestaltung der Außenwirtschafts- und Geldpolitik der Staaten – werden nicht betrachtet. 7.1 Warum Finanzmärkte besonders streng reguliert werden müssen (Erstmalig veröffentlicht in: ifo-Schnelldienst 13/2010) Finanzmärkte bergen besondere systemische Risiken. Banken arbeiten mit wesentlich geringeren Eigenkapitalquoten als andere Unternehmen. Rutscht ein Institut in die Insol- 83 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_7
84 Teil 2 Die Finanzmärkte venz, sehen die Kunden dieser Bank mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Einlagen nicht wieder. Die Insolvenz kann sich in Form einer Kettenreaktion fortsetzen und andere Institute in die Insolvenz ziehen. Finanzinstitutionen gehören daher besonders strengen Regeln unterworfen, Regeln, die insbesondere die Kapitalausstattung, die Transparenz der Rechnungslegung, die Art der Geschäfte und die Produkte betreffen sollten. Wenn systemrelevante Banken zahlungsunfähig werden oder wenn das Vertrauen der Banken untereinander empfindlich gestört wird, kann die ganze Weltwirtschaft in den Abgrund stürzen. Das ist der Weltgemeinschaft seit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers klar. Es hätte auch schon vorher bekannt sein können.  In „Der Crash kommt“ (Berlin 2006) sagte ich eine Finanzkrise erheblichen Ausmaßes, die mit der „Wucht eines Tsunami“ im Zeitraum zwischen 2007 und 2010, wahrscheinlich 2008 auftreten würde und die durch US-Subprime-Papiere und globale ökonomische Ungleichgewichte ausgelöst würde, voraus. Der Internationale Währungsfonds warnte 2007 im Global Financial Stability Report vor denselben Entwicklungen, relativierte seine Warnungen aber direkt wieder. Internationaler Währungsfond (Hrsg.), Global Financial Stability Report. Market Developments and Issues, Apr. 2007, S. 3 ff. Hinzu kommt: Entgegen der auch unter Ökonomen weit verbreiteten Meinung verhalten sich Finanzmärkte kurz- und mittelfristig höchst irrational. Anlegerentscheidungen – und zwar oft auch die von professionellen Anlegern – werden von Mechanismen im Hirn gesteuert, die zum Teil auf die Reptilienzeit zurückgehen. (vgl. Otte et al. 2009) Diese empirisch mittlerweile vielfach verifizierte Erkenntnis der modernen finanzwissenschaftlichen Forschung hat allerdings noch kaum zu einer Überarbeitung unserer Makromodelle geführt, in denen fast durchgängig noch rationale Finanzmärkte vorausgesetzt werden. Fast kann man von einem a priori bestehenden Glauben, einer „Religion der Marktwirtschaft“ sprechen, die trotz der vielfachen Unfälle und Blasen der letzten Jahre nicht wirklich hinterfragt wird. (vgl. Otte 2010) Tatsächlich sind unregulierte Finanzmärkte geradezu prädestiniert für Blasenbildungen. Hierzu tragen die Geschwindigkeit dieser Märkte, die Komplexität der Konstrukte, massive Informationsasymmetrien und gleichgerichtetes Verhalten (das allerdings oft nicht kartellrechtlich relevant ist, sondern auf einer impliziten Koordination von Aktionen beruht) bei. Finanzmärkte sind daher hoch krisenanfällig und müssen mehr als die meisten anderen Märkte streng reguliert werden. (vgl. Kapoor 2009) 7.2 Raubtierkapitalismus, Moral Hazard und das Wolfsrudel Der von Altbundeskanzler Helmut Schmidt geprägte Begriffe „Raubtierkapitalismus“ bezeichnet die jetzige Situation recht gut. In volatilen Märkten kommen die am besten informierten Finanzmarktakteure – oder auch nur die Akteure mit den besten Reflexen,
7 Grundlagen einer neuen Finanzmarktarchitektur 85 eben die „Raubtiere“ – hervorragend zurecht. Sie können in steigenden und fallenden Märkten Geld verdienen, je mehr, desto weniger Regeln sie unterworfen sind. Es besteht also eine Art „Nahrungskette“, an deren Spitze die Investmentbanken und Hedgefonds stehen, und an deren Spitze wiederum Goldman Sachs und einige wenige andere Institutionen. Hier geht es nicht um straf- oder kartellrechtlich relevante Verstöße oder „Verschwörungen“, obwohl Goldman Sachs diesbezüglich gerade untersucht wird, sondern um eine Hierarchie der Akteure. Akteure der Realwirtschaft (Unternehmen, insbesondere Mittelständler, Banken mit regionalem Kreditgeschäft, Kleinsparer, Arbeitnehmer) sind durch ihr reales Geschäft oder auch strenge Regeln gebunden und weniger beweglich. Lagerbestände, Mitarbeiter, Kapitalausstattung oder Verträge lassen sich eben nicht mit der Geschwindigkeit von Finanzmärkten „anpassen“. Gerät ein mittelständisches Unternehmen aufgrund der gegen die Realwirtschaft zugunsten der Spekulationswirtschaft prozyklisch konstruierten Eigenkapitalregeln von Basel II oder des prozyklischen Fair Value Accounting in Bedrängnis, muss es zum Teil erdrückende Zinskonditionen oder gleich eine „PrivateEquity-Beteiligung“ mit Renditeforderungen von 20 Prozent und mehr akzeptieren. (vgl. Gschrey 2010) Hier sollte also auch der Begriff des „internationalen Finanzkapitals“ entstaubt und auf seine Nützlichkeit untersucht werden. (vgl. Otte 2010) Letztlich beschreibt dieser Begriff nur, dass es Unterschiede in der Funktionsweise von international beweglichem Kapital (Hedgefonds, Großbanken, Family Offices, Großkonzerne, Manager in Großkonzernen) und national bzw. regional verankertem Kapital (Mittelständler, Arbeitnehmer, Volks- und Raiffeisenbanken, Sparkassen, Kleinsparer) gibt, die gelegentlich zu Interessengegensätzen führen können. Diese Interessengegensätze müssen offen angesprochen und politisch austariert werden. Die Spekulation mit ungedeckten Leerverkäufen oder Credit Default Swaps gegen Länder oder Währungsgebiete lässt sich mit einer Feuerversicherung vergleichen. Ein Spekulant erwirbt eine Feuerversicherung auf ein Haus in einem bestimmten Stadtteil. Nun verbreitet er seine Meinung, dass diese Gegend besonders feuergefährdet sei. (So etwas ist in Form von Analystenmeinungen und Konferenzen schnell möglich und meistens keinesfalls straf- oder kartellrechtlich relevant, es sei denn, man stellt sich besonders dumm an. Oftmals reicht es auch den Märkten, zu wissen, dass sich ein bestimmter Akteur in einer bestimmten Weise engagiert hat.) Es werden mehr Versicherungen nachgefragt. Als Folge steigen die Versicherungsprämien. Der schwedische Finanzminister Anders Borg sprach vom „Wolfspack der Spekulanten“. (vgl. Crossland 2010) Im Prinzip trifft dieses Bild die Dynamik der oben erwähnten Spekulation. Sollte ein Spekulationsobjekt der Realwirtschaft ökonomische Schwächen aufweisen oder nur den Anschein solcher Schwäche erweisen, kann – wie zum Beispiel im Falle von Staatschulden durch den massiven Einsatz von Credit Default Swaps – die Spekulation sich selbst verstärkende Wirkungen erzeugen. Dies wurde am Beispiel der griechischen Staatsanleihen deutlich. Eine „Kausalität“ ist hierbei schwer nachzuweisen, wohl aber der typische Ablauf eines solchen Prozesses. (Er könnte im Falle der Spekula-
86 Teil 2 Die Finanzmärkte tion auf Wertsteigerungen auch in die andere Richtung laufen.) Diese „Welt voller Blasen“ kann nicht im Sinne einer stabilen realwirtschaftlichen Entwicklung sein. (vgl. Afhüppe und Reuter 2005) 7.3 Hypertrophe Spekulationsmärkte und Spekulationsförderungswirtschaft (vgl. ifo-Schnelldienst 13/2010) Der Milliardär Charlie Munger, kongenialer Partner des US-Superinvestors Warren Buffett, veröffentlichte im Februar 2010 seine „Parabel, wie ein Land in den finanziellen Ruin schlitterte.“ (vgl. Munger 2010) Darin schildert er, wie eine einstmalig fleißige, sparsame und konservative Nation wohlhabend wird, dann das Spielen in Casinos entdeckte und langsam der Spielsucht verfiel. „So kam es, dass die Gewinne der Casinos schließlich 25 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmachten und 22 Prozent aller Löhne und Gehälter an Casinoangestellte gingen (von denen viele Ingenieure waren, die man dringend anderswo benötigt hätte).“ Irgendwann stand das Land vor einem Problem – die Exporte, die früher 25 Prozent des BIP betragen hatten, lagen nun bei 10 Prozent, die Importe waren von 15 auf 30 Prozent gestiegen. Ein weiser Mann wurde gefragt, der viele kluge Vorschläge machte, wie man die Spielsucht in den Casinos einschränken könne. Munger schreibt weiter, dass die Ratschläge dieses weisen Mannes weitgehend ignoriert wurden und dass die Ökonomen des Landes in Mehrheit deutlich gegen eine solche Regulierung waren, weil sie der Meinung waren, dass alle Resultate des Marktes effizient seien. Auch die Banken und Casinos wiedersetzen sich. So war der Abstieg des Landes unaufhaltsam. Wir leben in einer Welt hypertropher Finanzmärkte, in der sich die kapitalmarktorientieren Banken, Hedgefonds und spekulativen Finanzakteure aufgrund der eigenen Lobbymacht die Regeln zum eigenen Nutzen und zum Schaden der Realwirtschaft und der realwirtschaftlich engagierten Banken schreiben – sei es bei den Eigenkapitalanforderungen, im Fair Value Accounting oder bei der Regulierung von Produkten und Geschäftsmodellen. Es war nicht eine Gruppe von Akteuren, die in der Finanzmarktkrise versagt hat, sondern so ziemlich alle Gruppen: Notenbanken, Investmentbanken, Ratingagenturen, Wirtschaftsprüfer und Politik. Wenn auch nur eine dieser Gruppen „richtig“ gehandelt hätte, wäre es nicht so weit gekommen. Insofern kann man schon von Systemversagen sprechen. (vgl. Otte 2009) Indem die Spekulationswirtschaft die Eigenkapitalanforderungen bewusst niedrig hält, die Gewinne der Spekulation einstreicht und die eventuellen Kosten von Fehlspekulationen sozialisiert, wird gegen elementare Regeln einer Marktwirtschaft verstoßen, dass nämlich Kaufleute mit ihrem Namen und Kapital haften. (vgl. Sinn 2009) Die kapitalmarktorientieren Akteure verhalten sich konsequenterweise oftmals parasitär.
7 Grundlagen einer neuen Finanzmarktarchitektur 87 Finanzinnovationen sind nicht per se etwas Schlechtes. Aber sie sind mit großer Vorsicht zu genießen. In „Manien, Paniken, Crash“ schreibt der Wirtschaftshistoriker Charles Kindleberger, dass Finanzinnovationen oftmals überschätzt und damit „underpriced“ seien, dass also der Risikozuschlag für neue Finanzprodukte zu gering ausfalle und diese damit übermäßig in Anspruch genommen würden. (vgl. Kindleberger 2001) Nach der „Südseeblase“ in England im Jahr 1720 wurden zeitweilig die Kapitalgesellschaften als Schuldige ausgemacht und die Gründung neuer Kapitalgesellschaften verboten. Dabei war es nur die Art und Weise, wie diese Gesellschaften benutzt wurden. Nach 1720 wurde die Kapitalgesellschaft zu einer Säule des wirtschaftlichen Fortschritts. Auch Finanzderivate haben ihren Sinn. Allerdings ist äußerste Vorsicht bei diesen „finanziellen Massenvernichtungswaffen“ (Warren Buffett) geboten. Statt an das moderne angelsächsische Prinzip „was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt“, sollten wir uns bei Finanzinnovationen vielleicht an die oft als unmodern gebrandmarkte deutsche Haltung „was nicht erlaubt ist, ist verboten“ erinnern. 7.4 Prinzipien der Regulierung von Finanzmärkten Sony Kapoor, ein ehemaliger Investmentbanker, der Lehman bereits lange vor der Krise verließ, um sich mit der Reform des globalen Finanzwesens zu beschäftigen, fasst die Prinzipien zur Gestaltung eines Bankensystems wie folgt zusammen: Fairness, Stabilität und Nachhaltigkeit, Haftung, Transparenz, Wettbewerb, Diversität sowie Einfachheit. (vgl. Kapoor 2009) Hätte man diese Prinzipien konsequent umgesetzt, wäre es nicht zur Finanzkrise in ihrer jetzigen Form und ihrem jetzigen Ausmaß gekommen. Gerechtigkeit und Fairness würden zum Beispiel bedeuten, dass Finanzmarktakteure nicht mehr die Gewinne ihrer spekulativen Aktivitäten einstecken und die Verluste der Öffentlichkeit aufbürden können. Kosten und Risiken werden von den Verursachern getragen. Stabilität und Nachhaltigkeit würden unter anderem eine entsprechende Eigenkapitalausstattung und sehr strenge Regeln für Produkte, deren Kosten erst in der Zukunft anfallen, bzw. deren Risiken nicht klar erkennbar sind, beinhalten. Beispiel – Einfachheit: Gelegentlich ist das Argument zu hören, dass es in kaum einem Sektor so viele Regulierungen gebe, wie im Bankensektor. So Karl-Peter Schackmann-Fallis, Vorstandsmitglied des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes auf dem Hermeskeiler Wirtschaftstag der Geschwister-Scholl-Schule in Hermeskeil am 08.06.2009. Das Argument geht an der Sache vorbei: Die jetzigen Regeln sind komplex, intransparent und oftmals wachsweich. Sie begünstigen tendenziell die großen Akteure und die Spekulation. Gute Regeln sind einfach und transparent, und setzen „harte“ Grenzen für bestimmte Geschäfte und Aktivitäten. Sie jetzt einzuführen, würde sicher bedeuten, das hypertrophe Finanzsystem wieder auf eine gesunde Größe zusammenzuschrumpfen. Dazu würden im Prinzip drei Regelwerke ausreichen: 1. transparente und ausreichende
88 Teil 2 Die Finanzmärkte Eigenkapitalausstattung, 2. eine Regulierung der Geschäftsmodelle und der Regionen, in denen eine Bank tätig ist und 3. einige Regeln für Produkte (zum Beispiel eine starke Einschränkung der Verwendung von Derivaten bei Privatanlegern). Beispiel – Nachhaltigkeit: Sinnvolle und höhere Eigenkapitalausstattungen für Banken UND ALLE ANDEREN Finanzmarktakteure (Hedgefonds, Private Equity, Versicherungen) sind die Grundlage dafür, den derzeit praktizierten Raubtierkapitalismus der Finanzoligarchie wieder in marktwirtschaftliche Strukturen zu überführen. Dann müssten die spekulativ orientierten Akteure im Falle von Verlusten einen größeren Anteil des Schadens tragen, denn Eigenkapital ist haftendes Kapital. 7.5 Aktionsfelder Das von der Bundesregierung 2010 unilateral erlassene und (weitgehende) Verbot von Wertpapier-Leerverkäufen bzw. ungedeckten Credit Default Swaps ist ein sinnvoller Baustein einer umfassenden Finanzmarktregulierung, die ganzheitlich 1. sinnvolle Eigenkapitalregeln, 2. die Besteuerung von Finanztransaktionen, 3. die Rückkehr zu sinnvollen Bilanzierungsregeln und 4. die Regulierung von Geschäftsmodellen und Produkten umfassen sollte. Auch 5. eine staatliche Europäische Ratingagentur wäre hilfreich. Eigenkapitalausstattung Eigenkapital ist der Schlüssel zu allem. (vgl. Otte 2010) Es muss für ALLE Finanzmarktakteure gewisse Mindestausstattungen an Eigenkapital geben. Aus meiner Sicht wären sieben bis acht Prozent festes Eigenkapital (nicht Kernkapital nach Basel II) angemessen. Es geht also um eine feste „Leverage-Ratio“ bzw. einen maximalen Verschuldungsgrad. Akteure wie die Deutsche Bank könnten dann nicht mehr mit 1,5 Prozent echtem Eigenkapital ihr Geschäft betreiben und müssten ihr Eigenkapital aufstocken. „Kernkapital“ nach Basel II ist eine vage und manipulierbare Größe. Die Vermögensgegenstände in der Bilanz – also das, worin die Bank investiert – sollen je nach Risiko mit verschieden viel Eigenmitteln hinterlegt werden. Zunächst einmal klingt dies gut. Letztlich hat es aber flächendeckend zu einer massiven Aushöhlung des Eigenkapitals bei Finanzmarktakteuren geführt. Zudem sind die Risikomaße natürlich gewissen Definitionen, wenn nicht Manipulationen unterworfen. Sie sind damit intransparent und stellen eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Wirtschaftsprüfungsgesellschaften dar. Zudem ist „Kernkapital“ nicht immer echtes Eigenkapital, sondern kann auch Hybridkapital sein. Basel II verstößt somit gegen das Gebot der Transparenz und Einfachheit, für den Verfasser zusammen mit dem Gebot der Nachhaltigkeit und der Diversität die wichtigsten Prinzipien einer umfassenden Finanzmarktreform. In der Finanzkrise wurde deutlich, dass die Regelungen von Basel II prozyklisch wirken. In der Krise steigen die Risikozuschläge, in guten Zeiten sinken sie. Eine solche Prozyklizität nutzt dem internationalen Finanzkapital und schadet der Realwirtschaft.
7 Grundlagen einer neuen Finanzmarktarchitektur 89 Volatilität nutzt zunächst einmal spekulativ und flexibel agierenden Finanzmarktakteuren und schafft realwirtschaftliche Kosten in Form von Kalkulationsunsicherheit und Verwerfungen. Hier ist dringend – auf deutscher, europäischer und internationaler Ebene – eine Reform anzumahnen. Natürlich würde eine Aufstockung des Eigenkapitals – die man von jedem Mittelständler und jedem Akteur der Realwirtschaft fordert – zum Aufschrei in der Branche führen. Viele Tische im großen Spielcasino müssten geschlossen werden. Sicherheit und Stabilität haben ihren Preis. Es käme zu Anpassungsschwierigkeiten und auch kurzfristig zu Wachstumsverlusten. Auf der anderen Seite würde die Weltwirtschaft erheblich stabiler funktionieren. Das Risiko von Finanzkrisen wäre erheblich geringer, Ressourcen würden von den Casinotischen in die Fabriken und produktiven Bereiche umgelenkt. Letztlich wird sich nicht ökonometrisch schlüssig nachweisen lassen, dass eine feste Leverage Ratio insgesamt zu mehr Wohlstand führt – genauso wenig das Gegenteil. Die Finanzkrise hat allein 2007 bis 2009 Gesamtbelastungen in Höhe von ca. zehn Prozent des Weltsozialprodukts verursacht. Angesichts solch gigantischer Summen ist die Erhöhung der Eigenkapitalquoten sicherlich angebracht. Eine Versicherungslösung – wie derzeit von der Lobby der kapitalmarktorientierten Banken vorgeschlagen – kann keine Lösung sein. Die derzeit diskutierte Bankenabgabe illustriert dies: Eingezahlt werden soll von ALLEN Banken – auch zum Beispiel von den soliden Volks- und Raiffeisenbanken, die bereits über aus Rücklagen gut kapitalisierte eigene Sicherungssysteme verfügen – zur Verfügung stehen soll der Rettungsfonds aber vor allem den „systemrelevanten“ großen kapitalmarktorientierten Banken. Einmal mehr würden dann Akteure der Realwirtschaft die Zeche für die Akteure der Spekulationswirtschaft bezahlen. Finanztransaktionssteuer Wie der Teufel das Weihwasser fürchtet die Lobby der kapitalmarktorientierten Akteure die internationale Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Diese 1972 von Nobelpreisträger James Tobin (1918 bis 2002) vorgeschlagene Steuer von 0,05 bis 1,0 Prozent sollte auf grenzüberschreitende Devisentransaktionen erhoben werden, um die Spekulation zu dämpfen. Heute wird von Befürwortern der Regulierung und Globalisierungskritikern eine Finanztransaktionssteuer auf alle Finanzmarktgeschäfte gefordert. Eine solche Steuer – und sei es auch nur in Höhe von 0,05 Prozent – würde genau die Wirkung haben, welche sich die Befürworter der Regulierung der Finanzmärkte davon versprechen: Sie würde stark bremsend auf spekulative Geschäfts jeglicher Art wirken und die nachhaltigen, an der Realwirtschaft orientierten Geschäfte kaum behindern. (vgl. Otte 2010) Die Steuerbelastung lässt sich dabei mit einer einfachen Formel darstellen: B = T  N  L, wobei B die Steuerbelastung, T der Steuersatz, N die Häufigkeit der Umschichtung des Vermögens pro Jahr und L (= Leverage) die Verschuldung (Gesamtkapital dividiert durch Eigenkapital) darstellt.
90 Teil 2 Die Finanzmärkte Die Finanztransaktionssteuer fällt auf das gesamte Volumen (die gesamte Summe) einer bestimmten Transaktion an, also auch auf den durch Fremdkapital finanzierten Anteil. Eine Finanztransaktionssteuer von 0,05 Prozent würde also zu einer realen Belastung von 0,01 Prozent führen, wenn 100 Prozent Eigenkapital verwendet würden und die Investition für 20 Jahre getätigt wurde. Sollte ein Sparer ein Haus kaufen und eine Hypothek von 90 Prozent aufnehmen, aber für 15 Jahre investieren, wäre die Belastung B = 0,05  1/15 (Häufigkeit der jährlichen Umschichtung)  10/1 (Verschuldung) = 0,33 Prozent pro Jahr. Auch diese Belastung scheint tragbar. Eine ähnlich hohe Belastung würde wohl auftreten, wenn BASF oder Daimler ein Werk im Ausland bauen würden. Die Transaktionssteuer würde allerdings bei hoch spekulativen Hedgefonds massiv wirken. Diese Fonds drehen ihr Vermögen oftmals in Sekundenbruchteilen, manchmal mehrere 100 Mal pro Monat. Zum Vergleich: Seriös investierende Aktienfonds drehen ihr Vermögen vielleicht alle drei Jahre, also 1/3-mal pro Jahr. Gehen wir davon aus, dass ein Hedgefonds fünf Prozent Eigenkapital hat und sein Vermögen 100 Mal pro Jahr dreht. Dann betrüge die Belastung 100 Prozent des Eigenkapitals! Die Finanztransaktionssteuer ist also eine „weiche“ marktwirtschaftskonforme Maßnahme, um spekulative Geschäfte zu dämpfen und Ressourcen in nachhaltige Bereiche zu lenken. Gelegentlich wird die Kritik geäußert, dass auch produktive Kapitalflüsse durch die Transaktionssteuer behindert würden. Setzt man aber „nachhaltig“ und „langfristig orientierte“ Investitionen gleich, so fördert die Transaktionssteuer langfristige Investitionen. Die Logik ist einfach und bestechend. Auch der Einwand, dass dann die Produkte, die auf den eigenen Plattformen der Banken gehandelt oder direkt dem Kunden verkauft werden, nicht berücksichtigt würden, kann leicht entkräftet werden. Es ließe sich analog zur Transaktionssteuer an Börsen auch eine Emissionssteuer für Produkte einführen, die von Banken direkt an ihre Kunden verkauft werden. In einem genialen Einfall von Orwellschem Neusprech hat die Lobby der kapitalmarktorientierten Finanzmarktakteure die „Financial Activity Tax“ erfunden und schiebt diese als Ablenkungsmanöver vor. Die „Activity Tax“, wie von der Lobby vorgeschlagen, besteuert aber eben nicht die Aktivitäten – also die einzelnen Transaktionen –, sondern das Ergebnis der Aktivitäten, also die Gewinne. In diesem Fall darf also Vermögen weiter schnell gedreht werden – die Aktivitäten werden bei der „Activity Tax“ eben nicht belastet. (vgl. Der Betrieb 2010) Zudem hat die Lobby mit der Angst gespielt: Die Finanztransaktionssteuer würde Kleinsparer über Gebühr belasten. Dies ist ein bewusster psychologischer Propagandatrick, den der Verfasser bei der Anhörung vor dem Bundestag am 17.05.2010 entkräften konnte. Bei einem seriösen Riester-Produkt wird das Fondsvolumen vielleicht alle drei Jahre umgeschichtet, was einer Belastung von 0,016 Prozent p. a. entspricht. Die Belastung durch Fondsgebühren dürfte aber bei 1,5 bis 2,5 Prozent p. a. – also mehr als dem Hundertfachen liegen. Ein Kleinsparer mit einer jährlichen Einzahlsumme von 1200 Euro hätte über eine Laufzeit von 20 Jahren eine Last von ca. 70 Euro zu tragen. Angesichts der vielfach stabilisierenden Wirkungen der Finanztransaktionssteuer scheint dies zumutbar.
7 Grundlagen einer neuen Finanzmarktarchitektur 91 Die Rückkehr zu sinnvollen Bilanzierungsregeln Aus dem deutschen Handelsgesetzbuch (HGB) lassen sich die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung ableiten, unter anderem 1. Richtigkeit und Willkürfreiheit, 2. Klarheit und Übersichtlichkeit, 3. Einzelbewertung, 4. Vollständigkeit und 5. das Niederstwertprinzip. Das Niederstwertprinzip besagt zum Beispiel, dass Vermögensgegenstände zum Anschaffungs- oder zum Marktwert bilanziert werden sollen, je nachdem, welcher Wert der niedrigere sei. Die Bilanzierung deutschen Modells orientierte sich damit am Gläubigerschutz – die verbuchten Werte sollten auf jeden Fall „mindestens“ vorhanden sein. Die Rechnungslegung war konservativ ausgerichtet. Kritik aus dem angelsächsischen Raum führte dazu, dass die Rechnungslegung stärker eigentümer- und aktionärsorientiert werden sollte: Die Bilanzen sollten den aktuellen fairen Wert („Fair Value“) von Vermögensgegenständen wiedergeben. Die Einführung der internationalen Rechnungslegungsvorschriften IAS/IFRS wurde als großer Fortschritt gefeiert. Was gut gedacht war, erwies sich als Einfallstor für Komplexität, Intransparenz und Prozyklizität (also die Schwankungen des Systems noch erhöhend) und als Jagdgrund für die Wolfsrudel des Raubtierkapitalismus. Viele Derivate, für die es keinen Markt gibt, müssen mit Hilfe von Modellen bewertet werden („Mark to Model“). Die Wertansätze sind dabei extrem von den Annahmen abhängig und können leicht um mehrere 100 Prozent schwanken, insbesondere bei Derivaten und Produkten mit langer Laufzeit. Zudem gibt es unter anderem auch die paradoxe Situation, dass schwache Anleihenmärkte in einer Krise das Eigenkapital einer Bank STEIGEN lassen: Wenn nämlich die Anleihen und Schulden der Passivseite der Bilanz nur noch zum niedrigeren Marktwert und nicht mehr zum Nominalwert bewertet werden. Hartmut Bieg, emerietierter Professor für Bilanzierung an der Universität des Saarlandes, hat die schädlichen Auswirkungen der Fair Value Bilanzierung dargelegt und eine Initiative gegen Fair Value gestartet. (vgl. o. V. 2008) Peemöller kommt zu dem Schluss, „dass die Übernahme der IFRS für kleine und mittlere Unternehmen nicht unproblematisch ist“. (vgl. Peemöller und Schmalz 2007) Ebenfalls fordert er, dass die berechtigte Kritik nicht dazu führen dürfe, sich nicht mit IFRS zu beschäftigen und diese Belange alleine in die Hände der Berater und Prüfer zu legen. (vgl. Peemöller und Schmalz 2007) Noch bilanzieren die Regionalgesellschaften der Genossenschaftsbanken zum Beispiel nach dem HGB. Dies ist nach Ansicht des Verfassers mit allen Mitteln zu verteidigen. Regulierung der Geschäftsmodelle und Diversität Aus der Forderung nach Diversität ergibt sich die Forderung nach der Regulierung der Geschäftsmodelle – weg vom Allfinanzgeschäft und hin zu spezielleren Instituten, wie zum Beispiel Investmentbanken, klassische Kreditinstitute, Vermögensmanager und Spezialinstitute. Eine aus Sicht des Autors höchst sinnvolle Maßnahme – die aber kaum Chancen auf Erfolg hat – wäre das Verbot des Eigenhandels für Investmentbanken. Der Eigenhandel birgt durch die großen bewegten Summen massive systemische Risiken. Im Erfolgsfall kassieren Bank und Trader, im Misserfolgsfall zahlt die Öffentlichkeit. Die-
92 Teil 2 Die Finanzmärkte ses Marktsegment könnte in Zukunft komplett durch Hedgefonds abgedeckt werden. Der Vorteil: Rechtlich eigenständige Hedgefonds müssen ihre Mittel erst einwerben, und haben damit zunächst nicht das Volumen wie der Eigenhandel großer Banken. Hier wäre zusätzlich über eine maximale Größe nachzudenken und darüber, wie viele Hedgefonds ein Manager betreuen darf. Diese nach dem ehemaligen amerikanischen Notenbankchef Paul Volcker benannte „Volcker Rule“ ist bei der amerikanischen Finanzmarktreform bereits gescheitert. (vgl. Benders und Dörner 2010) Auch eine Regulierung der Größe und der Region, in der eine Bank tätig sein darf – wie durch den Glass-Stegall-Act 1934 in den USA erfolgt – ist sinnvoll. Allzu große Banken erhöhen das systemische Risiko massiv, allzu kleine Banken exponieren sich vielleicht zu sehr bei spezifischen Risiken. (vgl. Kapoor 2009) Eine Lizensierung und Kontingentierung von internationalen Tochtergesellschaften wäre sinnvoll, müsste allerdings in einem internationalen Rahmen angegangen werden. Hierzu ist auch anzumerken, dass das deutsche Bankensystem mit seinen drei großen Säulen der Geschäftsbanken, der Volks- und Raiffeisenbanken und der Sparkassen eines der besten und diversifiziertesten Systeme der Welt war, das schon Anfang des 20. Jahrhunderts international zu Respekt und Anerkennung, ja Neid führte. (vgl. Otte 2009) Das deutsche Bank- und Finanzsystem ist und war dem kapitalmarktorientierten angelsächsischen System in vielerlei Hinsicht überlegen. Insbesondere führte es seine Funktion, Kredite für die Realwirtschaft bereitzustellen, hervorragend aus. Volks- und Raiffeisenbanken haben sich als besonders krisenresistent erwiesen. (vgl. Otte 2010) Aus dem angelsächsischen Raum kommt starke Kritik, dass das deutsche System ineffizient sei und die Eigenkapitalrenditen unzureichend. In einem zweiteiligen grundlegenden Artikel weist Hannes Rehm, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der NordLB und Chef des Bankenrettungsfonds Soffin, diese Kritik zurück. (vgl. Rehm 2008) Alle Produktivitätskennziffern des deutschen Bankensystems mit Ausnahme der Eigenkapitalrendite seien gut. Die niedrige Eigenkapitalrendite ist im Gegenteil ein Beweis, dass der Wettbewerb funktioniert. Hohe Eigenkapitalrenditen sind ein Hinweis auf Beschränkungen des Wettbewerbs und Ausnutzung von Marktmacht. Überall dort, wo sie existieren – zum Beispiel Italien, Spanien, England – werden Bankkunden mit sehr hohen Gebühren belastet und das Servicenetz ist schlecht. Diese verbraucherunfreundlich und oligopolistisch strukturierten Länder sollte sich Deutschland ausdrücklich nicht zum Vorbild nehmen. Die Politik wäre gut beraten, die deutschen Geschäftsbanken in der Fläche zu stärken – auch, im Konfliktfall – auf Kosten der kapitalmarktorientierten Banken. Derzeit läuft es – wie oben schon am Beispiel der Bankenabgabe aufgezeigt – leider umgekehrt. Gründung einer kontinentaleuropäischen staatlichen Ratingagentur Das angelsächsische Kartell der Ratingagenturen ist eine wesentliche Ursache der Krise. Wenn diese Agenturen in den Jahren 2005 bis 2006 bis zu einem Drittel ihrer Gewinne damit gemacht haben, dass sie AAA auf Ramschpapiere stempelten und dafür von den Produzenten der Papiere auch noch vergütet wurden, ist dies ein eklatanter Interessen-
7 Grundlagen einer neuen Finanzmarktarchitektur 93 konflikt. Bislang wurden solche Interessenkonflikte durch staatliche Regeln in keinerlei Weise verhindert, die Regulierung ist auch im Jahr 2010 nicht wesentlich weiter. Ratingagenturen sehen selten die mögliche Abstufung voraus – Subprime, Griechenland, bp plc., sondern stufen meistens erst dann prozyklisch ab, wenn sich ein Land oder ein Unternehmen in Problemen befindet. Sie wirken damit in guten wie in schlechten Zeiten als Verstärker des Casinokapitalismus und der Spekulationswirtschaft. Allerdings sind auch Banken und institutionelle Investoren nicht ganz unschuldig: Sie „verlassen“ sich auf die Ratings und können im Zweifelsfall die Verantwortung auf die Ratingagenturen schieben, wenn sich Investments negativ entwickeln. Damit geben aber Bankvorstände und Investmentmanager mehr oder weniger still und heimlich ihre eigentliche Verantwortung ab – nämlich die Selektion und Bewertung von Investments und Wertpapieren. Das System geht sogar noch weiter: Versicherungen und institutionelle Anleger sind oftmals aufgrund der Vorschriften gezwungen, Papiere zu verkaufen, wenn das Rating unter eine bestimmte Note fällt. So müssen Anleihen von bp oder von Banken gerade zum ungünstigsten Moment verkauft werden, was sowohl Emittenten als auch Investoren in Bedrängnis bringt. Wenn alle Akteure sich nach den Ratings von drei Agenturen richten, ist dies kapitalistische Planwirtschaft und hat mit Konkurrenz und Marktwirtschaft wenig zu tun. Die Gründung einer europäischen Ratingagentur, die der Verfasser bereits 2009 ins Gespräch brachte, wurde angesichts der Griechenland-Krise auch von Bundesaußenminister Guido Westerwelle gefordert. (vgl. Spiegel online 2010) Eine solche Agentur würde helfen, das angelsächsische Kartell aufzubrechen. Zudem kann eine staatliche Agentur nicht schlechter als die privaten Agenturen sein, denn die privaten haben immer wieder konsistent bewiesen, dass sie NICHT unabhängig sind, dass sie Krisen nicht voraussehen und dass sie prozyklisch arbeiten. Wie vorausschauend eine staatliche Agentur arbeitet, bleibt abzuwarten, aber sie hätte zumindest keine institutionalisierten und im Prinzip unlösbaren Interessenkonflikte zu bewältigen. Allerdings löst die Gründung einer europäischen Agentur nicht alle Probleme, wie Gustav Horn darlegt: Auch das System der „kapitalistischen Planwirtschaft“ muss aufgebrochen werden, nach dem Investmentgesellschaften und Versicherungen vorgeschrieben ist, nur Papiere mit bestimmten Ratingnoten zu halten und die zentralen Ratings auch Einfluss auf die Kreditvergabe an Unternehmen und Mittelstand haben. Je dezentraler in einem zukünftigen System die Kreditvergabe erfolgt, desto mehr kann die Marktwirtschaft in das Kreditwesen zurückkehren. (vgl. Horn 2010) Produkte und Verbraucherschutz Im Frühjahr 2010 starteten das Bundesministerium der Finanzen und das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz eine Initiative für besseren Verbraucherschutz bei Finanzprodukten. Am 19. und 20. Mai fand in Berlin unter Federführung des Finanzministeriums eine internationale Finanzmarktkonferenz statt, um die sinnvolle Regulierung der Finanzmärkte zu forcieren. Unter anderem hat die Bundesregierung ungedeckte Leerverkäufe verboten und das „Anschleichen“ an Akquisitionsob-
94 Teil 2 Die Finanzmärkte jekte erschwert, sicherlich zwei sinnvolle Maßnahmen. Auch der „graue Kapitalmarkt“ soll – zum Beispiel bei geschlossenen Immobilienfonds – besser reguliert und den Anforderungen des WpHG unterstellt werden. (vgl. Bundesministerium für Finanzen 2010) Was zunächst gut aussieht – wie auch zum Beispiel die Einführung der MiFID der Europäischen Union – stärkt in der Realität die großen Finanzakteure. Kleinen unabhängigen – und oftmals auch verantwortungsvolleren – Beratern, die direkt haften, ist es nicht mehr möglich, die formalen Anforderungen der Compliance-Bürokratie einzuhalten. Angestellte Verkäufer der großen Finanzdienstleister – denn Berater gibt es dort kaum noch – werden durch die Compliance-Bürokratie und die Kapitalstärke der großen Institute geschützt. Ein besserer Verbraucherschutz, wie zum Beispiel ein Beipackzettel für Finanzprodukte, ist zunächst einmal zu begrüßen. Er kann aber keinesfalls das Kernelement einer sinnvollen Finanzmarktarchitektur (Eigenkapital, Kapitaltransaktionssteuer, Regulierung von Geschäftsmodellen und –produkten) ersetzen. Im Zweifelsfall werden die großen Akteure die Bestimmungen des Verbraucherschutzes formal umsetzen, während sich materiell nichts für den Kunden verbessert. Lange juristische Risikohinweise sind die Folge, toxische Produkte werden aber weiter vertrieben. Ilse Aigner hat bereits Unmut über die langsame Umsetzung des Beipackzettels für Finanzprodukte geäußert. (vgl. Handelsblatt 2010) Dabei ist auch der Beipackzettel für Finanzprodukte in seiner vorgesehenen Form oftmals schwer zu interpretieren. Die Ampelkennzeichnung für Finanzprodukte – wie vom Verfasser als sehr sinnvoll erachtet und von der Verbraucherzentrale Hamburg angewendet wird – wurde von der debeka gerichtlich durch eine einstweilige Verfügung gestoppt. Mittlerweile darf die Ampel aber wieder veröffentlicht werden. (vgl. Welt online 2009) Insgesamt ist die Beratung durch Banken und Finanzdienstleister nach der Finanzkrise allerdings noch schlechter geworden, wie die Stiftung Warentest in einer groß angelegten und im Juni 2010 veröffentlichten Studie präsentierte. Sechs von 21 untersuchten Banken bekamen das Urteil „mangelhaft“, zwölf „ausreichend“ und drei „befriedigend“. Die Note „gut“ wurde nicht vergeben. (vgl. Stiftung Warentest 2010) Letztlich ist dies bei der derzeitig völlig unzureichenden Finanzmarktregulierung auch nicht verwunderlich: Wenn Regeln fehlen, werden die durch die Finanzkrise besonders unter Erfolgsdruck stehenden Banken besonders aggressiv verkaufen. 7.6 Stand der Maßnahmen In der Zeit zogen Philipp Geschel und Frank Nullmeier bereits im Herbst 2008 ein bitteres Resümee und sahen die Machtgebärden der Politik und das Gerede von der Rückkehr des Staates als weitgehend inhaltslos an: „Wenn die Krise vorbei ist, regiert wieder das Kapital. … Politische Unternehmer nutzen die Gunst der Stunde für staatliche Heilsversprechen. … Die Renaissance des starken Staates ist jedoch eine optische Täuschung.“ (vgl. Geschel und Nullmeier 2008)
7 Grundlagen einer neuen Finanzmarktarchitektur 95 Leider hatte sie recht. Schon jetzt lässt sich absehen, dass die zentralen Regulierungsvorhaben im Dschungel der Lobbyherrschaft stecken bleiben oder bis zur Unkenntlichkeit verwässert werden.       Die Reform von Basel II zieht sich in die Länge und wird verwässert – sinnvolle Eigenkapitalregeln werden höchstwahrscheinlich nicht entstehen. Damit fehlen weiter die Grundlagen einer marktwirtschaftlichen Ordnung und wir bleiben im System des „Sozialismus für Banken und Investmentbanker“, bei dem die Banken und Banker den Lohn spekulativer Aktivitäten einstreichen, während die Allgemeinheit die Kosten zahlt, wenn die Spekulation danebengeht. Die Kapitaltransaktionssteuer ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Over-the-counter-Geschäfte, also Geschäfte, die Banken auf eigenen Plattformen betreiben und die daher besonders manipulationsanfällig sind, werden nicht auf Börsenplattformen verlegt. Die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanking (Volcker Rule) kommt nicht voran. Derivate werden nicht reguliert. Der Verbraucherschutz wird – wie bei den Regeln für MiFID (Markets in Financial Instruments Directive) – von der Lobby oftmals so umgedeutet, dass die Einhaltung der Bestimmungen nur noch für große Akteure möglich ist, kleine und unabhängige Finanzberater (und das sind oftmals die mit hoher Eigenverantwortung) vom Markt gedrängt werden. Bert Rürup hat die griffige Formel geprägt, dass die angelsächsische Denktradition davon ausgehe, dass der Markt ein „Vollautomatismus“ sei – also prinzipiell gute und überlegene Ergebnisse erziele und die kontinentaleuropäische Tradition der Sozialen Marktwirtschaft oder des Rheinischen Kapitalismus den Markt als „Halbautomatismus“ ansehe, dessen Ergebnisse korrigiert werden müssen. Daneben gebe es noch den Staatskapitalismus asiatischer Prägung. (vgl. Hofmann und Niejahr 2009) Die Formel ist griffig, geht aber nicht tief genug. Letztlich geht es um die Deutungshoheit. Wer den Markt als Vollautomatismus betrachtet, betrachtet den Markt auch als Beute der Interessengruppen. Das ist ein konsequent neoliberaler Ansatz, der, wie Mancur Olson gezeigt hat, in letzter Konsequenz dazu führt, dass der Staat als „Beute“ betrachtet und zwischen den einzelnen Interessengruppen aufgeteilt wird. (vgl. Olson 1971) Letztlich führt dies zur wirtschaftlichen Stagnation. (vgl. Olson 1984) Es geht also um die Frage, ob die Deutungshoheit für die Grundregeln einer Gesellschaft letztlich beim Markt oder bei der Politik liegt und welches Subsystem. Über diese Frage kam es schon bald nach der Gründung der liberalen Mont Pelerin Society 1947 zum Streit zwischen zwei Fraktionen. Friedrich August von Hayek und Milton Friedman, die einen ideologischen und quasi religiösen Marktliberalismus vertraten, setzten sich durch. Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke und Alfred Müller-Armack, die der Auffassung waren, dass der Staat für die Ordnung der Wirtschaft zu sorgen habe und die Regeln festzusetzen habe, verließen die Gesellschaft im Streit. (vgl. Otte 2011) Heute wer-
96 Teil 2 Die Finanzmärkte den ordoliberale Positionen von der CDU/CSU zum Teil noch im Bereich der Arbeitsmarktpolitik vertreten. Im Bereich der Wettbewerbs- und Marktordnungspolitik hat sich die Lobby- und Konzernherrschaft – sprich der REAL EXISTIERENDE NEOLIBERALISMUS – über die Hintertür der Europäischen Union durchgesetzt. 7.7 Deutschlands Rolle Es ist hilfreich, sich daran zu erinnern, dass Ökonomie immer politisch ist, und dass es eben nicht nur um die Generierung, sondern auch um die Verteilung von Wohlstand zwischen Individuen, Gruppen, Klassen und Nationen geht. Das führt auch zu Interessenkonflikten, die innerhalb einer Gesellschaft oder international politisch gelöst werden müssen. (vgl. Gilpin 1987) Die Debatten sind nicht neu: In den USA stritten sich Alexander Hamilton und Thomas Jefferson, von denen sich ersterer für ein System von Schutzzöllen und eine starke Industrie, der zweite für Freihandel und die Südstaaten stark machte. In Deutschland setzte sich Friedrich List für ein „nationales System der politischen Ökonomie“ ein und in England wurde intensiv über die Aufhebung der Getreideimportzölle gestritten, die dann 1846 erfolgte. (vgl. Bloy 1997) Deutschland ist eine der größten Nettosparnationen der Welt, nebenbei hat Deutschland (noch) eine funktionierende Industrie und einen hervorragenden Mittelstand, was sich von England und den USA nicht behaupten lässt. Finanzmarktderegulierung ist für England Standortpolitik, da dieses Land von der Spekulationswirtschaft abhängig ist. Für Deutschland (Österreich, auch die Schweiz, ggf. Frankreich, die nordischen Länder) wäre hingehen eine stärkere Finanzmarktregulierung die richtige Standortpolitik zur Sicherung der produktiven Basis der Volkswirtschaft.  Ein Schweizer Industrieller sagte dem Verfasser: „Ihr Deutschen seid die einzigen, die international die Regulierung der Finanzmärkte durchsetzen können. England wird sich der Regulierung immer entziehen wollen.“ Ein Verbot von Leerverkäufen hilft der deutschen Volkswirtschaft, indem es die Spekulationswirtschaft ein winziges Stück zurückdrängt. Sicherlich sind einige Ausweicheffekte zu befürchten, aber Deutschland ist zum Glück nicht so von der Finanzbranche abhängig wie andere Länder. Außerdem könnte rechtlich geprüft werden, ob sich das Verbot nicht nur auf bestimmte Transaktionen, sondern auf Akteure und ihre verbundenen Unternehmen beziehen kann. Deutschland kann und muss also eine Vorreiterrolle einnehmen, ggf. mit einer „Koalition der Willigen“. Es kann also nicht kontraproduktiv sein, wenn die Bundesregierung – notfalls im Alleingang – beschließt, „einige Tische im großen Spielcasino zu schließen“. In der Debatte um das Verbot von Leerverkäufen habe ich mich dabei eindeutig hinter die Bundesregierung gestellt. (vgl. Neuerer 2010) Der Bundesrepublik wird Führungsschwäche vorgeworfen, wenn sie zu lange an als für sich
7 Grundlagen einer neuen Finanzmarktarchitektur 97 richtig erkannten Positionen wie in der Frage der Griechenland-Rettung festhält. Ebenso wird ihr Führungsschwäche vorgeworfen, wenn sie in als richtig erkannten Fragen voranschreitet. Das kann nicht sein. Allerdings ist das Verbot von ungedeckten Leerverkäufen nur ein relativ kleiner Baustein bei der Regulierung der Finanzmärkte. Viel wichtiger als diese diskretionäre Maßnahme wären sinnvolle Eigenkapitalregeln, welche die jetzige Begünstigung der Spekulationswirtschaft zu Lasten der Realwirtschaft beenden würden, darunter auch feste Eigenkapitalquoten für alle Finanzakteure und die Rückkehr zur Bilanzierung nach dem Niederstwertprinzip sowie die Einführung einer Transaktionssteuer. Beides wären im Gegensatz zum Verbot einzelner Produkte oder Transaktionen marktkonforme, systemische Maßnahmen: Höhere Eigenkapitalanforderungen würden zum Beispiel automatisch die Haftung erhöhen und die parasitäre Spekulationswirtschaft zurückdrängen, den einzelnen Akteuren aber die Entscheidung über das Ausmaß der Spekulation überlassen. Es ist zu wünschen, dass die Bundesregierung den Mut hat, diese Fragen mit einer „Koalition der Willigen“ – Frankreich, Österreich, Benelux, den nordischen Ländern, vielleicht China – anzugehen, denn die Schuldner- und Finanzmarktnationen USA und England werden solchen sinnvollen Schritten nicht zustimmen. Deutschland muss auch einmal den Mut finden, deutsche Interessen – und das sind glücklicherweise noch die Interessen eines starken produzierenden Gewerbes und des Mittelstandes – zu definieren und zu vertreten.  Ursprünglich erschienen in Lehren aus der Finanzmarktkrise – Ein Comeback der Sozialen Marktwirtschaft, Band III: Verflochtene Krisen – Von der Finanzmarkt- zur Eurokrise, bei Konrad-Adenauer-Stiftung, 2010. 7.8 Literatur Afhüppe, S. und Reuter, W. (2005): Eine Welt voller Blasen, Der Spiegel 13/2005. Benders R. und Dörner, A. (2010): „Obama scheitert mit großen Reformplänen“, in: Handelsblatt, 15.07.2010, S. 34–35. Bloy, M. (1997): The Campaign for the Repeal of the Corn Laws. http://www.victorianweb.org/history/cornlaws2.html Bundesministerium für Finanzen (2010): http://www.pressrelations.de/new/standard/result_main.cfm?r=402185&aktion=jour_pm; Crossland, D. (2010): „Europe rushes to save Euro from ‚wolf pack‘“. The National. Der Betrieb (2010): Bundestag: Urteile der Sachverständigen zur Finanztransaktionssteuer. 28.05.2010, Heft 21, S. M16 Frankfurter Allgemeine Zeitung (2010): „Vor dem G-20-Gipfel: Merkel weist Kritik Obamas am Sparkurs zurück“.
98 Teil 2 Die Finanzmärkte Geschel, P. und Nullmeier, F. (2008): „Ausweitung der Staatszone – Die Machtgebärden der Politik sind eine optische Täuschung. Wenn die Krise vorbei ist, regiert wieder das Kapital;“ in: Die Zeit, 06.11.2008. Gilpin, R. (1987): The Political Economy of International Relations. Princeton Gschrey, E. (2010): IAS 39 als „Brandbeschleuniger in der Krise?“ (IAS 39: Adding Fuel to the Fire During the Crisis?), in: Die Wirtschaftsprüfung, Sonderheft 2010, S. 51–56. Handelsblatt (2010): http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/beipackzettel-fuer-finanz produkte-aigner-ist-das-taktierender-banken-leid;2575225 Hofmann, G. und Niejahr, E. (2009): „Mal was ganz Neues – Interview mit Bert Rürup”, Die Zeit 12/2009. 12.03.2009. http://www.zeit.de/2009/12/Interview-Ruerup Horn, G. (2010): „Europäische Ratingagentur keine Lösung“, in: http://www.handelsblatt.com/politik/international/top-oekonom-gustav-horn-europaeischeratingagentur-keineloesung;2593224 Kapoor, S. (2009): A simpler, smaller, safer, more diverse and more stable banking system is what we need! http://re-define.org/sites/default/files/What%20should%20the%20banking%20system%20look %20like(2).pdf Kindleberger, C. P. (2001): Manien, Paniken, Crashs – die Geschichte der Finanzkrisen dieser Welt, S. 22. Kulmbach und Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (1986): Recent Innovations in International Banking. Basel. Munger, C.T. (2010): Basically, It’s Over. A parable about how one nation came to financial ruin. http://www.slate.com/articles/business/moneybox/2010/02/basically_its_over.html?via=gdprconsent. Zugegriffen: 21. Februar 2010 Neuerer, D. (2010): Max Otte in „Debatte um Zockerbremse – Top-Ökonomen halten Merkel Inkompetenz vor“, in Handelsblatt, 20.05.2010. http://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur-nachrichten/debatte-um-zockerbremsetopoekonomen-halten-merkel-inkompetenz-vor;2585071 Olson, M. (1971): The Logic of Collective Action: Public Goods and the Theory of Groups. Cambridge. Olson, M. (1984): The Rise and Decline of Nations: Economic Growth, Stagflation, and Social Rigidities. New Haven. Otte, M. (2009): Die Finanzkrise und das Versagen der modernen Ökonomie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 52. http://www.bundestag.de/dasparlament/2009/52/Beilage/002.html. Zugegriffen: 21. Dezember 2009 Otte, M. (2009): „Finanzplatz Deutschland“ versus deutsches Bankensystem. Zwei politökonomische Perspektiven für die Zukunft. F. Keuper, F. und Puchta, D. (Hrsg). Deutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall. Rückblick und Ausblick. Und: Die Finanzkrise und das Versagen der modernen Ökonomie. Politik und Zeitgeschichte 52/2009. Wiesbaden. Otte, M. (2010): Volks- und Raiffeisenbanken als Stabilitätsfaktor in Wirtschaftskrisen – Eine polit- und institutionenökonomische Perspektive, in ZfGG, Zeitschrift für das Gesamte Genossenschaftswesen, Band 61. Otte, M. (2010): „Eigenkapital ist der Schlüssel zu allem,“ Interview mit Dirk Müller. Deutschlandfunk. http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1139025/. Zugegriffen: 8. März 2010. Otte, M. (2010): Finanztransaktionssteuer, speziell: Belastungen von Riester- und Kleinsparern durch die Finanztransaktionssteuer. Expertise vom 16.05.2010 anlässlich der Stellungnahme vor dem Finanzausschuss des Bundestages am 17.05.2010. Otte, M. (2011): Die Finanzkrise, die Ökonomen, der „Crashprophet“ und die Wissenschaft von der Ökonomie, Kölner Vorträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2011/1. Berlin.
7 Grundlagen einer neuen Finanzmarktarchitektur 99 Otte, M. et al. (2009): Der Crash kommt, S. 43 ff. München. o. V. (2008): Bewertung: Initiative gegen die Fair Value Konzeption, in: Finanzbetrieb vom 08.12.2008, Heft 12, S. 804–804. Peemöller, V. und Schmalz, H. (2007): IFRS für kleine und mittlere Unternehmen sowie Genossenschaften, in: ZfgG 57, S. 204–221. Rehm, H. (2008): Das deutsche Bankensystem – Befund – Probleme – Perspektiven, in: Kredit und Kapital, Teil I: 41 (2008) 1, S. 135–159; Teil II: 41 (2008) 2, S. 305–331. Sinn, H. W. (2009): Kasino-Kapitalismus. Berlin. Spiegel online (2010): http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/0,1518,691852,00.html; Stiftung Warentest (2010): Banken im Test. Die Blamage geht weiter – Gesetzesverstöße sorgen für schlechte Noten. http://www.test.de/presse/pressemitteilungen/Banken-im-Test-DieBlamage-geht-weiter-Gesetzesverstoessesorgen-fuer-schlechte-Noten-4114346-4114348/ Tagesschau.de (2008): http://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltfinanzgipfel118.html Welt online (2009): https://www.welt.de/welt_print/wirtschaft/article4518287/Verbraucher zentrale-darf-Ampelcheck-wieder-nutzen.html
8 8 Für einen schlanken, starken Staat Als ich 1998 verantwortlicher Projektleiter einer Unternehmensberatung war, die zusammen mit einem internen Projektteam Vorschläge zur Reorganisation des Bundesministeriums für Wirtschaft ausarbeiten sollte, sagte mir ein alt gedienter Ministerialbeamter im Dienstzimmer Ludwig Erhards: „Früher standen die Vorstandsvorsitzenden hier Schlange, um einen Termin beim Minister zu bekommen. Heute stehen die Politiker Schlange, um nach ihrem Ausscheiden einen Job in der Wirtschaft zu bekommen.“ Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke und Ludwig Erhard hätten sicher zugestimmt, dass wir starke Ministerien brauchen, um Partikularinteressen abzuwehren und den Staat nicht zur Beute werden zu lassen. Heute, wo ganze Gesetze von der Lobby geschrieben werden, scheint dieser Kampf fast verloren gegangen zu sein. Wenn die Börse Frankfurt eine von ihr bezahlte Mitarbeiterin an das hessische Wirtschaftsministerium ausleiht und eben diese Mitarbeiterin dann in der Börsenaufsicht tätig ist, ist das grotesk. (vgl. Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger, SdK, 2008) Wenn Bankenrettungspakete entscheidend durch die Banken gestaltet werden, die vorher nach allen Maßstäben versagt haben, ist das ebenfalls grotesk. 8.1 Warum insbesondere Finanzmärkte reguliert werden müssen Wenn auch die Rettungsaktionen im Großen und Ganzen richtig waren, um einen Zusammenbruch des Systems zu vermeiden, so hätte der Staat den Banken gerade in Deutschland wesentlich höhere Kosten für seine Bürgschaften auferlegen können, wie in den USA geschehen. So wird das deutsche Programm, wie zum Beispiel im Falle der Commerzbank, zu einem öffentlich subventionierten Kapitalbeschaffungsprogramm, das 101 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_8
102 Teil 2 Die Finanzmärkte die Wettbewerbsbedingungen gegenüber den noch solide und nicht subventioniert operierenden Banken, zum Beispiel den Volks- und Raiffeisenbanken, verzerrt. Es ist an der Zeit, dass wir uns wieder auf unsere ökonomische Tradition und das Denken in Wirtschaftsordnungen zurückbesinnen. Produktion, Handel und Finanzen haben unterschiedliche Spielregeln und Gesetzmäßigkeiten. Es gilt, dies zu erkennen, genauso wie die Nationalökonomen des 18. und 19. Jahrhunderts zwischen Unternehmereinkommen (Gewinne), Kapitalbesitzereinkommen (Renten) und Arbeitseinkommen (Löhne) unterschieden haben. Dabei geht es auch um Verteilungsaspekte. Heute, wo das finanzwirtschaftliche Denken oft dominiert, wäre auch auf die Unterschiede der drei Bereiche einzugehen. Der Finanzsektor ist einer der sensibelsten Bereiche der Wirtschaftsordnung. Hier muss es zunächst um Risikovermeidung und eine solide Basis für den güterwirtschaftlichen Bereich gehen. Moderne Finanztechniken erlauben es, Risiken zu verstecken oder in die Zukunft zu verschieben und so das System mit Risiken zu belasten, die zunächst nicht erkennbar sind. Märkte sind für Bildung spekulativer Blasen anfällig, und in nicht regulierten Finanzmärkten finden Euphorie und Panik regelmäßig statt. Finanzmärkte sollten also konservativ reguliert und mit „Bremsen“ ausgestattet werden. Im Zweifelsfall sollte man der langweiligen, aber überschaubaren, risikovermeidenden und transparenten Lösung den Vorzug geben. 8.2   Elf Punkte für eine umfassende und marktkonforme Regulierung Tobin-Steuer einführen: Eine Steuer von einem Prozent auf alle internationalen Kapitaltransaktionen ist keinesfalls das sozialistische Übel, als das sie gern gebrandmarkt wird, sondern ein marktkonformer Eingriff. Diese Steuer würde auf einen Schlag viele spekulative Kapitalbewegungen unterbinden. Aber kaum eine internationale Produktionsstätte würde umgebaut bleiben, nur weil sie ein Prozent teurer wäre. Eigenkapital stärken: Zwar wurden mit dem Basel-II-Abkommen von 1992 schärfere Eigenkapitalrichtlinien geschaffen – Banken sollen acht Prozent Eigenkapital hinterlegen –, aber offensichtlich ist damit das systemische Risiko nicht berücksichtigt. Eine Eigenkapitalquote von zehn Prozent – und zwar grundsätzlich und nicht risikogewichtet wie bei Basel II – erscheint sinnvoll. Insgesamt ist Basel II zu hinterfragen. Ratings und Risikogewichtungen sind in der Theorie gut, in der Praxis führen sie zu mehr Bürokratie sowie Hemmnissen gerade für den Mittelstand. Hier wird zusätzliche Bürokratie aufgebaut, die große Unternehmen bevorzugt. Zudem wird das Risiko oftmals hinter mathematischen Modellen versteckt und ist damit weniger transparent als bei einer einfachen Eigenkapitalregel.
8       Für einen schlanken, starken Staat 103 Bilanzierungsvorschriften verschärfen: Regulierungsbehörden und Banken reagieren auf die Krise mit einer Lockerung der Bilanzierungsvorschriften. Kern des Anstoßes ist die Bilanzierung zum „fairen Wert“. In der Theorie ist dies eine gute Sache, aber die Praxis sieht anders aus. Für viele Produkte gibt es keinen Markt, dann muss der Wert durch mathematische Modelle ermittelt werden. Und diese Modelle werden oft gerade dann erhebliche Wertminderungen ausweisen, wenn sich die Wirtschaft in einem Abwärtszyklus befindet. Im Resultat handelt es sich also um eine Zyklen verstärkende Bilanzierung. Die konservative und einfache Regelung des Niederstwertprinzips des deutschen Handelsgesetzbuches (HGB), die wir mit den International Accounting Standards (IAS) zunehmend über Bord werfen, sind einen Blick wert: Hier werden Bilanzpositionen zum Anschaffungs- oder zum Marktwert bilanziert, je nachdem, welcher Wert der niedrigere ist. Somit war bei deutschen Unternehmen, die nach HGB bilanzierten, immer sichergestellt, dass Werte konservativ und vorsichtig erfasst wurden. Hedgefonds und Private Equity regulieren: Sie unterliegen keinerlei Regulierung, müssen aber zum Beispiel hinsichtlich Eigenkapitalanforderungen genauso reguliert werden wie alle anderen Anlagevehikel. Derivate für Privatanleger verbieten: Nicht alle Finanzinnovationen sind sinnvoll. Aus guten Gründen waren solche Produkte bis ungefähr 1970 für Privatanleger weitgehend verboten. Verbriefung von Hypotheken und Konsumentenschulden stark einschränken: Die amerikanische Regierung gibt die Richtung vor, indem sie verbriefte Produkte in Zukunft auf Kosten des Emittenten versichern will. Wichtig ist, dass die Versicherung das Risiko abdeckt und diese zu Marktpreisen erfolgt. Dann wird sich die Verbriefung schnell auf ein wirtschaftlich gesundes Normalmaß einpendeln. Regulierungsbehörden auf Augenhöhe mit den Banken: Es kann nicht sein, dass Länder sich einen Wettlauf um ein Minimum an Regulierung liefern und dass zum Beispiel die Depfa-Bank, die als irische Tochtergesellschaft der irischen Regulierung unterliegt, die Muttergesellschaft Hypo Real Estate in Deutschland zu Fall bringen kann. Europäische Banken agieren im gesamten Europa; ihnen stehen lediglich nationale Regulierungsbehörden gegenüber. Anstatt dass sich die Banken den kleinsten gemeinsamen Nenner aussuchen können, sollten sie internationalen Regulierungsbehörden gegenüberstehen. Rechtsfreie Räume beseitigen: Steueroasen wie die Kanalinseln, die Cayman Islands oder Liechtenstein müssen sich den Regeln der Transparenz unterwerfen. Die Realisierung wäre einfach: Jedes Bankinstitut, das dort Tochtergesellschaften unterhält, muss voll transparent sein oder bekommt im Heimatland die Lizenz entzogen.
104    Teil 2 Die Finanzmärkte Haftung für Vorstände konsequent anwenden: Die Gesetze der meisten Länder sehen Haftungsregelungen vor, die ausreichen würden, wenn man sie anwenden würde. Das ist auch im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) der Fall. Vorstände können sich derzeit sogar gegen den Tatbestand der „groben Fahrlässigkeit“ versichern. Es würde ausreichen, derartige Versicherungen zu verbieten und auch schon im Fall der einfachen Fahrlässigkeit eine erhebliche Haftung von Vorständen einzufordern. Vorstände sind Kaufleute und haben besonders sorgsam zu handeln. Vergütungssystem ändern: Es würde ausreichen, das System der Jahresboni in ein System von Belegschaftsaktien zu verwandeln, die frühestens fünf Jahre nach Ausscheiden veräußert werden können. Mit einem Schlag würden die Vorstände langfristig denken und handeln. Weniger, aber mit mehr Kompetenzen ausgestattete Beamte: Der Beamte auf Lebenszeit preußischer Prägung, der unbestechliche Staatsdiener, ist heute leider sehr selten geworden. Das liegt auch daran, dass es in Deutschland zu viele Beamte gibt. Aus meiner Praxis bei den Ministerien weiß ich, dass man deren Personal und das vieler Behörden ohne Weiteres um 50 bis 70 Prozent reduzieren könnte. Die verbliebenen Regierungsbeamten sollten aber gut bezahlte Spitzenkräfte sein, denen Nebenverdienste in der Wirtschaft verboten sein sollten – wenn sie zum Beispiel Aufsichtsratsmandate bekleiden –, und die sich auf die hoheitlichen staatlichen Aufgaben konzentrieren. Wichtig wäre, sie weniger beeinflussbar durch Lobbyisten zu machen.  Ursprünglich erschienen in Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Ludwig-Erhard-Stiftung e. V., 2008. 8.3 Literatur Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) (2008): Schwarzbuch Börse 2007. München.
9 9 Finanztransaktionssteuer Schreiben an den Finanzausschuss des Deutschen Bundestages vom 16. Mai 2010 Sehr geehrte Herren und Damen Abgeordnete, ich bin gebeten worden, die Auswirkungen der Finanztransaktionssteuer auf Riester- und Kleinsparer zu berechnen. Zusammen mit meinem Kollegen Prof. Dr. Peter Hoberg habe ich ein Modell entwickelt, mit dem sich die Belastungen bei verschiedenen Annahmen simulieren lassen. Hierzu sind folgende Voraussetzungen und Annahmen essentiell, können aber auf Nachfrage variiert werden:    Die Sparbeträge werden einmalig bei Einzahlung belastet. Das Sparvermögen im Fonds des Finanzdienstleisters wird dann belastet, wenn Fondsmanager/Finanzdienstleister umschichten. Die Steuer aus 1. fällt also nur einmalig bei Einzahlung an. Die Steuer aus 2. jährlich und zwar in Abhängigkeit davon, wie „aktiv“ die Fondsgesellschaft ist. Die Zahlen zur durchschnittlichen Kapitalumschlagshäufigkeit bei Finanzprodukten sind der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt. Die Fondsgesellschaften sprechen hierüber nicht gerne, dabei liegen diese Zahlen sehr wohl vor. Ich bin einer der Direktoren des gemeinnützigen Zentrums für Value lnvesting e. V., eines Zusammenschlusses nachhaltig investierender inhabergeführter Fondsgesellschaften und Privatinvestoren in Europa. Ich manage einen eigenen Anlagefonds. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass der überwiegende Anteil der seriös und nachhaltig investierenden Fondsgesellschaften ihr Vermögen zumeist deutlich weniger als einmal pro Jahr – vielleicht einmal alle drei Jahre – umschichtet, wobei dies sicher auch vom Stil des entsprechenden Finanzmanagers abhängt. Ich kann Ihnen viele Experten benennen, die diese Aussage stützen würden. 105 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_9
106 Teil 2 Die Finanzmärkte Die schlechten Fondsgesellschaften schichten tendenziell häufiger um, weil sich so auf Kosten des Anlegers Gebühren verdienen und Fehler verstecken lassen (,,Churning“). Es gilt die alte Anlegerweisheit: ,,Hin und Her macht Taschen leer.“ Selbst bei jährlicher Umschichtung von 100 Prozent des Fondsvermögens (ich gehe eher von 30 Prozent aus), würde eine Belastung von 0,05 Prozent p. a. anfallen. Demgegenüber liegen die Kosten für den Finanzdienstleister selber bei ca. 1,8 bis 3,0 Prozent. Also : Jährliche Belastung des Sparers durch Finanztransaktionssteuer: 0,05 Prozent Jährliche Belastung durch Kosten und Gebühren des Finanzdienstleisters: 1,80 Prozent – 3,00 Prozent Hieran lässt sich erkennen, dass die staatlichen Belastungen im Vergleich zu den privaten Belastungen und Kosten minimal sind. In unserem Modell gehen wir von folgenden Annahmen aus: Jährliche Einzahlsumme: 1200 Euro Laufzeit: 20 Jahre Rendite: 5 Prozent Unter diesen Annahmen, die sich variieren lassen, liegen die Belastungen der Einzahlungen des Kleinsparens mit Zins- und Zinseszinsen bei 20,23 Euro und die Belastungen durch Umschichtungen im Fondsvermögen bei 53,99 Euro, zusammen also bei 74,22 Euro. Hier ist der Zinseszinseffekt bereits eingerechnet. Die Belastung durch Gebühren der Finanzbranche dürfte demgegenüber bei 8000 Euro liegen, wobei es deutlich mehr und ggf. weniger sein kann. Lenkungswirkung der Finanztransaktionssteuer Die Finanztransaktionssteuer hat genau die beabsichtigte Lenkungswirkung: Sie dämpft Spekulation und behindert Geschäfte mit einem Bezug zur Realwirtschaft wenig. Hierzu ist dringend ein Missverständnis richtig zu stellen, dem ich häufig begegne: Bei jeder Umschichtung des Fondsvermögens fällt die Steuer auf das umgeschichtete Volumen an. Die FTS ist keine Gewinn- oder Ertragsteuer. Fonds, die stark gehebelt sind und ihr Vermögen häufig drehen und damit 20 oder 30 Prozent Rendite p. a. machen, können dennoch durch eine sehr kleine Steuer erheblich belastet werden (was gewünscht ist). Belastung des Gewinns eines Finanzvehikels durch FTS in Prozent p. a. B = U  FTS  Hebel, mit U = Umschlagshäufigkeit, Hebel (Leverage) = Gesamtkapital/Eigenkapital, FTS = Steuersatz
9 Finanztransaktionssteuer 107 Je mehr Umschlag, desto spekulativer. Je mehr Hebel (Leverage), desto weniger Eigenkapital, desto spekulativer. Es lässt sich auf die einfache Formel bringen: Je spekulativer ein Anlagevehikel ist, desto stärker wirkt normalerweise die Finanztransaktionssteuer. Einnahmewirkung der Finanztransaktionssteuer Die Einnahmewirkung einer Finanztransaktionssteuer ist im Gegensatz zu den hier vorgelegten sehr einfachen und klaren Rechnungen leider nur sehr schwer zu schätzen. Auf jeden Fall ist sie ein Ansatz zum Abbau der rechtlichen und faktischen Begünstigung der Spekulation zuungunsten der Realwirtschaft, schafft zusätzliche Einnahmen (Höhe ungewiss) und sorgt für mehr Steuergerechtigkeit. Die Positionen von SPD, Grünen und der Linken zu diesem Thema sind daher zu begrüßen: Die FTS kann nur sinnvoll sein. Für Rückfragen stehe ich gerne zur Verfügung. Mit freundlichen Grüßen Prof. Dr. Max Otte
10 Ethik und Marktordnung im Finanzwesen 10 Status Quo: Systemwandel und Dysfunktionalitäten Internes Diskussionspapier für die DVFA-Arbeitsgruppe „Ethik und Finanzwirtschaft“ Erhard H. Arent und Max Otte Seit Beginn der „neoliberalen Revolution“ ist ein tiefgreifender Wandel von Strukturen, Berufsethik und Prozessen im Finanz- und Bankwesen auszumachen. (vgl. Schmidt 2010) In diesem Thesenpapier für die DVFA-Arbeitsgruppe sollen wesentliche Themen aufgegriffen und mögliche Lösungswege skizziert werden. 10.1 Ideologie: Von der Marktordnung zur Marktgläubigkeit 10.1.1 Historischer Hintergrund Nach der Weltwirtschaftskrise ab 1929 hatte sich spätestens mit dem zweiten GlassSteagall-Act von 1933, der in den USA das Trennbankensystem einführte, auch in den USA die Auffassung durchgesetzt, dass Börsenwesen und Bankensystem streng geregelt sein sollte. „Banking should be boring“. Auch die Anwendung von Derivaten, die vor 1933, unter anderem im Finanzimperium Ivar Kreugers durchaus eine erste Boomphase erlebten, wurde stark eingeschränkt. Im Bank Company Holding Act von 1956 wurden die strengen Regulierungen weiter bestätigt. Sogar etliche Zinssätze, die Banken zahlen durften, waren durch Regulation Q von 1933–1986 geregelt. Das kreditorientierte Finanzsystem Deutschlands und weiter Teile Kontinentaleuropas war durch ein dezentrales Sparkassenwesen und genossenschaftlich orientiertes dezentrales Finanzsystem geprägt, bei der regionale Einlagen auch wieder regional über Kredite investiert wurden (Otte 2009). Der US-amerikanische Verfassungsrichter Louis Brandeis sprach bei Kreditgenossenschaften schon 1912 von „Banken von Menschen für Menschen“ (Brandeis 2012). In Deutschland und Kontinentaleuropa stellten sich daher 109 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_10
110 Teil 2 Die Finanzmärkte die Probleme eines Trennbankensystems nicht. Demgegenüber war das angelsächsische Finanzsystem kapitalmarktorientiert, kurzfristiger und spekulativer. Nach dem Börsenboom der 1860er und 70er Jahre und der Börsenkrise der Gründerzeit 1873 spielten Börsen in Deutschland und angrenzenden Ländern nur eine ergänzende Rolle. Die Bankkrisen der Jahre 1932 wurden durch eine nach dem Krieg zu geringe Kapitalbasis der Banken und den Abzug US-amerikanischen Kapitals ausgelöst. Seit dem „Nixon-Schock“ 1971, als die USA unilateral die Konvertibilität des Dollars in Gold aufkündigten, und dem Beginn der neoliberalen Revolution Ende der 1970er Jahre fand ein ideologischer Paradigmenwechsel statt. Anstatt das – „gefährliche“ – Börsenwesen zu regulieren, sollte nun eine weitreichende Deregulierung und Liberalisierung der Finanzmärkte die Lösung sein. Nach dem zweiten Ölschock 1979/80 und der bis 1982 anhaltenden Hochzinsphase und Rezession schien sich das Dogma der Liberalisierung auch zu bewahrheiten. In den 1990er Jahren schienen nach dem Fall des Kommunismus die Möglichkeiten ungebändigter Märkte und eines globalen Kapitalismus grenzenlos. Es waren dann ausgerechnet Regierungen von New Labour/moderner Sozialdemokratie, welche entscheidende Gesetzesvorhaben zur Deregulierung der Finanzmärkte voranbrachten. Unter Bill Clinton wurde zum Beispiel der Glass-Steagall-Act endgültig zu Grabe getragen (Gramm-Leach-Bliley Act von 1999). Die Regierung Blair erlaubte nach dem „Big Bang“ in der Londoner City von 1986 weitere Deregulierungen. Und in Deutschland erließ die Regierung Schröder-Fischer Steuerbefreiungen für den Verkauf von Beteiligungen, was die Entflechtung der Deutschland AG einleitete. Ebenso wurden zum Beispiel Dach-Hedgefonds für den öffentlichen Vertrieb zugelassen. 10.1.2 Individualismus Die Mischung von Gemeinwohl und Eigennutz in den Herrschaftsideologien der Gemeinschaften ist im Verlauf der höheren Menschheitsgeschichte ist sehr unterschiedlich gewesen. Die derzeit die Politik dominierende Ideologie betont ganz klar den Eigennutz vor dem Gemeinwohl. Das zu Beginn der Arbeitsgruppe von Julian Nida-Rümelin vorgestellte „Prisoner’s Dilemma“ ist ein gutes Beispiel. Zwei Menschen sitzen im Gefängnis, haben also offensichtlich Regeln der Gemeinschaft verletzt. Das „Verpfeifen“ des jeweils anderen wird individuell als beste Lösung angesehen, wenn es aber beide machen, dann ist es die schlechteste Lösung. Diese Basisannahmen sind, genau wie die Basisannahmen des „Homo Oeconomicus“, zumindest zu hinterfragen. Es hat in der Geschichte auch immer höchst erfolgreiche Gesellschaftsmodelle gegeben, bei denen eine starke Gemeinwohlkomponente eine Rolle spielte (Ägypten, Preußen, „alte“ Bundesrepublik). Ein angesichts der heutigen Wirtschaftsethik nahezu als Relikt anzusehender Teil einer solchen Gesellschaftsordnung sind die Eigentumsparagraphen des deutschen Grundgesetzes, zum Beispiel:
10 Ethik und Marktordnung im Finanzwesen 111 Artikel 14 (2) GG: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Dieser Artikel entspricht in keinerlei Weise mehr der gelebten Verfassungsrealität. Privateigentum, „Shareholder Value“ und Renditedenken in Finanzkennzahlen haben die Gemeinwohlorientierung und die Stakeholder-Orientierung bis auf wenige Reste verdrängt. Es gibt keine funktionierende Gemeinwohlbilanz. Zunehmend drücken die starken Akteure in der Gesellschaft den anderen die negativen externen Kosten ihrer eigenen Handlungen auf und privatisieren die Gewinne. Dieses Muster war sowohl in der Finanzkrise wie auch in der Eurokrise zu beobachten. Die Argumentation des Grundgesetzes wurde geradezu auf den Kopf gestellt und entspricht nun eher einer angelsächsischen Interpretation des Eigentumsbegriffs: „Was dem Privateigentümer nutzt, ist automatisch auch für das Gemeinwohl gut.“ Diese Lesart war offensichtlich gerade nicht der Sinn von Artikel 14 (2) GG. Philosophisch hat der absolute Individualismus seine Wurzeln im angelsächsischen Raum – John Locke, später Ludwig von Mises, Karl Popper und Friedrich August von Hayek. Heute äußert er sich in extremer Form mächtigen libertären Strömungen. Für Locke war die Aufgabe des Staates nicht, darauf zu achten, dass Eigentum dem Wohle der Allgemeinheit dient, sondern, das Eigentum zu schützen. Ein weiterer der Eigentumsparagraphen macht dies deutlich: Artikel 14 (1) GG: Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. Privateigentum ist zwar geschützt, sein Inhalt aber wird durch die Gesetze bestimmt. Ein gutes Beispiel ist die Behandlung des Eigentums am Wald in der deutschen Tradition. Der Privateigentümer zieht zwar den wirtschaftlichen Nutzen hieraus, aber das Jagdrecht ist abgespalten und wird separat verwertet und jeder kann den Wald zur Erholung nutzen, wenn er sich an bestimmte Regeln hält. In der kontinentaleuropäischen Tradition, die heute ideologisch stark auf dem Rückzug ist, war es völlig selbstverständlich, dass von Gemeinwohl und öffentlichen Gütern geredet wurde. Diese Tradition – die so unterschiedliche Vertreter wie Saint-Simeon, Rousseau, Hegel, die katholische Soziallehre, Sozialdemokratie und demokratischen Sozialismus sowie auch John Maynard Keynes beinhaltet – wird von Popper, Hayek & Co. diffamierend als „freiheitsfeindlich“ bezeichnet. Schlüsselindustrien sollten auch nach Länderverfassungen verstaatlich werden (können), bevor diese zu privaten Monopolen würden. Öffentliche Güter – Rundfunk, Polizei, Schulen, Universitäten, Gesundheit, Energieversorgung, Straßen und Infrastruktur – sollten in den Händen des Staates liegen. Teilaspekte sollten privat ausgeübt oder private Monopole wie bei den Energieversorgern streng öffentlich reguliert sein.
112 Teil 2 Die Finanzmärkte Eine Konsequenz der herrschenden Ideologie ist der Verlust der öffentlichen Güter Autobahnen, Wohnungsgenossenschaften und vieles andere werden privatisiert und in Mautgesellschaften und Renditeschleudern für renditehungrige Finanzinvestoren umfunktioniert. Dies geht soweit, dass dem Staat auch keine Möglichkeiten mehr zugebilligt werden, sich qualitätsverbessernd mit eigenen Angeboten in den Markt einzumischen. So wurde den öffentlich-rechtlichen Anstalten untersagt, die eigenen Internetinhalte dauerhaft im Internet anzubieten, da sich dies „marktverzerrend“ auswirke. Dass eine solche Marktverzerrung durch qualitativ hochwertige Angebote, die nicht dem Renditedruck unterstehen, ja gerade gewünscht ist, fällt bei dieser absurden Argumentation unter den Tisch. (vgl. auch Le Monde diplomatique 6/2009). 10.1.3 Fiktion der Gleichwertigkeit Ein Korollarium zur unbedingten Marktgläubigkeit ist die Fiktion der Gleichwertigkeit der Akteure. Hiermit ist nicht die Gleichberechtigung vor dem Gesetz gemeint, sondern die tatsächliche Abwesenheit von Informationsasymmetrien und Fähigkeiten, Informationen zu verarbeiten. Tendenziell gehen Gesetzgeber und Regulierungsbehörden heute davon aus, dass große und kleine Akteure, Privatpersonen und Unternehmen als gleichwertig zu behandeln sind. Dadurch reduziert sich die Fürsorgepflicht des Staates auf die Pflicht, umfassend zu informieren. In der Finanzwirtschaft führt dies dazu, dass tendenziell „alle Produkte für alle“ angeboten werden – Privatanleger können komplexe Derivate kaufen, wenn sie nur umfassend informiert wurden. Anstatt also Produkte zu regulieren, zuzulassen oder zu verbieten und in ihrem Anwendungskreis zu beschränken, wie es (noch) in der Medizin oder bei Waffen üblich ist, wird bei Finanzprodukten lediglich der Informationsfluss vorgeschrieben. Tendenziell führen die Informationspflichten, Produktkomplexitäten und Informationsmengen im Retail-Banking zum Information-Overload sowohl bei Beratern als auch bei Kunden. Gleichzeitig werden aber Berater massiv in die Verantwortung und bei Fehlberatung in eine verschärfte Haftung genommen, während die Produktingenieure der Zentralabteilungen weiter ihr Handwerk betreiben. Die tatsächlich vorhandenen Informationsasymmetrien und vor allem auch die unterschiedlichen Fähigkeiten, Informationen zu verarbeiten, führen dazu, dass bei tatsächlich gleicher Information aller Marktteilnehmer kleine Akteure, Berater „an der Front“ und Privatkunden im heutigen Regulierungsumfeld oft automatisch massiv benachteiligt werden, während die System- und Produktingenieure weiter ihrem Treiben nachgehen.
10 Ethik und Marktordnung im Finanzwesen 113 10.1.4 „Capturing“ von Politik und Regulierungsbehörden durch starke Akteure Die tatsächlichen Machtverhältnisse führen auch zum „Capturing“ (Kaperung) der Gesetzgebungsprozesse durch starke Akteure, wie es der ehemalige Chefvolkswirt des IWF, Simon Johnson, nannte. Noch nie wurde seitens bestimmter Teile des Finanzsektors – namentlich der Investmentbanken, Private Equity, Hedegfonds und Schattenbanken – so viel in Lobbyismus investiert wie nach der Finanzkrise. Im US-Kongress kommen vier Lobbyisten der Finanzwirtschaft auf einen Kongressabgeordneten, in Brüssel befassen sich schätzungsweise mehr als 60 Lobbyorganisationen mit der Förderung der Interessen der Finanzmarktakteure. Die Prozesse in Brüssel sind dabei besonders bedenklich, da die Anhörungen der Fachgruppen hinter verschlossenen Türen stattfinden. 10.1.5 Markt- und Modellgläubigkeit und Herrschaft der Ökonomen Unterfüttert wird die herrschende Ideologie der unbedingten Marktgläubigkeit durch Heerscharen von in Partialmodellen ausgebildeten mathematisch orientierten Ökonomen ohne breite institutionelle und historische Ausbildung. (vgl. Peukert 2010) Letztlich basieren fast alle diese Modelle auf neoklassischen Annahmen von Marktgleichgewichten oder zumindest einer Tendenz zu Marktgleichgewichten. Durch immer feinere Partialmodelle lässt sich fast alles „rechnen“ und argumentieren, sodass jede wirtschaftspolitische Maßnahme oder Unterlassung einer solchen ihre Rechtfertigung finden wird. (vgl. Otte 2009; Peukert 2010) Dies fördert zwei Tendenzen:   Zum einen werden die herrschende Orthodoxie und bestehende Herrschaftsstrukturen gestützt, weil mächtige Akteure durch Lobbygelder und Forschungsprojekte in opportune Zwecke gesteckt werden können. Zum anderen fehlt der modelltheoretischen Ökonomie zunehmend der kritische Blick aus der Distanz auf die Totale und die Veränderungen in der Gesellschaft. Soziologisch-historisch und wirtschaftspolitisch ausgerichtete Ökonomen (Sombart, Keynes, Röpke, Rüstow) hatten diese noch. Auf einer Diskussionsveranstaltung der Universität Graz zwischen orthodoxen und heterodoxen Ökonomen hörte einer der Verfasser die Aussage eines orthodoxen Ökonomen, dass man mittlerweile recht genau wisse, wie Regeln funktionieren. Die Ökonomie könne aber wenig darüber aussagen, wie Regeln gemacht werden. Genau hierum sollte es aber bei der Marktordnung gehen. Allerdings scheinen moderne Medien und Wirtschaft zunehmend darauf ausgerichtet, sich den „Homo Oeconomicus“ zu schaffen, selbst dort, wo er eigentlich keine Rolle spielen sollte (Schirrmacher 2012).
114 10.2 Teil 2 Die Finanzmärkte Ethik 10.2.1 Von der Verantwortungsethik zur Erfolgsethik („Greed is good“) Der kategorische Imperativ Immanuel Kants „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“, wird im Wirtschaftsleben insgesamt zunehmend durch eine weit verbreitete Erfolgsethik verdrängt, in welcher der Zweck die Mittel legitimiert und finanzieller Erfolg seine eigene Rechtfertigung in sich trägt. Hier besteht klar eine Unvereinbarkeit mit den Forderungen des kategorischen Imperativs: „Der kategorische Imperativ gebietet allen endlichen vernunftbegabten Wesen und damit allen Menschen, ihre Handlungen darauf zu prüfen, ob sie einer für alle, jederzeit und ohne Ausnahme geltenden Maxime folgen und ob dabei das Recht aller betroffenen Menschen, auch als Selbstzweck, also nicht als bloßes Mittel zu einem anderen Zweck behandelt zu werden, berücksichtigt wird.“ (wikipedia) Mittlerweile scheint die hemmungslose Erfolgsethik zum tatsächlichen Leitbild in weiten Teilen der Finanzwirtschaft geworden zu sein. Michael Douglas erzählt, dass er noch heute auf seine Rolle des Gordon Gekko im Film Wall Street angesprochen wird und dass viele Investmentbanker ihm sagen, dass er der Grund dafür gewesen sei, dass sie diesen Beruf ausgewählt hätten. Gelegentlich antwortet er dann nach eigener Aussage: „Habt ihr schon einmal darüber nachgedacht, dass Gordon Gekko eigentlich der Bösewicht im Film war?“ (Otte 2006). 10.2.2 Von Vertrauens- zu Misstrauenskultur (Fiktion der Schuld) Vertrauen schafft Sozialkapital. Wenn allerdings vom Prisoner’s Dilemma als der Grundform menschlichen Verhaltens ausgegangen wird, dann ist dies die Basis einer Misstrauenskultur. Man könnte das im normalen Geschäftsleben auch mit „selber Schuld“ umschreiben. Dabei gehen alle davon aus, dass der jeweilige Geschäftspartner seinen Vorteil mit lauteren, grenzwertigen und teilweise auch unlauteren Mitteln verfolgt und dass immer genau geprüft werden muss. Genau dies war nicht die Basis der kontinentaleuropäischen Wirtschaftskultur mit ihrer Unterscheidung von Privatpersonen, die am Wirtschaftsleben teilnehmen, und Vollkaufleuten. Im „alten“ System war ein gewisses Basisvertrauen gegeben, dass die andere Seite Vorteile nicht unlauter ausnutzen würde. Aber schon der Begriff der Lauterkeit ist im Verschwinden begriffen, sodass die jüngere Generation oftmals hiermit gar nichts mehr anzufangen weiß. Eine weitere Begleiterscheinung der Misstrauenskultur ist die Tatsache, dass bei Geschäftsversagen immer häufiger nach einem straf- oder zivilrechtlich Haftenden und „Schuldigen“ gesucht wird. Finanzberater werden kriminalisiert. Gerade an den Börsen
10 Ethik und Marktordnung im Finanzwesen 115 ist aber oftmals nur der Tatbestand der Fehleinschätzung gegeben, der zwar ökonomische, aber keine strafrechtlichen Konsequenzen haben sollte. 10.2.3 Ausdünnung der Währung „Reputation“ Erhard Arent weist darauf hin, dass in Zeiten der alten Handels- und Finanzkultur Händler für immer „abgemeldet“ waren, wenn es ihnen nachgewiesen werden konnte, dass sie offensichtlich betrogen hatten. Der Ehrenkodex war sehr streng. Fehler wurden durch „Gentlemen Agreements“ zwischen den Parteien halbwegs fair behoben, wobei klar war, dass dies ein Spiel mit vielen Runden war, dass also auch die Reputation in der Zukunft zählt. Heute wird der „Schuldige“ gesucht, wenn Fehler passieren. Ansonsten ist alles erlaubt. Vorteilsnahme jetzt – auch grenzwertige oder grenzüberschreitende – führt nicht zur Stigmatisierung der Akteure. Diese können weiter ihr Geschäft betreiben. So gab es nach Arent in den 1990er und 2000er Jahren Horden von Söldnern, die durch die Institutionen zogen, dort „verbrannte Erde“ hinterließen und sofort woanders weitermachen konnten. 10.2.4 Anonymisierung: Von „clubartigen“ zu anonymen Strukturen Der Trend der Ausdünnung der Währung „Reputation“ und der Vertrauenskultur wird durch die Entwicklung von anonymen Handelssystemen befördert, bei denen sich die Akteure nicht mehr kennen. Wenn man mit einem anonymen Computer handelt, ist er schwerer, Vertrauen aufzubauen. 10.2.5 Vergütungssysteme In den letzten Jahren sind auch die Vergütungssysteme immer weiter aus dem Ruder gelaufen und sind oftmals in unverantwortlichem und kurzfristigem Handeln gemündet. In einem Papier des Wittenberg-Zentrums für Globale Ethik (www.wzge.de), an dem Erhard Arent mitgewirkt hat und das von der Commerzbank AG, Deutsche Bank AG, DZ Bank AG, HSBC Trinkaus & Burkhardt AG und der Hypo Vereinsbank im Juli 2013 unterzeichnet wurde, wird festgestellt:   Eine ethische Fundierung von Managementvergütungen entwickelt sich zu einem unverzichtbaren Faktor für eine nachhaltig erfolgreiche Kreditwirtschaft. Verantwortliche Führung heißt im Kern, Entscheidungen und Handlungen unter den Prämissen eines gemeinsamen ethischen Grundverständnisses einerseits und den globalen Handlungsbedingungen anderseits abzuleiten und zu begründen.
116  Teil 2 Die Finanzmärkte Die Einführung einer ethischen Dimension bei der Vergütung sollte dem in der Öffentlichkeit erhobenen Anspruch auf Erklärung des eigenen Leistungsverständnisses nachkommen. Die Zustimmung der Gesellschaft setzt voraus, dass von der Vergütung keine Anreize zu einer Gewinnerzielung zum Schaden der Gemeinschaft ausgehen. Führungsverantwortung in Unternehmen heißt heute, sich über den unmittelbaren Unternehmensfokus hinaus in gesellschaftliche Diskurse einzubringen. Denn die großen gesellschaftlichen Herausforderungen werden nur gemeinsam, das heißt im Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft und zivilgesellschaftlichen Organisationen, lösen lassen. So besteht auch eine äußere Erwartungshaltung gegenüber den Unternehmen und ihren Entscheidern, sich konstruktiv zu beteiligen. Ein wesentliches Merkmal verantwortlicher Führung ist daher die Bereitschaft und Fähigkeit, Entscheidungen im Lichte von Werten und Fakten zu reflektieren, zu treffen und gegenüber anderen zu begründen. Dialogfähigkeit meint auch, sich mit den externen Erwartungen auseinanderzusetzen und auch dann Stellung zu nehmen, wenn jene Erwartungen mitunter auch überzogen sind. Die Umsetzung einer ethischen Fundierung der Managementvergütung in Verträgen, Zielvereinbarungen, Leistungsbeurteilungen wie auch institutsindividuellen Managementvergütungssystemen ist Aufgabe der zuständigen Leitungs- und Aufsichtsgremien. 10.3 Regulierung I: Von Eigenverantwortung zu Bürokratismus 10.3.1 Ausdünnung von Eigenkapitalquoten und Erhöhung des Leverage In den letzten Jahrzehnten hat es die Finanzbranche geschafft, systematisch ihre eigene Eigenkapitalbasis abzubauen und das Leverage zu erhöhen. Noch in den 1970er Jahren durften sich Banken in England maximal 13-fach hebeln, was ca. einer 7,6-prozentigen Eigenkapitalquote bezogen auf die Bilanzsumme entsprach. Heute gibt es etliche große Akteure, die bezogen auf dieses Kriterium unter drei und sogar zwei Prozent liegen, also 30- bis 50-fach gehebelt sind. Im Schattensektor und bei Hedgefonds sind noch höhere Hebel möglich. Dazu beigetragen haben die komplexen und manipulierbaren Regeln nach Basel II und Basel III. Eigenkapital ist (ökonomische) Haftungsbasis und Sicherheitspuffer im System. Bei ausreichendem Eigenkapital und strikter Haftung sind viele Regeln nicht notwendig, da Fehler durch das Haftungskapital ausgeglichen werden und die Akteure ein großes Interesse an soliden Geschäften haben.
10 Ethik und Marktordnung im Finanzwesen 117 10.3.2 Bürokratisierung und Planwirtschaft Wenn der kategorische Imperativ und Eigenverantwortung im Sinne des kategorischen Imperativs nicht mehr Basis des Handelns sind, sondern eine Erfolgsethik – auch auf Kosten anderer und des Systems – die unausgesprochene und teilweise auch offen bekannte Grundlage darstellt, müssen Handlungen durch scharfe Regeln geleitet werden. Verschärft wird dieser Zwang durch die Aushöhlung der Eigenkapitalbasis und die „Kaperung“ (Simon Johnson) der Regulierungsbehörden zu diesem Zweck durch die Finanzmarktakteure. Detaillierte Regelungen mit teilweise drakonischen Strafen bei fehlender (materieller) Eigenverantwortung waren auch Züge des „real existierenden Sozialismus“. Unser heutiges System weist damit viele Züge einer sozialistischen Planwirtschaft auf. 10.3.3 Förderung von Komplexität und Großstrukturen statt Komplexitätsreduktion Gute Regeln und Gesetze sind möglichst einfach. In der Finanzbranche beobachten wir das Gegenteil. Dodd-Frank ist extrem komplex. Lobbygruppen haben es geschafft, dass für sehr viele Fälle Sonderregelungen eingeführt wurden und dass viele Gesetzesvorhaben schon in der politischen Phase massiv ausgehöhlt werden (zum Beispiel VolckerRule, Finanztransaktionssteuer). Die Kaperung der Politik durch die starken Akteure hat auch dazu geführt, dass von der Forderung, Größenbeschränkungen für Finanzmarktakteure einzuführen, im Jahr sechs der Finanzkrise nicht mehr viel übrig ist. Die berechtigte Forderung hat sich grotesker (aber vielleicht zu erwartender) Weise in ihr Gegenteil verkehrt: die Finanzmarktakteure werden immer größer. JP Morgan schluckt die Bank of America, die Deutsche Bank übernimmt die Postbank. Die großen Akteure haben sich so vernetzt, dass die Politik nahezu machtlos ist. Paul Volcker, von einem der Verfasser befragt, sprach sich für eine Größenbegrenzung und Entflechtung bei den Großbanken aus, sagte aber gleichzeitig, dass ihm die Vorstellungskraft fehle, wie man zum Beispiel JP Morgan entflechten könne. Große Finanzmarktakteure haben eher die Ressourcen, mit komplexen Regelwerken umgehen zu können, da hier ein erheblicher Fixkostenaufwand notwendig ist. Gleichzeitig belasten diese Regeln die kleineren, noch eigenverantwortlich agierenden Akteure. Mittelstandskredite durch Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken unterliegen einem ähnlich hohen Complianceinstrumentarium wie viele Großkredite. Das erhöht den Fixkostenaufwand je Kredit massiv. Wir betreiben diesbezüglich (wie in vielen anderen Fällen) eine aktive Anti-Mittelstandspolitik. Hinzu kommt, dass die Eigenkapitalausstattung der Sparkassen, Volksund Raiffeisenbanken in den meisten Fällen deutlich höher ist als die der Großbanken, wir also diese Institute eigentlich mit gutem Gewissen entlasten könnten.
118 Teil 2 Die Finanzmärkte 10.3.4 Manipulierbarkeit von Regeln Komplexität erhöht auch die Manipulierbarkeit von Regelwerken. Durch komplexe Regelungen lassen sich oftmals Ausnahmetatbestände oder Widersprüche im Gesetz finden. Ebenso lassen sich viele Regelungen nicht detailliert einhalten oder werden durch bürokratische Pro-forma-Regelungen erfüllt (Max Otte erlebt dies im Bereich Asset Management). Auch dies fördert die Intransparenz des Finanzwesens und die weitere Entmachtung der politischen Kontrolle sowie das Entstehen von Großstrukturen. 10.3.5 Derivate Während das normale Bank- und Kapitalmarktgeschäft zunehmend bürokratisiert wird, entstehen gleichzeitig hoch dynamische und auch gefährliche Produktklassen wie zum Beispiel Derivate, die nur formal aber wenig materiell reguliert werden. Die weitgehende Zulassung von Derivaten (die nach 1929 in den USA zu Recht stark eingeschränkt wurde) fördert Intransparenz, die Verschiebung und Vermeidung von Haftung und die Ausdünnung der Eigenkapitaldecke (siehe durch Goldmann-Sachs-Derivate geförderte Erschleichung des Euro-Beitrittsstatus von Griechenland). Derivate sollten an zugrundeliegende Realtransaktionen gebunden sein und ebenfalls wie Futures Eigenkapitalvorschriften und Nachschusspflichten enthalten. 10.3.6 Computertrading Selbst toxische Geschäftsmodelle wie Computertrading mit offensichtlich schädlichem Charakter werden auch von den großen Finanzmarktakteuren betrieben. Bei vielen dieser Geschäftsmodelle handelt es sich lediglich um Ausnutzung von physikalischen Gegebenheiten (Laufzeit der Orders), mit denen Wert von Käufern und Verkäufern an der Börse risikofrei abgeschöpft werden kann. Goldmann Sachs verdient Schätzungen zufolge ca. 20 Millionen Dollar pro Tag mit derlei risikolosen Geschäften. 10.4 Regulierung II: Vom kreditorientierten (kontinentaleuropäischen) zum kapitalmarktorientierten (angelsächsischen) System Letztlich muss auch konstatiert werden, dass derzeit der über 100 Jahre alte Systemkonflikt zwischen dem vertrauensbasierten, kreditmarktorientierten kontinentaleuropäischen Finanzsystem und dem kapitalmarktbasierten angelsächsischen Finanzsystem in die letzte Phase geht (Otte 2009).
10 Ethik und Marktordnung im Finanzwesen 119 Beide Finanzsysteme stellen komplette „Betriebssysteme“ dar, die auf ihre Art funktionieren. Es geht hier letztlich um die Definitionsmacht für das Betriebssystem und einen Verdrängungswettbewerb. Kreditorientiertes System:        Dauerhaftigkeit, Langfristigkeit Vertrauen, „ehrlicher Kaufmann“ gegenseitige Verantwortung dezentral, regional (zumindest in D/AU/CH) Sicherheit, Risikobegrenzung angemessene Rendite fair Kapitalmarktorientiertes System:      schnell, dynamisch Misstrauen (der Klügere verdient auf Kosten des Dümmeren) maximale Rendite „Winner-takes-all“ Risiko Zumindest einer der Verfasser dieses Diskussionspapiers (Max Otte) bedauert sehr, dass die Politik in Kontinentaleuropa sich nicht dazu durchringen kann, das sehr erfolgreiche deutsch-österreichisch-schweizerische Modell aktiver zu verteidigen. 10.4.1 Fristigkeit, Accounting Durch die Einführung von IAS/IFRS wurde die Rechnungslegung von sicherheitsorientiert auf „Fair Value“ und damit vom den Anforderungen eines kreditbasierten Systems auf ein kapitalmarktorientiertes System umgestellt. Einer der Verfasser dieses Diskussionspapiers (Max Otte) war entschiedener Befürworter von IAS/IFRS und ist mittlerweile Mitglied der Initiative gegen Fair Value und für das Niederstwertprinzip des emeritierten Saarbrücker Professors für Rechnungslegung, Hartmut Bieg. Beide Verfasser (Erhard Arent und Max Otte) sehen die aktuellen Vorschriften für die Rechnungslegung sehr kritisch. Es zeigt sich, dass IAS eine Vielzahl von Problemen aufwirft:     Manipulierbarkeit der Bilanzen, insbesondere bei Einsatz langlaufender Derivate Prozyklizität der Rechnungslegung, Zuschreibungen im Boom, Abschreibungen in der Krise Verhinderung von stillen Reserven, Kapitalausdünnung Kurzfristigkeit des Managements
120 Teil 2 Die Finanzmärkte 10.4.2 Regeln, welche Kapitalmarktakteure gegenüber dem Kreditmarkt und Kapitalsammelstellen bevorzugen (Basel II, III), Solvency Neben der Umstellung der Rechnungslegung werden derzeit die Regeln so umgebaut, dass Kapitalsammelstellen wie Versicherungen, „normale“ Anlagefonds und Kreditbanken massiv gegenüber den Kapitalmarktsammelstellen benachteiligt werden. Langfristige Kredite und langfristige Anlagen in Fonds werden wie kurzfristige spekulative Anlagen behandelt. Kreditgewährende Banken müssen auch für Kleinkredite viel Eigenkapital und ein massives Complianceinstrumentarium vorhalten. Kapitalsammelstellen wie Versicherungen, die Geld langfristig anlegen, werden über die Solvency-Vorschriften gezwungen, Geld möglichst volatilitätsarm, damit aber auch mit derzeit extrem geringen Renditen anzulegen („Financial Repression“). Damit werden Institutionen, die eigentlich durch langfristige Investments verstetigend auf den Konjunkturzyklus wirken sollten (Beispiel hierfür: Berkshire), in ein sehr kurzfristiges Schema gepresst und vieler ihrer Ertragsmöglichkeiten beraubt. 10.4.3 Ratingagenturen Ratingagenturen sind Elemente einer zentralistischen planwirtschaftlichen Ordnung und systemfremde Elemente im dezentralen kreditmarktbasierten kontinentaleuropäischen System. Sie entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA aufgrund der fehlenden Rechtssicherheit und Rückständigkeit der amerikanischen Kreditwirtschaft. In Europa waren sie aufgrund wesentlich höherer Rechtsstandards und einer wesentlich geringeren Anzahl von Betrugsfällen – die in den USA häufig waren – nicht notwendig. Heute führen die Ratingagenturen dazu, dass Eigenkapitalvorschriften ausgehöhlt und manipuliert werden. Zudem wird die Verantwortung von den Banken und Finanzmarktakteuren auf die Agenturen abgewälzt, die im Zweifelsfall für die verursachten Schäden gar nicht haften können. Zudem verhalten sich auch die Ratingagenturen als typische Bürokratien prozyklisch: In Krisen werden regelmäßig Akteure herabgestuft, was die Krise verschärft, in Boomzeiten werden bessere Ratings vergeben, was den Aufschwung ungesund verlängert. Das Kartell der Ratingagenturen und der Staaten führt dazu, dass viele Staaten ein wesentlich besseres Rating erhalten als gerechtfertigt wäre. In der jetzigen Weltlage kann man kaum noch einen Staat als AAA-Schuldner bezeichnen. Dennoch wird dieses Rating noch vielfach vergeben, um den Kreditfluss aufrechtzuerhalten. An der Objektivität der (angelsächsischen) Ratingagenturen gegenüber kontinentaleuropäischen Staaten sind zumindest große Zweifel angebracht. Es ist fraglich, ob die maroden Wirtschaften Englands und der USA wirklich Bestnoten verdient haben, während viele europäische Staaten in einen Abstufungssog hineingeraten.
10 Ethik und Marktordnung im Finanzwesen 121 10.4.4 Zinspolitik und bedenkliche Interventionen der Notenbanken Seit etlichen Jahren verfolgen die Notenbanken eine Politik des leichten Geldes und der „Financial Repression“. Damit wird langfristige Kapitalakkumulation durch Sparer und Versicherungen erschwert. Die oben genannten Gruppen werden schleichend enteignet, während Geld bewusst von den Kredit- auf die Kapitalmärkte umgelenkt wird. Anleger, die noch Renditen erzielen wollen, werden gezwungen, zu spekulieren. Es sollte nach Ansicht der Verfasser auch transparente Produkte geben, welche den Sparern ohne Risiko eine zumindest kleine Rendite versprechen. Dies ist nicht der Fall, obwohl Kapital knapp ist – ein klarer Fall des Versagens der Marktordnungspolitik.
11 Das deutsche Bankwesen 11  Gewidmet Hannes Rehm, der dem Ruf der Pflicht folgte und sich mit der Leitung des SoFFin einer Aufgabe gestellt hat, für die wenig Dank zu erwarten und die fast unmöglich zu erfüllen ist sowie den Führungskräften, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Sparkassen, Genossenschafts-, Raiffeisen- und Sparda-Banken, wo überwiegend noch die Auffassung vertreten wird, dass die „volkswirtschaftliche Funktion eines Bankenapparates im Kern eine dienende für die Realwirtschaft“, Rehm (2008), S. 321, sein sollte. 11.1 Einleitung Seit gut einem Jahrzehnt ist es in Mode, vom „Finanzplatz Deutschland“ zu sprechen, so, wie über einen „Finanzplatz London“ oder einen „Finanzplatz New York“ gesprochen wird. Benutzer dieses Begriffs wollen damit meistens den Aspekt der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Finanzwesens auf den internationalen Kapitalmärkten hervorheben, bzw. betonen, dass diese gestärkt werden müsse. Allerdings impliziert der Begriff „Finanzplatz“ einen gedachten Marktplatz, der dem vielgliedrigen und komplexen deutschen Banksystem sowie den Anforderungen der industriellen und postindustriellen Gesellschaft nur unzureichend gerecht wird. Während man das englische Bankwesen schon 1900 weitgehend mit dem „Finanzplatz“ London gleichsetzen konnte, war das deutsche Finanzsystem bei einer von Anfang an führenden Rolle Frankfurts immer auf mehrere Finanzplätze verteilt und zudem institutionell wesentlich stärker differenziert. Außerdem vernachlässigt der Begriff „Finanzplatz“ die wichtigste Aufgabe des Finanz- 123 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_11
124 Teil 2 Die Finanzmärkte systems: die Versorgung der heimischen Wirtschaft mit Kapital in Form von Eigenkapital und Krediten. Ich nutze daher weiter den Begriff „deutsches Bankensystem“. Den größten Teil des 19. und 20. Jahrhunderts funktionierte das deutsche Bank- und Finanzsystem fundamental unterschiedlich vom denjenigen „älterer“ Industrie- und Handelsnationen, wie zum Beispiel Englands, Hollands oder Frankreichs. Hier gab es die Universalbanken mit großer Wertschöpfungstiefe und -breite, eine starke Konzentration im Bankwesen, und die Finanzierung von Industrie und Handel durch langfristige Kredite oder sogar Beteiligungen der Banken an Unternehmen, dort ein kapitalmarktbasiertes System mit kleineren Spezialbanken, kurzfristigen Spezialkrediten und die Finanzierung von Industrie und Handel durch Aktienemissionen und Anleihen. Der Wirtschaftshistoriker Alexander Gerschenkron entwickelte in den 1960er Jahren des vorigen Jahrhunderts die These, dass Länder, in denen die industrielle Revolution später stattfand, die Formation von Kapital nicht so sehr über die Kapitalmärkte, als vielmehr über ein korporatistisches System von Finanzinstitutionen bewerkstelligten, die dafür sorgten, dass ausreichend Kapital für einen „Industrialisierungsspurt“ gesammelt wurde. (vgl. Gerschenkron 1964) Insofern würden große Banken einen weitreichenden Einfluss auf die Wirtschaft erhalten. Im Jahr 1918 urteilte der französische Ökonom Henri Hauser der Universität Dijon in seinem Buch „Les méthodes allemandes d’expansion économique“ wie folgt: „Deutsche Banken sind zur selben Zeit Einlagenbanken, Kreditbanken und Finanzierungsunternehmen. […] die deutschen Banken entstanden spät, nach 1848 […] in England, in Frankreich, in den alten kapitalistischen Ländern fand die Industrie eine große Menge brach liegenden Kapitals, das nur darauf wartete, investiert zu werden. […] Deutschlands industrielle Revolution ging schneller vonstatten als die Formation von Kapital.“ (vgl. Hauser 1918) Als Folge dieser Notwendigkeit entstanden große und mächtige Banken, die zum Teil bis heute die deutsche Bankenlandschaft prägen – allen voran die im Jahr 1870 gegründete Deutsche Bank. Gerschenkrons These muss dennoch relativiert werden. Zwar findet sich auch im Japan der MEIJI-Zeit sich ein eng verwobenes System von Großbanken, Unternehmensgruppen („keiretsu“) und Kartellen, aber die Industrialisierung in den USA – ebenfalls einer spät industrialisierten Nation – kam weitgehend ohne mächtige Banken aus. Bis heute hat sich das Trennbankensystem und die Kapitalmarktorientierung in den angelsächsischen Ländern im Prinzip gehalten, während in Deutschland die Universalbanken bzw. die Kreditmarktorientierung in ihren Grundzügen in vielen Fällen bestehen blieben, zumindest bis Mitte der 1990er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Seit Beginn der neoliberalen Revolution Anfang der 1980er Jahre des letzten Jahrhunderts befinden sich das internationale und damit auch das deutsche Bankwesen im raschen Wandel. Die Kapitalmarktorientierung der Banken (und auch der Großunternehmen, die eigene Corporate-Finance-Abteilungen unterhalten) nimmt rasch zu und die Konzentration des Bankwesens setzt sich fort. Das Hausbankensystem ist auf dem Rückzug, zunächst bei den Großunternehmen, mit Basel II allerdings auch zunehmend im Mittelstand, wo die Hausbank meistens auch die Hauptfinanzierungsquelle war.
11 Das deutsche Bankwesen 125 Investmentbanking-Geschäfte wurden früher oftmals in den Führungsetagen der Banken ausgehandelt und nicht über die Kapitalmärkte abgewickelt. Jetzt wurde das Investmentbanking zu einem eigenen und stilbildenden Geschäftsmodell. Seit den 1970er Jahren wird Deutschland als reife Industrienation zunehmend zum Kapitalexporteur. Durch denselben Prozess wird auch das Asset Management für deutsche private und institutionelle Investoren immer wichtiger. Deutschland ist derzeit nach Japan der zweitgrößte Kapitalexporteur der Welt. Im Jahr 2007 wurden zum Beispiel allein 170 Milliarden Euro exportiert, das sind 6,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. (vgl. Statistisches Bundesamt 2008) Deutschland befindet sich damit in der Lage Englands in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in dem London der Sammelplatz für Kapitalexporte in alle Welt war, weil die heimische Ersparnisbildung in der „reifen“ englischen Wirtschaft nicht komplett reinvestiert werden konnte. Der „Finanzplatz Deutschland“ hat sich seit 1986 rasch gewandelt. Die Veränderung fand allerdings oft als bloße Anpassung an angelsächsische Strukturen statt, ohne dass auf hoher und höchster politischer Ebene über sinnvolle Finanzstrukturen für ein Kapitalexportland mit einer zudem stark alternden und schrumpfenden Bevölkerung nachgedacht wurde. Unser Bankensystem stellt sich somit als ein eklektischer Mix aus deutschen Strukturen (die oft unberechtigterweise für „unmodern“ stehen) und angelsächsischen Strukturen (die oftmals genauso unreflektiert als „Lösung“ gesehen werden). Dieser Aufsatz bietet einen kurzen Abriss der Entstehung und des Wandels im deutschen Bankwesen und stellt einige Reformperspektiven für das 21. Jahrhundert vor. 11.2 Das dreigliedrige deutsche Banken- und Finanzsystem: Eine kurze Geschichte Die Grundzüge des deutschen Banksystems, die sich größtenteils bis in das 21. Jahrhundert gehalten haben, entstanden zum großen Teil zwischen 1850 und 1900. Während der Industrialisierungsprozess beim Vorreiter England bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzte, begann er im Gebiet Deutschlands so richtig erst mehr als ein halbes Jahrhundert später mit der Gründung des Zollvereins 1833. Die deutschen Finanzzentren Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, München, Augsburg, Breslau, Elberfeld und Stuttgart waren durch Privatbankiers geprägt, die vor allem das Wechselgeschäft, das Geschäft mit Staatsanleihen und das „Merchant Banking“ (eine Bank kombiniert mit einem Warenhaus) betrieben. (vgl. Wandel 1998) Bis zum Jahr 1840 gab es in Deutschland nur ganz wenige Aktienbanken, die zudem von den privaten Konkurrenten und vom Staat mit Skepsis betrachtet wurden, weil man zu große Emissionsgewinne und ein Anheizen der Börsenspekulation befürchtete. (vgl. Wandel 1998, S. 2 f.) Im 19. Jahrhundert entwickelte sich in Deutschland das auf den drei Säulen der Genossenschaftsbanken, der Sparkassen und der Privatbanken beruhende Finanzsystem, welches bis heute Bestand hat. Ende 2007 zählte die Deutsche Bundesbank 2.277 Institu-
126 Teil 2 Die Finanzmärkte te mit 38.840 Zweigstellen, darunter 446 Sparkassen und zwölf Landesbanken, 1234 Kreditgenossenschaften und zwei genossenschaftliche Zentralinstitute sowie 260 Privatbanken, darunter fünf Großbanken. (vgl. Deutsche Bundesbank 2008) Sparkassen: Noch im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, also noch vor dem Beginn der industriellen Revolution, wurden in Deutschland beginnend mit der „Ersparungskasse“ 1778 in Hamburg die ersten Sparkassen gegründet. Zumeist waren private Vereine oder Stiftungen die Träger. Im Jahr 1801 wurde die erste kommunale Sparkasse in Göttingen gegründet. Nach den napoleonischen Kriegen entstanden ab 1815 über 150 Sparkassen, die vor allem Staats- und Kommunalkredite vergaben. Mit dem preußischen Sparkassenreglement von 1838 gab es zum ersten Mal feste Vorschriften zum Beispiel über Organisation, Satzung, Geschäftsbetrieb, Verwendung von Überschüssen. Ab 1840 entstanden die ersten Kreissparkassen, zwischen 1840 und 1860 wurden über 800 Sparkassen eröffnet. Im Jahr 1884 wurde der erste Sparkassenverband gegründet. Mit dem Scheckgesetz von 1908 erhielten die Sparkassen die passive Scheckfähigkeit und wurden schrittweise zu Universalkreditinstituten. Die erste Girozentrale entstand 1908 in Sachsen, die meisten anderen bis 1914. Durch ihre hohe Filialdichte waren die Sparkassen wie keine andere Bankform dazu geeignet, die Entwicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs voranzutreiben und Bankier der Wahl für Bürger, Handwerker und Mittelstand zu werden. In vielen Fällen waren die Sparkassen die Hausbanken für die Handwerksbetriebe und den Mittelstand. Durch langjährige Kundenbeziehungen konnte die Kreditvergabe oftmals schnell und flexibel erfolgen. Der bargeldlose Zahlungsverkehr mit Lastschriften und Abbuchungen stellte im Verlauf des 20. Jahrhunderts einen großen Effizienzvorteil des deutschen Wirtschaftssystems gegenüber dem angelsächsischen System, insbesondere den USA, dar, wo zum Teil bis heute Mieten und Versorgerrechnungen mit dem Versand von Schecks bezahlt werden. Mit 446 Instituten und 19.932 Zweigstellen sind die Sparkassen auch heute noch der wichtigste Akteur im Bankwesen für die Bundesbürgerinnen und -bürger. Im Jahr 2007 betrug die Bilanzsumme der Sparkassen-Finanzgruppe (ohne Landesbanken) rund eine Billion Euro. (vgl. Deutscher Sparkassen- und Giroverband 2009a) Genossenschaftsbanken: Die ersten Genossenschaften entstanden Anfang des 19. Jahrhunderts aus der Idee der Selbsthilfe freier Bürger heraus. Während Hermann SchulzeDelitzsch sich dabei vor allem auf die Handwerker konzentrierte, lag der Schwerpunkt der Bemühungen von Friedrich Wilhelm Raiffeisen auf den Bauern. Der heute nicht mehr so bekannte Viktor Aimé Huber wollte auch Fabrikarbeiter in die genossenschaftliche Idee einbeziehen. 1850 gründete Hermann Schulze-Delitzsch in Leipzig mit dem „Vorschußverein“ die erste Kreditgenossenschaft. Bis zum preußischen Genossenschaftsgesetz von 1867 hafteten die Mitglieder mit ihrem gesamten Vermögen wie bei einer offenen Handelsgesellschaft, danach in Höhe der angesammelten Mitgliedsbeiträge. 1887 wurde auch ein
11 Das deutsche Bankwesen 127 Reichsgenossenschaftsgesetz beschlossen. Bereits 1864 wurde in Berlin die Deutsche Genossenschaftsbank als Zentralinstitut gegründet. Nach 1870 drifteten die Handwerksgenossenschaften und die landwirtschaftlich orientierten Raiffeisen-Genossenschaften auseinander, näherten sich jedoch ab 1890 einander wieder an. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es in Deutschland rund 17.000 Kreditgenossenschaften, fast in jedem Dorf eine. Diese auf Solidarität und bürgerlicher Selbstorganisation beruhende Finanzierungsstruktur für das Handwerk, die Landwirtschaft und den industriellen Mittelstand durch Kreditgenossenschaften und Sparkassen war eine der großen Stärken des deutschen Finanzsystems. Demgegenüber mutet das Bankwesen der Vereinigten Staaten im 19. und teilweise auch im 20. Jahrhundert fast vorsintflutlich an: Vor Beginn der Großen Depression gab es in den USA im Jahr 1929 noch 24.633 Banken, viele davon nicht mehr als ein kleines Gebäude zur Ein- und Auszahlung von Geld. (vgl. The United State Bureau of the Census 1976, S. 912) Überschüssiges Kapital wurde in die sogenannten Money Center gesandt, wo es für große Handels- und Investmentbankingaktivitäten verwendet wurde. Die regionale Kreditversorgung, wie sie in Deutschland gegeben war, war in den USA unterentwickelt. Privatbanken und private Aktienbanken: Erst das preußisches Gesetz zum Bankwesen von 1843 stellte eine zuverlässige Basis zur Gründung von Aktienbanken dar, von denen es bis dahin nur ganz wenige, unter anderen die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank AG gegeben hatte. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts dominierten die Privatbankiers in der Hochfinanz. In vielen Fällen beteiligten sich die Privatbankiers an den Bankneugründungen. Nach der Depression von 1845 bis 1851 erwuchs ihnen in den privaten Aktienbanken schnell eine Konkurrenz, die sie binnen weniger Jahrzehnte überflügeln sollte. Nach 1850 wurden Bergbau, Eisenbahnen und Stahl zu den treibenden Sektoren. Der hohe Kapitalbedarf der nun entstehenden Konzerne wurde zu einem guten Teil durch langfristige Kredite der mit Kapital gut ausgestatteten Aktienbanken gedeckt. Die „Deutschland AG“ entstand in ihren Grundzügen. Bald drehten sich auch die Verhältnisse um: Die Aktienbanken beteiligten sich nun an den Privatbanken und schossen Kapital ein, sodass die Privatbankiers zwar weiter die Geschäftsbeziehungen mit ihren Kunden pflegten, aber oftmals abhängig von den Aktienbanken wurden. Die Gründung des im Gegensatz zu Österreich-Habsburg wirtschaftsliberalen Norddeutschen Bundes 1866, der Frankreich-Feldzug 1870/71, nach dem Frankreich 5 Milliarden in Gold als Reparationen zahlen musste, sowie die anschließende Reichsgründung setzen einen Gründungsboom in Gang. Im Zeitraum von 1870 bis 1873 wurden um die 100 Banken gegründet. Im Jahr 1870 entstanden die Deutsche Bank und die Commerzbank, 1872 die Vorläuferin der Dresdner Bank und bereits 1869 die Bayerische Vereinsbank. Diese Großbanken engagierten sich unter anderem stark im deutschen Außenhandel und prägen zum Teil bis heute die deutsche Bankenlandschaft.
128 Teil 2 Die Finanzmärkte Bankgründungen waren aber nur ein kleiner Teil des Gründungsbooms. Unzählige Aktiengesellschaften wurden an die Börse gebracht, zum Teil mit wackeligen Geschäftsmodellen, um Emissionsgewinne abzuschöpfen und an der allgemeinen Euphorie zu partizipieren. Die Ähnlichkeit mit der „New Economy“ um das Jahr 2000 ist nicht zu übersehen, wobei allerdings berücksichtigt werden muss, dass sich die deutsche Wirtschaft 1870 – anders als 2000 – im Zustand raschen tatsächlichen Wachstums befand. Nach der Gründerkrise von 1873 setzte schnell eine Konzentration bei den Banken ein. Bereits 1876 wurde die Deutsche Bank zum Primus der Großbanken, eine Position, die sie bis heute halten konnte. 1874 fusionierten die Rheinische Creditbank und der Pfälzer Bankverein, 1891 die Berliner Handelsgesellschaft und die Internationale Bank. Durch Interessengemeinschaften zwischen Großbanken und Regionalbanken, wie zum Beispiel die zwischen Deutscher Bank, Schlesischem Bankverein und Märkischer Bank, dehnten die Großbanken ihren regionalen Einfluss aus. Im Jahr 1914 übernahm die Deutsche Bank die Bergisch-Märkische Bank. Andere Akteure – die Notenbank, die Hypothekenbanken und die Versicherungen: Es soll zumindest kurz erwähnt werden, dass neben dem Drei-Säulen-System auch andere Gruppen von Finanzinstitutionen maßgeblich zur Entwicklung der deutschen Wirtschaft beigetragen haben.1862 erfolgte mit der Frankfurter Hypothekenbank und der Deutschen Hypothekenbank in Meiningen die Gründung der ersten Hypothekenbanken. Erst im Jahr 1900 folgte das Hypothekenbankgesetz, das 2005 außer Kraft trat und durch das Pfandbriefgesetz abgelöst wurde. Bereits mit dem Hypothekengesetz von 1900 waren die Pfandbriefgläubiger besonders geschützt. Seit 2005 sind nun Hypothekenbanken keine eigene Rechtsform mehr, während der Pfandbrief weiter eine wichtige Rolle im Arsenal der Finanzierungsinstrumente spielt. Im Jahr 1876 wurde die Reichsbank gegründet, die zunächst einmal die Aufgabe hatte, die 31 noch bestehenden Notenbanken aufzulösen und zu konsolidieren und eine einheitliche Geldversorgung für das Deutsche Reich zu schaffen, eine Aufgabe, die effizient gelöst wurde. Die umlaufenden Noten mussten zu einem Drittel durch kursfähiges deutsches Geld, Reichskassenscheine, Gold in Barren oder ausländische Münzen gedeckt sein. Bis 1922 war die Deutsche Reichsbank weitgehend unabhängig von der Politik. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm 1948 die Bank Deutscher Länder, ab 1957 die Bundesbank, die Aufgaben der Notenbank. Mit dem Vertrag über die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion wurden maßgebliche Kompetenzen der Bundesbank auf die Europäische Zentralbank übertragen. Etwas später als die Großbanken entwickelten sich die Versicherungskonzerne zu wichtigen Kapitalsammelstellen für die Wirtschaft. Später übernahmen sie auch direkte Industriebeteiligungen. Im Jahr 1890 wurde die Allianz gegründet, die rasch zusammen mit der Deutschen Bank im Zentrum der „Deutschland AG“ stand: Ein weitreichendes Netz von Beteiligungen und Überkreuzbeteiligungen machte die deutsche Industrie und Hochfinanz zu einem geschlossenen Club, in dem viele Fragen unter Ausschluss der
11 Das deutsche Bankwesen 129 Kapitalmärkte geregelt wurden. Dieser Club existierte weitgehend unverändert bis zum Ende des letzten Jahrtausends. 11.3 Die Große Depression und ihre Folgen: Die Finanzmärkte kommen an die Kette Aus dem Börsencrash von 1929 und der darauffolgenden Großen Depression zogen die Regierungen in den USA, Europa und Japan die aus Sicht des Autors richtige Schlussfolgerung: Die Finanzmärkte sind inhärent instabil und müssen massiv reguliert werden. Mit dem zweiten Glass-Steagall-Act von 1933 wurden in den USA die Bankformen Commercial Banking und Investmentbanking (Kapitalmarktgeschäft) institutionell getrennt, eine Bank konnte nun nur noch in einem der beiden Bereiche tätig sein. Die Regulation Q erlaubte es der amerikanischen Federal Reserve Bank, Zinssätze für Spareinlagen zu regulieren und war bis 1980 in Kraft. Der Bank Holding Company Act von 1956 machte die Zustimmung des Federal Reserve Board für die Gründung einer BankHolding-Company erforderlich. Holdings (auch in einem Bundesstaat) waren zustimmungspflichtig, Geschäftsbanken, die in mehreren Bundesstaaten aktiv waren, verboten. Offenbar wollte man durch eine funktionale Ausdifferenzierung der Banktypen und eine Begrenzung der Größe von Banken das System stabiler gestalten. In der Großen Depression war die Zahl der Banken in den USA von 24.633 im Jahre 1929 auf 15.015 im Jahr 1933 gefallen. Am 5. März 1993 rief US-Präsident Franklin Delano Roosevelt einen Bankfeiertag aus – alle Banken mussten schließen, ihre Bücher wurden überprüft. Bereits fünf Tage später konnten die ersten solventen Banken wieder ihre Türen öffnen. Die Bankkrise war besiegt, im Jahr 1934 war die Zahl der Institute wieder auf 16.096 gestiegen. Deutschland wurde von der Weltwirtschaftskrise besonders hart getroffen. Das durch die erdrückend hohen Reparationen aus dem Friedensvertrag von Versailles schwer belastete Land (vgl. Keynes 1919; Keynes 2006) war auf den massiven Zustrom von Auslandskapital angewiesen. Im Zuge der Hyperinflation von 1923 hatten die deutschen Banken im Durchschnitt zwei Drittel ihres Auslandskapitals verloren. Durch die massiven Verwerfungen im Finanzsystem versuchten Industriekonzerne und Banken, ihre Mittel so schnell wie möglich wieder in Sachwerten anzulegen. So entstanden viele unübersichtliche Mischkonzerne. Die großen Aktienbanken dehnten sich in dieser Zeit weiter aus, während die Privatbanken tendenziell an Bedeutung verloren. Bereits im Frühjahr 1927 begannen die Aktienkurse in Deutschland zu sinken, da Kapital des Hauptgläubigerlands USA abgezogen wurde, um damit am massiven Boom der New Yorker Börse zu partizipieren. (vgl. White 1998) Viele deutsche Banken waren erheblich im Ausland verschuldet und gerieten zunehmend in Bedrängnis. (vgl. Schacht 1949, S. 28 ff.) In diesem Zusammenhang schränkten die Banken auch die inländische Kreditvergabe deutlich ein. (vgl. online Wikipedia 2009) Mit dem Zusammenbruch der Darmstädter
130 Teil 2 Die Finanzmärkte Bank und der Nationalbank am 13. Juli 1931 erreichte die Bankenkrise Deutschland. In der Folge kam es zu einem „Run“ auf die Banken, der aber durch die Einführung eines Bankfeiertags am 14. und 15. Juli 1931 gestoppt werden konnte. Durch die Gründung der Akzept- und Garantiebank, eine strenge Devisenbewirtschaftung und die Einführung der in ihren Grundzügen noch heute bestehenden Bankenaufsicht im September 1931 konnte die Lage stabilisiert werden. In Deutschland enthielt das Reichsgesetz über das Kreditwesen vom 5. Dezember 1934 viele innovative Elemente zur Bankenaufsicht. „Die Grundzüge des damaligen Aufsichtsrechts haben sich so gut bewährt, dass sie 1961 im Gesetz über das Kreditwesen übernommen wurden und die Grundlage für das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen (BAKred) bildeten.“ (vgl. Wandel 1998, S. 29) Zum 1. Mai 2002 wurden das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen (BAKred), das Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel (BAWe) und das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen (BAV) zur Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) verschmolzen. Im Übrigen war damit in Deutschland bereits seit 1961 die einheitliche Bankaufsicht praktiziert, die in den USA erst im Zuge der jüngsten Finanzkrise teilweise erreicht wurde. Bis 2008 wurden nämlich Investmentbanken dort nicht als Banken angesehen und unterlagen lediglich der Börsenaufsicht. (vgl. Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht 2009) In der Zeit des Nationalsozialismus änderte sich die Struktur des deutschen Bankensystems mit zwei Ausnahmen nicht nennenswert: Im Zuge der „Arisierung“ wurden die jüdischen Inhaber von Bankhäusern zwangsenteignet, während die deutschen Banken von diesem Prozess profitierten. (vgl. beispielsweise James 2001) Die Zahl der Privatbanken ging so von 1932 bis 1939 von 1350 auf 520, also um 60 Prozent, zurück. Die andere große Änderung war die Eingliederung der Sparkassen in die NS-Wirtschaftsorganisation. Mit einer Bilanzsumme von 27,7 Milliarden Reichsmark (RM) hatte die Sparkassengruppe 1939 einen Marktanteil von 50 Prozent der Bilanzsumme aller Bankengruppen in Deutschland erreicht. 11.4 Neuere Entwicklungen: Vom Siegeszug des Neoliberalismus und entfesselte Finanzmärkte über die deutsche Wiedervereinigung bis zur Finanzkrise In den 1970er Jahren zeichneten sich ökonomische Turbulenzen ab, die auch massive Veränderungen im bis dahin bestehenden internationalen Finanzsystem mit sich bringen sollten. Am 15. August 1971 erfolgte mit dem „Nixon-Schock“ ein wichtiger Schritt, durch den der 1944 gegründete Internationale Währungsfonds schrittweise sein eigentliches Mandat verlor: nämlich über international stabile Wechselkurse zu wachen und Zahlungsbilanzanpassungen zu erleichtern. Mit dem Nixon-Schock beendete USPräsident Richard Nixon die Konvertibilität des Dollars in Gold. 1976 war die Transformation zum System flexibler Wechselkurse erreicht. Diese erste massive Entstaatlichung
11 Das deutsche Bankwesen 131 der internationalen Finanzbeziehungen setzte einen Trend der Deregulierung in Gang, der bis zur Finanzkrise im Jahr 2008 anhielt und vielleicht auch durch die neuerlichen Regulierungsbemühungen nach 2008 nicht wirklich gestoppt wird. Die Ölkrisen von 1973 und 1979 sowie das Recycling-Problem der Petrodollars der Ölstaaten führten zu weiteren Verwerfungen wie zum Beispiel die lateinamerikanische Schuldenkrise nach 1982. Deutschland, das als drittgrößte Wirtschaftsnation der Welt fest etabliert war, kam vergleichsweise gut durch die Turbulenzen der 1970er Jahre. 1979 wurde auf Initiative Helmut Schmidts und Valéry Giscard D’Estaings das Europäische Währungssystem gegründet, das mit der Einführung des Euro am 1. Januar 1999 endete. Mit dem Amtsantritt Margaret Thatchers 1979 in England und Ronald Reagans 1981 in den USA wurde die Deregulierung und Liberalisierung zur neuen internationalen Ideologie. In den USA war durch den Depository Institutions Deregulation and Monetary Control Act von 1980 bereits die Regulation Q, die es dem Federal-Reserve-System erlaubte, die Zinssätze für Spareinlagen zu regulieren, aufgehoben worden. Der RiegleNeal Interstate Banking and Branching Efficiency Act von 1994 (IBBEA) beendete das Verbot für amerikanische Banken, in mehr als einem Bundesstaat aktiv zu sein. Am 12. November 1999 wurde durch den Gramm-Leach-Bliyey-Act schließlich auch das Verbot aufgehoben, in mehr als einem Geschäftsbereich tätig zu sein. Damit waren auch in den USA Allfinanzkonzerne erlaubt. Neue Finanztechnologien, wie zum Beispiel die sogenannte „Portfolioversicherung“ (die keine „Versicherung“, sondern eine Hedging-Strategie war und mit zum Börsenkrach von 1987 führte), begünstigten die Entstehung „innovativer Finanzprodukte“ (vgl. Bookstaber 2007) Finanzderivate hatte es schon in den 1920er Jahren des vorigen Jahrhunderts gegeben (vgl. Schwed 2002), sogar schon im 17. Jahrhundert. (vgl. Mackay und de la Vega 1995) Nachdem sie durch die Weltwirtschaftskrise aus der Mode gekommen waren und in den regulierten Finanzmärkten der 1950er und 1960er Jahren keine große Rolle spielten, gelang ihnen in den 1970er Jahren ein zunächst leises Comeback, als im Februar 1972 die Chicago Mercantile Exchange (CME) Währungsfutures einführte. Im April 1973 gründete das CBT die Chicago Board Options Exchange (CBOE). Nun konnten Optionen auf Aktien gehandelt werden. Im Oktober 1975 wurde in Chicago der erste Zinsfuture gehandelt. Ein Großteil der Veränderungen im internationalen und deutschen Bankensystem war aber nicht auf Gesetzesänderungen, sondern auf eine Änderung der Geschäftskultur und den raschen Fortschritt der Informationstechnologie zurückzuführen. Durch die Inflation in den 1970er Jahren wiesen viele Unternehmen in den USA hohe stille Reserven auf, was die Entstehung der sogenannten „Corporate Raider“ und „feindlichen Übernahmen“ in den frühen 1980er Jahren begünstigte. Bekannt wurden unter anderem Carl Icahn, T. Boone Pickens, Kirk Kerkorian, Sir James Goldsmith und Ivan Boesky. Das schnelle Geld im Investmentbanking wurde zum Motto einer Zeit, die Michael Douglas als Gordon Gekko im Film „Wall Street“ mit seinem Ausspruch „Gier ist gut“ („Greed is Good“) dargestellt hat. Nach einer kurzen durch den Börsenkrach von 1987 verursachten
132 Teil 2 Die Finanzmärkte Pause verstärkten sich die Internationalisierung und die Beschleunigung der Kapitalmärkte, die Entstehung neuer komplexer Produkte und die Jagd nach schnellen Renditen. Die Clinton-Regierung, aber auch die Regierung Joschka Fischer-Gerhard Schröder beschleunigten diesen Trend eher noch, als dass sie sich ihm entgegenstellten. Zu Beginn der Rot-Grünen Koalition fragte Joschka Fischer Oskar Lafontaine und seinen Staatssekretär Heiner Flassbeck: „Wollt Ihr Euch etwa mit den Kapitalmärkten anlegen?“ (Gespräch des Verfassers mit Heiner Flassbeck am 26.02.2009). Damit war das Thema im Prinzip erledigt. Anders als François Mitterrands Frankreich im Jahr 1981 hätte das wirtschaftlich starke Deutschland nach Auffassung Flassbecks 1998 durchaus eine Chance gehabt, die Kontrolle der Finanzmärkte voranzutreiben. Investmentbanking war „chic“ und stilbildend für eine ganze Epoche. Die großen deutschen Banken versuchten, an die internationalen Trends durch eine Verstärkung ihrer Investmentbankingaktivitäten anzuknüpfen. Hierzu kaufte die Deutsche Bank im Jahr 1990 die englische Morgan, Grenfell & Co. Das Experiment misslang. Die Dresdner Bank kaufte 1995 die englische Investmentbank Kleinwort Benson und im Jahr 2000, auf dem Höhepunkt des Börsenbooms, die New Yorker Investmentboutique Wasserstein, Perella & Co. Genützt haben ihr die teuren Akquisitionen wenig; es lässt sich sogar argumentieren, dass der Kauf den Niedergang der Dresdner Bank beschleunigt hat. Letztlich ist es unter den deutschen Großbanken nur der Deutschen Bank gelungen, eine international wettbewerbsfähige Investmentbank aufzubauen, und das auch erst im zweiten Anlauf durch den Kauf der New Yorker Bankers Trust im Jahr 1999. Aber auch die umgekehrte Tendenz war massiv. Seit den 1980er Jahren drängten ausländische, insbesondere amerikanische, aber auch japanische und andere Banken auf den deutschen Markt. Hier konnten die amerikanischen Banken aufgrund der regulatorischen Rahmenbedingungen eine größere Vielfalt an Geschäften tätigen als auf dem Heimatmarkt. Insbesondere die amerikanischen Banken erhofften sich so von den Auflagen des Glass-Steagal-Act zu befreien, was letztlich auch gelang. In ihrem Bestreben, Investmentbanken zu werden und das Kapitalmarktgeschäft zu forcieren, behandelten die Großbanken den Privatkunden und das Kreditgeschäft eher stiefmütterlich. Im Jahr 2000 waren Pläne zur Fusion der Deutschen Bank und der Dresdner Bank sehr weit fortgeschritten. Das Privatkundengeschäft wäre in eine eigene Institution ausgegliedert worden, die damals vorbereitend schon Deutsche Bank 24 genannt worden war. Letztlich scheiterte die Fusion – aus meiner Sicht zum Vorteil des deutschen Bankwesens – in einem sehr späten Stadium der Verhandlungen an Differenzen zwischen beiden Häusern. Wie leichtfertig damals mit Geschäftsbereichen umgegangen werden sollte, die später als Ertragsperlen erkannt wurden, zeigt sich auch aus den Plänen, die DWS Investments (ehemals Deutsche Gesellschaft für das Wertpapiersparen) sowie die Filialen der Dresdner Bank an die Allianz AG zu verkaufen. (vgl. o. V. 2000) Mit der Technologieblase in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre erreichte das Kapitalmarktfieber einen neuen Höhepunkt. Durch den teilweisen Börsengang der Deutschen Telekom AG im Jahr 1996 erfasste der Run auf die Renditen auch in Deutschland breite
11 Das deutsche Bankwesen 133 Bevölkerungsschichten. Aktien von Unternehmen, die noch wenige Jahre zuvor als nicht existenz-, geschweige denn börsenfähig, abgelehnt worden wären, wurden nun von allen Banken, die sich eine Scheibe vom Geschäft abschneiden konnten, zu Phantasiepreisen an die Börse gebracht. (vgl. Ogger 2001) In den letzten Jahren des alten Jahrtausends setzte dann die berühmte „Hausfrauen-Hausse“ ein, bei der man sich auch mit dem Taxifahrer gut über Aktien und Kapitalanlagen unterhalten konnte. Börsenkommentatoren und Jungunternehmer wurden zu Stars. Weder von der Politik noch von der Finanzbranche selbst kamen Versuche, das Spekulationsfieber einzudämmen. Das traurige Ende der Epoche wurde durch die stillschweigende Beerdigung des NEMAX50 durch die Deutsche Börse AG zum 31.12.2004 markiert. So entledigte man sich der Erinnerung an den einstigen Hoffnungsträger Neuer Markt und an eine unrühmliche Vergangenheit. (vgl. o. V. 2004) Der amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith schrieb zu der Frage, warum sich in solchen Epochen des kollektiven Wahnsinns so wenig Gegenstimmen erheben, bereits im Jahr 1955: „Selbst als […] der Wahnsinn grassierte, blieben viele Männer an der Wall Street ziemlich vernünftig. Sie blieben aber auch ziemlich still. […] Sich gegen den Wahnsinn auszusprechen könnte bedeuten, diejenigen zu ruinieren, die sich von ihm haben hinreißen lassen. Deswegen schweigen die weisen Männer der Wall Street lieber. Die Narren haben das Feld für sich. Niemand pfeift sie zurück.“ (vgl. Galbraith 2008 bzw. Otte 2008) Durch das Aufkommen von Geldmarktfonds seit 1994 nahm die Wettbewerbsintensität im Einlagen- und Geldmarktgeschäft zu. Der Zinsüberschuss der großen Privatbanken lag zudem zwischen 1994 und 2003 bei nur 1,5 Prozent, der der Genossenschaftsbanken und Sparkassen bei 2,7 Prozent. Dieser Befund erstaunt zunächst, denn die konventionelle Auffassung wäre, dass die großen Institute durch niedrigere Kosten und interessantere Angebote höhere Überschüsse erwirtschaften können. Tatsächlich verhält es sich anders: Bei den „großen“ Aufträgen ist die Wettbewerbsintensität sehr hoch und die großen Banken hatten nicht die Expertise oder wollten sich nicht um die Finanzierung vieler kleiner mittelständischer Kredite kümmern. Der Mittelstand jedoch weiß eine langfristige Begleitung durch Sparkassen oder Genossenschaftsbanken zu schätzen und ist im Zweifel auch bereit, etwas höhere Zinsen zu zahlen. (vgl. Rehm 2008b, S. 143) In diesem Zusammenhang bauten die Großkonzerne seit 1990 verstärkt große eigene Corporate-Finance-Abteilungen auf, die die Leistungen der Banken oftmals zu einem guten Anteil substituierten. Damit waren sie in die Lage versetzt, kurzfristig und intensiv nach den besten Konditionen auf den internationalen Kapitalmärkten zu suchen, eine Entwicklung, die das Hausbankensystem weiter auflöste und in der Finanzkrise nach 2007 teilweise negativ auf die Großunternehmen zurückfiel. Zum Ausgang des 20. Jahrhunderts wurde auch begonnen, mit der Entflechtung der Deutschland AG ernst zu machen. Das Netz von Überkreuzbeteiligungen, in dessen Zentrum die Deutsche Bank und die Allianz sowie andere Banken und Versicherungen standen, wurde schrittweise entflochten. Auch hier wurden traditionell engere Bindungen zwischen Industrie und Großbanken weiter gelockert.
134 Teil 2 Die Finanzmärkte Kapitalmarktorientierung beinhaltet auch die Zuwendungen zu provisionsbasierten Geschäften. In der New Economy waren dies Fusionen und Übernahmen, Börsengänge und Wertpapieremissionen. Aber auch das Asset Management – die Verwaltung von Kundenvermögen – gehört dazu. Deutschland ist als drittgrößte Nettosparnation der Welt ein attraktiver Markt für die Vermögensverwaltung. Nachdem sich bereits in den 1990er Jahren die Anzahl der Fonds und Zertifikate explosionsartig vermehrt hatte, setzte nach dem Zusammenbruch der Technologieblase eine Zertifikate-Sonderkonjunktur ein, die es in dieser Form auf der ganzen Welt nur in Deutschland und Österreich gab. Bei den in Kapitalmarktfragen unerfahrenen deutschen Anlegern kamen die Produkte, die oftmals mit Namen wie „Garantie-“, „Bonus-“ oder „Discount-“ versehen waren, sehr gut an, wurde hier doch eine Partizipation an den Kapitalmärkten bei gleichzeitiger Begrenzung des Risikos versprochen. Dabei war vielen Privatanlegern nicht bewusst, dass sie in Produkte investierten, die völlig überteuerte Derivategeschäfte beinhalteten. Oftmals wälzten Banken ihre Risiken auch durch speziell konstruierte Indizes und Papiere auf die Kunden ab, nur um diesen die Risiken überteuert als „Chance“ zu verkaufen. Ausländische Banken, wie zum Beispiel die Citibank, Lehman Brothers, die SEB Bank oder Privatbanken wie Oppenheim mischten neben den großen deutschen Privatbanken kräftig am Markt mit. Aber auch die in diesem Artikel ansonsten sehr gelobten Sparkassen, Raiffeisen und Genossenschaftsbanken haben nicht in allen Fällen streng zum Wohle des Kunden gehandelt. Wie wenige Jahre zuvor bei Technologieaktien, entstand nun bei Zertifikaten eine massive Blase. Zum Hochpunkt des Zertifikatebooms in den Jahren 2002 bis 2007 waren in Deutschland um die 200 Milliarden Euro in Zertifikaten angelegt. (vgl. Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger 2008; Anne 2009; Otte 2009) In Deutschland und Österreich sind die Regeln für Derivategeschäfte von Privatanlegern wesentlich weniger restriktiv als zum Beispiel in den USA. Im Rückblick kann es nur als beschämend gewertet werden, dass die Aufsichts- und Regulierungsbehörden bei diesen Produkten, die US-Superinvestor Warren Buffett bereits 2003 als „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ bezeichnete, nicht eingegriffen haben und auch nach der Finanzkrise keine allzu große Neigung zeigen, einzugreifen. Deutsche Wiedervereinigung: Beim Zusammenwachsen der Bundesrepublik und der früheren DDR haben die Sparkassen, Raiffeisen- und Genossenschaftsbanken ihre Leistungsfähigkeit bewiesen. Auch in der DDR gab es Sparkassen, die aber vor allem als Einlagekassen Instrumente der Planwirtschaft mit veralteter Technik und einem sehr schmalen Angebot waren. Hier zeigte sich, dass das 150 Jahre zuvor entwickelte Solidarprinzip – das auch in der Wirtschaft Sinn machen kann – noch funktionierte. Ab 1990 stand jeder ostdeutschen Sparkasse eine Betreuungsparkasse aus dem Westen zur Seite, die diese mit Technik, Rat und Hilfe bei der Ausbildung versorgte und Mitarbeiter entsandte. Und die Angebote der Sparkassen und Genossenschaftsbanken wurden von den Menschen in den neuen Bundesländern angenommen. Heute sind die Sparkassen und Genossenschaftsbanken in den neuen Bundesländern oft die einzigen Institute vor Ort. (vgl. Deutscher Sparkassen- und Giroverband 2009b)
11 Das deutsche Bankwesen 135 Die Finanzkrise: Die im Juli 2007 einsetzende Finanzkrise hat das deutsche Bankensystem in seinen Grundzügen nicht verändert. Zwar sind einige Institute gescheitert, Deutschland leidet vor allem unter dem internationalen Konjunktureinbruch, der 2008 und 2009 die deutschen Exporte zusammenbrechen ließ. Die Versorgung mit Krediten durch die deutschen Sparkassen, Raiffeisen- und Genossenschaftsbanken war nie gefährdet. Allerdings zeigen sich hier die unheilvollen Auswirkungen der prozyklischen und damit krisenverschärfenden Konstruktion der Eigenkapitalregelungen nach dem Basel-II-Akkord, auf die ich im nächsten Abschnitt eingehen werde. In der Krise steigen die Kreditkosten allgemein und für Unternehmen mit dringendem Kapitalbedarf sind Kredite teurer als für Unternehmen mit erstklassiger Bonität. Deutschland hat sich hier internationalen Regeln unterworfen, die prozyklisch krisenverstärkend wirken und letztlich auch das gut funktionierende deutsche Finanzsystem schwächen. Die Finanzkrise bietet die Chance, Fehlentwicklungen an den Finanzmärkten zu überdenken und Korrekturen einzuleiten. Mit der IKB und der Hypo Real Estate sowie den Landesbanken kamen Institute in Schieflagen, die sich zum Teil massiv verzockt hatten und Geschäften nachgegangen waren, deren Sinnhaftigkeit man auch schon vor der Finanzkrise hätte in Frage stellen können. Noch im Vorwort zum Geschäftsbericht 2006/2007 der IKB berichtete der ehemalige Vorstandsvorsitzende Stefan Ortseifen, dass verbriefte Produkte und Derivate die dynamischsten Geschäftsbereiche der Bank seien „und ihren Wachstumspfad beibehalten“ würden. (vgl. IKB Deutsche Industriebank AG 2007) Schon damals hätte man sich fragen können, was eine Industriekreditbank in diesen Geschäftsbereichen zu suchen hatte. Fragwürdig ist der Verkauf der mit 10,7 Milliarden Euro geretteten IKB für 100 Millionen Euro an den texanischen Finanzinvestor LoneStar. Anscheinend ist es für die Politik angenehmer, sich des Themas zu entledigen, als darauf zu achten, dass die Steuerzahler möglichst viel von ihrem Geld zurückbekommen. Die Beinahe-Insolvenz der Hypo Real Estate, die die Steuerzahler mittlerweile mehr als 100 Milliarden Euro gekostet hat, war eine Folge von Selbstüberschätzung und Leichtsinn auf der einen Seite und von zynischer und riskanter Geschäftspolitik auf Seiten der übernommenen depfa-Bank. Ordnungspolitisch gab es bei dieser – aus meiner Sicht im Gegensatz zur IKB oder etlichen Landesbanken durchaus systemrelevanten Bank – kaum eine Alternative zur Rettung. Allerdings hätte die sogenannte „Verstaatlichung“ – die ich als einer der ersten öffentlich in der Tagesschau gefordert habe – viel früher stattfinden müssen, denn in diesem Fall wurde ja gerade „verstaatlicht“, um die Prinzipien der Marktwirtschaft zu retten. (vgl. online tagesschau.de 2009) Wenn ein neuer Gesellschafter in ein völlig marodes, bankrottes Unternehmen eintritt, dann wird dieser Gesellschafter – der alle Risiken übernimmt – auch die möglichen Gewinne haben wollen. Es ist egal, ob der Staat oder jemand anderes hier der neue Gesellschafter ist. Die Anteile der Alteigentümer sind nichts mehr wert. Somit entledigte sich der Staat mit der „Verstaatlichung“ der Hypo Real Estate nur des Erpressungspotenzials durch die Alteigentümer, deren Anteile nur deshalb noch etwas wert waren, weil bereits über 100 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern in das Institut geflossen waren.
136 Teil 2 Die Finanzmärkte Ob die Commerzbank in dieser Form hätte gerettet werden müssen, sei dahingestellt. Auch hier hat die Öffentlichkeit unverhältnismäßig wenig Kapitalanteile – nämlich 25 Prozent plus eine Stimme – für das bereitgestellte Kapital erhalten. Gerade bei der Commerzbank scheint aber ein Umdenken zu erfolgen – man nimmt das Firmenkundenkreditgeschäft, das von Männern wie Günter Tallner in Frankfurt vorangetrieben wird – wieder sehr ernst. Heimlicher Gewinner des Prozesses ist allerdings die Allianz, die nun neben dem Fondsgeschäft der Dresdner Bank auch das Fondsgeschäft der Commerzbank übernommen hat und zudem Anteile an der Commerzbank hält. Die Finanzkrise offenbarte auch die strukturelle Schwäche der Landesbanken, für die es seit dem Wegfall der Gewährträgerhaftung im Jahr 2005 keine rechte Existenzberechtigung mehr gibt. Die für die Sparkassen, Raiffeisen- und Genossenschaftsbanken wichtigen Aufgaben werden zumeist durch die Verbände, die Vermögensverwaltungsfirmen deka und Union Investment oder durch Spezialinstitute erledigt, sodass es höchste Zeit ist, über eine Konsolidierung der Landesbanken nachzudenken. 11.5 Bewertung des deutschen Bankensystems: Ist die Kapitalmarktorientierung der Weisheit letzter Schluss? In einem umfassenden zweiteiligen, fünfzigseitigen Artikel hat der ehemalige Vorstandsvorsitzende der NordLB und jetzige Chef des Soffin, Hannes Rehm, das deutsche Bankensystem im Frühjahr 2008, als die Kreditkrise bereits begonnen, aber noch nicht die Ausmaße des Herbstes angenommen hatte, einer gründlichen Analyse und Würdigung unterzogen. Gleich zu Beginn setzt sich Rehm mit dem international vom Economist, Unternehmensberatungen oder Investmentbanken, aber auch in Deutschland vom Sachverständigenrat für die Gesamtwirtschaftliche Entwicklung oftmals geäußerten Vorwurf auseinander, dass Deutschland „overbanked“ und damit ineffizient sei. (vgl. Rehm 2008b, S. 135) Zwar sind die Eigenkapital- und die Gesamtkapitalrenditen tatsächlich international ganz hinten anzusiedeln, aber alle anderen Indikatoren liegen im Mittelfeld oder sind sogar gut:     Deutschland hat in Relation zur Zahl aller Angestellten weniger Beschäftigte im Bankgewerbe als die immer als Effizienzvorbild dargestellten angelsächsischen Länder. Dies ist keinesfalls ein Indikator für „Overbanking“. Im letzten Jahrzehnt ging in Deutschland die Anzahl der Kreditinstitute um 40 Prozent zurück, in den übrigen EU-Ländern nur um 20 Prozent. Vor allem die Fusionen im Sparkassensektor und im genossenschaftlichen Bereich trugen hierzu bei. Die Anzahl der Bankstellen pro Einwohner ist in Deutschland mittlerweile leicht unterschiedlich und deutlich geringer als zum Beispiel in Spanien. Bei den Bruttoerträgen je Mitarbeiter liegen die deutschen Banken international im Mittelfeld.
11   Das deutsche Bankwesen 137 Bei der Cost-Income-Ratio (Relation von Verwaltungsaufwand zu Nettoerlösen), die die Effizienz des Geschäftsbetriebs misst, nehmen die deutschen Banken nach den französischen eine Spitzenposition ein. „Mit besonders niedriger Produktivität arbeiten die Banken in den USA.“ (vgl. Rehm 2008b, S. 139) Deutschland hat sein Bankensystem bereits seit den 1950er und 1960er Jahren liberalisiert und in den 1970er Jahren die Niederlassungsfreiheit für ausländische Banken eingeführt, also weitaus früher als viele andere europäische Länder. „Die Liberalisierung des Bankenmarktes in Deutschland war bereits abgeschlossen, als Frankreich, Italien und Schweden begannen, die ersten Öffnungsschritte einzuleiten.“ (vgl. Rehm 2008b, S. 141) In Frankreich wurde der Markt für Spareinlagen erst 2008 für ausländische Anbieter geöffnet. Lediglich bei den Nettomargen und bei der Eigenkapitalrendite sind deutsche Banken Schlusslichter. Durch die Nettomarge wird allerdings vor allem gemessen, welche Preise ein Unternehmen am Markt durchsetzen kann. Damit sind die von der Lobby der internationalen Banken geforderten hohen Nettomargen vor allem ein Indiz für die Behinderung des Wettbewerbs, ineffiziente Strukturen und die Übervorteilung von Kunden. In Italien, dessen Banken hohe Nettomargen aufweisen, sind die Preise für Bankdienstleistungen in den letzten Jahren massiv gestiegen, insgesamt weist das Land eine bankwirtschaftliche Unterversorgung auf. Italienische Kunden zahlen durchschnittlich das Fünffache dessen, was Deutsche für Bankdienstleistungen ausgeben. In weiten Teilen des britischen Bankenmarktes funktioniert der Wettbewerb nicht besonders. Rehm kommt zu dem Schluss, dass das deutsche Banksystem von einer hohen Wettbewerbsintensität gekennzeichnet ist, bei der Effizienz und Kostenvorteile an die Kunden weitergegeben werden. Die Genossenschafts- und Raiffeisenbanken sowie die Sparkassen realisieren im Verbund dort Kostenvorteile, wo dies notwendig ist (zum Beispiel bei der Informationstechnologie) und sind ansonsten auf ihren Märkten dezentralisiert – eigentlich ein ideales Modell. Sicherlich ist das für die ausländischen Anbieter, die in den deutschen Markt mit seinem hohen Sparpotenzial drängen und an wenig Wettbewerb und hohe Renditen gewöhnt sind – nicht so angenehm. Es zeugt aber davon, dass die Bankordnungs- und Wettbewerbspolitik in Deutschland zugunsten der Konsumenten funktioniert! Funktionen von Banken und Finanzintermediären: Den Banken und Finanzintermediären werden normalerweise drei Aufgaben zugeschrieben: Fristentransformation, Losgrößentransformation und Risikotransformation. Durch die Fristentransformation werden die unterschiedlichen Laufzeitinteressen der Schuldner (Privatpersonen, Unternehmen, Staat) und der Gläubiger (Sparer) in Einklang gebracht. Durch die Losgrößentransformation werden die unterschiedlichen Größenordnungen bei den Beträgen von Gläubigern und Schuldnern abgestimmt. Bei der Risikotransformation wird die unterschiedliche Risikoneigung der Akteure in Einklang gebracht. Bislang hat das deutsche Finanzsystem diese Funktionen recht gut erfüllt.
138 Teil 2 Die Finanzmärkte Die zunehmende Kapitalmarktorientierung beinhaltete nun unter anderem vier große Trends: erstens die Verbriefung von Aktiva (Forderungen) und ihre Platzierung bei Anlegern, zweitens das sogenannte Fair Value Accounting, drittens das sich weitgehende Verlassen auf Ratingagenturen zur Risikoeinschätzung und viertens die Einführung risikokapitalgewichteter Eigenkapitalvorschriften (Basel II).    Verbriefung von Aktiva: Das Geschäftsmodell hier heißt „originate, manage, distribute“. Die Bank generiert Aktiva, managt und strukturiert diese, und platziert die Risiken dann bei institutionellen Anlegern. Damit sind die Risiken aus der Bankbilanz, die Banken entziehen sich der Aufgabe der Risikotransformation, weil sie selber keine Risiken mehr eingehen, solange die Märkte funktionieren. Alleine: Die „Finanzalchemie“ der Banken stellte sich im Rückblick als Illusion heraus. Es war ihnen bei Collateralized Debt Obligations (CDO) oder Asset-Backed-Securities-Strukturen (ABS-Strukturen) zumeist nicht gelungen, die Risiken besser zu managen, sondern nur, sie besser zu verstecken. Die Banken haben sich durch die Verbriefungsstrukturen teilweise ihrer volkswirtschaftlichen Aufgabe der Risikotransformation entzogen. Fair Value Accounting: Beim „Mark-to-Market“- oder „Mark-to-Model“-Accounting werden Bilanzpositionen mit ihrem Marktwert bilanziert, nicht wie in Deutschland nach HGB üblich, nach dem strengen Niederstwertprinzip. Damit sollte eine realistischere und zeitnähere Bewertung der Bilanzpositionen erfolgen. Allerdings können viele Produkte, für die es keine Märkte gibt, nur nach Modellen bewertet werden. Solche Modelle sind oft sehr dehnbar, je komplexer die Produkte sind. Damit sinkt der Informationsgehalt einer nach „Fair-Value“-Prinzipien erstellen Bilanz oftmals deutlich. Mein Fazit: Fair Value verringert die Transparenz und wirkt prozyklisch auf die Wirtschaft, indem Aufschwünge künstlich verstärkt und Krisen verschärft werden. Es werden deshalb etliche Stimmen laut, die einen Rückkehr vom Niederstwertprinzip fordern, so zum Beispiel die Saarbrücker Initiative gegen Fair Value der Professoren Bieg, Bofinger, Küting, Kussmaul, Waschbusch und Weber. (vgl. Fockenbrock 2008) Ratingagenturen und Ratings: Mit dem Ratingsystem betreiben wir im Prinzip kapitalistische Planwirtschaft. Alle Akteure orientieren sich an wenigen Zahlen für entsprechende Wertpapiere oder Unternehmen und unterlassen es in der Folge, ihre eigenen Risikoeinschätzungen und Bewertungen anzustellen. Damit wird eine der wichtigsten Kernfunktionen der Banken ausgehöhlt: die der Risikoeinschätzung. Dennoch senkt es eindeutig die durch die „Gleichschaltung“ der Entscheidungen erreichte Transparenz, verringert die Diversität der Entscheidungen und hilft, Kapazitäten zur Risikoeinschränkung und -transformation in den einzelnen Banken abzubauen. Letztlich ist ein solches System risikoanfälliger als eines, bei dem Akteure in einzelnen Institutionen ihre Entscheidungen mit größerer Unabhängigkeit voneinander treffen. Die Risikomessung kann eben nicht durch eine von Ratingagenturen zentral bestimmte Zahl geschehen (da fehlt es schon an der Marktnähe und der genauen Kenntnis der Akteure), sondern muss eine dezentrale Kernkompetenz der Banken sein.
11 Das deutsche Bankwesen 139 Nach der Finanzkrise lässt sich nur konstatieren, dass dem Rating ein völliges Systemversagen beschieden war. Zudem bestimmt hier ein kleines und intransparentes angelsächsisches Kartell die Geschicke zum Teil souveräner Schuldnernationen, ohne dass dieses Kartell hinterfragt wird. Es stellt sich die Frage, wie es überhaupt so weit kommen konnte, dass wir das Ratingsystem in großem Umfang anwenden. Das Sich-Verlassen auf fremdgenerierte Daten ist für etliche Führungskräfte sicher einfacher, als selbst Verantwortung zu übernehmen und eigene risikobehaftete Entscheidungen zu treffen und auch „sicher“, solange es alle machen.  Eigenkapitalvorschriften nach Basel II: Mit Basel II wird die Gesamtheit der Eigenkapitalvorschriften, die vom Basler Ausschuss für Bankenaufsicht in den letzten Jahren vorgeschlagen wurde, bezeichnet. Seit dem 1. Januar 2007 werden sie in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union für alle Kreditinstitute und Finanzdienstleistungsinstitute (= Institute) angewendet. Hierzu müssen die Bankaktiva mit risikogewichtetem Eigenkapital hinterlegt werden. Die Idee dahinter war an sich plausibel: Wenn alle Aktiva mit denselben Eigenkapitalquoten hinterlegt werden, haben die Akteure ggf. einen Anreiz dazu, riskantere und ertragreichere Positionen in ihre Bilanzen aufzunehmen. Letztlich hatte Basel II überwiegend nachteilige Folgen: Die Kapitalhinterlegung im System konnte insgesamt reduziert werden – was im Interesse der Finanzindustrie war – und der bürokratische Aufwand hat sich massiv erhöht. Basel II wirkt prozyklisch, da die Risiken in einer Krise steigen und die Kredite damit teurer werden. Ob sich die Risikotragfähigkeit des Systems erhöht hat, bleibt abzuwarten, aber an diese Stelle sei zunächst einmal ein vorsichtiges „Nein“ ausgesprochen. Durch die Erhöhung des bürokratischen Aufwands werden kleinere Privatpersonen und Handwerksbetriebe, kleinere Mittelstandsunternehmen und kleinere Banken gegenüber den größeren Einheiten systematisch benachteiligt. Basel II beschränkt auch den Wettbewerb, indem die großen Akteure geschützt und gestärkt werden. Basel II war ursprünglich von den USA angeregt und initiiert worden. (vgl. Lange 2006) Allerdings wird es dort nur sehr zögerlich und auch nur für die größten Banken umgesetzt. Damit wird ein struktureller Nachteil für die europäischen Banken und Unternehmen geschaffen. Ein von Finanzminister Peer Steinbrück ins Leben gerufener Expertenbeirat des deutschen Wirtschaftsministeriums diskutiert aktuell (2009) über eine Aussetzung der Kriterien für die Bundesrepublik Deutschland. (vgl. Gaulhofer 2009) Man kann nur hoffen, dass dies schnell und ohne Wenn und Aber geschieht. Der Autor stellt fest, dass das deutsche (und österreichische) kreditbasierte Finanzsystem die Funktionen, die ein Banksystem liefern sollte, immer noch recht gut erfüllt. Deutschland (und Österreich) sind Nettosparnationen und verfügen über einen bedeutenden Überschuss an Sparkapital. Auf einem Finanzierungsforum in Österreich, an dem ich teilnahm, wurde einem erfolgreichen steirischen Unternehmer, der mit der Finanzierung durch seine Hausbank zufrieden war, die Frage gestellt, warum er nicht innovative Fi-
140 Teil 2 Die Finanzmärkte nanzierungsformen an den Kapitalmärkten nutze. An diesem Punkt musste ich als Teilnehmer der Forumsdiskussion einspringen: Warum sollte sich dieser Unternehmer in irgendeine Abhängigkeit der Kapitalmärkte begeben, wenn seine Sparkasse, mit der er schon lange vertrauensvoll zusammenarbeitet, ihm aus dem Sparvolumen der Region günstiges Fremdkapital anbieten kann und das Geld in der Region bleibt? 11.6 Leitplanken, Brandschutzmauern und Entschleuniger: Ansätze zur Reform Finanzmärkte unterscheiden sich fundamental von Gütermärkten. Es sind die einzigen Märkte, in denen Akteure gleichzeitig Anbieter und Nachfrager bestimmter Leistungen sein können. Sofern dies im Handel geschieht, ist es auch eine Finanztransaktion. Zudem sind Bankrisiken systemischer Natur: Der Kollaps einer einzigen Bank kann unvorhersehbare Konsequenzen für das Gesamtsystem haben. Kapitalmärkte sind inhärent instabil, weil Erwartungen gehandelt werden und innerhalb kürzester Zeitspannen Transaktionen in einem systemrelevanten Umfang durchgeführt werden können. Nach 1929 bestimmte das Wissen um diese Tatsachen die Ordnungspolitik für das Finanzsystem. Mittlerweile ist zumindest das Wissen zurückgekehrt. Das wird zum Beispiel durch den Titel des neuesten Buchs von Hans-Werner Sinn „Kasino-Kapitalismus“ dokumentiert, in dem Sinn – spät, aber völlig zutreffend – die Fehlentwicklungen im Bankensystem aufzeigt. (vgl. Sinn 2009) So ist zum Beispiel die von Angela Merkel auf dem Londoner Gipfel im April 2009 geforderte lückenlose Regulierung aller Akteure, Regionen und Produkte sicher der richtige Ansatz. (vgl. online ftd.de 2009) In den letzten Monaten wurden hier einige Initiativen gestartet, von denen etliche durchaus zu begrüßen sind. Schon jetzt zeichnet sich allerdings ab, dass das Wirrwarr von internationalen, europäischen und nationalen Zuständigkeiten auch die Intransparenz vergrößern wird und damit die großen Akteure zu Lasten der kleinen stärkt, Ungleichheiten im System zementiert und keinesfalls die Risiken des Finanzsystems angemessen behandelt. Der ehemalige Investmentbanker Sony Kapoor entwickelt mit seinem Think Tank ReDefine Prinzipien und Vorschläge für eine Reform des Banksystems. (vgl. Kapoor 2009) In der Süddeutschen Zeitung stellt er drei davon vor: Wettbewerb, Einfachheit und Fairness. (vgl. Kapoor 2009) Wettbewerb: Wie Rehm weist Kapoor auf die einfache Tatsache hin, dass 20 bis 25 Prozent Eigenkapitalrendite keinesfalls ein Indiz für die Gesundheit des Finanzsektors, sondern für Ineffizienzen und eingeschränkten Wettbewerb sind. „Die hohen Belohnungen, die es (zudem, M. O.) für Angestellte und Aktionäre in einem (weitgehend, M. O.) wettbewerbsfreien System gibt, verdrehen Leistungsanreize und fördern spekulatives und destabilisierendes Verhalten.“ (vgl. Kapoor 2009) Einfachheit: „Weil es den Regularien der Finanzwelt an Prinzipien fehlt, sind aus Regelungen zur ‚Feinabstimmung‘ zehntausende Seiten voll mit Gesetzen und Richtlinien geworden.“
11 Das deutsche Bankwesen 141 Komplexe Regularien machen aber eine Überwachung und Überprüfung sehr schwer und begünstigen die großen Akteure. Stattdessen müsste die Regulierung auf einfachen und klaren Prinzipien aufgebaut sein, und die Vorschriften müssten effektiv und einfach überwachbar sein, wie zum Beispiel eine einfache Mindestkapitalvorschrift anstelle der komplexen Basel-II-Prinzipien. Fairness: Das jetzige System begünstigt die großen Akteure und belohnt zum Teil sogar Fehlverhalten: „Die Kosten für sämtliche Hilfsaktionen sollten vom Bankensektor refinanziert werden, indem man Steuern auf Finanztransaktionen erhebt.“ (vgl. Kapoor 2009) (vgl. Kapoor 2009) Regulierung der Akteure (vgl. Köppen 2009): Das am 2. Juli 2008 vom Bundestag angenommene Gesetz zur Verstärkung der Finanzmarktaufsicht ist ein Schritt in die richtige Richtung, geht aber nicht weit genug. Basel II sollte ohne Wenn und Aber so schnell wie möglich ausgesetzt werden. Zur Unterlegung der Aktiva mit risikogewichtetem Eigenkapital muss eine einfache, starre Hinterlegung mit Eigenkapital treten. Wenn die Akteure gezwungen sind, mehr Eigenkapital zu hinterlegen, wirkt sich dies zunächst einmal natürlich wachstumsmindernd aus. Langfristig würde aber die Stabilität des Systems erhöht und damit Wohlfahrtsverluste durch Instabilität vermieden. Die von der Larosière-Gruppe am 27. Mai eingereichten Empfehlungen zur Verbesserung der Finanzmarktaufsicht und die Schaffung von EU-Aufsichtsbehörden sind wie die Beschlüsse der G-20 Gipfel von Washington vom November 2008 und von London vom April 2009 eher skeptisch zu bewerten. Durch die Delegation auf die nationale Ebene (eine Forderung Englands und der USA) wird das Aufsichtsprinzip von Anfang an unterlaufen, es beginnt sofort wieder der Wettlauf um die laxeste Umsetzung. In Bezug auf die Ratingagenturen sind erste Schritte zur Regulierung gemacht. Es ist wirklich erstaunlich, dass die Investmentbanken bis zum Herbst 2008 nicht der Banken-, sondern nur der Wertpapieraufsicht unterstanden und die Ratingagenturen bis heute nicht beaufsichtigt werden. Die derzeitigen Reformen gehen in die richtige Richtung. Zum Beispiel dürften die Ratingagenturen in Zukunft wohl keine Beratungsleistungen mehr erbringen. Insgesamt gehen die Vorschläge aber nicht weit genug. (vgl. Köppen 2009) Zur Regulierung der Akteure gehören auch an Nachhaltigkeit orientierte Regeln für die Vergütung. So kann es nur nützlich sein, wenn bei Haftpflichtversicherungen ein gewisser Selbstbehalt vorgeschrieben ist und wenn Boni erst nach einer Kulanzperiode von einigen Jahren ausgezahlt werden. Der Protest, den etliche Top-Manager gegen die geplante Gesetzesinitiative der Bundesregierung verlauten ließen, zeigt, dass die Einsicht hier noch nicht sehr weit fortgeschritten ist. (vgl. Neuerer und Riedel 2009) Des Weiteren: „Corporate Governance“ (Selbstkontrolle) kann nicht „Gouvernement“ – staatliche Aufsicht und Kontrolle – ersetzen. Regulierung der Produkte und Finanzinnovation: Charles Kindleberger erwähnt, dass die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich bereits im Jahr 1986 feststellte, dass das Risiko bei Finanzinnovationen systematisch unterschätzt werde, diese daher zu billig angeboten und zu stark genutzt würden. (vgl. Kindleberger 2001, S. 22) Nach der Jahr-
142 Teil 2 Die Finanzmärkte tausendwende wurden, wie wir jetzt wissen, verbriefte Produkte, Derivate, Hedgefonds und Private Equity in systemschädigendem Umfang genutzt, weil ihre wahren Kosten und Risiken sich nicht in den Zinsmargen für die Produkte widerspiegelten. Hedge Fonds und Private Equity wurden sogar noch ausdrücklich gefördert, zum Beispiel in den USA und England, wo auf die Erträge die Kapitalertragsteuer zu zahlen ist. In England sind dies nur 15 Prozent – eine massive Förderung der Reichen und Superreichen. Die auf EU-Ebene derzeit diskutierten Regulierungsmaßnahmen sind nicht mehr als eine Beschwichtigungsgeste. England, dessen Wirtschaft außer dem „Finanzplatz London“ nicht mehr viel zu bieten hat, konnte hier seine Interessen in Bezug auf Nichtregulierung innerhalb der EU weitestgehend durchsetzen. Reguliert werden sollen nur Alternative Investmentfonds (AIFM) mit Vermögen von mehr als 100 Millionen Euro, oder, falls keiner der verwalteten AIFM gehebelt ist, 500 Millionen Euro. Damit sind die folgenden Regulierungsbemühungen hinfällig, denn nichts ist leichter für die Anbieter, als einen Fonds auf mehrere aufzuspalten. Aber auch dann noch sind die Regulierungsbemühungen nicht mehr als ein sehr kleines Feigenblatt. AIFM müssen ein Eigenkapital von mindestens 125.000 Euro aufweisen. Damit können bestenfalls einige Risiken im Rahmen der Berufshaftpflicht abgedeckt werden, ökonomische Risiken werden durch diese Anforderung in keiner Weise gedeckt. Sie sollen „angemessene“ interne Methoden zum Risiko- und Liquiditätsmanagement verwenden. Hierzu merke ich an: Ich habe selber einen Hedgefonds initiiert (der mit 100 Prozent Eigenkapital arbeitet und ohne Derivate auskommt). Als Akteur der Branche und überzeugter Marktwirtschaftler sage ich: Diese Branche muss sehr viel stärker reguliert werden, denn sie geht mit „finanziellen Massenvernichtungswaffen“ (Warren Buffett) um. Verbraucherschutz im Asset Management stärken: Zur Regulierung der Produkte gehört auch ein besserer Verbraucherschutz. Deutsche und Österreicher sind Nettosparer, aber im Gegensatz zu vielen Menschen in den angelsächsischen Ländern, haben Deutsche oder Österreicher in Finanzdingen Aufholbedarf. Bis vor wenigen Jahren war es in Deutschland üblich, vom „Bankbeamten“ zu sprechen. Die Achterbahnfahrt der „New Economy“ von ca. 1998 bis 2002 und die sich direkt daran anschließende Zertifikatekonjunktur haben bei vielen deutschen und österreichischen Anlegern das Vertrauen in die Kapitalmärkte zerstört. Das ist schade, denn Deutsche und Österreicher verfügen über massive Spareinlagen und sollten an das Thema herangeführt und gegenüber Missbrauch besser geschützt werden. Das deutsche Verbraucherschutzministerium hat sich mittlerweile des Themas angenommen. Auch die europäische Markets in Financial Instruments Directive (MiFiD) befasst sich mit dem Thema. Auch hier sollten die Aspekte Einfachheit und Verständlichkeit sowie die Aufklärung der Verbraucher an vorderster Stelle stehen. Leider sind die tatsächlichen Regelungen so, dass sie vor allem die bürokratische Compliance fördern. Das begünstigt die großen Akteure, die weiter ihr Spiel treiben können, während viele unabhängige kleine Vermögensverwalter, die oftmals wesentlich bessere Leistungen bieten als die Banken, aus dem Markt gedrängt werden. Stattdessen werden komplexe Produkte wie Riester- oder Rürup-Renten gefördert, die sich meist erst bei einem
11 Das deutsche Bankwesen 143 Lebensalter von über 90 Jahren lohnen, weil die Anbieter sich unangemessen hohe Anteile der Rendite als Vergütung genehmigen. (vgl. wiwo.de 2009) Wie gereizt die Produkteanbieter reagierten, musste im August 2009 die Verbraucherzentrale erfahren, als sie durch eine durch die Debeka erwirkte einstweilige Verfügung daran gehindert wurde, ihren „Ampelcheck Geldanlage“ zu verbreiten. Das Landgericht Berlin untersagte der Verbraucherzentrale u. a., Kapitallebensversicherungen oder Rentenversicherungen als weniger sicher als andere Anlageprodukte, wie zum Beispiel Aktienfonds, darzustellen. Die Produkte dürfen auch nicht mehr mit „Achtung – Gefahr!“ oder „Ein Risiko oder Nachteil ist vorhanden“ bewertet werden. Betreiber des Verfahrens ist der Koblenzer Versicherungskonzern Debeka. Nach einem Ampelsystem hatte die Verbraucherzentrale Sicherheit, Rendite, Liquidität und Transparenz mit Grün, Gelb und Rot bewertet, an sich eine sinnvolle Sache. Der Debeka-Vorstandsvorsitzende kritisierte, dass komplexe Sachverhalte unzureichend vereinfacht würden. Das Gericht ist ihm zunächst gefolgt. Aber: Die Komplexität nutzt den Konzernen, um satt abzukassieren. In meinem neuen Buch „Informationscrash“, das im Oktober erscheinen wird, analysiere ich genau diese Zusammenhänge: Die Vielfalt im Finanzwesen (und in vielen anderen Wirtschaftsbereichen) lässt einen total überforderten Bürger zurück, der dann leichte Beute der Anbieter wird. Genau hier wollte die Verbraucherzentrale ein Gegengewicht schaffen und ist vorerst gescheitert. Im Zweifelsfall müssten Politik und Gerichte hier gegen die Produkte und Konzerne und für den Verbraucher entscheiden. Es ist weniger schlimm, wenn bestimmte Produkte aufgrund „verkürzter“ Bewertungen nicht auf den Markt kommen, als wenn der Verbraucher durch das Produktwirrwarr weiterhin nicht in der Lage ist, fundierte Entscheidungen zu treffen. Regionen: Regulierung muss international vergleichbar oder einheitlich sein, um effektiv und fair sein zu können. Mit der weitgehenden Nichtanwendung der von ihr initiierten Standards zur Eigenkapitalhinterlegung verschaffen sich zum Beispiel die USA einen massiven Wettbewerbsvorteil gegenüber Europa. Das Vorgehen des deutschen Finanzministers Peer Steinbrück gegen Steueroasen ist im Prinzip richtig, war aber zu einem guten Teil auch von einem vereinfachenden Populismus geprägt. Man suchte Opfer, die sich öffentlich an den Pranger stellen ließen: Die Schweiz, Liechtenstein und Luxemburg bekamen Rüffel und schwenkten auf die Steinbrück-Linie ein. Aber Chinas Zustimmung wurde unter anderem dadurch erkauft, dass Hongkong und Macao von der schwarzen Liste ausgeschlossen sind. Und noch ein weiteres Problem besteht: Etliche Länder erkennen zwar die OECD-Kriterien an und sind damit nicht auf der schwarzen Liste, umgehen dann aber die Regeln gegen die Steuerflucht durch Nichtanwendung effektiv bzw. wenden die Regeln nur sehr lose an. Hierzu gehören England (Kanalinseln, Bermudas, Bahamas, Cayman Islands), Irland und die USA (Delaware). Es steht wie bei Basel II zu befürchten, dass Deutschland, Österreich und die Schweiz die Regeln anwenden, während sie von anderen Ländern unterlaufen werden. (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2009; online welt.de 2009; Ferrari 2009)
144 Teil 2 Die Finanzmärkte  Rede des Bundesministers der Finanzen Peer Steinbrück bei der Fachtagung des DGB „Umdenken – Gegenlenken – Finanzmärkte zähmen“ am 01.07.2009 in Berlin. Tobin-Steuer einführen: Das Wort „Internationales Finanzkapital“ weckt Assoziationen zu Rudolf Hilferding, Rosa Luxemburg und Wladimir Iljitsch Lenin. Dabei macht der Begriff durchaus Sinn: Er drückt aus, dass es zwischen international mobilen Produktionsfaktoren (und nichts anderes sind „Internationales Finanzkapital“ oder Manager in Großkonzernen) und den international immobilen Produktionsfaktoren – Arbeitskräfte, mittelständische Unternehmer und Unternehmen sowie Spareinlagen – Interessengegensätze geben kann, die diskutiert und ggf. politisch ausgeglichen werden müssen. Die von James Tobin vorgeschlagene Steuer auf internationale Kapitaltransaktionen würde genau das bewirken, was sie bewirken soll: Sie würde schelle Finanzgeschäfte mit hohen Kapitalumschlägen bremsen und langfristig orientierte Kapitaltransaktionen fördern. Es geht um Verteilungs- und Machtfragen. Die Realwirtschaft würde gegenüber der Finanzwirtschaft gestärkt. Genau deswegen wehrt sich die internationale Finanzlobby mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Kompetenz in den Ministerien aufbauen: Zu einer besseren Regulierung gehört zunächst einmal der (Wieder-)Aufbau von konzeptioneller Kompetenz in den Ministerien. Es kann nicht sein, dass ganze Gesetze wie das Finanzmarktstabilisierungsgesetz von Rechtsanwaltskanzleien entworfen werden. Deutschland braucht dringend mehr Spitzenbeamte, die etwas bewegen. Hierzu wäre es dringend erforderlich, einen „Fast Track“ für potenziellen Nachwuchs bei den Spitzenbeamten zu etablieren und interessante Konditionen anzubieten. Die Besten eines Abschlussjahrgangs dürfen nicht nur in Rechtsanwaltskanzleien, Unternehmensberatungen und in die Finanzbranche wechseln. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass die derartig geförderten Kräfte nicht problemlos in die Industrie wechseln können. Das ist zum Beispiel ein institutionalisiertes Problem der amerikanischen Börsenaufsicht SEC, deren Führungskräfte regelmäßig in den Compliance- oder Risikoabteilungen der Banken landen. (vgl. Kotz 2009) Abschaffung oder starke Konsolidierung der Landesbanken: Die Landesbanken haben sich überlebt, die meisten Zentralfunktionen werden von den Genossenschaftsoder Sparkassenverbänden erfüllt. Nach wie vor aber verteidigen Landespolitiker „ihre“ verbliebenen Banken in etlichen Fällen hartnäckig. Die Bundesrepublik würde mit nur zwei, vielleicht sogar mit nur einer oder keiner Landesbank ein kleines Stück besser funktionieren. Anstatt um den Erhalt der eigenen Spielzeuge zu kämpfen, würde die politische Energie besser verwendet, sinnvolle Aufsichtsmechanismen zu entwickeln. Allerdings gibt es hier ein Ebenenproblem: Landesbanken sind (noch) Landessache, die Aufsicht findet national, auf EU-Ebene oder international statt. Man kann der Bundesregierung nur viel Erfolg bei ihrem Vorhaben würden, die Konsolidierung voranzutreiben.
11 Das deutsche Bankwesen 145 Konsequente Interessenpolitik im Sinne der Realwirtschaft: England verfolgt auch nach der Finanzkrise seine Interessen zur Deregulierung konsequent weiter. Es war Gordon Brown, der das Land in einen Hedgefonds verwandelte, als er die Steuer auf Kapitalerträge auf 15 Prozent senkte und damit die Reichen und Superreichen gegenüber den Normalverdienern massiv begünstigte. Die weitere Entwicklung in den USA bleibt abzuwarten, aber das sich abzeichnende Scheitern Barack Obamas in der Gesundheitsreform lässt auch für die Regulierung der Finanzmärkte trotz einiger positiver Ansätze nichts Gutes hoffen. Staatsfonds: Deutschland, Österreich und die Schweiz sind große Nettosparnationen. Sie haben – anders als Spanien, Irland oder England – weitgehend funktionierende Realwirtschaften. Das vielschichtige Finanzsystem insbesondere Deutschlands ist gut strukturiert, um die Realwirtschaft mit Kapital zu versorgen. Heute ist Deutschland der drittgrößte Kapitalexporteur der Welt. Nicht unser gesamtes Kapital kann zu Hause investiert werden, das ist in einem Land mit einer reifen Wirtschaft und einer schrumpfenden Bevölkerung nicht sinnvoll. Aber wir müssen aufpassen. Um 1900 war England der Finanzier der Welt. Genutzt hat es England wenig – das weltweit angelegte Kapital erodierte schnell. Derzeit befinden sich Deutschland, Österreich, Japan und auch ölexportierende Staaten wie Norwegen und die Golfstaaten in der Rolle von strukturellen Überschussländern. Diese Überschüsse müssen gut angelegt werden. In Norwegen, Deutschland und Österreich schrumpft die Bevölkerung. Derzeit ist Deutschland einer der größten Finanziers des Konsums in den USA. Die hieraus entstehenden Forderungen können sich schnell abwerten. Norwegen hat einen Staatsfonds, in dem Teile der Exportüberschüsse und des Auslandsvermögens langfristig angelegt werden, ebenso China und etliche Ölstaaten. Auch für Deutschland wäre die Gründung einer Agentur für Auslandsvermögen zu überlegen. Es ist sicher besser, deutsches Auslandsvermögen langfristig in Unternehmensbeteiligungen anzulegen, wie es China zunehmend macht, als die Spareinlagen der deutschen Sparer (gleiches gilt für Österreich) in den Kanälen der Finanzindustrie (Hedgefonds, amerikanische Medienfonds, Zertifikate, Subprime-Produkte) versickern zu lassen. Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow und wahrscheinlich sogar Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack hätten diese Forderung angesichts der geänderten weltwirtschaftlichen Verhältnisse unterstützt. Wenig ist geschafft, viel bleibt zu tun, und gering sind die Aussichten auf Erfolg. „Optimismus ist Feigheit“ (Flucht vor der Realität), schrieb Oswald Spengler 1932. (vgl. Spengler 1932, S. 135) In diesem Sinne wäre es „feige“, angesichts der gewaltigen auf uns zukommenden Aufgaben im Bankwesen ein Optimist zu sein. Versuchen müssen wir uns an der Reform allemal.  Ursprünglich erschienen in Deutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall: Rückblick und Ausblick, bei Springer Gabler, 2010.
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12 Volks- und Raiffeisenbanken als Stabilitätsfaktor in Wirtschaftskrisen 12  Hierbei sind die Sparda-Banken sowie die anderen Genossenschaftsbanken ausdrücklich eingeschlossen. Der Verfasser dankt der Volksbank Breisgau-Nord e. G., insbesondere den Herren Markus Singler und Reinhard Allgeier, der Volksbank Paderborn-Höxter-Detmold e. G., der VR-Bank Uffenheim-Neustadt e. G., der SpardaBank Baden-Württemberg e. G. und Herrn Gerhard Hofmann vom Bundesverband Deutscher Volks- und Raiffeisenbanken (BVR). Der Verfasser dankt Dipl.-Bw. Kerstin Franzisi für die Hilfe bei der Recherche. 12.1 Finanzmarktregulierung, Bankensystem und Finanzkrisen 12.1.1 Finanzkrisen und Finanzmarktregulierung Nach dem Juli 2007 und insbesondere im Herbst 2008 wurde deutlich, dass die Schieflage bzw. die Insolvenz einiger weniger großer Banken das gesamte weltweite Finanzsystem in den Abyss ziehen kann. Dabei kam die Krise keinesfalls überraschend. Die lateinamerikanische Schuldenkrise nach 1982, Folgekrisen einiger Staaten in Lateinamerika, die Asienkrise 1997 und der Kollaps des LTCM-Hedgefonds im Jahr 1998 sowie auch die Entstehung und das Platzen der Internetblase von 1997 bis 2002 hätten Warnsignale sein können. Geht man weiter in der Geschichte zurück, gibt es, beginnend mit der Tulpenkrise im Jahr 1636, Dutzende von Finanzkrisen, von denen die Weltwirtschaftskrise nach 1929 sicher die gravierendste ist. (vgl. Mackay, de la Vega et al. 2010) Dennoch kommen Finanzkrisen in den Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre nicht oder nur am Rande vor. 149 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_12
150 Teil 2 Die Finanzmärkte  „Economics“ von Samuelson und Nordhaus etwa, das bekannteste Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre, behandelt Finanzkrisen überhaupt nicht. Vgl. Samuelson, P. und Nordhaus, W.: Economics, 19th Ed., Irwin 2009; ebenso Frank, R. R. und Bernanke, B. S.: Principles of Macroeconomics, 3. Auflage, New York 2006. Finanzmärkte bergen systemische Risiken. Banken arbeiten mit wesentlich geringeren Eigenkapitalquoten als andere Unternehmen. Rutscht ein Institut in die Insolvenz, sehen die Kunden dieser Bank mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Einlagen nicht wieder. Die Insolvenz kann sich in Form einer Kettenreaktion fortsetzen und andere Institute in die Insolvenz ziehen. (vgl. Calomiris und Gorton 1991) Finanzinstitutionen gehören daher besonders strengen Regeln unterworfen, Regeln, die insbesondere die Kapitalausstattung, die Transparenz der Rechnungslegung, die Art der Geschäfte und die Produkte betreffen sollten. (vgl. Sinn 2004) In diesem Aufsatz soll unter anderem gezeigt werden, dass die Organisationsform der genossenschaftlich organisierten Bank in besonderer Weise den Anforderungen an ein stabiles, nachhaltiges und wettbewerbsorientiertes Bankensystem entspricht. Es soll gezeigt werden, dass etliche der Forderungen, die Aufsichtsbehörden umsetzen sollen, bereits in der genossenschaftlichen Organisationsform verwirklicht sind. In vielen Fällen wäre es daher nicht notwendig, „strengere Aufsicht“ walten zu lassen, sondern bessere Organisations- und Governance-Formen und Satzungen einzuführen, für die der genossenschaftlich organisierte Banksektor als Beispiel dienen kann. 12.1.2 Prinzipien zur Gestaltung eines Bankensystems Allgemeine Prinzipien Sony Kapoor, ein ehemaliger Investmentbanker, der Lehman bereits lange vor der Krise verließ, um sich mit der Reform des globalen Finanzwesens zu beschäftigen, fasst die Prinzipien zur Gestaltung eines Bankensystems wie folgt zusammen: Fairness, Stabilität und Nachhaltigkeit, Haftung, Transparenz, Wettbewerb, Diversität sowie Einfachheit. (vgl. Kapoor 2009a) Hätte man diese Prinzipien konsequent umgesetzt, wäre es nicht zur Finanzkrise in ihrer jetzigen Form und ihrem jetzigen Ausmaß gekommen. Gerechtigkeit und Fairness würden zum Beispiel bedeuten, dass Banken nicht mehr die Gewinne ihrer spekulativen Aktivitäten einstecken und die Verluste der Öffentlichkeit aufbürden können. Kosten und Risiken werden von den Verursachern getragen. Stabilität und Nachhaltigkeit würden unter anderem eine entsprechende Eigenkapitalausstattung und sehr strenge Regeln für Produkte, deren Kosten erst in der Zukunft anfallen bzw. deren Risiken nicht klar erkennbar sind, beinhalten.
12 Volks- und Raiffeisenbanken als Stabilitätsfaktor in Wirtschaftskrisen 151 Beispiel – Regulierung der Geschäftsmodelle Aus der Forderung nach Diversität ergibt sich die Forderung nach der Regulierung der Geschäftsmodelle – weg vom Allfinanzgeschäft und hin zu spezielleren Instituten, wie zum Beispiel Investmentbanken, klassische Kreditinstitute, Vermögensmanager und Spezialinstitute. Eine aus Sicht des Autors höchst sinnvolle Maßnahme – die aber kaum Chancen auf Erfolg hat – wäre das Verbot des Eigenhandels für Investmentbanken. Der Eigenhandel birgt durch die großen bewegten Summen massive systemische Risiken. Im Erfolgsfall kassieren Bank und Trader, im Misserfolgsfall zahlt die Öffentlichkeit. Dieses Marktsegment könnte in Zukunft komplett durch Hedgefonds abgedeckt werden. Der Vorteil: Rechtlich eigenständige Hedgefonds müssen ihre Mittel erst einwerben und haben damit zunächst nicht das Volumen wie der Eigenhandel großer Banken. Hier wäre zusätzlich über eine maximale Größe nachzudenken und darüber, wie viele Hedgefonds ein Manager betreuen darf. Auch eine Regulierung der Größe und der Region, in der eine Bank tätig sein darf – wie durch den Glass-Stegall-Act 1933 in den USA erfolgt – ist sinnvoll. Allzu große Banken erhöhen das systemische Risiko massiv, allzu kleine Banken exponieren sich vielleicht zu sehr bei spezifischen Risiken. (vgl. Kapoor 2009) Eine Lizenzierung und Kontingentierung von internationalen Tochtergesellschaften wäre sinnvoll, müsste allerdings in einem internationalen Rahmen angegangen werden. Einfachheit Gelegentlich ist das Argument zu hören, dass es in kaum einem Sektor so viele Regulierungen gebe, wie im Bankensektor.  So zum Beispiel Karl-Peter Schackmann-Fallis, Vorstandsmitglied des Deutschen Sparkassen-und Giroverbandes, auf dem Hermeskeiler Wirtschaftstag der Geschwister-Scholl-Schule in Hermeskeil am 08.06.2009. Das Argument geht an der Sache vorbei: Die jetzigen Regeln sind komplex, intransparent und oftmals wachsweich. Sie begünstigen tendenziell die großen Akteure und die Spekulation. Gute Regeln sind einfach und transparent, und setzen „harte“ Grenzen für bestimmte Geschäfte und Aktivitäten. Sie jetzt einzuführen, würde sicher bedeuten, das hypertrophe Finanzsystem wieder auf eine gesunde Größe zusammenzuschrumpfen. Dazu würden im Prinzip drei Regelwerke ausreichen: 1. transparente und ausreichende Eigenkapitalausstattung, 2. eine Regulierung der Geschäftsmodelle und der Regionen, in denen eine Bank tätig ist und 3. einige Regeln für Produkte (zum Beispiel eine starke Einschränkung der Verwendung von Derivaten bei Privatanlegern).
152 12.2 Teil 2 Die Finanzmärkte Das Geschäftsmodell der Volks- und Raiffeisenbanken: Historische Perspektive und Aktualität in der Krise 12.2.1 Historische Perspektiven Kapoor fordert unter anderem die ausreichende Diversität des Bankensystems. (vgl. Kapoor 2009b) Ein stabiles und ausdifferenziertes Banken-Ökosystem, das aus Banken mit unterschiedlichen und klar abgegrenzten Geschäftsmodellen besteht, ist krisenresistenter als eine Bankenmonokultur. Wenn plötzlich viele Banken Investmentbanking betreiben wollen oder strukturierte Produkte vertreiben, wenn Banken wie Versicherungen agieren und Versicherungen wie Banken, dann ist die Diversität gefährdet. Das deutsche Bankwesen von ca. 1870 bis 1990 und damit auch der wichtige Sektor der genossenschaftlich organisierten Banken entsprachen in besonderem Ausmaß den Forderungen nach Diversität und Stabilität. Internationale Autoren blickten bereits im frühen 20. Jahrhundert mit Respekt, ja sogar Neid, auf dieses System. (vgl. Hauser 1983) Der jüngeren Kritik aus dem angelsächsischen Raum, dass sich im deutschen Bankwesen keine ausreichenden Eigenkapitalrenditen erzielen lassen, entzieht Hannes Rehm in einem bemerkenswerten Artikel den Boden. Das deutsche Bankwesen liegt bei fast allen Produktivitätskennziffern vorne, mit Ausnahme eben der Eigenkapitalrendite. Eine hohe Eigenkapitalrendite ist aber gerade der Beweis für fehlenden Wettbewerb und oligopolistische Strukturen, wie sie zum Beispiel in den USA, England, Spanien und Italien dominieren. (vgl. Rehm 2008) Das deutsche Bankwesen kann im Gegenteil als ein vorbildlich ausdifferenziertes System gesehen werden, welches seine Aufgabe – die Wirtschaft mit Krediten zu versorgen und einen ausreichenden Wettbewerb zu gewährleisten – größtenteils sehr gut erfüllt. Das auf den drei Säulen der Genossenschaftsbanken, der Sparkassen und der Privatbanken beruhende Finanzsystem entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und hat in seinen Grundzügen bis heute Bestand. Ende 2007 zählte die Deutsche Bundesbank 2277 Institute mit 38.840 Zweigstellen, darunter 446 Sparkassen und zwölf Landesbanken, 1234 Kreditgenossenschaften und zwei genossenschaftliche Zentralinstitute sowie 260 Privatbanken, darunter fünf Großbanken. In diesem System bilden die Sparkassen und die Genossenschaftsbanken die Basis. Sparkassen: Noch vor den Genossenschaftsbanken und dem Beginn der industriellen Revolution entstanden im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die ersten Sparkassen. Der Sparkassensektor ist bis heute noch vor den genossenschaftlich organisierten Banken nach Kreditvolumen Marktführer in Deutschland. Im Jahr 1884 wurde der erste Sparkassenverband gegründet. Die erste Girozentrale entstand 1908 in Sachsen. Der bargeldlose Zahlungsverkehr mit Lastschriften und Abbuchungen stellte im Verlauf des gesamten 20. Jahrhunderts einen großen Effizienzvorteil des deutschen Wirtschaftssystems gegenüber dem angelsächsischen System dar.
12 Volks- und Raiffeisenbanken als Stabilitätsfaktor in Wirtschaftskrisen 153 Genossenschaftsbanken: Die ersten Genossenschaften entstanden Anfang des 19. Jahrhunderts aus der Idee der Selbsthilfe unter freien Bürgern und Bauern. Während Hermann Schulze-Delitzsch sich dabei vor allem auf die Handwerker konzentrierte, lag der Schwerpunkt der Bemühungen von Friedrich Wilhelm Raiffeisen bei den Bauern. Der heute nicht mehr so bekannte Viktor Aimé Huber wollte auch Fabrikarbeiter in die genossenschaftliche Idee einbeziehen. 1850 gründete Hermann Schulze-Delitzsch in Leipzig mit dem „Vorschussverein“ die erste Kreditgenossenschaft. Bis zum preußischen Genossenschaftsgesetz von 1867 hafteten die Mitglieder mit ihrem gesamten Vermögen wie bei einer offenen Handelsgesellschaft, danach in Höhe der angesammelten Mitgliedsbeiträge. 1887 wurde auch ein Reichsgenossenschaftsgesetz beschlossen. Bereits 1864 wurde in Berlin die Deutsche Genossenschaftsbank als Zentralinstitut gegründet. Nach 1870 drifteten die Handwerksgenossenschaften und die landwirtschaftlich orientierten Raiffeisen-Genossenschaften auseinander, näherten sich jedoch ab 1890 wieder aneinander an. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es in Deutschland rund 17.000 Kreditgenossenschaften, fast in jedem Dorf eine. Diese auf Solidarität und bürgerlicher Selbstorganisation beruhende Finanzierungsstruktur für das Handwerk, Landwirtschaft und industriellen Mittelstand durch Kreditgenossenschaften (und Sparkassen) war eine der großen Stärken des deutschen Finanzsystems und ist es bis heute. Demgegenüber mutet das Bankwesen der Vereinigten Staaten im 19. und teilweise auch im 20. Jahrhundert fast vorsintflutlich an: Vor Beginn der Großen Depression gab es in den USA im Jahr 1929 noch 24.633 Banken, viele davon nicht mehr als ein kleines Gebäude zur Ein und Auszahlung von Geld. (vgl. Historical Statistics of the United States (ed.) 1975) Überschüssiges Kapital wurde in die sogenannten Money Center gesandt, wo es für große Handels- und Investmentbankingaktivitäten verwendet wurde. Die regionale Kreditversorgung, wie sie in Deutschland gegeben war, war in den USA unterentwickelt. Privatbanken und Private Aktienbanken, Versicherungen, „Deutschland AG“: Der hohe Kapitalbedarf der während der industriellen Revolution entstehenden Konzerne wurde nach 1850, und insbesondere nach der Gründerzeit, die 1870 begann, zu einem guten Teil durch langfristige Kredite von mit Kapital gut ausgestatteten Aktienbanken bereitgestellt. Im Jahr 1870 entstanden die Deutsche Bank und die Commerzbank, 1872 die Vorläuferin der Dresdner Bank und bereits 1869 die Bayerische Vereinsbank. Ab Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich auch die Versicherungskonzerne zu wichtigen Kapitalsammelstellen für die Wirtschaft. Später übernahmen sie auch direkte Industriebeteiligungen. Im Jahr 1890 wurde die Allianz gegründet, die rasch zusammen mit der Deutschen Bank im Zentrum der „Deutschland AG“ stand.
154 Teil 2 Die Finanzmärkte 12.2.2 Stabilitätsfördernde Elemente des Geschäftsmodells der Volks- und Raiffeisenbanken Einfaches und klares Geschäftsmodell Das seit Berle und Means bekannte Principal-Agent-Problem in der institutionellen Ökonomik legt nahe, dass Unternehmen mit klaren und einfachen Geschäftsmodellen aufgrund geringerer Informationsasymmetrien geringere Agency-Probleme zu erwarten haben als komplexe Organisationen. (vgl. Berle und Means 1932) (vgl. Grossman und Hart 1983) Das Geschäftsmodell der Volks- und Raiffeisenbanken ist – wie das der Sparkassen – denkbar klar und einfach. Die Volks- oder Raiffeisenbank nimmt im Wesentlichen Kundeneinlagen entgegen und vergibt Kredite an private und gewerbliche Kunden, die oft durch Grundpfandrechte besichert sind. Daneben wird Geschäft der Spezialinstitute vermittelt. Auf der Aktivseite machen Forderungen an Kunden meist über 50 Prozent der Bilanzsumme aus, ein Großteil davon ist wiederum durch Grundpfandrechte gesichert. Die Forderungen an Kreditinstitute betragen bei den untersuchten Instituten weniger als 20 Prozent der Bilanzsumme, die Investitionen in Schuldverschreibungen und andere festverzinsliche Wertpapiere ca. 20 Prozent. Auf der Passivseite sind mehr als 60 Prozent originäres Geschäft – nämlich Geschäft mit den Firmen- und Privatkunden der Bank. Eine solche „Erdung“ des Bankgeschäfts trägt wesentlich dazu bei, dass keine komplexen Strukturen derivativer Finanzgeschäfte entstehen und dass die Funktion der Genossenschaftsbanken eine „dienende für die Realwirtschaft“ ist. Dies ist nach Rehm auch insgesamt für den Banksektor zu fordern. (vgl. Rehm 2009, S. 321) Ausdifferenzierung im FinanzVerbund Auch die Zentralinstitute im FinanzVerbund wie die DZ und WGZ-Bank, Union Investment, die R+V Versicherung, die VR Leasing und die Bausparkasse Schwäbisch Hall entsprechen der Forderung eines ausdifferenzierten Banksystems – hier gibt es Institute mit weitgehend klaren Mandaten, die von ihren Mitgliedern getragen werden. Eine derartige Differenzierung in überregionale und internationale Spezialinstitute und regionale Kundeninstitute, die jeweils rechtlich selbstständig sind, entspricht in besonderem Maße den Prinzipien nachhaltigen Handelns: Die regionalen Genossenschaftsbanken sind als Hauptansprechpartner des Kunden Generalisten mit einem klaren Mandat, die Spezialinstitute haben ebenfalls klare Mandate. Beides hilft, bei größtmöglicher Transparenz durch ebenfalls klare Mandate der Spezialinstitute eine umfassende Bedienung der Kundenwünsche zu ermöglichen. Verkaufskennzahlen zeigen in diesem Zusammenhang, dass das Geschäft mit den Spezialinstituten zwar zur Wertschöpfung beiträgt, aber volumenmäßig bei unter 20 Prozent der Forderungen der Regionalinstitute an Kunden bleibt (Übersicht von wichtigen Verkaufskennzahlen der Volksbank Breisgau Nord e. G., 2002–2008, internes Dokument).
12 Volks- und Raiffeisenbanken als Stabilitätsfaktor in Wirtschaftskrisen 155 Zudem teilt es sich auf verschiedene Zentralinstitute auf. Damit ist das einzelne Institut nicht übermäßig von einem Spezialinstitut abhängig. Allerdings treten Spezialinstitute auch als Initiator von Produkten und Services auf, die sich nicht unbedingt mit der ursprünglichen Idee der Genossenschaftsbanken in Einklang bringen lassen. So ist die DZ Bank einer der großen Akteure im Derivategeschäft in Deutschland. Andere Spezialinstitute, wie zum Beispiel der Bereich Banken und Kreditversicherung der R+V Versicherung, weisen eine ausgesprochen antizyklische und damit auch gesamtwirtschaftlich stabilisierende Geschäftspolitik auf (Gespräch mit Rudolf Servatius, Bereichsleiter Banken und Kredit, R+V Versicherungen, in Köln am 18.01.2010). Regionalprinzip Die genossenschaftliche Organisationsform hat dazu beigetragen, die Auswirkungen der Krise in Deutschland zu minimieren. Sie entspricht in besonderem Ausmaß den Anforderungen an ein Bankensystem: Durch das Regionalprinzip können Risiken in der Kreditvergabe besser erkannt werden als bei großflächig aktiven Instituten. Neben den „harten“ Faktoren können so auch „weiche“ Faktoren besser eingeschätzt werden. Zudem ist der Faktor „Reputation“ in einem regionalen Kontext als disziplinierender Faktor wesentlich wirksamer als auf anonymen internationalen Kapitalmärkten. (vgl. Cabral 2005) (vgl. Kreps und Wilson 1982) Es ist an der Zeit, den von Rudolf Hilferding eingeführten Begriff des „Internationalen Finanzkapitals“ nüchtern und ohne ideologische Scheuklappen auf seine Nützlichkeit zu untersuchen. (vgl. Hilferding 1910) Letztlich soll der Begriff verdeutlichen, dass es zwischen international mobilen Produktionsfaktoren – und das sind Kapital und ggf. auch Manager – und regional gebundenen Faktoren – mittelständischen Unternehmern, regional ausgerichteten Banken, Kommunen und Arbeitnehmern – Interessenkonflikte geben kann. Natürlich werden international agierende Finanzfonds und Banken anders agieren als regional verankerte Unter- nehmen, selbst wenn die letztgenannten massiv exportieren sollten. Die jüngste Vergangenheit hat deutlich gezeigt, dass internationale Kapitalströme weit über den Rahmen des ökonomisch sinnvollen Ausmaßes auftreten und zu gesamtwirtschaftlichen Blasen führen können. Platzen diese Blasen, fließt Kapital panikartig ab. Beispiele sind die lateinamerikanische Schuldenkrise nach 1982, die Asienkrise 1997, die lateinamerikanischen Krisen der 90er aber auch die Subprime-Krise, die ohne den massiven Zustrom internationalen Kapitals in die USA nicht hätte erfolgen können. Derartige, durch das Finanzsystem selbst erzeugte Instabilitäten verringern die Planungssicherheit. Während Finanzakteure durch die hohe Volatilität an den Weltfinanzmärkten in Summe gut verdienen können, ist diese für produzierende Unternehmen schädlich. Nach der Weltwirtschaftskrise hatte der marktwirtschaftlich orientierte Teil der Welt sich im System von Bretton Woods Regeln gegeben, die unter anderem feste, aber anpassungsfähige Wechselkurse, Regeln für den Kapitalverkehr und staatliche Interventionen bei starken außerwirtschaftlichen Ungleichgewichten beinhalteten. Diese Regeln waren eine direkte Konsequenz aus der Weltwirtschaftskrise nach 1929. Sie wurden
156 Teil 2 Die Finanzmärkte nach 1971, als US-Präsident Nixon die Konvertibilität des US-Dollars in Gold aufhob, im Zuge der Liberalisierung sukzessive abgeschafft. Angesichts des Fehlens verbindlicher internationaler Regelungen wirkt es sich stabilisierend auf die deutsche und auch die internationale Wirtschaft aus, dass Deutschland als drittgrößte Sparnation der Welt in den Volks- und Raiffeisen-, Genossenschafts- und Sparda-Banken – sowie auch in den Sparkassen – eine regional verankerte Bankenlandschaft besitzt. Diese Stärke des deutschen Bankwesens ist immer wieder Angriffen der internationalen Finanzlobby ausgesetzt, die zunächst die Gewährträgerhaftung der Sparkassen und Landesbanken aufhob. Nun sind aber (völlig marktkonform) sogar die aus eigenen Mitteln finanzierten Sicherungseinrichtungen des genossenschaftlich organisierten Banksektors unter Druck seitens der internationalen Finanzlobby. Hier ist höchste Wachsamkeit geboten. Es besteht ein Interessengegensatz zwischen genossenschaftlich, regional und realwirtschaftlich verankerten Finanzinstituten und internationalen Finanzakteuren, und es ist an der Zeit, dass die Genossenschaftsbanken diesen Interessengegensatz ernst nehmen und sich deutlicher gegen entsprechende Lobbyversuche wehren. Governance: Genossenschaftliche Organisationsform Die genossenschaftliche Organisationsform sorgt für eine eingeschränkte Fungibilität der Anteile sowie dafür, dass ein einzelner Anteilseigner nie einen maßgeblichen Stimmanteil erringen kann. Dies wird in der „modernen“ ökonomischen Literatur oftmals als Nachteil gesehen, da es keinen aktiven Markt für Unternehmensübernahmen gebe, der ansonsten für Effizienz sorge. (vgl. Jensen und Ruback 1983; Jensen 1986) Allerdings werden die kritischen Stimmen am „Shareholder Value“ und den positiven Wirkungen des Marktes für „Corporate Control“ lauter. Etliche Studien belegen, dass über zwei Drittel aller Fusionen wertvernichtend wirken. (vgl. Grubb und Lamb 2004) Sogar der Ex-CEO von General Electric, Jack Welch, der „Shareholder Value“ populär gemacht hat, sieht die einseitige Shareholder-Value-Orientierung als Fehler an. (vgl. o. V. 2009a) Sie führt oftmals zu Kurzfristdenken und einer übermäßigen Finanzmarktorientierung auf Kosten von Kunden und der Entwicklung neuer Produkte. Insofern gibt die genossenschaftliche Organisationsform den einzelnen Instituten die Chance, sich auf ihr Kerngeschäft zu konzentrieren. Sie bietet einen Schutz vor Managementmethoden und -moden, die in den letzten Jahrzehnten über die Unternehmenswelt gezogen sind. Dass dabei der Faktor Effizienz nicht zu kurz kommt, zeigen die massiven Effizienzgewinne des genossenschaftlich orientierten Sektors in den letzten beiden Jahrzehnten. Beispielhaft hierfür sind die operativen Kennzahlen der SpardaBank Baden-Württemberg e. G., die sich auch in der Krise weiter verbessert haben. Auch der „Markt für Unternehmensübernahmen“ funktionierte intern: Eine Vielzahl von kleineren Instituten wurde in den letzten Jahrzehnten fusioniert, sodass die Bereinigung der deutschen Banklandschaft viel weiter fortgeschritten ist, als dies von internationaler Seite zugegeben wird. (vgl. Rehm 2008, S. 137)
12 Volks- und Raiffeisenbanken als Stabilitätsfaktor in Wirtschaftskrisen 157 Haftung: Eigenkapital und Sicherungseinrichtungen Mit mindestens 4 bis 5 Prozent „echtem“ Eigenkapital sowie weiteren Rückstellungen – der Verfasser zieht hier bewusst die einfachen Eigenkapitalquoten und nicht die BaselII-Definitionen zu Rate – sind die meisten Genossenschaftsbanken angesichts des klaren Geschäftsmodells angemessen kapitalisiert, solange sie ein gutes Risikocontrolling betreiben. Mit den durch eigene Umlagen finanzierten Sicherungseinrichtungen entsprechen die Genossenschaftsbanken in besonderem Maße dem Prinzip der Haftung (im Verbund) für eigene ökonomische Fehleinschätzungen. 12.3 Die Volks- und Raiffeisenbanken und die Finanzkrise Bei den von mir stichprobenartig untersuchten Instituten – der Volksbank Breisgau Nord, der VR-Bank Uffenheim-Neustadt, der Volksbank Paderborn-Höxter-Detmold und der Sparda-Bank Baden-Württemberg e. G. – halten sich die negativen Auswirkungen der Finanzkrise 2008/2009 im Rahmen. Die entsprechenden Institute betreiben ihr Geschäft weitgehend unverändert und üben somit einen stabilisierenden Einfluss auf die Wirtschaft aus. So kann der folgende Abschnitt auch relativ kurzgehalten werden. In einigen der Institute stieg das Kreditvolumen, in anderen sank es leicht. Es kann davon ausgegangen werden, dass zusätzliche Kredite vergeben wurden, zumal die Investitionsnachfrage 2008 dramatisch einbrach. Bei einem der untersuchten Institute ist im Jahr 2008 bei einem um 0,3 Prozent abnehmenden Kundenvolumen ein Anstieg des Jahresüberschusses von 10 Prozent zu verzeichnen. Die untersuchten Volks- und Raiffeisenbanken haben durchweg aufgrund der Finanzkrise Mittelzuflüsse aus Kundeneinlagen zu verzeichnen. Einzelne, bilanziell besonders gut dastehende Institute nutzten auch die extrem subventionierten Refinanzierungsmöglichkeiten über die Europäische Zentralbank, um Mittel aufzunehmen und diese im Geldmarkt oder Markt für Schuldverschreibungen zu investieren. Die entsprechenden staatlichen Subventionen durch die Niedrigzinspolitik der Notenbanken werden vor allem bei den Instituten benötigt, die vor der Finanzkrise unseriös gewirtschaftet haben. Die genossenschaftlich orientierten Banken haben im Rahmen der Finanzkrise sowieso einen hohen Zufluss von Spar- und Sichteinlagen zu verarbeiten und nutzen staatliche Subventionen nach Kenntnis dieses Verfassers vor allem zu Mitnahmeeffekten. Letztlich zeigt sich hier exemplarisch, dass die monetären Rettungsaktionen der Notenbanken zu Kapitalfehlallokationen führen können: VR-Banken nutzen die zusätzliche Liquidität für Finanzmarktgeschäfte, während sie ihr reguläres Kreditgeschäft bereits mit Eigenmitteln abdecken können.
158 12.4 Teil 2 Die Finanzmärkte Herausforderungen und Chancen 12.4.1 Basel II – Leverage Ratio Die Hinterlegung von Bankaktiva durch risikogewichtetes Eigenkapital nach Basel II hat letztlich die Finanzkrise nicht verhindert. Das Regelwerk sowie die Zulassung von Kapitalsurrogaten erhöhen die Komplexität der Regulierung sowie die Intransparenz. Das Regelwerk von Basel II hat letztlich eine Verringerung der Eigenkapitaldecke zur Folge. Es belastet kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) mit zusätzlichem Aufwand. Der Baseler Ausschuss entwickelt Konzepte zur Erhöhung der Qualität des Kernkapitals. Sogar eine feste „Leverage Ratio“ für Banken wird angedacht. Der BVR lehnt die letztere Überlegung ab, da sich eine „Leverage Ratio“ auch in den USA nicht bewährt habe. (vgl. Dieterich 2009) Auch der Bundesverband deutscher Banken lehnt die Einführung einer „Leverage Ratio“ strikt ab. (vgl. o. V. 2009b) Dies ist aus Sicht der Regionalinstitute des genossenschaftlichen Sektors und des Sparkassensektors schwer nachzuvollziehen. Das Haupt- und Tagesgeschäft beider Unternehmensgruppen würde von einer solchen Leverage Ratio, die vor allem bei den internationalen kapitalmarktorientierten Instituten greifen würde, nicht tangiert. Die Leverage Ratio würde gerade den spekulativen Sektor beschneiden und das Kreditgeschäft weitgehend unbeeinträchtigt lassen. Lediglich die Zentralinstitute könnten sich hier Beschränkungen ausgesetzt sehen. Für den genossenschaftlich orientierten Banksektor (wie auch für die Sparkassen) wäre es von Vorteil, wenn einfache und klare Kapitalregeln gelten würden. Ansonsten steht zu befürchten, dass die für die Realwirtschaft oftmals schädlichen Geschäfte der kapitalmarktorientierten internationalen Akteure weitestgehend ungebremst weiter stattfinden werden. 12.4.2 Rating – kapitalistische Planwirtschaft? Mit der massiven Verbriefung von Krediten hat sich das weltweite Finanzsystem in Richtung einer möglichst weitgehenden Disintermediation und Anonymisierung des Kreditgeschäfts bewegt. Die Hoffnungen, die dabei in das Rating von Produkten und die „Objektivierung“ der Kreditvergabe gesteckt wurden, haben sich bei den großen internationalen Kapitalmarktakteuren nicht erfüllt. Im Gegenteil: Die Finanzkrise wurde auch ermöglicht durch eine wirklichkeitsfremde „kapitalistische Planwirtschaft“, bei der sich alle Akteure nach den zentral festgelegten Ratingnoten eines privaten angelsächsischen Kartells richteten, in welchem zudem massive Interessenkonflikte die Objektivität der Akteure beeinträchtigten. Auch nach der Finanzkrise ist ein weitgehendes Festhalten am System der zentralen Ratingagenturen zu konstatieren. Das Regionalprinzip der Genossenschaftsbanken sowie das deutsche Hausbankensystem ist dem ursprünglichen Gedanken des Ratings diametral entgegengesetzt, wenn im
12 Volks- und Raiffeisenbanken als Stabilitätsfaktor in Wirtschaftskrisen 159 Hinblick auf Transparenz, Governance und Kompetenz vor Ort sicher auch Kritik möglich ist. Mit dem bankintern vom BVR entwickelten Ratingsystem ist für die Genossenschaftsbanken und Zentralinstitute ein praktikables Modell entwickelt worden, welches in vielen mittelständischen Unternehmen der deutschen Wirtschaft – auch bei kleineren Mittelständlern – erfolgreich Anwendung findet. So analysiert alleine der Bereich Banken und Kredit der R+V Versicherung jährlich an die 10.000 Bilanzen. Hier könnte auch ein effektives Gegengewicht zu den angelsächsischen Ratingagenturen entstehen. 12.4.3 Basel II: Prozyklizität sowie IFRS In der Finanzkrise wurde deutlich, dass die Regelungen von Basel II prozyklisch wirken. In der Krise steigen die Risikozuschläge, in guten Zeiten sinken sie. Eine solche Prozyklizität nutzt dem internationalen Finanzkapital und schadet der Realwirtschaft. Volatilität nutzt zunächst einmal spekulativ und flexibel agierenden Finanzmarktakteuren und schafft realwirtschaftliche Kosten in Form von Kalkulationsunsicherheit und Verwerfungen. Hier ist dringend – auf deutscher, europäischer und internationaler Ebene – eine Reform anzumahnen. Ähnliches gilt für die IFRS, die oftmals die Transparenz erschweren und ebenfalls prozyklische Elemente enthalten. Bieg hat die schädlichen Auswirkungen der Fair Value Bilanzierung dargelegt und eine Initiative gegen Fair Value gestartet. (vgl. o. V. 2008a) Peemöller kommt zu dem Schluss, „dass die Übernahme der IFRS für kleine und mittlere Unternehmen nicht unproblematisch ist.“ (vgl. Peemöller und Schmalz 2007, S. 220) Ebenfalls fordert er, dass die berechtigte Kritik nicht dazu führen dürfe, sich nicht mit IFRS zu beschäftigen und diese Belange alleine in die Hände der Berater und Prüfer zu legen. (vgl. Peemöller und Schmalz 2007, S. 221) Noch bilanzieren die Regionalgesellschaften nach dem HGB. Dies ist nach Ansicht des Verfassers mit allen Mitteln zu verteidigen. Auch für die Zentralinstitute wäre eine Rückkehr zum HGB nach Ansicht dieses Verfassers zu fordern. 12.4.4 Zentralinstitute und Shared Services Zwischen Zentral- und Regionalinstituten besteht ein komplexes Verhältnis, das nicht immer ganz frei von produktiven Spannungen ist. Ein Teil der Kontroverse bezieht sich auf die Gestaltung der internen Verrechnungssätze. Zentralinstitute erbringen vielerlei Produkte und Dienstleistungen, welche von den Regionalinstituten vertrieben werden: Lebensversicherungen, Leasingverträge, Bausparverträge, Fondsanlagen. Allerdings kann sich das zentrale Angebot auch seine eigene Nachfrage schaffen, wie vermutlich im Bereich der deutschen Sonderkonjunktur bei den Zertifikaten, die es so – außer in Österreich – in keinem Land der Welt gibt. Vergleichsweise wenig restriktive Regulierungen bei dem Vertrieb von Zertifikaten an Privatanleger und massive Erspar-
160 Teil 2 Die Finanzmärkte nisse der deutschen Privathaushalte führten in Deutschland zu einer Zertifikateflut, wobei viele Papiere oftmals missbräuchlich, gegen den Kundenwillen und zum Schaden des Kunden platziert wurden. Hier ist darauf zu achten, dass Zentralinstitute wie die DZ Bank nicht über das Ziel hinausschießen und sich in Marktsegmenten engagieren, die mit dem ursprünglichen Ziel der Förderung der Mitglieder nichts mehr zu tun haben. (vgl. o. V. 2008b) 12.4.5 Veränderungen im Markt: Asset Management, Honorarberatung In der alternden Nettosparnation Deutschland sind Asset Management und Vermögensverwaltung für Privatkunden mittlerweile zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor innerhalb der Finanzbranche geworden. So stieg das Geldvermögen der privaten Haushalte in Deutschland von 3,6 Billionen Euro im Jahr 2000 auf 4,6 Billionen im Jahr 2007. (vgl. Seibert 2008) Das Fondsvermögen stieg von 2000 bis zum ersten Halbjahr 2008 von 450 auf 700 Millionen Euro. (vgl. Seibert 2008, S. 35) Die Zahl der Kunden der Finanzvertriebe stieg von 760.000 im Jahr 2004 auf 930.000 im Jahr 2007. (vgl. Seibert 2008, S. 37) Der Anteil der Einkommensgruppe „200 Prozent des Median und mehr“ stieg um fast 75 Prozent, von 5,3 Prozent im Jahr 1986 auf 9,2 Prozent im Jahr 2006 an. (vgl. Seibert 2008, S. 45) Im Bereich Asset Management ist in Deutschland weiter massives Wachstumspotenzial vorhanden. Deutsche Privatanleger sind allerdings aufgrund ihrer Erfahrungen mit der „New Economy“ und der Zertifikatekonjunktur von 2002 bis 2007 zu Recht skeptisch in Bezug auf die Beratungsleistungen ihrer Banken. Hier gilt es auch für die Genossenschaftsbanken, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Ein Zukunftstrend ist hierbei die Honorarberatung. Neben der kleinen Quirin-Bank, die dieses Thema in Deutschland eingeführt hat, wollen sie auch die Online-Broker Consors und comdirect Honorarberatung anbieten. (vgl. Bastian 2009) Aus Sicht des Verfassers sind Asset Management und Honorarberatung Themen, die einer Grundsatzdiskussion und Neuorientierung im FinanzVerbund bedürfen. Waren zur Zeit der Gründung der Genossenschaftsbanken bis in die 1990er Jahre des letzten Jahrtausends die Kreditvergabe und einfache Vorsorgeprodukte das Basisgeschäft der Regionalbank, muss heute auch die kompetente Vermögensberatung hinzukommen. Dies geht aber nur über die fachliche Höherqualifizierung von Bankberatern, die eben nicht nur Vertriebsarme der Zentralinstitute sein dürfen, sondern anbieterunabhängig beraten sollten. Stehen die Interessen des Mitglieds der Genossenschaftsbank im Zentrum, muss also auch das Verhältnis insbesondere der Zentralinstitute Union Investment und DZ Bank zu den Regionalbanken überdacht werden.
12 Volks- und Raiffeisenbanken als Stabilitätsfaktor in Wirtschaftskrisen 161 12.4.6 Mitgliedschaftsmodell als Zukunftschance In einer Welt zunehmender Informationsbeschleunigung und oftmals auch gezielter Desinformation werden Authentizität und Glaubwürdigkeit zu entscheidenden Stärken im Markt. (vgl. Otte 2009) Kundenbindungsprogramme und Kundenclubs sind seit den 1990er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu einem sich rasch entwickelnden Instrument des Marketings und der Produktpolitik geworden. (vgl. Butscher 1998) Der genossenschaftliche Sektor verfügt über 30 Millionen Kunden, davon 16,2 Millionen Mitglieder. (vgl. DZ Bank Gruppe (Hrsg.) 2009) Das einzigartige Potenzial dieser Basis ist bislang nur ansatzweise genutzt. (vgl. Hammerschmidt 2003) Neben der gesellschaftsrechtlichen Mitgliedschaft lassen sich erweiterte Mitgliedschaftsmodelle – zum Beispiel in der Honorarberatung wie bereits von Quirin praktiziert – konzipieren, die den Regionalinstituten massives Wachstumspotenzial und stabile, abonnementartige Einnahmen erschließen würden. Voraussetzung ist eine Produktpolitik, die den Privatkunden – vor allem im Asset Management – wieder in den Mittelpunkt stellt. 12.5 Schlussbemerkung Der genossenschaftlich organisierte Banksektor hat sich als krisenresistent erwiesen. Organisation und Governance sowie die Geschäftsmodelle in diesem Sektor könnten auch international Anregungen für die Gestaltung von Banksystemen bieten. Die derzeitigen regulatorischen Bemühungen gehen allerdings auch nach der Krise eher in Richtung zentraler, komplexer und oftmals intransparenter Regelwerke als in Richtung eines selbstorganisierten eigenverantwortlichen Systems mit klaren Geschäftsmodellen. Es ist damit zu rechnen, dass der genossenschaftlich organisierte Sektor weiterhin massiver Kritik und existenzbedrohenden Angriffen durch internationale Großbanken, kapitalmarktorientierte Akteure und ihrer Lobby ausgesetzt sein wird. Es wird massiver Anstrengungen bedürfen, die Existenz dieses deutschen (bzw. österreichischen und schweizerischen) Erfolgsmodells langfristig gegen das internationale Finanzkapital und die Interessen der großen internationalen Finanzakteure zu sichern.  Ursprünglich erschienen in Zeitschrift für das Genossenschaftswesen (Heft 2),bei Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, 2010.
162 12.6 Teil 2 Die Finanzmärkte Literatur Bastian, N. (2009): Direktbanken testen Honorarberatung, Handelsblatt, 24.07.2009, online: https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/comdirect-und-cortal-consorsdirektbanken-testen-honorarberatung/3226038.html?ticket=ST-1253615pgejsecVs5bkZQdAwr4R-ap2 Berle, A. und Means G. (1932): The Modern Corporation and Private Property. New York. Butscher, S. (1998): Handbuch Kundenbindungsprogramme und Kundenclubs. Ettlingen. Cabral, L. M. B. (2005): The Economics of Reputation – a Primer, New York 2005, online: https://pdfs.semanticscholar.org/24e5/2f3bd22d4bfa86902e5ae07d57039480004f.pdf Calomiris, C. W. und Gorton, G. (1991): The Origins of Banking Panics: Models, Facts, and Bank Regulation, NBER Chapters, in: Financial Markets and Financial Crises, S. 109–174. Cambridge, MA. Dieterich, T. (2009): Baseler Pläne zu Kernkapitaldefinition und Leverage Ratio ernten Lob und Kritik, 08.09.2009, online bei Risikomanagement und Finanzmarktregulierung im Medienfokus unter: http://rmrg.de/?p=1091. DZ Bank Gruppe (Hrsg.) (2009): Zusammen geht mehr, Unternehmenspräsentation. Frankfurt am Main. Grossman, S. und Hart, O. (1983): An Analysis of the Principal Agent Problem, in: Econometrica Bd. 51, Nr. 1, S. 7–46. Grubb, T. M. und Lamb, R. B. (2004): Capitalize on Merger Chaos, New York 2002; Heskett, J.: Should We Brace Ourselves for Another Era of M&A Value Destruction?, in: Harvard Business School Working Knowledge, 04.04.2004. Hammerschmidt, M. (2003): Kundenbindung durch Mitgliedschaft in Genossenschaftsbanken – Identitätsorientierung als strategischer Erfolgsfaktor, S. 103 ff. Aachen. Hauser, H. (1983): Germany’s Commercial Grip on the World. Her Business Methods Explained. New York; Nachdruck von: Les methodes allemandes d’expansion economique. New York 1918. Hilferding, R. (1910): Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, Wien. Historical Statistics of the United States (ed.) (1975): Colonial Times to 1970, S. 912. Washington. Jensen, M. C. und Ruback, R. S. (1983): The market for corporate control: The scientific evidence, in: Journal of Financial Economics vol. 11, S. 5–50. Jensen, M. C. (1986): Agency Costs of Free Cash Flows, Corporate Finance, and Takeovers, in: The American Economic Review vol. 76, S. 323–329 Kapoor, S. (2009a): A simpler, smaller, safer, more diverse and more stable banking system is what we need! http://re-define.org/sites/default/files/What%20should%20the%20banking%20system%20look %20like(2).pdf Kapoor, S. (2009b): Too complex to regulate. online unter: https://www.epi.org/publication/too_complex_to_regulate/ Kreps, D. M. und Wilson, R. (1982): Economics and Imperfect Information, in: Journal of Economic Theory 27, S. 253–279. Mackay, C. und de la Vega, J. et al. (2010): Gier und Wahnsinn – Warum der Crash immer wiederkommt. München. Otte, M. (2009): Der Informationscrash – wie wir systematisch für dumm verkauft werden. Berlin. o. V. (2008a): Bewertung: Initiative gegen die Fair Value Konzeption, in: Finanzbetrieb, 12/2008, S. 804.
12 Volks- und Raiffeisenbanken als Stabilitätsfaktor in Wirtschaftskrisen 163 o. V. (2008b): Die Gier war grenzenlos – eine deutsche Börsenhändlerin packt aus, Berlin 2009; Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (Hrsg.): Schwarzbuch Börse 2007, München. o. V. (2009a): Welch denounces corporate obsessions, in: Financial Times, 12.03.2009. o. V. (2009b): BdB lehnt Einführung einer Leverage Ratio weiterhin strikt ab. http://www.dowjones.de/site/2009/12/bdb-lehnt-einführung-einer-leverage-ratio-weiterhinstrikt-ab.html. Zugegriffen: 17. Dezember 2009 Peemöller, V. H. und Schmalz, H. (2007): IFRS für kleine und mittlere Unternehmen sowie Genossenschaften, in: ZfgG Bd. 57, S. 204–221, hier S. 220. Rehm, H. (2008): Das Deutsche Bankensystem – Befund – Probleme – Perspektiven (Teile I und II), in: KREDIT und KAPITAL, 41. Jg., Teil I: Heft 2, S. 135–159, Teil II: Heft 3, S. 305–331, insb. 153. Seibert, A. (2008): Erstellung eines strategischen Unternehmensplans im Rahmen des Ersterlaubnisantrages zur Zulassung als Finanzdienstleister bei der BaFin. Wissenschaftliche projektbezogene Arbeit zur Erlangung des Grades des Diplom Betriebswirts (FH) an der Fachhochschule Worms. Worms (unveröffentlichtes Manuskript). Sinn, H. W. (2004): Lemon Banks and Bank Regulation, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 5, S. 23–38, hier S. 33–34.
13 Negativzinsen: Der Marsch in den Kontrollstaat 13 Seit Mitte 2014 erhebt die Europäische Zentralbank Negativzinsen für Bankeinlagen. Mit etwas Verspätung ist diese Entwicklung auch bei den Sparern angekommen. Ende Oktober 2014 forderte die Skatbank als erste Bank Strafzinsen auch für Private – zumindest bei größeren Kundeneinlagen. Die Geldflut der Notenbanken, die seit 2008, eigentlich aber seit dem Oktober-Crash von 1987, immer stärker geworden ist, ist eine der wenigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die den westlichen Industrienationen noch zur Verfügung stehen. Die Steuerpolitik kennt zum Beispiel im Rahmen eines globalen Steuerwettbewerbs nur noch eine Richtung – die des Steuerdumpings; regionale oder sogar europäische Industrie- und Ordnungspolitik ist durch Wettbewerbsklagen im Ansatz verhindert. Es bleibt das Instrument der Geldschwemme. Das primäre Ziel der niedrigen Zinsen war eine erhöhte Investitionstätigkeit. Manch ein politischer Entscheidungsträger mag zudem die deutlich niedrigeren Finanzierungskosten für die weiter wachsenden Staatsschulden nicht ungern gesehen haben. Im Jahr 6 der Geldflut muss festgestellt werden, dass eine Erhöhung der Anlageinvestitionen in den Industriestaaten weitgehend ausgeblieben ist, dass also das unbeschränkt verfügbare Instrument des billigen Geldes einen Großteil der gewünschten Effekte nicht erzielt hat. Als ich in den 1980er Jahren Volkswirtschaftslehre studierte, war es noch üblich, die potenzielle Wirkung wirtschaftspolitischer Maßnahmen in ihrer gesamten Breite abzuschätzen, bevor man in die tief ergehende theoretische und empirische Analyse einzelner Fragen einstieg. Heute ist der Weg oft der umgekehrte, und die kritische Würdigung der Gesamtsituation bleibt auf der Strecke. Genau eine solche kritische Würdigung soll hier in Bezug auf die Geldflut und die Negativzinsen versucht werden. 165 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_13
166 Teil 2 Die Finanzmärkte Dazu ist es hilfreich, die Effekte des billigen Geldes (Negativzinsen für Geschäftsbanken und Privatkunden sind nur der konsequente Endpunkt dieser Geldflut) anhand ihrer jeweiligen konjunktur-, verteilungs- und allokationspolitischen Effekte sowie der ordnungspolitischen Auswirkungen auf die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu gliedern. 1. Konjunkturelle Auswirkungen: Es war sicherlich beabsichtigt, durch niedrige Zinsen die Konjunktur in Form von Investitionen und Konsum zu stimulieren. Nach mehr als einem halben Jahrzehnt Niedrigzinsen lässt sich konstatieren, dass zwar der Totalabsturz der Weltwirtschaft in den Jahren 2008 bis 2009 vermieden wurde, konjunkturelle Impulse aber vor allem durch Konsum und weniger durch Investitionen gesetzt wurden. In den Industrienationen bestimmen eher Desinvestitionen das Bild, beim Bankensektor findet Deleveraging statt, was beides negative konjunkturelle Impulse setzt. 2. Verteilungspolitische Auswirkungen: Die Niedrigzinsen bzw. die Strafzinsen haben eine Vielzahl von verteilungspolitischen Effekten, auf den Ebenen Sparer und Investor, Gläubiger und Schuldner sowie Private und Profis bewirkt. 2.1 Sparer und Investor: Es versteht sich von selbst, dass klassische Sparer die Verlierer der Strafzinsen sind. Bei 1,9 Billionen Euro Sparvermögen der Deutschen und 0,2 Prozent Strafzinsen betrüge der jährliche Verlust der deutschen Sparerinnen und Sparer ca. 3,8 Milliarden Euro. Private Investoren, die ihr Vermögen vor allem in Aktien und Immobilien halten, werden hingegen durch die niedrigen Zinsen tendenziell begünstigt. Auch Lebensversicherer sind hier als „Sparer“ zu sehen, da das Vermögen zum größten Teil in Anleihen gebunden ist. Es ist ein pikantes Detail, dass die Sparer vor allem in Deutschland, Mitteleuropa, Japan und China sitzen, während in den USA, England und anderen Ländern Private über deutlich weniger Sparvermögen verfügen und stattdessen in Fondssparpläne investieren. 2.2 Gläubiger und Schuldner: Dass das Niedrig- oder Negativzinsniveau tendenziell Schuldner begünstigt und Gläubiger bestraft, ist offensichtlich. Da die Staaten fast überall die größten Schuldner sind und diese Schulden von privaten gehalten werden, wird natürlich auch vom privaten auf den öffentlichen Sektor umverteilt. 2.3 Private und Profis: Allerdings sind auch höchst unterschiedliche Entwicklungen bei Privaten und Profis zu beobachten. Die Märkte entfernen sich immer weiter von relativ transparenten, einheitlichen Zinsniveaus. Als klassische Sparer oder Anleger werden Private und Profis gleichbehandelt. Für Gläubiger werden die Unterschiede immer größer. Konsumentenkredite weisen ein höchst unterschiedliches Zinsspektrum auf. Kleinere mittelständische Unternehmen und Handwerker zahlen relativ hohe Risikoaufschläge – wenn sie überhaupt Kredite erhalten. Größere, kapitalmarktfähige Unternehmen kommen in den Genuss der Niedrigzinsen. Es entsteht also das Paradox, dass gerade die Unternehmen, die am ehesten auf niedrige Zinsen angewiesen
13 Negativzinsen: Der Marsch in den Kontrollstaat 167 sind, am wenigsten davon profitieren. Mittelstandspolitik sieht anders aus. Reiche und Superreiche und ihre Family Offices kommen in den Genuss der Konditionen für Profis und können billig Immobilien kaufen oder sich an Private-Equity-Modellen beteiligen. Verteilungspolitik sieht anders aus. In Summe begünstigt das Niedrigzinsumfeld sicher Entstehung und Vermehrung großer Vermögen und behindert eher die Vermögensbildung bei breiten Bevölkerungsschichten. Der öffentliche Sektor ist ebenfalls Gewinner dieser Politik. 3. Allokations-, sektor- und wachstumspolitische Auswirkungen: Verteilungs- und allokationspolitische Wirkungen überschneiden sich in vielerlei Hinsicht. Dennoch seien hier einige sektorspezifische Wirkungen und ihre wachstumspolitischen Implikationen skizziert, insbesondere in Bezug auf den staatlichen und den privaten Sektor, den klassischen Bankensektor und die Investmentbanken, Hedgefonds oder Private-Equity-Fonds sowie solide finanzierten und hoch verschuldeten Unternehmen. 3.1 Staatlicher und privater Sektor: Niedrigzinsen begünstigen den staatlichen Sektor als größten Schuldner. Etwas ist sicher dran an der Tatsache, dass exzessive Staatsverschuldung das Wachstum hemmt, auch wenn den bekanntesten Befürwortern dieser These, Kenneth Rogoff und Carmen Reinhard (2010), Rechenfehler nachgewiesen wurden. Insofern also Staatsverschuldung Wachstum hemmt, entsteht ein negativer Wachstumsimpuls. Geht man gleichzeitig davon aus, dass öffentliche Güter und Investitionen in einem bestimmten Umfang für das Wachstum von Volkswirtschaften notwendig sind, so stehen bei zunehmendem Steuerwettbewerb an Ende immer weniger öffentliche Investitionen, und ein immer größerer Teil des Staatshaushaltes fließt trotz niedriger Zinsen in den Schuldendienst. 3.2 Klassischer Bankensektor und Investmentbanken, Hedgefonds oder PrivateEquity-Gesellschaften: Zu den größten Verlierern der Niedrigzinspolitik gehören die klassischen Banken. Sowohl auf ihr Kreditportfolio als auch auf ihre eigenen Geldanlagen erhalten sie keine ausreichende Rendite mehr. In Deutschland konnte das in den Sparkassen und genossenschaftlichen Sektoren bislang noch durch Kursgewinne auf das Anleiheportfolio ausgeglichen werden. Dies ist nun bald vorbei – es bahnt sich eine potenzielle Krise bei Genossenschaftsbanken und Sparkassen an, den „guten“ Banken, welche die Finanzkrise nicht verursacht haben. Zudem wandern immer mehr Sparer in andere Anlageformen ab. Investmentbanken, Private-Equity-Gesellschaften und Hedgefonds hingegen können von billigem Leverage profitieren und immer riskantere Geschäfte betreiben. In den USA befinden sich kreditfinanzierte Aktienkäufe und auch Kreditverbriefungen – die nach 2008 gegen null gegangen waren – wieder auf Vorkrisenniveau. Darin spiegelt sich auch ein internationaler Systemkonflikt zwischen bankenorientierten Wirtschaftssystemen (Deutschland, Mitteleuropa, Japan und China) sowie börsenorientierten Wirtschaftssystemen (USA, England) wider. Die börsenorientierten Systeme sind in der Regel die Systeme mit weniger Risikoaversion. Ob dies
168 Teil 2 Die Finanzmärkte allerdings wachstumspolitisch unbedingt von Vorteil ist, sei dahingestellt. Die Wirtschaft Deutschlands war um 1900 mit einem klassischen, dezentralen, mittelstandsorientierten Wirtschaftssystem die innovativste und wachstumsstärkste große Volkswirtschaft. Zu Zeiten der Sozialen Marktwirtschaft zwischen ungefähr 1949 und 1999 galt dies in etwas abgeschwächter Form weiter (vgl. Otte 2010). Mittlerweile gibt es seitens europäischer Politiker (zum Beispiel Jean-Claude Juncker) offene Aussagen, die „Fragmentierung des europäischen Bankensystems“ zu überwinden. Dies trifft überproportional Deutschland. Genossenschaftsbanken und Sparkassen sind in vielerlei Hinsicht die Leidtragenden: Für regionale und kleinere Kredite muss dieselbe Compliance betrieben werden wie für Großkredite, was Mittelstandskredite zunehmend erschwert. Sparerinnen und Sparer erhalten keine Erträge mehr; viele Banken sind in niedrig verzinsliche langfristige Anlagen gegangen, um wenigstens noch etwas Rendite zu erhalten. Hier bahnt sich die nächste Krise an. 3.3 Solide finanzierte und hoch verschuldete Unternehmen: Das Niedrigzinsumfeld begünstigt Aktienrückkäufe gegen Kredit, was vor allem von US-amerikanischen Unternehmen betrieben wird. Damit können diese Unternehmen ihre Bewertungen in die Höhe treiben, ohne echte Investitionen zu tätigen oder Gewinnsteigerungen zu erzielen. Dies wiederum erleichtert die Übernahme europäischer durch US-amerikanische Unternehmen. Das Niedrigzinsumfeld ist Teil einer tiefgreifenden Transformation Europas von einem bankbasierten zu einem kapitalmarktbasierten Wirtschaftssystem. Beide Systeme haben sehr unterschiedliche Charakteristika und können funktionieren, wenn auch der Verfasser deutliche Präferenzen für das mittelstandsorientierte dezentrale Bankensystem Deutschlands hat. In der Transformationsphase entstehen aber massive Vorteile für denjenigen, in dessen Richtung das System verändert wird (und der, wie in diesem Fall, noch dazu zum größten Teil die Regeln macht) – für das angelsächsische kapitalmarktbasierte System. Aktuell investieren europäische Großkonzerne zunehmend in den USA, was eine weitere Verringerung des Wachstums in Europa zur Folge hat. Dies ist eigentlich ein Paradox, denn Europa und insbesondere Deutschland gehören zu den größten Produzenten von Sparkapital auf der ganzen Welt. 4. Weitergehende ordnungs- und gesellschaftspolitische Implikationen: Die ökonomischen Auswirkungen der Geldflut und damit auch der negativen Zinsen stellen sich nach den obigen Überlegungen nicht besonders positiv dar. Doch weil die Geldpolitik und damit auch Negativzinsen das einzige unbegrenzt zur Verfügung stehende Politikinstrument zu sein scheint, nutzen es Staaten und Notenbanken in immer größerem Ausmaß. Neben einer Transformation zu immer größeren Einheiten in der Finanzbranche und im Bankwesen, der Begünstigung der Entstehung und Erhaltung von sehr großen Vermögen auf Kosten des Mittelstandes, der Substitution echter ökonomischer Verantwortung durch Kontrolle, Compliance und Kriminalisierung ökonomischen Fehlverhaltens, für das der Verursacher finanziell haften sollte, der schleichenden Zerstörung des Mittel-
13 Negativzinsen: Der Marsch in den Kontrollstaat 169 standes, hat das Niedrigzinsumfeld aber noch eine alles überschattende Komponente: die mittlerweile offen geforderte Abschaffung und Marginalisierung des Bargelds. (vgl. Rogoff 2014) Planwirtschaft kann nur – einigermaßen – in einem Kontrollstaat funktionieren. Die niedrigen Zinsen sind ein gewollter massiver Markteingriff, weil unseren Regierungen ordnungs-, industrie- und steuerpolitische Maßnahmen offensichtlich nicht mehr zur Verfügung stehen. Bei zunehmender Marginalisierung des Bargelds sowie Datentransparenz von Konten und Bürgern lässt sich die Planwirtschaft im neuen sanften Überwachungsstaat sogar ziemlich weit treiben. Dies ist die größte Gefahr des Niedrigzinsumfeldes.  Ursprünglich erschienen in ifo Schnelldienst 2/2015, bei ifo Institut, 2015. 13.1 Literatur Rogoff, K. (2014): So der U.S.-Ökonom auf einer Veranstaltung des ifo Instituts am 17. November 2014, online: http://www.cesifo-group.de/de/ifoHome/events/lectures/Munich-Lectures-inEconomics/ML-2014.html.
14 Finanzmärkte und Netzwirtschaft: Wenn der Überbau zum Mythos wird 14 Ein Artikel des großen Managementdenkers Peter Drucker beeindruckte mich, als ich vor nahezu drei Jahrzehnten in den USA studierte. In The Changed World Economy argumentierte Drucker, dass drei Trends maßgeblich für die Weltwirtschaft sein würden: die Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung, die Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch und der Aufstieg der Symbolwirtschaft. Die Verfügung über und die Manipulation von Symbolen seien mittlerweile wichtiger als der reale Unterbau. Was Drucker damals als nüchterne Analyse präsentierte, droht, zu einem Alptraum auszuwachsen. Mehr und mehr verselbstständigt sich Big Data und schafft so ganz eigene neue Strukturen: in Unternehmen und Organisationen, in den Köpfen der Menschen und in den internationalen Beziehungen. Unternehmen verändern ihre Wertschöpfungsketten radikal. Menschen passen ihr Verhalten und ihre Gedanken an, und meistens nicht zum Guten. Wer weiß, dass er permanent beobachtet und ausgeforscht wird, verhält sich anders, ist nicht mehr frei. Sogar die internationalen Beziehungen werden neu geordnet. Immer rücksichtloser nutzt die Führungsmacht des Westens ihre Machtmittel. Am Ende steht eine neue Welt. Und die Risiken, dass das Experiment schief geht, wachsen. Der Überbau der Daten wird autonom und zur neuen Realität, anstatt diese bloß abzubilden. Er zwingt alle Akteure nach den Prinzipien des zum Homo Oeconomicus umprogrammierten Egos in vorbestimmte Prozesse und Abläufe. Am Ende stehen Monokulturen gleichgeschalteter Akteure. Wenn unser Denken einmal umprogrammiert ist, entsteht eine neue Menschheit, eine Menschheit, die sich von derjenigen unterscheiden wird, die seit Beginn der neolithischen Revolution in vielen Aspekten nahezu unverändert geblieben ist. Wo das hinführt, lässt sich gut an den Finanzmärkten beobachten. Hier zählt ausschließlich ein Maßstab: die maximale Rendite, und das möglichst schnell. Die „Fi- 171 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_14
172 Teil 2 Die Finanzmärkte nanzmärkte“ – von der Wirtschaftsberichterstattung längst zu einer fast mythischen Größe erhoben – haben sich längst von der Realwirtschaft abgelöst und geben zunehmend die Richtung vor. Ja, Unternehmen und ganze Volkswirtschaften tanzen nach der Pfeife der Finanzmärkte. Dabei hat das Streben nach maximaler Rendite selten wirklichen ökonomischen Fortschritt produziert. Die großen Veränderungen und Innovationen erfolgen nach Joseph Schumpeter durch das Wirken von Visionären, denen oft erst nach vielfachem Scheitern der Lohn winkt – wenn sie es bis dahin überhaupt schaffen. Um noch einmal Peter Drucker zu strapazieren: Unternehmen sind dann profitabel, wenn sie Kundenbedürfnisse erkennen und dauerhaft befriedigen können. Rendite ist also eine Folge richtiger wirtschaftlicher Überlegungen. Wo sie alleiniges Prinzip wird, entsteht eine Finanztechnokratie mit Private-Equity-Gesellschaften, Family Offices, Venture-Capital-Gesellschaften, angestellten Verwaltern des Kapitals und Regulatoren, die heute schon allenthalben ihre Blüten treibt. Geld wird dann in börsenfähige Geschäftsmodelle gegeben, die eine Chance auf explosionsartige Vermehrung des Börsenwertes versprechen. Bei diesem Monopoly sind die Einsätze oftmals hoch – auch für Geschäftsmodelle, deren Sinn sich nicht unbedingt erschließt. Auf einem Venture-Capital-Forum wetteiferten potenzielle Unternehmensgründer um neue Gelder. Mehr als die Hälfte hatte Ballerspiele entwickelt. Bereits funktionierende Unternehmen hingegen werden auf extrem kurzfristige Gewinnmaximierung getrimmt, sodass den Managern fast keine Spielräume mehr bleiben. In den Private-Equity-Gesellschaften sitzen Technokraten, die ein letztlich mechanisches Handwerk gelernt haben, aber oft nicht die jeweiligen regionalen und branchenspezifischen Besonderheiten verstehen. Sie bringen dann keine Geduld und kein Verständnis für neue Wege auf. So treten sie auf, wie Technokraten und Verwalter zu allen Zeiten und Orten – mit Herrschaftsanspruch und Privilegien. Bei einem Chemieunternehmen berichtete mir ein Betriebsrat, wie die Arbeitskleidung gestrichen wurde, sich die Private-Equity-Verwalter aber darüber mokierten, dass Dienstauto und Garage nicht standesgemäß waren. Neben einer massiven Gleichschaltung der Unternehmen und Unternehmensprozesse, die unter das Prinzip des Kapitalmarktes gezwungen werden, ist die enge Vernetzung der Finanzmärkte eine weitere große Gefahrenquelle. In einem System ohne Redundanzen, Sicherheitspuffer und Freiräume können kleinere Störungen schnell größere Konsequenzen haben und sich zu globalen Krisen auswachsen, zuletzt bei der Finanz- und der Eurokrise. Es werden nicht die letzten gewesen sein. In der Informationswirtschaft stehen wir erst am Anfang ähnlicher Veränderungen. Sie finden mit rasender Geschwindigkeit statt. Inhalte und Prozesse werden zunehmen auf der Basis von Aufmerksamkeit, Klicks, Werbeeinnahmen und optimierter Benutzerführung gestaltet. Öffentlicher Diskurs findet immer weniger statt – Town-Hall-Meetings sind nur inszenierte Kopie. Gedankengänge und Reaktionsmuster werden durch Algorithmen berechnet, vorausgeplant und – gesteuert. Hatten gedrucktes Wort und Radio im Fernsehzeitalter noch für ein Gegengewicht zum Prinzip der Aufmerksam-
14 Finanzmärkte und Netzwirtschaft: Wenn der Überbau zum Mythos wird 173 keitsökonomie gesorgt, so erodieren viele der traditionellen Medien zunehmend und beugen sich der neuen Logik des Netzes. Der Mensch wird – wie im Finanzkapitalismus – eine zunehmend eindimensionale Rolle gedrängt. Er wird kontrollierbar und planbar gemacht. Diese Entwicklung ist ungleich gefährlicher als die Exzesse des Finanzkapitalismus es jemals waren. Während dieser „nur“ unsere Arbeitswelt und unsere ökonomische Situation betrifft, wird in der neuen Netzwirtschaft der gesamte Mensch umprogrammiert, wenn wir nicht aufpassen. Der Weltüberwachungsmarkt und die Entwicklung neuer Massenausforschungswaffen sind bereits weit fortgeschritten, wie an dieser Stelle von Gerhard Baum und Shoshana Zuboff ausgeführt wurde. Überraschend ist das nicht wirklich: Nachdem mit dem Patriot Act nach dem Anschlägen vom 11. September 2001 die Bürgerrechte in den USA zum ersten Mal seit Ende des McCarthyismus signifikant beschnitten wurden, hat es eine Vielzahl von Schritten zur Ausforschung der Bürgerinnen und Bürger gegeben, deren ganzer Umfang seit Edward Snowden erstmalig auch für die Öffentlichkeit erkennbar ist. Der Schutz des Datenkörpers wäre für eine Gesellschaft souveräner Bürgerinnen und Bürger im Internetzeitalter unabdingbar. Wir sind weit davon entfernt. Parallel zur Ausforschung und Überwachung des Individuums wird das Instrumentarium zur Kontrolle der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung ausgebaut. In immer weniger geschützten Räumen kann verantwortungsvolle und tiefgreifende Reflektion erfolgen, weil Inhalte in Jetztzeit und ohne Reflektion per Likes und Dislikes abgeurteilt und im Zweifelsfall auch offline gestellt und zensiert werden, ohne dass darüber noch große Aufregung entstünde. Drei Gründe sind es vor allem, die parallel zur Ausforschung der privaten Daten die öffentliche Meinung zunehmend kontrollierbar machen: der Rückgang des Qualitätsjournalismus, die Selbstreferenzialität des Netzes und die Zunahme zensurähnlicher Praktiken.  „Kostenlose Inhalte“, so Kai Diekmann, sind der „verfluchte Geburtsfehler des Internet“. Man übersah, dass es nichts kostenlos gibt. Klicks sind die neue Währung. Für die meisten Online-Redaktionen ist dies nun das Maß aller Dinge. Der Qualitätsjournalismus gerät so zunehmend unter Druck. Der Stellenabbau schreitet voran. Einige wenige Qualitätsmedien überleben, etablieren sich als Bezahlmedium und damit als Gegengewicht zum klickgetriebenen Content. Aber sie stehen nur noch den Eingeweihten zur Verfügung. Der viel beschworene Bürgerjournalismus kann es nicht herausreißen: Er mag sich dazu eignen, Bilder und Augenzeugenberichte abzugeben, aber für fundierte Reportagen und Einordnungen sind Hintergrundwissen, Zeit und Geld notwendig. Mit dem Schrumpfen der Redaktionen haben die PR-Abteilungen der Großkonzerne, die oftmals ungleich besser ausgestattet sind, leichtes Spiel. Ihre Darstellungen werden oft mit wenigen oder keinerlei Modifikationen von den Onlinemedien übernommen.
174   Teil 2 Die Finanzmärkte Zweitens bezieht sich Information im Netz zunehmend auf sich selbst. Eli Pariser bittet uns, uns eine Welt vorzustellen, in der alles, was wir an Nachrichten sehen, durch unser Gehalt, unseren Wohnort und die Wohnorte unserer Freunde bestimmt wird. In dieser Welt können Sie nie neue Ideen entdecken. Und keine Geheimnisse behalten. Google & Co. speichern Dutzende Parameter je Nutzer und spielen nur solche Informationen und oftmals auch Nachrichten ein, die zum Benutzer „passen“. Was Pariser so plastisch beschreibt, realisiert sich mit Riesenschritten. Drittens ist das Internet, von Technooptimisten als Beginn einer neuen Ära der Informationsfreiheit gefeiert, wie kein anderes Medium geeignet, veröffentlichte Meinung zu kontrollieren und zu steuern. Persönlich wurde ich vor einigen Jahren damit konfrontiert, als in einem Internetforum sehr negative Aussagen zu meiner Person gemacht wurden. Die nachfolgende Diskussion im Forum entlastete mich jedoch. Ich dachte, man könne es dabei bewenden lassen. Immer wieder wurde ich aber auf die herabwürdigenden Kommentare angesprochen. Es wurde eben nur die erste Seite der Diskussion gelesen. Schließlich rief ich beim Forenbetreiber an. Innerhalb kürzester Zeit waren die belastenden Seiten vom Netz genommen worden. So schnell verändert sich veröffentlichte Meinung im Internetzeitalter. Bilderstürme und Bücherverbrennungen sind nicht mehr notwendig. Ein Klick tut’s auch. Gleichzeitig werden immer mehr Inhalte von Google & Co. in einer fast piratenartigen Landnahme appropriiert, gekapert. So droht das Wissen der Menschheit schrittweise der Logik der Klick ein- und untergeordnet zu werden, statt als freier Fundus zur Verfügung zu stehen. Information wird zunehmend zu einem privaten Gut. Produktion und Distribution werden streng kontrolliert. Bibliotheken schrumpfen, und immer mehr Inhalte müssen über Datenservices mit restriktiven Nutzungsbedingungen bezogen werden. Inhalte öffentlich-rechtlicher Anbieter müssen nach kurzer Zeit aus dem Netz genommen werden. Das ist kein singuläres Phänomen. Saatgut, Bildung, Medizin – alle Bereiche des Lebens werden zunehmend privatisiert. Evgeny Morozow schreibt, dass eine seichte Form des methodologischen Individualismus durch die Hintertüren eingeschmuggelt werde. Falsch. Der methodologische Individualismus ist omnipräsent und hat den Status einer alles beherrschenden Ideologie erreicht. Zehntausende von Ökonomen werden jedes Jahr damit indoktriniert. Nur die wenigsten haben die Gelegenheit, in Exotenveranstaltungen Gesellschaftsstrukturen zu reflektieren, wie es Morozow als selbstverständlich annimmt. Das Studium von formal schwieriger Modelle der Mikro- und Makroökonomik schafft scholastische Exegeten der bestehenden Zustände und potenzielle Propagandisten für das weitere Vordringen von Überwachungsstaat, Finanzkapitalismus und Netzwirtschaft. Und das unter dem Deckmantel des Individuums. Martin Schulz hat eine längst überfällige Debatte angestoßen: Die freiheitlichen Werte Europas, in mehr als 2000-jähriger Geschichte unter unsäglichen Mühen errungen, sind gefährdet. Das Ideal des selbstbestimmten Individuums – ein fester Bestandteil des europäischen Wertekanons – droht in den digitalen Mühlen zerrieben zu werden. Europa
14 Finanzmärkte und Netzwirtschaft: Wenn der Überbau zum Mythos wird 175 muss aufwachen und sich seiner selbst besinnen. Man kann, wie Christian Heller, darauf hinweisen, dass der Schutz der Privatsphäre ein in der Menschheitsgeschichte eher seltenes Phänomen war. Aber wollen wir das? Nicht, dass Europa das erste Mal herausgefordert wäre. Überwachungsstaat und Zensur haben periodisch immer wieder ihr hässliches Haupt erhoben. Bislang hat Europa es jedes Mal geschafft, die Bedrohung abzuschütteln und besser und freier dazustehen als zuvor. Aber dieses Mal? Demokratie und Rechtsstaat haben zwei Aufgaben zu lösen: zum einen den Schutz des Individuums, zum anderen den Schutz öffentlicher Räume für Meinung und Journalismus. Denn das Netz ist ein öffentliches Gut. Gerade hat Tim Berners-Lee zum 25jährigen Bestehen des Internet einen digitalen Grundrechtekatalog gefordert. „Wenn wir kein offenes, neutrales Internet haben, auf das wir uns verlassen können, ohne uns Sorgen zu müssen, was an der Hintertür passiert, kann es auch keine freie Regierungsform, ordentliche Demokratie, vernünftiges Gesundheitswesen, verknüpfte Gemeinschaften und kulturelle Vielfalt geben“, so der Vater des Word Wide Web. Dazu muss Europa die Hegemonie der methodologischen Individualisten abschütteln und sich seiner großartigen Tradition öffentlicher Güter bewusst werden. Dies ist die genuine Aufgabe europäischer Politik. Der Weg ist weit.
Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell 177
15 15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 15.1 Einleitung Geld und Wirtschaftssystem haben bei Oswald Spengler wie alle Bereiche des Lebens Symbolcharakter für den Stil oder die „Seele“ einer Kultur. Kunst, Religion, Wirtschaftsleben, Recht, Mathematik und Wissenschaft sind ganzheitlich zu sehen und drücken insgesamt diese Seele aus. Es ist ein Fehler aller modernen Geldtheorien, dass sie von den Wertzeichen oder sogar vom Stoff der Zahlungsmittel statt von der Form des wirtschaftlichen Denkens ausgehen. Aber Geld ist wie Zahl und Recht eine Kategorie des Denkens. Es gibt ein Gelddenken, so wie es ein juristisches, mathematisches, technisches Denken der Umwelt gibt. Von dem Sinnerlebnis eines Hauses wird ganz verschiedenes abgezogen, je nachdem, ob man es als Händler, Richter oder Ingenieur im Geiste prüft und in Bezug auf eine Bilanz, einen Rechtsstreit oder eine Einsturzgefahr hin wertet. Am nächsten aber steht dem Denken in Geld die Mathematik. Geschäftlich denken heißt rechnen. Der Geldwert ist ein Zahlenwert, der an einer Rechnungseinheit gemessen wird. (vgl. UdA: S. 1163) Von den laut Spengler bislang aufgetretenen acht Hochkulturen ist die westliche die dynamischste, die bislang auf dem Planeten existiert hat und wahrscheinlich auch existieren wird. (vgl. MuT, S. 61 f.)  „Die faustische, westeuropäische Kultur ist vielleicht nicht die letzte, sicherlich aber die gewaltigste, leidenschaftlichste, durch ihren inneren Gegensatz zwischen umfassender Durchgeistigung und tiefster seelischer Zerrissenheit die tragischste von allen. Es ist möglich, dass noch ein matter Nachzügler kommt, etwa in der Ebene zwischen Weichsel und Amur und im nächsten Jahrtausend, hier aber ist der Kampf zwischen der Natur und dem Menschen, der sich durch sein historisches Dasein gegen sie aufgelehnt hat, praktisch zu Ende geführt worden.“ 179 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_15
180 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell Es ist eine Kultur der Kräfte im grenzenlosen Raum, des Willens, Wollens und Wagens. Zudem sind viele Bereiche der westlichen Kultur ausgesprochen abstrakt – ein Spiel von Kräften, Tönen und Motiven im freien Raum. Als Beispiele nennt Spengler die beethovenschen Symphonien. Eine weitere Uridee der westlichen Kultur ist die Idee der Funktion y = f(x), die der „statisch“ angelegten Antike in dieser Ausprägung fremd gewesen sei. So ist es bezeichnend, dass die mathematische Ableitung (engl.: derivative) und das Finanzderivat ausschließlich in dieser, der westlichen Kultur erfunden wurden. Beide sind im Prinzip identisch, denn auch der Einsatz von Finanzderivaten ist mehr oder weniger reine Mathematik, die sich immer weiter vom Stofflichen löst. In den Hedgefonds an der Wall Street und anderswo führen mittlerweile Mathematiker und Computer virtuelle Transaktionen in oft selbstreferentiellen Systemen durch. (vgl. Otte 2011b, S. 41 f.) Die sich immer mehr bemerkbar machende Dominanz des Wirtschafts- und Gelddenkens ist für Spengler eine Erscheinung aller späten Kulturen, nachdem sie in das späte, rationalistisch-mechanistische Stadium der Zivilisation übergegangen sind. Der Finanzkapitalismus ist lediglich die spezifische Form des Gelddenkens der späten westlichen Kultur. Auch in den Spätzeiten anderer Kulturen hat es ähnliche Erscheinungen gegeben. In der niedergehenden römischen Republik gab es zum Beispiel Finanzoperationen und Spekulationen im großen Stil und damit zusammenhängend den raschen Auf- und Abstieg ganzer Geschlechter. Weizenspekulationen durch den Aufkauf der Ernte ganzer Länder ließen den Preis in Rom massiv schwanken und halfen denjenigen, die sie betrieben, große Vermögen aufzuhäufen. Auch die Kartellisierung und Konzentration des Wirtschaftslebens auf wenige Punkte – in der Antike zeitweise nur Rom – ist für Spengler eine zwangsläufige Begleiterscheinung der Spätphase von Kulturen, bevor das Gelddenken wieder von primitiveren, ursprünglicheren Formen der Herrschaft abgelöst wird. Diesen exakten „Wert an sich“ hat, wie die Zahl an sich, erst das Denken des Städters, des wurzellosen Menschen, hervorgebracht. Für den Bauern gibt es nur flüchtige, gefühlte Worte in Bezug auf ihn, die er im Tausch von Fall zu Fall geltend macht. Was er nicht braucht oder besitzen will, hat für ihn „keinen Wert“. (vgl. UdA, S. 1164) Viele, ja sogar die meisten Entwicklungen des modernen Finanzkapitalismus sind in Spenglers Gedankenwelt vorgesehen und würden ihn nicht überraschen. „Der vergessene Spengler rächt sich, indem er droht recht zu behalten.“ (vgl. Adorno 1955, S. 115 f.) Wieder einmal. 15.2 Kulturzyklen, Geld und die zunehmende Abstraktion der Lebensbereiche Geld und Kredit, zwei durchaus voneinander zu unterscheidende und von Spengler auch unterschiedene Phänomene des Wirtschaftslebens, sind Aspekte einer Kultur oder Zivilisation. Je ausgeprägter das Denken in diesen Kategorien ist, desto „fortgeschrittener“,
15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 181 aber auch desto entfremdeter von ihren Wurzeln und Ursprüngen ist eine Kultur oder Zivilisation. Dabei unterscheidet Spengler grob gesprochen vier Phasen einer Kultur: 1. das frühe Stadium des Lehnswesens, das ganz am Land haftet und in dem überwiegend Naturaltauschwirtschaft stattfindet 2. das Aufkommen der Städte, in der sich Stadt und Land die Waage halten und Geld zunehmend an Bedeutung gewinnt 3. die Zeit der Weltstädte und der Herrschaft des Geldes (und des Geistes) 4. sowie die Ablösung der Phase des Geldes durch Gewaltherrschaft und zunehmend primitivere Formen der Wirtschaft Im Stadium des Lehnswesens stehen persönliche Treueverhältnisse, Pflichten und Rechte im Vordergrund. Die meisten Güter werden selbst erzeugt oder durch Naturaltauschwirtschaft beschafft. David Graeber stellt in diesem Zusammenhang die nicht uninteressante Frage, was zuerst da war, das Geld oder die Schulden. Für Graeber ist die Antwort eindeutig: im Dorf oder im Stamm waren es die Schuldverhältnisse, da verschiedene Güter nicht gleichzeitig vorhanden waren und im Zweifelsfall auch nicht denselben Wert hatten, sodass sie nicht 1:1 bedarfsgerecht getauscht werden konnten. Da muss es ein System „gegenseitigen Anschreibens“ gegeben haben, wenn auch vielleicht noch nicht quantitativ exakt, da das Denken in Geld noch nicht ausgeprägt war. Zu Zeiten der Lehnswirtschaft gibt es nur Burgen, Klöster und Dörfer. Die antike Entsprechung wäre für Spengler die Zeit von Mykene. Mit dem Aufkommen der Städte ändert sich die Balance. Berufe und Stände entstehen. Die Arbeitsteilung nimmt zu. Hierzu ist Geld erforderlich. Marktplätze werden wichtiger. Die ersten Handelskontore entstehen. Gegen Ende dieser Periode wird Geld auch als Machtfaktor immer wichtiger. Söldnerheere lösen zunehmend die Ritterheere ab – der Finanzbedarf kriegführender Parteien steigt rasch. Bevor aber der Lehnsverband als politische Form abgelöst wird und der Ständestaat reifen kann, sind krisenhafte Übergangsphänomene unvermeidlich. Ab 1800 beginnt dann im Abendland die Phase der Herrschaft des Geldes, die Spengler mit der „Demokratie“ gleichsetzt und der er eine Lebensdauer von 200 Jahren prognostiziert. Es ist gleichzeitig auch eine Phase der Herrschaft der Presse, der allgemeinen Volksbegeisterung und der Massenheere. Damit beginnt die „Zivilisation“ im Gegensatz zur „Kultur“. Am Anfang stehen wiederum Krisen im Zusammenhang mit der Auflösung der alten ständischen Formen – im Abendland die Französische Revolution und Napoleon sowie der amerikanische Unabhängigkeitskrieg. „Zivilisation“ beinhaltet den Sieg des Geistes über Tradition und Takt und die Dominanz der Großstadt, die das Land zunehmend zur Provinz degradiert. Am Anfang war man begütert, weil man mächtig war. Jetzt ist man mächtig, weil man Geld hat. Erst das Geld erhebt den Geist auf den Thron. Demokratie ist die vollendete Gleichsetzung von Geld und politischer Macht. (vgl. UdA: S. 1167)
182 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell Dieser Prozess war in Frankreich und England um 1900 weitestgehend abgeschlossen. In Deutschland setzte er erst ab 1871 richtig ein, wurde aber vor allem durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen. Die Zerstückelung und Re-Provinzialisierung Deutschlands nach 1945 hat auch das dezentrale, mittelständische Wirtschaftsmodell in der Bundesrepublik erhalten, ohne dass eine dominante Metropole zum alleinigen Zentrum des Landes wurde. Wichtig ist der Unterschied, den Spengler zwischen dem reinen Gelddenken und dem Besitz in einem ursprünglichen Sinne macht. Der Besitz haftet am Objekt und ist damit ein Begriff der frühen Kultur. Die Zivilisation denkt in beweglichen Geldvermögen, die nur in einem Objekt investiert oder geparkt sind. Es ist falsch, nach der Behauptung von Marx und anderen die wichtigste Epoche der modernen Wirtschaft in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu suchen. Der wirkliche Einschnitt liegt vielmehr genau wie auf wirtschaftlich-politischem Gebiet inmitten der Epoche Napoleons. Setzen Sie den Fall, dass jemand zur Zeit Friedrichs des Großen in einem Flugzeug irgendein Land Europas überquert hätte: er würde unter sich ein Gewimmel von Menschen und eine Menge wirtschaftlich arbeitender Dinge erblickt haben, Landgüter, Fabriken und gewerbliche Betriebe. Es wäre sehr einfach festzustellen gewesen, welche Menschen als Besitzer zu den einzelnen Dingen gehörten. Wer heute dieselbe Gegend überflöge, würde mit seinem Auge kaum eine wesentliche Veränderung finden: ebenfalls Menschen und ebenfalls arbeitende Dinge. Und trotzdem hat sich eine umstürzende Wandlung vollzogen. Man kann auch heute (1919 Anm. d. Verf.) von einem ganzen Nationalvermögen vielleicht noch sagen, dass es im Besitz der Nation ist: aber welches Besitzverhältnis zwischen einzelnen Menschen und einzelnen Dingen besteht, sieht niemand. Das völlig neue, das viel tiefer geht als alles, was Marx jemals beobachtet hat, ist die geistige Ablösung des Besitzes vom Gegenstand. (vgl. PPJ, in PS: S. 138) Und: Wie viel von der deutschen Industrie Deutschland gehört, weiß niemand. Das ändert sich von einem Börsentag zum anderen. Es ist demnach nicht mehr so, wie Marx des darstellt, und zwar aus dem Bedürfnis heraus, eine theoretische Unterlage für den Klassenkampf zu erhalten, dass zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein natürlicher Gegensatz bestehe; er besteht heute viel mehr zwischen den Menschen, die sichtbar produktive Arbeit leisten, ob als Führer oder Geführte, als Unternehmer, Techniker oder Werkleuten und der viel kleineren wechselnden Zahl von Unbekannten, die weder dies noch jenes sind, die aber das Werk haben, für die also gearbeitet wird, obwohl sie von der Art dieser Arbeit gar nichts wissen. (vgl. PPJ, in PS: S. 140) Hierzu an dieser Stelle nur eine Zahl: Befanden sich im Jahr 2003 noch ungefähr 60 Prozent der Aktien von DAX-Konzernen in deutscher Hand, so hat sich diese Quote bis 2013 halbiert und liegt nun bei ungefähr 30 Prozent. Zusammenfassend: Zum Lehnswesen gehört die Wirtschaft des stadtlosen Landes. Mit dem von Städten aus regierten Staat erscheint die Stadtwirtschaft des Geldes, die sich mit dem Ausbruch jeder Zivilisation zur Diktatur des Geldes erhebt, gleichzeitig mit dem Sieg der weltstädtischen Demokratie. (vgl. UdA: S. 1156)
15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 183 Im Endstadium einer Zivilisation konzentrieren sich die relevanten Geschehnisse auf wenige Punkte. Die Weltwirtschaft, diejenige aller Zivilisationen, sollte man Weltstadtwirtschaft nennen. Die Schicksale auch der Wirtschaft entscheiden sich nur noch an wenigen Punkten, den Geldplätzen, in Babylon, Theben, Rom, in Byzanz und Bagdad, in London, New York, Berlin und Paris. Der Rest ist Provinzwirtschaft, die ihre Kreise dürftig im Kleinen zieht, ohne sich des vollen Umfangs ihrer Abhängigkeit bewusst zu sein. (vgl. UdA: S. 1166 f.) In dieser Hinsicht lässt sich ohne weiteres konstatieren, dass anno 2014 die wichtigen Entscheidungen in New York, Silicon Valley (und da von einer kleinen Gruppe hoch vernetzter Hightech-Mogule) (vgl. Elmer-DeWitt 2014) und London fallen, mit Washington, Tokio und Brüssel als angeschlossenen Politikapparaten. Weitere Zentren sind in Peking und Shanghai zu finden, für westliche Beobachter intransparent, aber mit der souveränen Kontrolle über einen eigenen Heimatmarkt und ein eigenes Internet, während die USA, Europa, große Teile Lateinamerikas, Afrikas und Japans zur Welt von Google, Amazon und LinkedIn gehören. Moskau mag ein minderes Zentrum teilweise souveräner Entscheidungen sein; wie weit dieser Zustand Bestand hat, mag sich zeigen. Der Abstieg der einst führenden deutschen Volkswirtschaft zur fremdbestimmten Provinzwirtschaft, die fremden Zwecken dient, scheint abgeschlossen. Cäsarismus und Gewaltherrschaft: Folgt man dem spenglerschen Schema, stehen wir nun bereits an der Schwelle zum letzten Zeitalter der westlichen Kultur, dem des Cäsarismus, im den sich zunehmend wieder nackte Gewalt als Mittel der Politik durchsetzt und in dem die komplexen Formen der späten Zivilisation zunehmend der Raublust von privaten Sippen zum Opfer fallen. Damit endet die Rechtssicherheit und wird durch Gewalt ersetzt, und das Denken in Geldkategorien erlischt langsam. In der westlichen Kultur sollte dies laut Spengler zwischen 2000 und 2200 der Fall sein. Die Anzeichen, dass diese Voraussage zutreffen könnte, mehren sich seit 2001. Der 11. September 2001 lässt sich schon jetzt neben dem Herbst 1989 als eine der großen Zäsuren in der Weltgeschichte ausmachen, ein Urteil, zum dem normalerweise längere Zeiträume nötig sind. Nebenbemerkung: Die zyklische Betrachtung von Kulturentwicklung und die Beschreibung von Lebensstufen, die aus der „lebendigen Anschauung“ der Kulturen erwächst, gilt denen als unwissenschaftlich, die nur einen methodologischen Individualismus oder kritischen Rationalismus gelten lassen wollen. Das sind fast alle heutigen Sozialwissenschaftler. Paradox ist dabei jedoch, dass zum Beispiel in der Betriebswirtschaftslehre und der Ökonomie problemlos über Produktlebenszyklen oder auch Lebenszyklen von Organisationen und Unternehmen nachgedacht wird. (vgl. Collins und Porras 1996)
184 15.3 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell Soziobiologie: Wirtschaft und Technik als integraler Bestandteil des einen Lebens Der Dominanz des Denkens in Wirtschaftskategorien setzt Spengler einen konsequent ganzheitlichen und soziobiologischen Ansatz entgegen, der die Wirtschaft als integralen Aspekt des gesamten Lebens betrachtet – genauso wie Mythen und Religion, Kunst und Kultur, Wissenschaft, Technik, Krieg und Politik.  Wolff 1973: „Spengler, der Geisteswissenschaftler, dachte biologisch konsequent. Lorenz, der Biologe, hingegen beendet den ersten Band seines Werkes mit einer Überlegung, die nichts anderes als der Versuch einer Emanzipation von der Biologie ist …“ Demandt (2014) wirft Spengler und Lorenz „Geschichtsbiologismus“ vor, wobei Spengler immer auch auf das Zufällige und die Grenze der biologischen Gesetzmäßigkeiten hinweist. Einzelne Menschen und Kulturen drängen nach Absicherung und Dominanz, einige mehr, andere weniger. Letztlich geht es bei Kulturen und Individuen um Macht – die fittesten können ihren Einflussbereich ausdehnen. Es ist der darwinsche „Kampf ums Dasein“. Das Drängen danach umschreibt Spengler mit den Begriffen „Leben“ und „Blut“. Dass dabei auch Altruismus ein sinnvoller Mechanismus sein kann, hat die Soziobiologie herausgearbeitet. (vgl. Wilson 2004; Wuketits 2012; Voland 2013) Diese Auseinandersetzung ist für Spengler immer präsent, und wird in stabilen Phasen nur durch entsprechende Machtgleichgewichte oder Institutionen gehemmt: „Frieden ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.“ Wirtschaft ist also die Art und Weise, wie sich Verbünde von Menschen organisieren, um ihre Bedürfnisse und ggf. ihren Drang nach Expansion und Größe zu befriedigen. Sie nutzen dazu auch die Technik. Und deshalb ist die Technik kein „Teil“ der Wirtschaft, so wenig Wirtschaft neben Krieg und Politik ein für sich bestehender „Teil“ des Lebens ist. Alles das sind Seiten des einen, tätigen, kämpfenden, durchseelten Lebens. (vgl. MuT: S. 16 f.) Spengler zeichnet einen gnadenlosen Kampf ums Dasein: Die Pflanze besitzt den Boden, in dem sie wurzelt. Es ist ihr Eigentum, das sie mit Verzweiflung ihr ganzes Dasein hindurch verteidigt, gegen fremde Keime, gegen übermächtige Nachbarpflanzen, gegen die ganze Natur. So verteidigt ein Vogel das Nest, in dem er brütet. Die erbittertsten Kämpfe um das Eigentum werden nicht in den Spätzeiten der großen Kulturen und zwischen reich und arm um bewegliches Gut geführt, sondern hier, in den Anfängen der Pflanzenwelt. Wer mitten in einem Walde fühlt, wie der schweigende Kampf um den Boden rings um ihn vor sich geht, Tag und Nacht, ohne Gnade, den erfasst Grauen vor der Tiefe dieses Triebes, der mit dem Leben beinahe eins ist. (vgl. UdA: S. 984)
15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 185 Bei Franz Wuketits und modernen Soziobiologen klingt das viel nüchterner, bezeichnet aber denselben Sachverhalt: Der in der Natur wie in menschlichen – besser: vom Menschen geschaffenen – Systemen allgegenwärtige Wettbewerb beruht darauf, dass Lebewesen im allgemeinen aktive Systeme sind, die etwas „wollen“. Sie benötigen Raum und Nahrung und versuchen, ihren eigenen Erzeugnissen – ihren genetischen Nachkommen (beim Menschen auch den „geistigen Kindern“) – Platz zu schaffen und sich dadurch „auszubreiten“. (vgl. Wuketits 2012: S. 54) Dieses „Wollen“ liegt bei Spengler auch den Schöpfungen der Menschen zugrunde – zumeist unbewusst. Spengler bezeichnet das an verschiedenen Stellen mit „Instinkt“ und „Rasse“ (nicht im biologischen Sinne). „Nicht wollen“ ist ein Zustand vergeistigter Spätzeiten, die sich von den Rhythmen der Natur und dem in Spenglers Diktion „kosmischen Takt“ gelöst haben. Technik ist nicht nur die Maschinentechnik: In Wirklichkeit ist die Technik uralt. Sie ist auch nichts historisch Besonderes, sondern etwas ungeheuer Allgemeines. Sie reicht weit über den Menschen zurück in das Leben der Tiere, und zwar aller Tiere. Zum Lebenstypus des Tieres im Unterschied von der Pflanze gehört die freie Beweglichkeit im Raum, die relative Willkür und Unabhängigkeit von der gesamten übrigen Natur und damit die Notwendigkeit, sich gegen diese zu behaupten, dem eigenen Dasein eine Art von Sinn, Inhalt und Überlegenheit zu geben. Nur von der Seele her lässt sich die Bedeutung des Technischen erschließen. Denn das frei bewegliche Leben des Tieres ist Kampf und nichts anderes, und die Taktik des Lebens, ihre Über- oder Unterlegenheit anderen gegenüber, sei es die lebende oder leblose Natur, entscheidet über die Geschichte dieses Lebens, darüber ob es dessen Schicksal ist, Geschichte von anderen zu erleiden oder selbst für andere zu sein. Die Technik ist die Taktik des ganzen Lebens. (vgl. MuT: S. 15) Bereits Tiere betreiben Wirtschaft und Technik, wenn man zum Beispiel an die Vorratshaltung bei Bienen oder Ameisen denkt. Nur der Mensch jedoch nutzt Technik bewusst. Es ist ein ungeheurer Unterschied zwischen dem Menschen und allen anderen Tieren. Die Technik dieser Tiere (zum Beispiel Bienen, Anm. d. Verf.) ist Gattungstechnik. (...) Der Typus Biene hat, seit er da ist, seine Waben immer genau so gebaut wie heute und wird sie so bauen, bis er ausstirbt. (vgl. MuT: S. 28) Den Bogen von der freien Beweglichkeit des Pantoffeltierchens zum Finanzkapitalismus zu spannen ist kühn, und es gelingt Spengler. Eine solch konsequente soziobiologische Interpretation von Wirtschaft, Technik und Krieg, welche die Gebundenheit des Menschen an soziobiologische Mechanismen postuliert, mag Unbehagen hervorrufen. Spengler selber wäre der erste, der sagen würde, dass der moderne Mensch ein solches Zurückgeworfensein auf die Tatsachen schlecht oder nicht erträgt. Es ist die seelische Schwäche des späten Menschen hoher Kulturen, der in seinen Städten vom Bauerntum der mütterlichen Erde und damit vom natürlichen Erleben von Schicksal, Zeit und Tod abgeschnitten ist. Er ist allzu wach geworden, an das ewige Nachdenken über
186 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell Gestern und Morgen gewohnt und erträgt das nicht, was er sieht und sehen muss: den unerbittlichen Gang der Dinge, den sinnlosen Zufall, die wirkliche Geschichte mit ihrem mitleidlosen Schritt durch die Jahrhunderte, in die der einzelne mit seinem winzigen Privatleben an bestimmter Stelle unwiderruflich hineingeboren ist. (vgl. JdE: S. 25) Aber eine soziobiologische, auf den Kampf ums Dasein ausgerichtete Betrachtung von Wirtschaft und Kapitalismus schafft kritische Distanz zum sehr zeitgebundenen und vagen Begriff des „Marktes“, dem nahezu mythische und persönliche Eigenschaften zugeschrieben werden und der für die Erklärung der absurdesten Vorgänge herhalten muss. Das folgende Zitat zeigt exemplarisch und eindrucksvoll, wie personifiziert der Mythos Markt mittlerweile ist: „Historische Tiefstände: Finanzmärkte bestrafen die Euro-Flickschusterei.“ (vgl. Die Welt 23.05.2011) Selbst wenn man also nicht alle ihre Prämissen akzeptiert, schärft die soziobiologische und epochenübergreifende Betrachtung von Wirtschaftsphänomenen den Blick auf die Jetztzeit enorm – und ernüchtert. 15.4 Relativierung der modernen Nationalökonomie Eine solche soziobiologische und historische Relativierung der Nationalökonomie und des Kapitalismus findet sich im Untergang des Abendlandes sehr explizit zu Beginn des fünften Kapitels des zweiten Bandes: Der Standpunkt, von dem aus die Wirtschaftsgeschichte der hohen Kulturen verstanden werden kann, darf auf dem Boden der Wirtschaft selbst nicht gesucht werden. Wirtschaftliches Denken und Handeln ist eine Seite des Lebens, das in falsche Beleuchtung rückt, sobald man sie als eine selbstständige Art von Leben betrachtet. Am allerwenigsten findet man ihn auf dem Boden der heutigen Weltwirtschaft, die seit 150 Jahren einen phantastischen, gefährlichen, zuletzt fast verzweifelten Aufstieg genommen hat, der ausschließlich abendländisch und dynamisch ist und nichts weniger als allgemein menschlich. (vgl. UdA: S. 1145) Und weiter: Was wir heute Nationalökonomie nennen, ist aufgebaut aus lauter spezifisch englischen Voraussetzungen. (...) Es handelt sich von Smith bis Marx um die bloße Selbstanalyse des wirtschaftlichen Denkens einer einzigen Kultur und zwar auf einer einzigen Stufe. (vgl. UdA: S. 1144 f.) (...) Sie hält das Wirtschaftsleben für etwas, das man ohne Rest aus sichtbaren Ursachen und Wirkungen erklären kann, das ganz mechanisch angelegt und völlig in sich abgeschlossen ist, und das endlich zu den ebenfalls für sich gedachten Kreisen der Politik und Religion in irgendeinem kausalen Verhältnis steht. Weil diese Betrachtungsweise systematisch und nicht geschichtlich ist, so glaubt sie an die zeitlose Gültigkeit ihrer Begriffe und Regeln und hat den Ehrgeiz, die allein richtige Methode „der Wirtschaftsführung“ aufstellen zu wollen. (vgl. UdA: S. 1145)
15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 187 In typischer Selbstüberhöhung schreibt Spengler weiter, dass es noch keine Morphologie der Wirtschaftsstile gebe, und dass er dieser die Türen öffne. Dabei übersieht er – es ist nicht festzustellen ob mangels Kenntnis oder intentional –, dass bei den Vertretern der deutschen historischen Schule der Nationalökonomie, zum Beispiel Wilhelm G. F. Roscher (1817 bis 1894), Bruno Hildebrand (1812 bis 1878) und Karl G. A. Knies (1821–1898) durchaus historisch vergleichend gearbeitet wurde. Mit Gustav von Schmoller (1838 bis 1917), Karl Bücher (1847–1930), Lujo Brentano (1844 bis 1931) oder Werner Sombart (1863 bis 1941) hätte es auch kompetente Zeitgenossen gegeben, mit denen Spengler sich hätte austauschen können. Während Spengler, nachdem er bekannt geworden war, sich bemühte, im Bereich der Anthropologie dazuzulernen, zum Beispiel durch den Kontakt zu Leo Frobenius, ist von ähnlichen Kontakten zu Nationalökonomen nichts bekannt. Spengler suchte eher den Kontakt zu Industriellen. Die deutsche historische Schule ist zumindest seit Ende des Zweiten Weltkriegs an den Rand der Ökonomie gedrängt worden. War zur Zeit meines Studiums in Köln zumindest noch das Denken in Wirtschaftsordnungen (Marktwirtschaft, zentrale Planwirtschaft, soziale Marktwirtschaft) üblich, so hat sich dieses mittlerweile nahezu restlos in der Mikro- und Makroökonomie aufgelöst. Lehrstühle für Wirtschaftsgeschichte werden zunehmend abgeschafft oder passen sich methodisch der quantitativen Modellanalyse an. Völlig verpönt sind jegliche Form von organischen Wirtschafts- und Gesellschaftstheorien (während sich gleichzeitig zehntausende Unternehmensberater darum bemühen, aus Unternehmen organische Einheiten zu schmieden). Die Dominanz der Prämissen, die Spengler als „spezifisch englisch“ bezeichnet – indem man nämlich vom Kaufmann und Händler als konstitutiv für die moderne Ökonomie ausgeht – ist total. Dass diese Prämissen nur sehr unvollkommen auf eine industrielle Gesellschaft anzuwenden sind (gleichwohl aber angewendet werden), haben viele Ökonomen, unter anderem Arndt Joseph Schumpeter (vgl. Schumpeter 1942) und John Kenneth Galbraith (vgl. Galbraith 2007) erkannt. Dass es einer aktiven politischen Anstrengung bedürfe, um solche Voraussetzungen herzustellen, und dass diese nicht durch „die Märkte“ von selbst entstehen würden, war Anliegen der Ordoliberalen wie Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow. Gleichwohl wird immer stärker von diesen Voraussetzungen ausgegangen, was der modernen Ökonomie starke Züge eines starren und doktrinären Glaubenssystems verleiht. 15.5 Finanzkapitalismus – das letzte Prinzip des Westens In ihren späten Phasen gehen Kulturen „nach einer abgemessenen Reihe von Jahrhunderten“ in das Stadium der Zivilisation über. Die inneren Entwicklungsmöglichkeiten einer Zivilisation sind durchgeführt und verwirklicht worden, und es reift eine letzte, mechanistische Form heran.
188 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell Was lebendig war, wird starr und kalt. Innere Weiten, Seelenräume werden ersetzt durch Ausdehnung im körperhaft Wirklichen, das Leben im Sinne des Meisters Eckhart wird zum Leben im Sinne der Nationalökonomie, Gewalt der Ideen wird Imperialismus. Letzte, sehr irdische Ideale breiten sich aus, reife Stimmungen mit der vollen Erfahrung des Alters: von Sokrates, Laotse, Rousseau, Buddha an wendet sich der Weg jedes Mal abwärts. Sie sind alle innerlich verwandt, ohne echte Metaphysik, Wortführer praktischer abschließender Weltanschauung und Lebenshaltung, für die wir umfassende Namen wie Buddhismus, Stoizismus, Sozialismus, besitzen. (vgl. PuS, in PS: S. 34) Wenn Spengler über die letzte, praktische Weltanschauung der westlichen Kultur schreibt, nennt er diese „Sozialismus“ und meint damit, dass wir ein System der ethischen Forderungen „Du sollst“ aufstellen und es allgemeinverbindlich durchsetzen wollen. Auch der Finanzkapitalismus ist ein solches System, das vor allem die Forderung „Du sollst Rendite erzielen und ökonomisch nützlich sein“ beinhaltet. Ein System des „Du sollst“, welches das eigene Prinzip als allgemeinverbindlich für die ganze Welt durchsetzen will, sieht Spengler als typisch abendländisch. Den Stoikern der Antike oder den Buddhisten läge nichts ferner als eine solche Forderung. Das Denken in Geldkategorien ist in Spätzeiten so verinnerlicht, dass es alle anderen Anschauungen dominiert. War ein Schmied zuerst Schmied und ein Schneider zuerst Schneider, ein Professor zuerst Professor, war die Arbeit im spenglerschen Sinne „beseelt“, so werden heute Vorgänge und Arbeitsprozesse quantifiziert und monetär bewertet, auch an den Hochschulen, auch in der Medizin. Ziel ist die quantitative Erfassung und das „Controlling“ und die beliebige Steuerbarkeit dieser Prozesse. Zivilisation bezeichnet also die Stufe einer Kultur, auf welcher Tradition und Persönlichkeit ihre unmittelbare Geltung verloren haben und jede Idee zunächst in Geld umgedacht werden muss, um verwirklicht zu werden. (vgl. UdA: S. 1167) Damit dringt in der Tat ein „kaltes, mechanistisches Prinzip“ in alle Lebensbereiche – auch höchst private – vor. Alles muss sich der Logik des Hyperkapitalismus beugen, die Überlegung des Arztes, eine bestimmte Operation durchzuführen, Forschungsvorhaben an der Universität, politische Entscheidungen. (...) in diesem nun ganz nach außen gewandten Instinkt lebt der alte faustische Wille zur Macht, zum Unendlichen weiter in dem furchtbaren Willen zur unbedingten Weltherrschaft im militärischen, wirtschaftlichen, intellektuellen Sinne (...) in der Entschlossenheit, durch die Mittel faustischer Technik und Erfindung das Gewimmel der Menschheit zu einem Ganzen zu schweißen. Und so ist der moderne Imperialismus auf dem ganzen Planeten gerichtet. (vgl. PuS, in PS: S. 34) Und: Die echte Internationale ist Imperialismus, Beherrschung der faustischen Zivilisation, also der ganzen Erde, durch ein einziges gestaltendes Prinzip, nicht durch Ausgleich und Zugeständnis, sondern durch Sieg und Vernichtung. (vgl. PuS, in PS: S. 96)
15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 189 Der Finanzkapitalismus reduziert die Komplexität des Lebens tatsächlich auf ein einziges „gestaltendes Prinzip“, eine einzige Zahl: die Rendite. Er unterwirft dieser Zahl alles. Und ist damit „totalitär“. Mathematisch ist die Rendite der Quotient aus dem Ertrag und dem eingesetzten Eigenkapital pro Zeiteinheit: R = E / EK Für diese eine Gleichung werden Produktionsstätten und Produktionsprozesse zerstückelt und neu aufgebaut, über den ganzen Globus verschoben, wirtschaftsferne Studiengänge und die Geisteswissenschaften eingedampft, „Krankenhausmanagement“ etabliert. Alles um der Rendite willen. Dabei muss man sich klar machen, dass dieses Prinzip sehr abstrakt ist. Es bleibt außen vor, dass sich große Teile des gesellschaftlichen Nutzens oder des entsprechenden Schadens einer wirtschaftlichen Aktivität nicht in Bilanzen wiederfinden und sich nicht bewerten lassen. In Bezug auf Umwelt- oder Lärmbelästigung leuchtet das sofort ein. Aber auch bei den Internetunternehmen ist vieles ungeklärt. Amazon ist ein hoch profitables Unternehmen und damit im Sinne des Finanzkapitalismus „effizient“, was von den Mainstreamökonomen (dazu später mehr) mit „gut“ im moralischen Sinne gleichgesetzt wird. Aber auch wenn Amazon nur ein Viertel der Umsätze im Buchmarkt abgreift, wie in Deutschland (in anderen Ländern sind es schon nahezu 50 Prozent), so fehlt dieser Umsatz den örtlichen Buchhandlungen. Diese haben aber fixe Kosten, sodass der weggebrochene Umsatz unter Umständen den Unterschied zwischen Existenz und Aus bedeutet. Wie beziffert man nun die sozialen Kosten der Tatsache, dass es keine dezentralen Strukturen mehr gibt, in denen man fachkundig beraten wird? Nur noch Amazon Logistikarbeitsplätze unter schlechten Bedingungen und nicht mehr die respektierte Stellung des örtlichen Buchhändlers? Die Rendite von Amazon als Unternehmen liegt klar auf der Hand. Aber der gesamtgesellschaftliche Nutzen ist völlig ungeklärt. Ähnliche Konzentrationstendenzen sind in fast allen Branchen zu beobachten. Gleichzeitig werden überall autonome durch weitgehend prozessgesteuert Arbeitsplätze ersetzt. Was früher am Fließband im Bereich der körperlichen Arbeit die Ausnahme war, hat ausnahmslos alle Arbeitsbereiche erfasst – auch die Wissensproduktion an den Hochschulen. Zudem wird oft Arbeit vom Produzenten auf den Konsumenten verlagert – denn der hat im Gegensatz zu früher sehr viel Zeit. Wer zu IKEA fährt, muss eine lange Anreise in Kauf nehmen, seine Möbel nach Hause transportieren und dann auch noch zusammenbauen. Der Werbespruch „Lebst Du noch oder wohnst Du schon?“ wurde deswegen von Volksmund bereits in „Wohnst Du noch oder schraubst Du schon?“ umgedichtet. Diese Usurpation der Zeit und der Gewohnheiten von Konsumenten durch die „Anbieter“ zeigt, dass neue Lebensgewohnheiten neue Wege der Anbieter nach sich ziehen. Keinesfalls hat sich Hoffnung der Sozialpolitiker des 20. Jahrhunderts erfüllt, dass mit der abnehmenden Arbeitszeit das Zeitbudget der Menschen für „sinnvolle“ Tätigkeiten größer würde. Oft scheint das Gegenteil der Fall. Hier scheint sich auch ein anderes
190 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell spenglersches Diktum zu bewahrheiten, dass der Kapitalismus nämlich niemals Arbeit sparen würde, sondern im Gegenteil die Mobilisierung aller Arbeitsreserven darstellt und dass die Arbeit bestenfalls umverteilt wird. (vgl. Farrenkopf in diesem Kapitel) Dies alles sind Fragen, die aus der öffentlichen und vor allem der ökonomischen Diskussion weitestgehend ausgeblendet werden, weil sie nicht in die herrschende Doktrin passen. Die Fixierung auf den „Markt“ und die – sehr einseitig gemessene – Rendite haben beide zu einem Mythos werden lassen. Um hier jede Möglichkeit des Zweifels zu nehmen, arbeitet die moderne Ökonomie daran, jegliche gesamtgesellschaftlichen Kosten-Nutzen-Betrachtungen als unwissenschaftlich abzustempeln. Im Sinne des methodologischen Individualismus sollen nur tatsächlich offenbarte Marktpreise zulässige Datenquellen für die Betrachtung sein. Hierzu in einem späteren Abschnitt mehr. Die internationale Expansion des Finanzkapitalismus: Die Expansion des Finanzkapitalismus angloamerikanischen Stils, ideologisch verbrämt als die „Ausbreitung liberaler Gesellschaften“ hat sich seit dem Ende der Sowjetunion massiv beschleunigt. Doch hier handelt es sich nicht um „Fortschritt“, wie es die Proponenten dieser Entwicklung, allen voran Francis Fukuyama in The End of History, gerne haben wollten, sondern letztlich um einen kulturellen oder soziobiologischen Verdrängungs- bzw. Überlagerungsprozess. (vgl. Fukuyama 2006)  Mittlerweile sieht Fukuyama seine in „The End of History“ gemachten Aussagen deutlich kritischer und sieht auch in den USA Zeichen des gesellschaftlichen Verfalls. Es lässt sich schon die Frage stellen, ob das, was seit ca. 25 Jahren in Europa passiert – das Anwachsen der Ungleichheiten, der Verlust von Arbeitsplatzsicherheit, der Anstieg von Armut, Massenarbeitslosigkeit im Süden Europas (mit Jugendarbeitslosigkeiten von zum Beispiel über 50 Prozent in Griechenland und Spanien), die Bedrohung der Altersund Krankenversicherung, die Ökonomisierung von Wissenschaft, Gesundheit und Kultur und das Schwinden des Mittelstandes notwendigerweise als „Fortschritt“ zu bezeichnen ist. Derzeit löst sich das kontinentaleuropäische Wirtschaftsmodell, der „rheinische Kapitalismus“ bzw. die „soziale Marktwirtschaft“, mit rasender Geschwindigkeit auf und wird vom angelsächsischen Finanzkapitalismus assimiliert. Drei wesentliche Merkmale unterscheiden, in aller Kürze, den angelsächsischen Finanzkapitalismus vom rheinischen Kapitalismus: 1. Börsenorientierung vs. Bankenorientierung: Während im Finanzkapitalismus die Börsen und kurzfristige Geschäftspartnerschaften und Gewinnmöglichkeiten dominierte, war das kontinentaleuropäische System bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts anders strukturiert, ebenso Japan. (vgl. Otte 2010) Finanzüberschüsse wurden größtenteils in Form von Fremdkapital über das Bankensystem wieder in die Wirtschaft geleitet. Insbesondere in Deutschland war diese kreditbasierte Wirtschaft durch die dezentrale Organisation des Genossenschafts- und Sparkassensektors hoch effi-
15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 191 zient. England und Amerika hatten dem nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Louis Brandeis, einer der bekanntesten Verfassungsrichter der Vereinigten Staaten lobte 1911 in seinem Buch Other peoples’ money – and how bankers use it den deutschen Genossenschaftssektor als Vorbild für die USA. (vgl. Brandeis 2011) Das kreditorientierte System beruhte auf dezentralen Entscheidungen, Risikokontrolle und Vertrauen. Hierzu gehörte auch eine wesentlich höhere Grundehrlichkeit im Geschäftsverkehr. In den USA und England war auf der anderen Seite die Risikobereitschaft im Geschäftsleben höher. Zu den Institutionen der Börse auf der einen und des dezentralen Bankwesens auf der anderen Seite kommen also kulturelle Faktoren hinzu, auf die ich später eingehen werde. Keinesfalls lässt sich ohne weiteres folgern, dass ein börsen- und eigenkapitalorientiertes System „moderner“ und effizienter ist, wie es Alexander Gerschenkron tut. (vgl. Gerschenkron 1962) Er sah in einem bekannten Artikel Deutschland und Japan als „late industrializers“, die keine funktionierenden Kapitalmärkte hatten, sondern sehr zentralisierte Kreditmärkte und starke staatliche Institutionen aufbauten, um den Industrialisierungsschub zu schaffen. Das geht zumindest an der Realität in Deutschland im 19. Jahrhundert mit seinem hoch differenzierten und dezentralisierten Bankensystem völlig vorbei. Zudem war das amerikanische Bankensystem bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts verglichen mit dem deutschen geradezu vorsintflutlich. Es gab keine Girozentralen, Daueraufträge und Überweisungen wurden selten getätigt, bezahlt wurde größtenteils mit dem Scheck. Wie sich die Institutionen der Kultur anpassen, macht auch der Gründerzeit-Boom und die anschließende Krise in Deutschland von 1866 bis 1873 deutlich: Im Boom kam es zur Gründung von über tausend Aktiengesellschaften, so viele wie später erst in der New Economy nach 1998 wieder. Nach dem Börsencrash von 1873 wurden diese Aktiengesellschaften streng reguliert, und ein Großteil der Unternehmensfinanzierung spielte sich weiterhin auf den Kreditmärkten ab. Dennoch (oder deswegen?) besaß Deutschland um 1900 mit Abstand die dynamischste Volkswirtschaft, auch ohne allzu entwickelte Börsen. 2. Standardisierung, Zentralisierung und einfache ausführende Tätigkeiten vs. hoch qualifizierte Mitarbeiter und dezentrale Entscheidungen: In seinem Werk Scale and Scope – the Dynamics of Industrial Capitalism identifizierte der wohl bekannteste Wirtschaftshistoriker Alfred Chandler verschiedene Wege zur industriellen Gesellschaft in England, den USA und Russland auf der einen sowie Deutschland und Zentraleuropa auf der anderen Seite. (vgl. Chandler 1994) In den ersteren gab es viele ungebildete Menschen, viel Land, Energie und Rohstoffe (in England aufgrund der Kolonien), in letzteren wenig Land, Energie und Rohstoffe. Die USA und England setzten daher tendenziell auf standardisierte Arbeitsprozesse mit leicht austauschbarem Personal (Fließband, heute Standardisierung bei Gesellschaften im Dienstleistungssektor) bei hohem Ressourcenverbrauch, in Deutschland und Mitteleuropa setzte man darauf, Personal in der Breite gut zu qualifizieren, sodass viele Entscheidungen vom Arbeiter oder Handwerker selber getroffen wurden, die in den standardisierten Systemen in
192 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell den USA nur von Spezialisten getroffen wurden. Demzufolge wurden bei Restrukturierungen in den USA oft viele Mitarbeiter entlassen, während sie in Deutschland und Mitteleuropa innerhalb des Unternehmens eine neue Aufgabe bekamen. 3. Verantwortungsethik vs. Erfolgsethik, soziale Gerechtigkeit vs. Freiheit: Über lange Zeit standen sich innerhalb des Westens zwei ethische Grundauffassungen gegenüber. Der zentraleuropäischen Auffassung, dass man etwas Sinnvolles tun soll, seine Arbeit gut erledigen soll und dafür ordentlich bezahlt wird – also im Prinzip eine Abwandlung des Kantschen Kategorischen Imperativs – stand in den USA und England von Anfang an die Erfolgsethik gegenüber. Nicht der Nutzen der Arbeit, sondern der Erfolg war maßgeblich. Nicht „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“, sondern „handele so, dass Du Erfolg hast.“ (vgl. PuS, in PS: S. 54 ff.) 4. Sozialpolitik, öffentliche Güter: Kontinentaleuropa hatte auch eine wesentlich ausgeprägtere Sozialpolitik. Viele Güter wurden zu „öffentlichen Gütern“ erklärt, zu wichtig, um sie Privatleuten und Unternehmen zu überlassen: Gesundheit, Fernsehen und Radio, Energieversorgung, Straßenbau, Bildung. Privateigentum unterlag zudem in Kontinentaleuropa einer Sozialbindung, die nicht immer so explizit wie in der Weimarer Verfassung von 1919 (§ 153, Abs. 3 „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste“) und Artikel 14 Absatz 2 des Grundgesetzes („Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“) formuliert, aber doch gedacht wurde. Seit dem Sieg des angelsächsischen Finanzkapitalismus wird der Begriff des Eigentums zunehmend absolut gesetzt. Dem Schutz des Eigentums werden öffentlichrechtliche, gemeinwohlorientierte Belange zunehmend untergeordnet, die öffentlichen Güter privatisiert. (vgl. Le Monde Diplomatique 2009) Die Verschärfung der Copyrightgesetze ist ein Beispiel dafür. Besonders absurd ist der 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag vom 1. Juni 2009, nach dem in Deutschland die Inhalte öffentlich-rechtlicher Medienanstalten nur noch eine gewisse Zeit im Internet abrufbar sein dürfen. Private Medienkonzerne hatten geklagt, dass dies eine „Wettbewerbsverzerrung“ darstelle. Dabei haben die öffentlich-rechtlichen Anstalten einen Bildungsauftrag. Man kann argumentieren, dass es geradezu ihre Aufgabe ist, durch ihre Angebote einen Qualitätswettbewerb in Gang zu setzen, den einige private Medien nicht überstehen. Bis 1989 waren die Gesellschaftssysteme in (West-)Kontinentaleuropa durch die Blockbildung noch vor allzu viel Einflussnahme geschützt und existierten quasi in einem Biotop. Seit dem Fall des Kommunismus hat sich die Umgestaltung Westeuropas („Amerikanisierung“) massiv beschleunigt. Da Brüssel letztlich kein Ort europäischer Willensbildung ist, sondern ein Marktplatz für Lobbyisten, setzen sich zumeist die stärkeren Lobbys durch. Zu diesen gehören sicherlich die Lobbys der Investmentbanken und der IT-Konzerne. Der ehemalige Chefvolkswirt Simon Johnson spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kaperung der Politik durch die Wirtschaft“. (vgl. Peukert 2010: S. 64 ff.)
15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 193 Herrschaft über den Menschen: Nicht nur international expandiert der Finanzkapitalismus rücksichtslos und gestaltet ganze Volkswirtschaften um, auch der Mensch selber wird umgestaltet. Neben der Expansion in die Breite hat also dieses Prinzip eine Tiefenwirkung in die Psyche des Einzelnen. Nicht nur Produkte und einfache Dienstleistungen, das Wissen und die Wissensproduktion selbst ordnen sich zunehmend der Logik des Hyperkapitalismus unter. Wo Zeitungen sich früher zumindest teilweise über Abonnenten finanziert hatten, die bereit waren, für Informationen zu bezahlen, dominiert seit dem Aufkommen des Internet eindeutig die Anzeigenwerbung. (vgl. Otte 2009) Im Internet selber gibt es sowieso kaum Bezahlmodelle. Hier treibt also alleine die Aufmerksamkeit – die Zahl der Klicks bestimmt die Werbeeinnahmen. Damit schaffen es vor allem Boulevardthemen und groteske Sensationen ganz nach oben in die Suchmaschinen. Online-Redaktionen verkommen zu reinen Schreib- und Kopierbüros und übernehmen willig Texte von PR-Abteilungen der Unternehmen, weil sie sich keine qualifizierten Fachjournalisten mehr leisten können. Zu Beginn der Internet-Ära – also vor den Bewegtbildern im Netz und den dominanten Suchmaschinen – teilte der Verfasser zwar nicht die Hoffnung auf eine freiere Welt (das freie Internet), aber doch auf eine Renaissance des Lesens und der alphanumerischen Ordnung der Welt. Zu Beginn der Internetära gab es nämlich noch Inhaltsverzeichnisse, die sinnvoll strukturiert waren. Nun werden wir selber im Zeitalter des Payback zu menügesteuerten Ausführungsorganen, die gezwungen werden, Dinge zu tun, die wir eigentlich nicht wollen. (vgl. Schirrmacher 2011) Mehr und mehr verselbstständigt sich Big Data und schafft so ganz eigene neue Strukturen: in Unternehmen und Organisationen, in den Köpfen der Menschen und in den internationalen Beziehungen. Unternehmen verändern ihre Wertschöpfungsketten radikal. Menschen passen ihr Verhalten und ihre Gedanken an, und meistens nicht zum Guten. Wer weiß, dass er permanent beobachtet und ausgeforscht wird, verhält sich anders, ist nicht mehr frei. (...) Der Überbau der Daten wird autonom und zur neuen Realität, anstatt diese bloß abzubilden. Er zwingt alle Subjekte nach den Prinzipien des zum Homo Oeconomicus umprogrammierten Egos in vorbestimmte Prozesse und Abläufe. Am Ende stehen Monokulturen gleichgeschalteter Akteure. Wo das hinführt, lässt sich gut an den Finanzmärkten beobachten. Hier zählt ausschließlich ein Maßstab: die maximale Rendite, und das möglichst schnell. Die „Finanzmärkte“ – von der Wirtschaftsberichterstattung längst zu einer fast mythischen Größe erhoben – haben sich von der Realwirtschaft abgelöst und geben zunehmend die Richtung vor. Ja, Unternehmen und ganze Volkswirtschaften tanzen nach ihrer Pfeife. (vgl. Otte 2014) In vielerlei Hinsicht sind die Menschen unfreier und stecken in mehr Zwängen als jemals zuvor. Zwar können sie sich – vorausgesetzt, sie haben Geld – fast alles kaufen, aber bereits mit dem Akt des Kaufens oder des Verkaufsgesprächs werden sie in ein streng ritualisiertes Verhalten hineingezogen, das sich über Kontinente und Produkte immer mehr angleicht. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche zwingt immer stärker dazu, das Geldverdienen zu forcieren. Wenn dann konsumiert wird oder Freizeit gestaltet wird,
194 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell findet das auch immer mehr als „Dienstleistung“ statt, die strengen und berechenbaren Ritualen unterliegt. Mein Artikel wurde von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus Platzgründen gekürzt. Nicht erschienen ist damals folgender Absatz, der in unmittelbarem Zusammenhang mit den obigen Passagen stand: Wenn unser Denken einmal umprogrammiert ist, entsteht eine neue Menschheit, eine Menschheit die sich von derjenigen unterscheiden wird, die seit Beginn der neolithischen Revolution in vielen Aspekten nahezu unverändert geblieben ist. Spengler hat die Macht der Presse, die Meinungen ihrer Leser und die öffentliche Meinung zu formen, vielfältig beschrieben. Das Internet und die vernetzte Welt hat er nicht vorausgesehen. Während die Atomkraft, genmanipulierte Organismen und die Weltraumfahrt in seinem Gedankengebäude zumindest angelegt sind, ist die Informationstechnik, das Schaffen menschenähnlicher Intelligenz durch den Menschen in ihren letzten Konsequenzen selbst von diesem visionären Geist nicht geahnt worden. (Siehe hierzu Osmancevic in diesem Kapitel) 15.6 Priester- und Kriegerkasten: Ökonomen und Manager Die Priester: „Wir Ökonomen sind mittlerweile ziemlich gut darin, zu analysieren, wie Regeln auf den Märkten funktionieren und sich auswirken. Wir haben uns aber kaum damit beschäftigt, wie Regeln gemacht werden“, so der Dekan für Volkswirtschaftslehre an der Universität Graz anlässlich einer öffentlichen Diskussion mit den „heterodoxen“ Ökonomen Heiner Flassbeck, Max Otte und Stephan Schulmeister im Jahr 2013. Allein schon die Tatsache, dass von einer „orthodoxen“ und einer „heterodoxen“ Ökonomie gesprochen wird, sollte stutzig machen. (vgl. Peukert 2010) Die Ökonomie ist mittlerweile die dominante Gesellschaftswissenschaft. Sie löst die Rechtsprechung (die sich selber zunehmend der Methoden der Ökonomie bedient) ab und verweist Soziologie, Geschichte und Politikwissenschaft noch mehr in die Randbereiche gesellschaftlich weniger relevanter Forschungen. Diese Entwicklung setzte spätestens mit der durch Milton Friedman und andere seit den 1950er und verstärkt seit den 1970er Jahren vorangetriebenen „markt- und angebotsorientierten“ Ökonomien ein. Durch massive Entstaatlichung („Deregulierung“) sollten die Marktkräfte gefördert werden. Paul Volcker, der langjährige und allgemein respektierte Notenbankchef der USA ist mittlerweile ein deutlicher Kritiker des Finanzkapitalismus geworden und bezeichnete einmal den Bankautomaten als die einzig nutzbringende Finanzinnovation der letzten Jahrzehnte. Volcker berichtete, dass er Friedman seit den 1950er Jahren kannte, einen charismatischen und netten „Prediger“. Die Brisanz seiner Ideen habe man aber damals nicht erkannt – und nun sei schwer vorstellbar, wie man sich wieder aus der Dominanz der Banken, Börsen und Lobbyisten befreien könne. (vgl. Faller und Otte 2011)
15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 195 Seit 1980 ist die Zahl der Ökonomen massiv angestiegen. Eine Vielzahl von Wirtschaftsforschungsinstituten und volkswirtschaftlicher Abteilungen von Banken und Unternehmen äußert Marktmeinungen. Die Wirtschaftsministerien und die Politik sind weit dahinter zurückgetreten. Ökonomen sind die Erklärer der heutigen Welt geworden. Der Verfasser dieses Aufsatzes hat selber von diesem Trend profitiert. (vgl. Panster 2011) Und immer wird die herrschende Doktrin der Marktorientierung und des methodologischen Individualismus zugrunde gelegt, nämlich dass „Märkte“ effizient(er) seien und dass es auf die durch Marktpreise offenbarten Präferenzen von Individuen ankomme. Hierzu nimmt man dann „Nutzenfunktionen“ an, die abbilden, welche Menge eines Gutes welchen „Nutzen“ stifte und was damit der Einzelne bzw. die Summe aller Individuen zu zahlen bereit sind. Aggregiert ergeben diese Nutzenfunktionen dann eine gesamtwirtschaftliche „Nachfragefunktion“. Diese trifft wiederum auf eine aus anderen Prämissen konstruierte „Angebotsfunktion“. Je „freier“ solche Märkte sind, desto effizienter soll die Wirtschaft sein. Wie esoterisch das Konzept ist, lässt sich gut durch einen Blick auf den Begriff „Nutzenfunktion“ bei Wikipedia ersehen. Es stellt aber eine wesentliche Grundannahme der gesamten modernen Ökonomie dar. Wo immer aber Theorien von höchster (gesellschafts)politischer Bedeutung so stark von Experten“wissen“ abhängen, besteht die Gefahr, dass eine eigene Kaste von Politik- und Gesellschaftserklärern entsteht und dass das Wissen mehr und mehr zum Wissen einer kleinen Gruppe wird. Wie wenig allgemeingültig das Konzept des Nutzens, oder noch abstrakter des Grenznutzens und der monetären Nutzenmaximierung ist, ist jedem soziologisch oder anthropologisch bewanderten Wissenschaftler klar, denn: Erst im Wirtschaftsbilde des denkenden Städters gibt es objektive Werte und Wertarten, die als Element des Denkens unabhängig von seinem privaten Bedarf bestehen und die der Idee nach allgemeingültig sind, obwohl in Wirklichkeit jeder einzelne sein eigenes Wertesystem und seine eigene Fülle verschiedenster Wertarten besitzt und von ihnen aus die geltenden Wertansätze (Preise) des Marktes als billig oder teuer empfindet. (vgl. UdA: S. 1164) Preise kommen also durch sehr unterschiedliche individuelle Wertansätze zustande. Diese Wertansätze sind bei Spengler soziokulturell geprägt und müssen sich keinesfalls auf den flachen Begriff des individuellen „Nutzens“ beziehen, wie dies in der modernen Ökonomie der Fall ist. So werden viele Menschen durch eine anspruchsvolle, passende Aufgabe und ein auskömmliches Einkommen besser motiviert als durch den ständigen Drang, mehr zu verdienen. Umfragen bestätigen regelmäßig, dass Menschen zumindest in Mitteleuropa ein Gespür dafür haben, was ein „faires“ Einkommen sein sollte. (vgl. Felber 2012) Im Übrigen scheint auch die Anhebung der Relation von Spitzenverdienst zu Normaleinkommen in großen Konzernen von 30 zu 1 auf oftmals 300 zu 1 (in den USA seit Anfang der 1980er, in Europa sein Mitte der 1990er Jahre) nicht unbedingt die Qualität des Spitzenmanagements verbessert zu haben. Dem Verfasser dieses Artikels scheint oftmals das Gegenteil der Fall zu sein.
196 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell Es scheint sich also bei der modernen Ökonomie (zumindest aus soziologischanthropologisch-evolutionsbiologischer Sicht) tatsächlich „um die bloße Selbstanalyse des wirtschaftlichen Denkens einer einzigen Kultur und zwar auf einer einzigen Stufe“ zu handeln. (vgl. UdA: S. 1145) Dieses Denken wird normativ und absolut gesetzt. Natürlich kann man argumentieren, dass die jetzige Welt die beste ist, die wir je hatten, und dass wir daher den jetzigen Ist-Zustand auch als normatives Prinzip festschreiben sollten. Das kommt aber einem Zirkelschluss gefährlich nahe. Ihre Bedeutung sichert sich die Ökonomie auch dadurch, dass sie überwiegend „Partialmodelle“ untersucht. Hierbei werden ein oder wenige Faktoren variiert und dann die Auswirkungen auf eine begrenzte Anzahl von Faktoren untersucht. (vgl. Peukert 2010) Die Konsequenz eines solchen Vorgehens ist, dass sich Annahmen beliebig tief hinterfragen lassen. Zum einen sichert das dem Stand der Ökonomen seine Existenz. Zum anderen kann auf jede Studie eine Gegenstudie folgen und das Ergebnis wird – zumindest tendenziell – käuflich. Wer mehr in Studien für sein Anliegen investiert, wird mit großer Wahrscheinlichkeit mit mehr Argumenten dastehen. Interessant ist auch, dass sich die Ökonomie immer noch mit einer Theorie von Institutionen und Unternehmen sehr schwer tut. Man orientiert sich weiterhin überwiegend am Bild des „Marktes" – vieler einzelner frei entscheidender Akteure, die nicht in langfristigen institutionellen Zwängen gebunden sind. Wenn überhaupt, trifft das Bild des Marktes vielleicht am ehesten auf die Finanzmärkte zu, die zu den instabilsten Märkten überhaupt gehören. Nichtsdestotrotz arbeitet die Ökonomie unverdrossen daran, immer mehr institutionelle Schranken einzureißen und immer mehr Märkte an das Modell der Börse anzugleichen, zum Beispiel Strom- und Agrarmärkte. Die Diskrepanz zwischen dem Basismodell der Ökonomie und der Realität einer stark institutionalisierten Gesellschaft haben zum Beispiel Joseph Schumpeter (1942) und John Kenneth Galbraith (1967), aber auch viele andere geschildert. Die Erklärungsversuche der Ökonomie blieben oftmals auf halbem Weg stecken. Grundlage ist der Transaktionskostenansatz von Ronald Coase, der besagt, dass bei Auftreten externer Effekte Institutionen die Transaktionskosten reduzieren können. (vgl. Coase 1960) In The Economic Institutions of Capitalism fasst Oliver E. Williamson 1998 den Stand der Diskussion zu den „New Institutional Economics“ zusammen. (vgl. Williamson 1998) Das Problem dieser Ansätze ist, dass sie zwar eine propädeutische Rechtfertigung für die Existenz von Institutionen liefern, aber nicht zum Studium der Funktionsweise realer Institutionen vordringen, da dies – aus Sicht der Ökonomen – „unwissenschaftlich“ sein würde. In der Zwischenzeit gilt das Paradigma effizienter Märkte weiter und entfaltet seine normative Wirkung. Da waren die Soziologie und die zum Beispiel von Karl Popper diffamierte deutsche historische Schule weiter. (vgl. Popper 2003) Auch das Verhältnis von Markt und Plan sei kurz skizziert. Alle Wirtschaftssubjekte planen; Organisationen machen dies ebenfalls. Es kann also so etwas wie den „Willen“ einer Organisation oder sogar eines Staatsgebildes geben. Die Angriffe der Marktökonomen richten sich gegen staatliche Planung, die nicht effizient sein könne. Gleichzeitig muss konstatiert werden, dass in den Großkonzernen Tausende Mitarbeiter in Planungs-
15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 197 abteilungen sitzen. Es ist also nicht die Frage, ob es eine planende und kontrollierende Bürokratie gibt, sondern wo diese Bürokraten sitzen. „Auch der Milliardärssozialismus (= Finanzkapitalismus, Anm. d. Verf.) würde ein Volk unvermerkt in ein Heer von Privatbeamten verwandeln.“ (vgl. PuS, in PS: S. 102) Die Geschwindigkeit, mit der heute die bürgerlichen souveränen Berufe schwinden und ihre einstmals stolzen Berufsinhaber – Professoren, Apotheker, Ärzte und andere – in „optimierte Prozesse“ gezwungen und „controllt“ werden, muss schon zu denken geben. Und in den Großkonzernen sitzen sowieso Beamte, die sich nur im Hinblick auf die Regeln, nach denen sie arbeiten, von Ministerialbeamten unterscheiden. Dass also ein großer Teil der Wirtschaft nach Befehl und Gehorsam organisiert ist, sollte klar sein. Die Ökonomie fordert, staatliche Bürokratien abzubauen. Folge ist, dass die Bürokratien stattdessen in den Großkonzernen neu entstehen. Wo früher die Umwelt- und Arbeitsgesetzgebung für zumutbare Zustände sorgte und von Ministerien und Behörden umgesetzt wurde, haben die Unternehmen nun ihre eigenen Corporate Social Responsibility Abteilungen. So werden – zumindest nach Ansicht des Verfassers – flächendeckend Böcke zu Gärtnern gemacht. Im Übrigen haben in der Menschheitsgeschichte etliche Staaten als „Beamtenstaaten“ lange und gut funktioniert, wie zum Beispiel China und die mesoamerikanischen Hochkulturen. Auch in Preußen galt das unbedingte Primat der Politik – bei einer gleichzeitigen Wirtschaftsgesetzgebung, die um vieles liberaler als die heutige war. Grundlage des spenglerschen Wirtschaftsbildes ist zum einen der Sozialdarwinismus bzw. die Soziobiologie, insbesondere der daraus abgeleitete Kampf um Ressourcen, der in allen Formen permanent stattfindet und gelegentlich auch in Kriege ausartet. Ressourcen können auf zwei Arten gewonnen werden: erzeugend und erobernd. Erzeugend ist zunächst einmal der Bauer, später auch der Handwerker, Ingenieur, Arzt, Lehrer und Fabrikant, deren Intelligenz und Energie darauf gerichtet ist, Dinge zu erzeugen, und seien es immaterielle Eigentümer wie Wissen oder Zustände wie Gesundheit. Dieser erzeugenden tritt nun eine erobernde Art von Wirtschaft entgegen, die sich der ersten als eines Objekts bedient, sich von ihr nähren lässt, sie tributpflichtig macht oder beraubt. (...) Der Urkrieg ist immer auch ein Raubkrieg, der Urhandel mit Plünderung und Piraterie aufs engste verwandt. (...) Politik und Handel in entwickelter Form – die Kunst, durch geistige Überlegenheit Sacherfolge über die Gegner zu erzielen – sind beide ein Ersatz des Krieges durch andere Mittel. Jede Art Diplomatie ist geschäftlicher, jedes Geschäft diplomatischer Natur, und beide beruhen auf eindringender Menschenkenntnis und physiognomischem Takt. (vgl. UdA: S. 1153) Diese Unterscheidung ist nicht so weit entfernt von Werner Sombarts Klassifizierung der Konkurrenz in Leistungskonkurrenz, Suggestionskonkurrenz und Gewaltkonkurrenz. (vgl. Sombart 1991) Die Leistungskonkurrenz ist laut Sombart das, was wir uns gewöhnlicherweise unter Konkurrenz vorstellen: leistungsfähigere Produkte billiger zu erzeugen. Sie erinnert damit an die Konkurrenz beim Sport. Bei der Suggestionskonkurrenz geht es um „Marketing“, um „Show“, um das sich darstellen im besten Licht.
198 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell Bei der Gewaltkonkurrenz wird Marktmacht und ggf. auch politische Macht ausgenutzt, um Konkurrenten zu verdrängen und zu zerstören. Wenn dann allerdings marktbeherrschende Monopole entstanden waren, dann würde die Suggestionskonkurrenz wieder wichtiger, um Ansatz und Gewinn zu erhöhen, mithin Marketing und Propaganda. Sombart sah diese Art der Konkurrenz in seinem 1902 veröffentlichten Hauptwerk „Der moderne Kapitalismus“ vor allem in dem USA am Werk, wo gewaltige Trusts und Konzerne entstanden waren. Mit dem Sherman Antitrust Act von 1890 und der Zerschlagung von John D. Rockefellers Standard Oil Company im Jahre 1911 versuchte die amerikanische Politik dem Rechnung zu tragen. Auch in Deutschland kam er zur Bildung von Kartellen, im ersten Weltkrieg unter tatkräftiger Mitwirkung von Walther Rathenau. Diese Kartelle funktionierten aber effektiv und effizient, auch im Hinblick auf Qualität und Quantität von Produktion. Keinesfalls konnte man die Vereinigungen von Geschäftsleuten und Unternehmen in Deutschland von den Kammern bis hin zu den Kartellen pauschal nach einem Bekannten Satz Adam Smiths als „Verschwörung gegen die Öffentlichkeit“ klassifizieren, die nur deswegen stattfanden um Preise zu erhöhen oder sich Vorteile zu sichern. (vgl. Smith 2012) Die Kartelle und Kammern in Deutschland und Mitteleuropa hatten vor allem die Funktion der Qualitätssicherung und Marktregulierung. Dazu bedarf es eines anderen Betriebssystems, einer anderen Software, denn sonst wären dieselben Tendenzen eingetreten wie in den USA. Heutige Ökonomen tun sich zunehmend schwer damit, überhaupt anzuerkennen, dass es verschiedene Arten und Qualitäten der Konkurrenz gibt. Marktpreise und -ergebnisse werden nahezu absolut gesetzt, und es liegt an der Politik, sich für Eingriffe zu rechtfertigen, während zumindest in Deutschland sich früher die Wirtschaft gegenüber der Politik rechtfertigen musste. Die Krieger: Wenn sich bei den Ökonomen eine neue Priesterkaste zu bilden beginnt, so etabliert sich bei den Managern eine neue Offiziers- und Kriegerkaste. Zwar wird der Krieg heute überwiegend nicht mehr auf den militärischen Schlachtfeldern, sondern auf Märkten ausgetragen, aber das Vokabular und die Denkweise sind dieselbe. Es geht darum, Strategien für den Wettbewerb zu entwickeln, Märkte zu erobern, strategische Stellungen zu besetzen. Der Unternehmungsgeist (...) kluger Bankherren (...) mächtiger Geldleute (...) und der Minen und Trustmagnaten unserer Tage erfordert die strategische Begabung von Feldherren, wenn die Operation glücken soll. (vgl. Isaacson 2012; Elmer-DeWitt 2014) Wer denkt bei vollkommen rücksichtslos agierenden Magnaten wie Steve Jobs (Apple) oder Jeff Bezos (Amazon) nicht an Feldherren oder, in der spenglerschen Diktion, „Cäsaren“? Auch in den Unternehmen ist der Wettbewerb oftmals gnadenlos. Manche Systeme setzen nicht auf die Erfüllung einer Aufgabe, sondern darauf, dass jedes Jahr ein bestimmter Prozentsatz („die schlechtesten“) ausscheidet. Wenn ein Unternehmen übernommen wird, heißt das in der Praxis oft, dass überwiegend die Manager des „siegreichen“ Unternehmens bei der Verteilung von Führungspositionen zum Zuge kommen.
15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 199 Auf den Business Schools dieser Welt werden die Standardtheoreme der Unternehmensführung und -kriegsführung gelehrt, wie vor 100 Jahren auf den Militärakademien die „echte“ Kriegsführung. Ob darin ein Fortschritt zu sehen ist, hat schon Spengler in „Preußentum und Sozialismus“ bezweifelt, wo er als einen möglichen Ausgang des 20. Jahrhunderts beschrieben hat, dass die Staaten und damit auch die „echte“ Kriegsführung in die Hand von Konzernen und Großvermögen gelangen könnten. Was Spengler trotz der eingangs erwähnten scharfsinnigen Beobachtungen zur Trennung von Eigentum und leitender Tätigkeit nicht vorausgesehen hat, ist die starke zahlenmäßige Explosion der Manager-Beamten. Mittlerweile wählen viele Spitzenköpfe, die eine Laufbahn in einer Organisation anstreben und nicht zu den wenigen begnadeten gehören, die selber Unternehmer werden, lieber die Managerlaufbahn als den Staatsdienst. Auch dies wäre für Spengler bei den potenziell exorbitanten Managergehältern und den eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten und der Demoralisierung im öffentlichen Dienst verständlich gewesen, denn „Ein Nachwuchs ist so viel wert wie die höchste erreichbare Macht: das ist das Geheimnis Napoleons von dem Marschallstab im Tornister jedes Soldaten.“ (vgl. NdR, in PS: S. 182) 15.7 Das Gegenprinzip: „Preußischer Sozialismus“ Das Denken in Gelddingen dominiert nach Spengler die Spätzeit des Westens, unabhängig davon, ob es sich um nach unserem heutigen Sprachgebrauch „kapitalistische“ oder „sozialistische“ Gesellschaften handelt. Auch in der Theorie des Sozialismus sollte alles dem Gedanken der Zweckmäßigkeit unterworfen werden und sich einem Prinzip unterordnen. Insofern unterscheiden sich „Planwirtschaft“ und „Finanzkapitalismus“ in der Tiefe nicht: Beide wollen, dass ein zugrundeliegendes Prinzip die gesamte Wirtschaft beherrscht. Spengler stellt dem Finanzkapitalismus einen „preußischen Sozialismus“ entgegen, der auf seine Weise nicht weniger rücksichtslos und konsequent ist als der erstere, aber eben die Deutschlands oder den Deutschen gemäße Lebensform darstelle. Eine Gesellschaftsform, in der jegliche Form von Arbeit ihre innere Würde habe und nicht Bequemlichkeit, sondern die Erfüllung seiner Aufgabe – und der Stolz, diese erfüllt zu haben – wichtigster Ansporn sei. Inwieweit dieser „preußische Sozialismus“ eine reine Wunschvorstellung Spenglers war, oder ob Züge davon hätten umgesetzt werden können, werden wir nie beantworten können. Vom Nationalsozialismus als Karikatur und späterer alptraumhafter Perversion seines idealen preußischen Sozialismus wandte Spengler sich nach 1933 schnell ab. Die spenglersche Charakterisierung der verschiedenen Wirtschaftsgesinnungen Englands und Deutschlands und ihrer anthropologischen und historischen Grundlagen lohnen eine nähere Betrachtung. Spengler wird dabei nicht müde, zu betonen, dass Völker vor allem kulturelle Einheiten, Einheiten gleichen Denkens und Fühlens sind und dass
200 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell dies nur sekundär mit Rasse und Sprache zu tun hat. (vgl. UdA, 2. Bd., Kapitel II, S. 688–745) Auf der Unternehmensebene wird das Phänomen der Unternehmenskultur und der „Corporate Identity“ als ursächlich für den Unternehmenserfolg hervorgehoben (vgl. Otte 1999: S. 6;. Treacy und Wiersema 1995), auf der Ebene der Staaten hingegen zumeist als unzulässige Betrachtungsweise negiert. (vgl. Hofstede 2007)  Eine Ausnahme bildet die weit beachtete Studie von Hofstede 2007. Dabei sind beides „Daseinsströme“, Organisationen, die spezifische Charakteristika und jeweils spezifische Charakteristika ausprägen können. Auf der Ebene der Völker und Nationalstaaten können solche Charakteristika durch geteilte historische Erfahrungen, geographische Lage und andere Faktoren entstehen. Lange Wanderungen wie bei den Juden oder den Azteken sind besonders mächtige konstitutive Erfahrungen. (vgl. Riese 2011) Die beiden letzten Völker der westlichen Kultur waren 1919 für Spengler Engländer und Preußen. Der englische Friede zu Fontainebleau, der preußische zu Hubertusburg, beide 1763, schließen das französische Jahrhundert ab. (...) Die Geburt des modernen englischen Volkes liegt im 17., die des preußischen im 18. Jahrhundert. Es ist das jüngste und letzte. Was hier an Themse und Spree an unverbrauchtem Menschentum gestaltet wurde, verkörpert die Züge faustischen Machtwillens und Hanges zur Unendlichkeit in der reinsten und energischsten Form. (vgl. PuS: S. 39) Heute wissen wir, dass die Geschichte weitergegangen ist und dass sich danach die Vereinigten Staaten trotz aller gesellschaftlichen Probleme zur mächtigsten politischen Einheit der Jetztzeit entwickelt haben, eine Entwicklung, die für Spengler 1933 durchaus noch zweifelhaft war. (vgl. JdE: S. 79 ff.) Zudem scheint sich die „englische“ Gesellschaftsauffassung auf die USA übertragen zu haben, was zumindest in der Ära des New Deal von Franklin Delano Roosevelt noch nicht endgültig entschieden war. Deutschland ist von der jahrhundertelangen Zersplitterung über eine kurze Phase der Machtversessenheit wieder bei der Machtvergessenheit angelangt. Es darf bezweifelt werden, ob Deutschland (oder irgendein anderer Staat der europäischen Union) noch als politisch wirksame und verfasste Einheit existiert. (vgl. Engels 2014) Worin bestehen also die kulturellen Unterschiede zwischen Preußen (und umliegenden Gebieten) und England, die alle Bereiche des Lebens, auch die Wirtschaft, durchdringen? Wie unterschied sich also die „Software“ beider Gesellschaften, ohne welche die Institutionen nicht zu verstehen sind? (Und wenn man Institutionen verpflanzt, ohne die Software zu verstehen, gerät das meist zur Karikatur.) Aber es waren zwei sittliche Imperative gegensätzlichster Art, die sich (...) langsam entwickelten (...): persönliche Unabhängigkeit und überpersönliche Gemeinschaft. Heute nennt man sie Individualismus und Sozialismus. Es sind Tugenden ersten Ranges, die hinter diesen Worten stehen: Selbstverantwortung, Selbstbestimmung, Entschlossenheit,
15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 201 Initiative dort, Treue, Disziplin, selbstlose Entsagung, Selbstzucht hier. Frei sein – und dienen: es gibt nichts Schwereres als diese beide, und Völker, deren Geist deren Sein auf solche Fähigkeiten gestellt ist, die wirklich frei sein oder dienen können, dürfen sich wohl an ein großes Schicksal wagen. (vgl. PuS, in PS: S. 42) Egoismus uns Eigennutz sind zwei Prinzipien, die in unterschiedlichster Ausprägung bereits in der Tierwelt vorkommen. Wuketits: Offensichtlich haben sich in der Evolution zwei zueinander entgegengesetzt stehende Prinzipien etabliert – zum einen der Kampf (im übertragenen und im buchstäblichen Sinne) der Individuen untereinander, zum zweiten der Zusammenschluss von Individuen zu kooperativen Systemen. (...) Selbst innerhalb einer Art kann das Verhältnis zwischen Kampf und Kooperation variieren. (vgl. Wuketits 1997, S. 69) So gesehen wären die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Deutschland und England um 1900 oder um 1920 vor allem eine Frage der unterschiedlichen Ausprägung von Kooperationsbereitschaft und Individualismus bzw. Wettbewerb. Spengler: Maximum und Minimum des überpersönlichen sozialistischen Staatsgedankens, Staat und Nichtstaat, das sind England und Preußen als politische Wirklichkeiten. (...) Denn der englische „Staat“ liberalen Stils ist der, welcher gar nicht bemerkt wird, der das Einzeldasein überhaupt nicht in Anspruch nimmt, ihm kein Gehalt verleiht, ihm nur als Mittel dient. Keine Schulpflicht, keine Wehrpflicht, keine Versicherungspflicht, so ging England durch das Jahrhundert zwischen Waterloo und dem Weltkrieg, um jedes dieser negativen Rechte zu verlieren. (vgl. PuS, in PS: S. 43) Auch der Althistoriker Carl Ferdinand Friedrich Lehmann-Haupt hat sich diesbezüglich geäußert. (vgl. Lehmann-Haupt 1915) England war für Spengler eine Gesellschaft von Privatleuten, durch die Insellage geprägt, von gleichem Denken und Fühlen. „Der Staat wurde, weltlich wie geistlich, abgeschafft und durch den Vorzug der Insellage ersetzt.“ (vgl. PuS, in PS: S. 26) Er wird als Geschäft von Privatleuten betrieben, deren beste dennoch staatsmännisch und über die nächste Bilanz hinausdenken. Zudem habe England seit der Magna Carta eine ungebrochene Tradition, sodass es niemandem in den Sinn käme, die eigene Gesellschaftsform zu hinterfragen. Handel mit dem Hintersinn des kultivierten und auch weniger kultivierten Raubs war Teil dieser Gesellschaft, beginnend mit den Kaperbriefen, vor allem im Zusammenhang mit den Konflikten mit Spanien, bekannt durch solche Namen wie Sir Francis Drake und Sir Walter Raleigh, beide ab 1585 im Rahmen des Achtzigjährigen Krieges, aber auch in Form der Ausbeutung der Kolonien. Carl Schmitt berichtet in seiner Erzählung „Land und mehr“, wie auch ehrenwerte Landbewohner fremde Schiffe in den Häfen überfallen. (vgl. Schmitt 2011) Der Erfolg zählte: Drake und Raleigh wurden für ihre Beutezüge geadelt. In Preußen hingegen wuchs unter der Notwendigkeit, den Osten zu kolonisieren und sich in einem Land ohne natürliche Grenzen zu verteidigen, eine sehr stark gemeinschaftsorientierte Gesellschaft. England hatte ein Gemeingefühl des Erfolgs, eine Gemeinschaft von „Ichs“ mit dem „Pathos eines starken, Gleichförmigkeit schaffenden
202 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell Lebensgefühls.“ (vgl. PuS, in PS: S. 47) Hierzu gehört auch die gehobene Zivilkleidung, die „Uniform des Privatmannes“ (vgl. PuS, in PS: S. 48), die sich in dieser Normierung heute auch in den USA und in den großen Konzernen durchgesetzt hat. (vgl. Otte 1995) „Die englische Gesellschaftskleidung ist ein Zwang, strenger noch als der preußische Uniformzwang. Wer zur Gesellschaft gehört, wird dieser Tracht seines Standes gegenüber nie in ‚Zivil‘, das heißt unter Verletzung von Sitte und Mode unvorschriftsmäßig gekleidet gehen.“ (vgl. PuS, in PS: S. 48) In Deutschland war es umgekehrt: Im Dienst hatte man seine Uniform und privat konnte man schon einmal etwas nachlässiger sein, was die Kleidung anging. Stattdessen hat der preußische Stil das ebenso starke und tiefe Standesbewusstsein gezüchtet, ein Gemeingefühl nicht des Ruhens, sondern der Arbeit, die Klasse als Berufsgemeinschaft, und zwar des Berufs mit dem Bewusstsein für alle, für das ganze, für den Staat wirksam zu sein (...) (vgl. PuS, in PS: S. 47) Für Engländer und Amerikaner liegt der Zweck der Arbeit laut Spengler im Erfolg, Geld, Reichtum. Es ist klar, dass ein Kampf um den Erfolg unvermeidlich ist, aber das puritanische Gewissen rechtfertigt jedes Mittel. (...) Die Arbeit ist nur der Weg, den man so bequem und sicher als möglich wählen darf. (vgl. PuS, in PS: S. 52) Die preußische, sozialistische Ethik sagt: „es handelt sich nicht um das Glück. Tue Deine Pflicht, indem Du arbeitest.“ Dies ist „gleichwohl die Idee des Sozialismus in seiner tiefsten Bedeutung: (...) Kampf um das Glück nicht des einzelnen, sondern des Ganzen. (vgl. PuS, in PS: S. 52) Für Spengler sind diejenigen Völker am effektivsten, die einen größtmöglichen Abstand zwischen „oben“ und „unten“ und damit die größtmögliche soziale Differenzierung aufweisen: Unter allen Völkern Westeuropas zeichnen sich alleine diese beiden durch eine straffe soziale Gliederung aus. (...) Das englische Volk ist nach dem Unterschied von reich und arm, das preußische nach dem von Befehl und Gehorsam aufgebaut. (...) Es sind die menschlichen Ordnungen, die sich auf dem Reichtum und der Autorität aufbauen, die, welche durch den ungehemmten Kampf um Erfolge, und die, welche durch Gesetzgebung erzielt werden. (vgl. PuS, in PS: S. 54 f.) Parallele Fragen in der Soziobiologie sind nicht zu übersehen. Weiter: Demokratie bedeutet in England die Möglichkeit für jedermann, reich zu werden, in Preußen die Möglichkeit, jeden vorhandenen Rang zu erreichen. (vgl. PuS, in PS: S. 55) Aus dieser unterschiedlichen Grundhaltung und unterschiedlichen Grundsolidarität folgen grundverschiedene Haltungen, nicht nur zum Konzept des Staates (bzw. Nichtstaates), sondern auch der Wirtschaftspolitik:
15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 203 Als England 1066 (...) erobert wurde, wurden die stammverwandten Sachsen genauso von den Normannen ausgebeutet. Niemals haben ihre Nachkommen die Welt anders zu betrachten gelernt. Diesen Stil trägt heute noch jede englische Handelskompanie und jeder amerikanische Trust. Erzeugung von Einzelvermögen, von privatem Reichtum, Niederkämpfen der privaten Konkurrenz, Ausbeutung des Publikums durch Reklame, durch Preispolitik, durch Bedürfniserregung, durch Beherrschung des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage, ist das Ziel nicht die planmäßige Hebung des Volkswohlstandes als einer Einheit. Wenn ein Engländer von Nationalreichtum spricht, so meint er die Zahl der Millionäre. „Nichts ist dem englischen Empfinden fremder als Solidarität“ (Fr. Engels). (...). (vgl. PuS, in PS: S. 59) Das Programm der „modernen“ Ökonomie und der Glaubenssatz Adam Smiths, dass allen am besten gedient sei, wenn jeder auf seinen Vorteil bedacht sei und nur an sich denke, sind hier nahezu vollständig abgebildet. Und bei der Zahl der Millionäre muss man an die Fortune-500-Liste denken, die seit vielen Jahrzehnten die 500 reichsten Amerikaner auflistet. Seit einiger Zeit wird diese Unsitte auch vom deutschen manager magazin kopiert. Preis- und Lohndrückerei – heute allgemein anerkannt, während die Gehälter in den Vorstandsetagen explodieren und das Verhältnis von Normalverdiener zu Spitzenverdiener in den Unternehmen in den USA in den 1980ern, und, 20 Jahre später in Kontinentaleuropa vom 30-fachen auf das 300-fache explodiert – sind laut Spengler auch im 19. Jahrhundert ganz und gäbe: Daraus ergibt sich, dass englisches Wirtschaftsdasein mit Handel tatsächlich identisch ist, Handel insofern er die kultivierte Form des Raubens darstellt. Diesem Instinkt gegenüber wird alles zur Beute, alles zur Ware, an der man sich bereichert. Die ganze englische Maschinenindustrie ist im Handelsinteresse geschaffen worden. Sie diente der Beschaffung billiger Ware. Als die englische Landwirtschaft durch ihre Preise den Lohnkürzungen eine Grenze setzte, wurde sie geopfert. Der ganze Kampf zwischen Unternehmer und Arbeiter in der englischen Industrie von 1850 geht um die Ware „Arbeit“, die der eine billig erbeuten, der andere teuer verhandeln will. (vgl. PuS, in PS: S. 59) Insofern ist für Spengler auch der Marxismus eine spezifisch englische Theorie, welche den Kampf zwischen „Kapitalisten“ und „Arbeitern“ abbildet, zwei äußerst heterogenen Konstrukten später Theoretiker. Nach Spengler gibt es überall leitende und ausführende Arbeit, und hier liegt für ihn das Unterscheidungsmerkmal. Demgegenüber ist die solidarische Grundhaltung im hoch effizienten deutschen Mittelstand (der vom Aussterben bedroht ist, sich aber noch halten kann) und auch in etlichen Großkonzernen bis in die 1980er Jahre hinein etwas ganz anderes. Carl Zeiss führte sein Unternehmen streng patriarchalisch und fürsorglich und wandelte es 1888 in eine Stiftung um, damit es auch in Zukunft seinen Zweck für Mitarbeiter und Allgemeinheit erfüllen konnte. Die 1886 gegründete Robert Bosch GmbH, ebenfalls im Besitz einer Stiftung, ist ein weiteres Beispiel. Diese Unternehmen funktionieren ganz anders, als es die Doktrin des Finanzkapitalismus vorschreibt. Nicht Maximierung des Eigentümervermögens, sondern Zukunftssicherung des Unternehmens steht an erster Stelle. Noch
204 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell konnte diese Unternehmenskultur in Teilen erhalten werden, aber der soziobiologische Verdrängungsprozess nagt bereits an den letzten Säulen des deutschen Mittelstandes. Die Stiftungen der amerikanischen und englischen Magnaten haben demgegenüber laut Spengler einen ganz anderen Hintergrund, nicht den, eine Solidargemeinschaft zu bauen, sondern durch das Verschenken ihres Vermögens die eigene Souveränität und Macht noch einmal zu bestätigen. Man sollte bei Engländern und Preußen vom Milliardärssozialismus und Beamtensozialismus reden. Zum ersten gehört ein Mann wie Carnegie, der zuerst einen großen Teil des gesamten Volksvermögens in Privatvermögen wandelt und ihn dann in glänzender Weise ganz souverän für öffentliche Zwecke ausgibt. Sein Ausspruch „Wer reich stirbt, stirbt ehrlos“ enthält eine hohe Auffassung des Willens zur Macht über die Gesamtheit. (vgl. PuS, in PS: S. 56) Eine Sozialbindung seines Unternehmens, wie sie in der Weimarer Verfassung und im deutschen Grundgesetz steht, hätte Carnegie jedoch wohl wie Steve Jobs (Apple) oder Jeff Bezos (Amazon) mit ganzer Entschiedenheit abgelehnt. Zur Erlangung des Reichtums sind alle Mittel recht, danach kann man ihn für öffentliche Zwecke ausgeben. In diesem Zusammenhang ist auch an die Initiative des Investors und Multimilliardärs Warren Buffetts und seines Freundes Bill Gates zu erinnern, die gemeinsam versuchen, die Multimilliardäre der USA dazu zu bewegen, zumindest 50 Prozent ihres Reichtums zu spenden. (Beide haben über 95 Prozent gespendet.) Ganz anders in Preußen (und weiten Teilen Mitteleuropas): Aus dem Weltgefühl des echten Siedlers der Grenzmark, des kolonisierenden Ordens ergab sich als notwendiges Prinzip die Wirtschaftsautorität des Staates. Der einzelne erhält seine wirtschaftliche Aufgabe vom Schicksal, von Gott, vom Staate, von seinem eigenen Talent – das alles sind Worte für dieselbe Tatsache. Rechte und Pflichten der Gütererzeugung und -nutzung sind gleichmäßig verteilt. Das Ziel ist nicht die Bereicherung von einzelnen oder jedes einzelnen, sondern die Blüte des Ganzen. (vgl. PuS, in PS: S. 58) Eine derartige, „organische Auffassung“ des Staates wird von den heutigen Sozialwissenschaften weitestgehend als unwissenschaftlich abgelehnt. Noch dazu wird der Vorwurf erhoben, dass eine solche Auffassung antidemokratische Tendenzen fördere. In der Geschichte haben jedoch oftmals Beamtenstaaten hoch effizient gearbeitet – in Ägypten, China, im Hochland von Mexiko bei den Azteken. Und eben auch Preußen, wo die freie, aber sozialgebundene Entfaltung der Wirtschaft ja durchaus möglich war, aber ein Primat des Staates galt. Die Tragik dieses Gebildes war, dass es seine Regierung nicht für die besten Elemente aus dem Bürgertum und der Opposition geöffnet, sondern weitgehend dem Adel vorbehalten hat. Den möglichen Vorwurf der Demokratieferne in einer Ordnung, die auf Befehl und Gehorsam aufgebaut ist, beantwortet Spengler wie folgt: Demokratie bedeutet in England die Möglichkeit für jedermann, reich zu werden, in Preußen die Möglichkeit, jeden vorhandenen Rang zu erreichen (...) (vgl. PuS, in PS: S. 55)
15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 205 Lediglich wenn man Demokratie als die Abwesenheit von Zwängen definiert, ist der Finanzkapitalismus vordergründig das attraktivere Modell, da er den einzelnen wirklich „frei“ entscheiden lässt. Eine zwerghafte Karikatur und teilweise Perversion des „preußischen Sozialismus“ wurde sicher in der DDR gelebt. Dennoch sei eine Anekdote aus dem Film Das Leben der Anderen geschildert. Der Stasi Hauptmann Gerhard Wiesler wird gegen Ende des Films von seinem Vorgesetzten, der ihm nichts nachweisen kann, aber sicher ist, dass Wiesler einen „Systemgegner“ aktiv geschützt hat, dazu verdonnert, bis zu seiner Pensionierung im Keller Briefe aufzudampfen, damit diese gelesen und dann wieder verschlossen werden können. Dies ist ein System, das auf dem „Rang“ beruht. Wiesler wird, zumindest was seine Funktion betrifft, ganz nach unten degradiert. Er kennt seine Verfehlung gegen die offiziellen Regeln. Im Finanzkapitalismus verlieren tausende, hunderttausende ihre Existenzgrundlage durch Restrukturierungen, ohne dass sie dafür persönlich verantwortlich sind. Es fällt mir schwer, eine Wertung zu treffen, welches das „moralischere“ System ist. In Preußen nun war ein wirklicher Staat in der anspruchsvollsten Bedeutung des Wortes vorhanden. Hier gab es streng genommen keinen Privatmann. Jeder, der innerhalb des mit der Exaktheit einer guten Maschine arbeitenden Systems lebte, gehört ihm irgendwie als Glied an. Die Geschäftsführung konnte demnach auch nicht in der Hand von Privatleuten liegen, wie es der Parlamentarismus voraussetzt. Sie war ein Amt und der verantwortliche Politiker war Beamter, Diener des Ganzen. (vgl. PuS, in PS: S. 71) Die Verwaltung sollte mit der vollen (...) Achtung vor dem Eigentum doch die in ihm ruhende Macht nicht dem Einzelnen, sondern der Gesamtheit zuweisen. (...) Sozialisierung heißt nicht Verstaatlichung auf dem Enteignungs- oder Diebstahlsweg. Sie ist überhaupt keine Frage des nominellen Besitzes, sondern der Verwaltungstechnik. (vgl. PuS, in PS: S. 101) Dieser Gedanke wird in den Sozialisierungsparagraphen der Weimarer Republik und des Grundgesetzes ausgedrückt. Er war angelsächsisch geprägten Menschen innerlich immer völlig fremd und wird uns selber im Zuge der Umgestaltung unserer Gesellschaftsordnung ebenfalls immer fremder. Immer wieder muss betont werden, dass es sich hierbei nicht um „Fortschritt“ handelt, sondern um die Verdrängung eines Grundethos durch ein anderen. Denn Kapital ist das große Wort, in dem die englische Auffassung vom Eigentum liegt. Kapital bedeutet wirtschaftliche Energie; es ist die Rüstung, in der man den Kampf um dem Erfolg aufnimmt. Dem französischen Kavalier und Rentner stehen hier die Börsen-, Petroleum- und Stahlkönige gegenüber (heute auch die IT-Magnaten, Anm. d. Verf.), deren Genuss im Bewusstsein wirtschaftlicher Allmacht besteht. Dass eine Erkältung überall in der Welt die Kurse fallen lässt, dass ein Telegramm von drei Worten Katastrophen auf der anderen Seite des Erdballs hervorruft, dass Handel und Industrie ganzer Länder im Bereich ihres persönlichen Kredits liegen, das ist ihr Begriff vom Eigentum, und zwar vom Privateigentum. Man muss das ganze Pathos des Wortes zu würdigen wissen. Der Milliardär fordert die unumschränkte Freiheit, durch seine privaten Entschlüsse mit der Weltlage nach Gefallen zu schalten, ohne einen ethischen Maßstab als den des Erfolges. (vgl. PuS, in PS: S. 98) (...) Und diesem Eigentumsbegriff, in den sich der Liberalismus des
206 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell Geschäfts verkleidet hat, tritt nun der preußische entgegen: Eigentum nicht als private Beute, sondern als Auftrag der Allgemeinheit, nicht als Ausdruck und Mittel persönlicher Macht, sondern als anvertrautes Gut, für dessen Verwendung der Eigentümer dem Staate Rechenschaft schuldig ist (...) (vgl. PuS, in PS: S. 99) Es lohnt sich, bei dieser anthropologisch relativierten Unterscheidung des Eigentumsbegriffes zu verweilen. In der angelsächsischen Kultur ist das Eigentum absolut gesetzt. Der Staat ist laut David Hume vor allem dazu da, um das Privateigentum zu schützen. (vgl. Hume 2013) Das erste, was die Siedler in Amerika machten, war, ihren „Claim“, ihr Grundstück abzustecken und zu verteidigen. Wenn man heute durch den menschenleeren Westen der USA fährt, fallen einem Zäune durch steppen- und wüstenähnliches Gebiet von hunderten Kilometern Länge auf. Nur Nationalparks und andere Parks sind nicht eingezäunt. Der Verfasser lebte einige Zeit im Teton Valley, Idaho, dessen Bergzüge sämtlich Nationalparkgelände sind. Dennoch ist es nicht einfach, einen Zugang zum Nationalpark zu bekommen, da sich davor eine Schicht von Privatgelände gelegt hat. Die Mehrzahl der Amerikaner und Engländer würde auch den Gebrauch der Waffe verstehen, wenn also jemand nach einer (selbst kurzen und brüsken) Aufforderung, das Privatgelände zu verlassen, auf einen Eindringling schießen würde. Hätte Spengler mehr über die „Enclosure“ von öffentlichem Land in England seit der Statute of Merton (1235) und der Statute of Westminster (1285) bis in die frühe Neuzeit gewusst, er hätte sich bestätigt gefühlt. In Mitteleuropa, wo solche Vorgänge unvorstellbar sind, ist über die Enclosures wenig bekannt. Seit dieser Zeit haben Adlige und Grundbesitzer systematisch öffentliches Land eingezäunt und zu ihrem Eigentum erklärt. Im 15. und 16. Jahrhundert und später in Schottland nahmen die Enclosures dramatische Ausmaße an, da aufgrund des hohen Bedarfs an Wolle die Schafhaltung sehr rentabel wurde. Die Bevölkerung ganzer Landstriche, vor allem in Schottland, wurde vertrieben, in die Armut gedrängt und musste oftmals auswandern. (siehe: https://en.wikipedia.org/ wiki/Enclosure) Demgegenüber stellt das Jedermannsrecht (Allemansrätten) in den nordischen Ländern und Schottland einen deutlichen Kontrast dar. Dieses Gewohnheitsrecht gestattet unter gewissen Bedingungen auch Aktivitäten wie Zelten und Feuer. Es ist damit umfassender als ein reines Betretungsrecht, wie es zum Beispiel in Deutschland besteht. Auch das deutsche Jagdrecht aus dem 19. Jahrhundert zeigt, dass es anders – und für die Allgemeinheit besser – geht. Wald und Agrarland gehören privaten und staatlichen Eigentümern. Diese haben das uneingeschränkte Nutzungsrecht. Gleichzeitig haben aber auch Privatpersonen und Besucher als Erholungssuchende das Betretungsrecht für Wälder, wenn sie sich an bestimmte Regeln halten. Und schließlich ist das Jagdrecht noch einmal vom allgemeinen wirtschaftlichen Nutzungsrecht abgespalten, damit sinnvoll bejagbare Größenordnungen zustande kommen. Grundstückseigentümer werden in Jagdgenossenschaften, Körperschaften des öffentlichen Rechts, zusammengeschlossen, die mindestens eine Größe von 150 Hektar haben sollen. Diese werden zur Pacht ausgeschrieben und die Grundbesitzer erhalten die anteilige Pacht. An diesem System zeigt sich besonders deutlich, wie sich mit minimalen Einschränkungen für den Eigentümer
15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 207 die Rechte zum Nutze aller sinnvoll gestalten lassen. Der angelsächsischen Wirtschaftsauffassung wäre dies fremd. Wie das deutsche Jagdrecht werden viele andere sinnvolle Institutionen der deutschen Wirtschaft, zum Beispiel die Genossenschaftsbanken, im Rahmen eines soziobiologischen Verdrängungswettbewerbs zunehmend ausgehöhlt. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2012, dass Grundbesitzer die Jagdausübung nicht mehr dulden müssen, war hier wahrscheinlich erst der Anfang. Ein weiterer Auswuchs der heutigen Wirtschaftsauffassung ist die sogenannte „Nutzenorientierte Preisfestsetzung“: (vgl. Simon und Fassnacht 2008) Preise sollen nicht in Relation zu den jeweiligen Produktionskosten stehen, sondern danach festgelegt werden, was der Kunde bereit ist, zu bezahlen. Fluglinien haben sich dieses Prinzip mit als erste zu eigen gemacht: Wenn lange vorher gebucht wird, gibt es den Flug sehr billig, wenn kurz vorher gebucht wird, beträgt der Preis für denselben Sitz oftmals ein Vielfaches. Zum Teil lässt sich dies mit Kapazitätsmanagement und Planungssicherheit begründen. Teilweise ist es aber einfach nur Ausnutzung von Marktmacht. In früherer Zeit hätte man dies „Wegelagerei“ genannt. Prinzipiell ist das Verhalten kein anderes als das von Raubrittern, die eine Kette über den Rhein spannten, um (hohe) Zölle von den vorbeifahrenden Kähnen zu kassieren. In der modernen Wirtschaft gibt es eine unüberschaubare Zahl von Preisen und Tarifmodellen, auch bei Telefonanbietern und Versorgern. Der einzelne ist mit der Verarbeitung dieser Informationen oftmals schlicht überfordert. (vgl. Otte 2009) Unternehmen produzierten oftmals dauerhaft hohe Gewinne, Überrenditen. Dies ist teilweise auf ein monopolartige Stellung zurückzuführen, die mit den Leistungen des Managements nichts zu tun hat. Warren Buffett, der Superinvestor, kauft daher nach eigenen Angaben nur „Aktien von Unternehmen, die auch von Idioten gemanagt werden können. Weil irgendwann genau das passieren wird.“ Spengler sieht es als Aufgabe einer (preußischen) Gesetzgebung an, den Markt so zu ordnen, dass für Konsumenten und Marktteilnehmer (bei Aufrechterhaltung eines sinnvollen Wettbewerbs) diese Dinge geordnet sind. Innovatoren und Unternehmen können durchaus (zum Beispiel durch Patentschutz) höhere Gewinne einfahren, aber dauerhaft sehr hohe Renditen wären einer solchen Gesetzgebung suspekt. Auch in der Arbeitswelt gäbe es Gehaltsordnungen, die nur für echte Geschäftsleute und Unternehmer nicht gelten würden: „Der preußische Gedanke ist die unparteiische staatliche Festsetzung des Lohnes für jede Art von Arbeit, nach Maßgabe der wirtschaftlichen Gesamtlage planmäßig abgestuft, im Interesse des Gesamtvolkes und nicht einer einzelnen Berufsklasse.“ (vgl. PuS, in PS: S. 89) Die alte Bundesrepublik war diesem Modell wahrscheinlich näher als sie es der heutigen Zeit ist, in der die Managergehälter und vor allem die Gehälter in der Finanzbranche jegliche Proportionen gesprengt haben. Letztlich tritt auch hier die anthropologische Grundfrage der „englischen“ und der „preußischen“ Haltung wieder zutage: Soll das Primat der Wirtschaft oder der Politik gelten. Soll die Politik die Wirtschaft sinnvoll „ordnen“ (in der Sozialen Marktwirtschaft sprach man von „Ordnungspolitik“ oder „Marktordnung“) oder soll die Wirtschaft sich der Politik bedienen?
208 15.8 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell Kriege, der Finanzkapitalismus und die „Neue Weltordnung“ Die Hoffnung, dass der Kapitalismus Kriege unnötig machen würde, ist oft geäußert worden. Im Jahr 1910 schrieb der bekannte englische Publizist Norman Angell ein Buch mit den Titel The Great Illusion, in dem er argumentierte, dass die ökonomische Interdependenz Kriege sinnlos machen würde. Das Buch erreichte viele Auflagen und wurde noch im Sommer 1914 neu aufgelegt. Für sein Buch erhielt Angell 1933 den Friedensnobelpreis. (vgl. Angell 1910) Im gleichen Atemzug wird gerne geäußert, dass man dankbar sein könne, dass im Kapitalismus und der Marktwirtschaft die Auseinandersetzungen auf den Märkten stattfänden und nicht wie im Nationalstaat zwischen den Staaten und auf den Schlachtfeldern, so ein bekannter, „bürgerlicher“ SPD-Politiker im Ruhestand zum Verfasser Spengler argumentierte, dass dies Wunschdenken an die Stelle von Tatsachen setze. Der Finanzkapitalismus bediene sich lediglich einer anderen Art von Kriegsführung, da hier die Rolle von Staat und großen Einzelvermögen und Konzernen im Gegensatz zum „preußischen Modell“ vertauscht ist. Nicht die Wirtschaft ist dem Staat untergeordnet, sondern der Staat ist eine Sache von Privatleuten und wird damit der Wirtschaft untergeordnet. Dass damit aber keinesfalls die Konflikte um Ressourcen beendet sind, ja auch Kriege weiterhin als Ultima Ratio stattfinden werden, schien Spengler selbstverständlich: Der Milliardär fordert die unumschränkte Freiheit, durch seine privaten Entschlüsse mit der Weltlage nach Gefallen zu schalten, ohne einen ethischen Maßstab als den des Erfolges. Er kämpft mit allen Mitteln des Kredits und der Spekulation den Gegner auf seinem Felde nieder. Der Trust (Konzern, Anm. d. Verf.) ist sein Staat, seine Armee und der politische Staat ist nicht viel mehr als sein Agent, den er mit Kriegen, wie dem spanischen und südafrikanischen, mit Verträgen und Friedensschlüssen beauftragt. (vgl. PuS: S. 98 f.) Die Fortdauer von Konflikten – auch kriegerischer – scheint aus soziobiologischer Sicht sehr wahrscheinlich: Jedes lebende System kann mit anderen lebenden Systemen – oder sogar mit sich selbst – in Konflikt geraten, wenn bestimmte, in erster Linie auf Konkurrenzsituationen zurückführbare Lebensbedingungen auftreten. Utopien haben dagegen immer wieder Szenarien für eine konfliktfreie (menschliche) Gesellschaft entworfen und dem Glauben Ausdruck verliehen, dass zumindest die Sozietäten der sogenannten Naturvölker – oder „Wildbeuter-Gesellschaften“, wie manche dieser Gesellschaften heute bezeichnet werden – ohne Konflikte existieren, dass Ihnen Hass, Neid, Aggression und so weiter recht fremd seien. Ebenso wenig wie heute diese Kulturromantik aufrechterhalten werden kann, ist jene Naturromantik vertretbar, die ein friedliches, konfliktfreies Zusammenleben von Tieren unterstellt. Nur bei vollständigem Fehlen jeglicher Form des Wettbewerbs wären solche Ideale ernst zu nehmen. (vgl. Wuketits 1997: S. 57) Im Zuge dieser allgemeinen Konkurrenz der Menschen um Ressourcen, die auch immer wieder in Kriege umschlagen kann, verschieben sich nur Motive, Ebenen und Methoden
15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 209 der Konflikte. Wo früher Staaten miteinander konkurrierten, um ihr jeweiliges Rechtssystem zu schützen und optimale Bedingungen für ihre Bürger durchzusetzen, konkurrieren jetzt Privatleute und Konzerne um Ressourcen und nutzen die Staaten als Instrumente. Unter diesem Aspekt scheint es meiner Meinung nach zulässig, den Begriff „Weltzivilgesellschaft“ mit dem Begriff „Weltherrschaft der Konzerne“ gleichzusetzen. Das dadurch kriegerische Auseinandersetzungen der Vergangenheit angehören, scheint mir illusorisch. Nur die Entscheidungen darüber wandern von den Staatsmännern zu den großen Vermögen und den Konzernen. Die Auseinandersetzungen um das letzte gestaltende Prinzip des Westens würden laut Spengler furchtbar werden. Er sah hier zwei Prinzipien im Wettstreit, die er englischen Kapitalismus und preußischen Sozialismus nannte. Die drei großen Revolutionen des Abendlandes aber entrollen eine Machtfrage: Ist der Wille des Einzelnen dem Gesamtwillen zu unterwerfen oder umgekehrt? Und man ist entschlossen, die eigene Entscheidung der ganzen Welt aufzuzwingen. (vgl. PuS, in PS: S. 26) Den Zweiten Weltkrieg sah er zu einer Zeit heraufziehen, als sich die Nationen Europas noch in Sicherheit wägten. Er warnte immer wieder vor der „furchtbaren Gefahr“, in der sich Deutschland befinde, und sah 1919 schon weitere Kriege heraufziehen: So stehen sich heute zwei große Wirtschaftsprinzipien gegenüber: aus dem Wikinger ist der Freihändler, aus dem Ritter der Verwaltungsbeamte geworden. Eine Versöhnung zwischen beiden gibt es nicht, und da sie beide, als (...) faustische Menschen höchsten Ranges, für ihr Wollen keine Grenze anerkennen und sich erst dann am Ziele glauben werden, wenn die ganze Welt ihrer Idee unterworfen ist, so wird es Krieg geben, bis eine von Ihnen endgültig gesiegt hat. Spenglers Deutungen mögen Unbehagen hervorrufen; sie treffen die Realität aber ziemlich genau. Das deutsche Gesellschaftssystem wurde im Westen bis Anfang der 1980 Jahre nur sehr punktuell umgestaltet, vor allem durch ein neues Wettbewerbsrecht, welches Konkurrenz über die schon von Walther Rathenau meisterhaft organisierten Kartelle stellte, die in der deutschen Ökonomie – auch nach 1945 – als Normungs-, Rationalisierungs-, Quoten- und Preiskartelle durchaus ihre Berechtigung hatten. Anfang der 1980er Jahre kam das Privatfernsehen hinzu. Zwischenzeitlich sind deutsche Bundesund Landesministerien in Bezug auf gesetzliche Rahmenvorgaben zum Schutz des Mittelstandes und des Bürgertums und zur Eingrenzung der Macht der Konzerne ziemlich macht- und funktionslos geworden. Ein wichtiger Punkt in dieser Entwicklung war sicher die Einheitliche Europäische Akte von 1986, welche viele Gesetzgebungskompetenzen nach Brüssel verlagerte. Mit der faktischen Abschaffung der Autonomie der Bundesbank verlor im Jahr 2010 eine der letzten funktionierenden Institutionen deutscher, „preußischer“ Rechtsauffassung ihre Existenzberechtigung. Der soziobiologische Verdrängungsprozess nähert sich seinem Endstadium. Ja es scheint in der Tat so, als ob die Parlamente und politischen Institutionen weitestgehend Instrumente der großen Vermö-
210 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell gen und wirtschaftlichen Machtkonzentrationen geworden sind. Diese Machtkonzentrationen bedienen sich der Politik und der Verwaltung, um sich Bürger und unbewegliche Vermögen gefügig zu machen. Spengler hat es vorausgesehen. 15.9 Ausblick: Zeichen des Verfalls Folgt man Spengler, dann geht die hochkomplexe städtische Geldwirtschaft langsam wieder in primitivere Formen der Wirtschaft über. Gewalt und Macht beginnen, Gesetze zu verdrängen. In gewisser Weise bestehen Parallelen zur „Zweiten Religiosität“. Krebs weist in seinem Beitrag darauf hin, dass der Islam nach Spengler keine archaische Form ist, sondern in seiner Entwicklung dem Abendland um 1000 Jahre voraus. (vgl. Krebs in diesem Kapitel) Ohne dies hier im Detail aufzuführen, seien einige Tendenzen der jüngeren Zeit aufgeführt, welche die spenglerschen Prognosen sehr aktuell erscheinen lassen. Unzweifelhaft steigt die Zahl der Superreichen an. So hatten die 85 reichsten Menschen der Welt 2014 ein Vermögen, das dem der 3,5 Milliarden Menschen der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung entsprach. Das reichste Prozent der Weltbevölkerung hatte das 65-fache Vermögen der ärmeren Hälfte. (siehe: www.oxfam.org) Die Superreichen stehen jenseits von Recht und Gesetz stehen, weil sie ihre Vermögen durch anonyme Family Offices verwalten lassen. Jene Superreichen sind an staatliche Ordnungen kaum noch gebunden, sondern agieren global. (vgl. Krysmanski 2015; Freeland 2013) Im Wirtschaftsleben breiten sich räuberische Geschäftspraktiken zunehmend aus – von Gentechnik-Unternehmen, die auf vorhandenes Saatgut und Pflanzen in der Dritten Welt Patente anmelden, um sie dann den Landwirten vorzuenthalten oder diese mit Strafen zu überziehen, über die Ausbeutung von Privatanlegern im Investmentbanking (vgl. Anne 2010) bis hin zum High-Frequency Trading, bei dem Teilnehmer am Börsengeschehen legal über den Tisch gezogen werden. International machen sich zunehmend rauere Sitten breit, bis hin zur eindeutigen „Unterwerfung“ von Ländern und Branchen – so die Einschüchterung der Schweiz und Bindung durch unilaterale Abkommen an die USA, wie überhaupt die unilaterale Anwendung nationalen Rechts der USA international mit Hinweis auf das Drohpotenzial des Binnenmarktes, Industriespionage und die generelle Zunahme von Wirtschaftssanktionen und Wirtschaftskrieg. Überzogene Rechtsmittel wie das Strafverfahren gegen die Deutsche Bank (siehe: www.deutschlandfunk.de) oder Kartellverfahren gegen deutsche Bierbrauer, bei denen ein Kartellaussteiger (Anheuser-Busch) aufgrund seiner Meldung straffrei ausgeht, legen im Partikularinteresse ganze Branchen lahm, ohne damit Probleme zu lösen oder das Gesetz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Insbesondere in der Finanzbranche, aber auch in vielen Bereichen, wird die Kriminalisierung der Überschreitung sehr eng gesteckter Regeln zur Norm, anstatt die Akteure wirtschaftlich haften zu lassen.
15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 211 Dem aufmerksamen Beobachter wird nicht entgehen, dass unsere internationale Wirtschaftsordnung erheblich mehr Rechtsunsicherheiten verzeichnet, als das zum Beispiel vor 1914, einer Phase beispielloser globaler Rechtssicherheit, der Fall war. Auch zwischen 1944 (Bretton Woods) und 1989 war eine weitgehend stabile internationale Wirtschaftsordnung in Kraft, mit Aufweichungstendenzen seit 1971 (Ende von Bretton Woods). Die teilweise Scheinblüte der 1990er Jahre (Liberalisierung der Finanzmärkte) führte zu Finanzblasen und überdeckte ein immer brüchigeres Fundament, immer stärkere Monopolisierungs- und Kartellisierungstendenzen, die spätestens seit Ausbruch der Finanzkrise offen zu Tage treten. Die staatliche Zwangswirtschaft der Niedrigzinsphase seit der Finanzkrise führt zu erheblichen ökonomischen Verwerfungen in Form von „Financial Repression“ und schleichender Enteignung der Mittelschicht, Förderung spekulativer anstelle von produktiver Aktivitäten und Gesetzesbeugungen in Form von Staatsfinanzierung über die Notenpresse. (vgl. Otte 2015: S. 8 ff.) Die sogenannte Euro-Krise führt zu zunehmend undemokratischen Entscheidungen in der Europäischen Union. (vgl. Otte 2011a) Insofern mehren sich die Anzeichen, dass der Finanzkapitalismus nicht die letzte Form der Wirtschaftsentwicklung gewesen sein wird, sondern krisenhaft in neue Formen des Wirtschaftens übergehen wird. Die zunehmende Nutzung von Wirtschafts- und Staatsmacht im Wirtschaftsleben könnte darauf hinweisen, da hoch komplexe allgemeingültige Rechts und Wirtschaftssysteme tatsächlich langsam degenerieren. Sollte es dem Westen nicht gelingen, sich zu reformieren, würde sich der vergessene Spengler einmal mehr rächen, indem er Recht behält.  Ursprünglich erschienen in Oswald Spenglers Kulturmorphologie, bei Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, 2018. Zitierte Schriften Oswald Spenglers JdE: MuT: NdR: PPJ: PS: PuS: UdA: Jahre der Entscheidung Der Mensch und die Technik Neubau des Deutschen Reiches Politische Pflichten der deutschen Jugend Politische Schriften Preußentum und Sozialismus Untergang des Abendlandes
212 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell 15.10 Literatur Adorno, T. (1955): Spengler nach dem Untergang, Zu Oswald Spengler 70. Geburtstag, In: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, hrsg. Theodor W. Adorno, 115–118. Frankfurt. Anne T. (2010): Die Gier war grenzenlos, Berlin Angell, N. (1910): The Great Illusion. London Buffett, W. (2014): Warren Buffett’s 23 Most Brilliant Insights About Investing. Business Insider. http://www.businessinsider.de/warren-buffetts-investing-quotes-2014-8. Zugegriffen: 2. September 2014. Chandler, Alfred D. (1994): Scale and Scope – the Dynamics of Industrial Capitalism, Cambridge. Coase, R. H. (1960): The Problem of Social Cost In: Journal of Law and Economics. Vol. 3, S. 1– 44 Collins, J. und Porras, J. (1996): Built to last – successful habits of visionary companies, New York. Demandt, A. (2014): Geschichtsbiologismus. In Spengler ohne Ende, hrsg. Daniel Meyer und Gilbert Merlio, 2–11.Frankfurt. Elmer-DeWitt, P. (2014): NYT: Steve Jobs was a criminal. Vanity Fair: Samsung is a liar, Fortune, May 4. http://fortune.com/2014/05/04/nyt-steve-jobs-was-a-criminal-vanity-fairsamsungis-a-liar/. Zugegriffen: 2. September 2014. Enclosure (2014): http://en.wikipedia.org/wiki/Enclosure. Zugegriffen: 1. September 2014. Engels, D. (2014): Auf dem Weg ins Imperium: Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der Römischen Republik. Historische Parallelen. Berlin. Faller, H und Otte, M. (2014): Paul Volcker: Der alte Mann und das Mehr, Die Zeit. https://www.zeit.de/2011/32/Wirtschaftskrise-Paul-Volcker/seite-2. Zugegriffen: 2. September 2014 Fukuyama, F. (2006): The End of History and the Last Man. New York. Felber, C. (2012): Gemeinwohlökonomie. Wien. Freeland, C. (2013): Die Superreichen – Aufstieg und Herrschaft einer neuen globalen Geldelite. Frankfurt. Galbraith, J. K. (2007): The New Industrial State. Princeton. Gerschenkron, A. (1962): Economic Backwardness in Historical Perspective. Cambridge. Griffith, E. (2014): Silicon Valley’s single degree of separation -The clubbiness of the tech hub is what makes it work. But what if it’s at the expense of the startups? Fortune. March 20, 2014. http://fortune.com/2014/03/20/silicon-valleys-single-degree-of-separation/. Zugegriffen: 2. September 2014. Hofstede, G. (2007): Cultures and Organizations, Software of the Mind. 3rd ed. New York. Hume, D. (2013): A Treatise on Human Nature. CreateSpace Independent Publishing Platform (October 25, 2013). Isaacson, W. (2012): Steve Jobs: Die autorisierte Biografie des Apple-Gründers. München. Krysmanski, H. J. (2015): 0,1%: Das Imperium der Milliardäre. Frankfurt. Lehmann-Haupt, C. (1915): Von Waterloo bis Antwerpen, Stuttgart und Berlin. Le Monde Diplomatique (2009): Ausverkauft. Wie das Gemeinwohl zur Privatsache wird, Sonderausgabe. Berlin. Otte, M. (1995): Amerika für Geschäftsleute. Frankfurt. Otte, M. (2009): Der Informationscrash. Berlin. Otte, M. (2010): „Finanzplatz Deutschland“ versus deutsches Bankwesen – Zwei politökonomische Perspektiven für die Zukunft. In Deutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall – Rückblick und Ausblick, hrsg. Frank Keuper und Dieter Puchta, 179–204. Wiesbaden Otte, M. (2011): Stoppt das Euro-Desaster. Berlin.
15 Oswald Spengler und der moderne Finanzkapitalismus 213 Otte, M. (2011b): Fiktion und Realität im Finanzwesen. In Finanzen und Fiktionen – Grenzgänge zwischen Literatur und Wirtschaft, hrsg. Christine Künzel und Dirk Hempel, 27–45. Frankfurt. Otte, M. (2014): Je größer die Mythen vom Netz, desto kleiner die Menschen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.05.2014, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/digitaldebatte-jegroesser-diemythen-vom-netz-desto-kleiner-der-mensch-12945685-p2.html. Zugegriffen: 2. September 2014. Otte, M. (2015): „Negativzinsen: der Weg in den Kontrollstaat“. ifo-Schnelldienst 02/2015: 8–10. Otte, M. (1999): Unternehmenskultur entscheidet über den Erfolg von Fusionen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.05.1999: 69. Nutzenfunktion (2014): http://de.wikipedia.org/wiki/Nutzenfunktion. Zugegriffen: 1. September 2014. Panster, C. (2011): Max Otte und Dirk Müller – die Krisenerklärer, Wirtschaftswoche vom 12. November 2011. http://www.wiwo.de/finanzen/geldanlage/max-otte-unddirk-mueller-diekrisenerklaerer/5829662.html. Zugegriffen: 1. September 2014. Peukert, H. (2010): Die große Finanzmarktkrise. Eine staatswissenschaftlich-finanzsoziologische Untersuchung. Marburg. Popper, K. R. (2003): Gesammelte Werke in deutscher Sprache. Band 4: Das Elend des Historizismus, hrsg. Hubert Kiesewetter, 7. Auflage. Tübingen. Riese, B. (2011): Das Reich der Azteken, Geschichte und Kultur. München. Schirrmacher, F. (2011): Payback: Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen. München. Schmitt, C. (2011): Land und Meer: eine weltgeschichtliche Betrachtung. Stuttgart. Schumpeter, J. A. (1942): Capitalism, Socialism and Democracy. New York. Smith, A. (2012): An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Chicago. (Facsimile of 1904 Edition.) Sombart, W. (1991): Der moderne Kapitalismus, 5 Bände, München. Ed. Spengler, O. (1980): Jahre der Entscheidung, 2. Auflage. München. Spengler, O. (2008): Der Mensch und die Technik. Paderborn. Spengler, O. (2009): Politische Schriften. Waltrop/Leipzig. Spengler, O. (2009): Preußentum und Sozialismus. In Politische Schriften, S. 15–112. Spengler, O. (2009): Neubau des Deutschen Reiches. In Politische Schriften, S. 179–283. Spengler, O. (2009): Politische Pflichten der Deutschen Jugend. in Politische Schriften, S. 129– 155. Spengler, O. (2011): Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Mannheim. Treacy, M. und Wiersema, F. (1995): Marktführerschaft – Wege zur Spitze. Frankfurt. Voland, E. (2013): Soziobiologie: Die Evolution von Kooperation und Konkurrenz. 4. umfassend aktualisierte und erw. Auflage, Berlin/Heidelberg Williamson, O. E. (1998): The Economic Institutions of Capitalism. New York. Wilson, E. O. (2004): On Human Nature. Cambridge. Wolff, G. (1973): Georg Wolff über Konrad Lorenz: Ein Biologe will die Kultur heilen, Der Spiegel 46/1973 vom 12.11.1973: S. 200–203. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41871371. html. Zugegriffen: 2. September 2014. Wuketits, F. M. (2012): Soziobiologie: Die Macht der Gene und die Evolution Sozialen Verhaltens. Heidelberg.
16 Wir machen den Mittelstand mit Bürokratismus platt 16 Die freien Berufe und das Handwerk drohen auszusterben. Seit mehr als zwei Jahrzehnten tobt ein heimlicher, aber dafür nicht weniger gefährlicher Ausrottungskrieg gegen die letzten Repräsentanten unserer freien Rechts- und Gesellschaftsordnung. Die bürgerliche Gesellschaft selber steht in Gefahr, durch eine Koalition der Funktionäre in Großunternehmen, Staat und Verbänden auf der einen und den Empfängern staatlicher Transferleistungen auf der anderen Seite aufgerieben zu werden. Auf der Strecke bleibt der selbstbestimmte Bürger. 16.1 Kapitalistische Planwirtschaft Die Finanzkrise hat deutlich gezeigt, wie weit der Umbau der Gesellschaftsordnung in Richtung einer kapitalistischen Planwirtschaft gediehen ist und wie weit Eigenverantwortung in der Wirtschaft abgedankt hat. Drei zentrale und zudem private Ratingagenturen, deren Vorgehensweise intransparent ist, beeinflussen oder bestimmen mit ihren Ratingeinstufungen die Kreditkosten von Unternehmen, Banken, Gebietskörperschaften und ganzen Ländern. Ich will an dieser Stelle nicht auf die politischen Fragen eingehen. Aber was heißt es für Marktwirtschaft, Eigenverantwortung und Wettbewerb, wenn fast alle Banken der Welt keine eigene Bonitätsprüfung mehr vornehmen, sondern sich nach zentral ermittelten Zahlen richten? Es heißt, dass wir in großen Teilen des Bankwesens kapitalistische Planwirtschaft betreiben. Die Entscheidungsträger geben ihre Verantwortung für ihre eigentliche Aufgabe, die Kreditrisikoprüfung, an zentrale Stellen ab. Durch die Eigenkapitalregeln des BaselII-Abkommens wird zudem die Kapitalvergabe in der Krise künstlich erschwert und im 215 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_16
216 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell Aufschwung künstlich erleichtert. Es erfolgt also systemimmanent das genaue Gegenteil der alten Weisheit „Spare in der Zeit, dann hast Du in der Not!“ Da ist es kein Wunder, dass in einem derartig gleichgeschalteten System dieselben Auswüchse wie in jeder zentralen Planwirtschaft zu beobachten sind. Kapitalfehlallokationen eines derartig gigantischen Ausmaßes wie in der Finanzkrise hatte man bislang nur dem Sozialismus zugetraut. 16.2 Die Finanzbranche ist kein Einzelfall Aber nicht nur in der Finanzbranche ist die schrittweise Abschaffung der Eigenverantwortung zu Gunsten planwirtschaftlicher und dementsprechend ineffizienter Strukturen zu beobachten. Im Gesundheitswesen werden Ärzte mittlerweile durch bürokratische Auflagen und Vorgaben kontrolliert, deren Umfang und bürokratische Regelungsdichte kaum noch Raum für eigene Entscheidungen lässt, ärztliche Kompetenz an vielen Stellen missachtet und Ärzte wirtschaftlich und organisatorisch oft bis an den Rand des Erträglichen und darüber hinaus belastet. Ärzte werden zu Rädern in einem planwirtschaftlichen System. Davon profitieren größere Klinikbetreiber. Sie wenden zunehmend die Methoden der Unternehmensorganisation nicht nur auf einzelne Kliniken, sondern auf ganze Verbünde von Kliniken an. Zunächst einmal ist dagegen nichts einzuwenden, aber die immer größer werdenden Organisationseinheiten im Gesundheitsbereich werden zunehmend zum natürlichen Partner der Gesundheitsbürokratie. Über den Apothekern hängt als Damoklesschwert die Gefahr der Abschaffung der gesetzlichen Regelung, dass ein Apotheker maximal vier Apotheken betreiben kann. Sollte diese Regelung fallen, werden Gesundheitskonzerne diese Bastion bürgerlicher Eigenverantwortung ebenfalls vereinnahmen. Sicher schränkt die Apothekerverordnung den Wettbewerb zwischen den Apotheken ein. Aber dies geschieht auch zugunsten der Patienten. Gut informierte, eigenverantwortliche Apotheker werden mit mehr Engagement und Sachkenntnis dabei sein, als Konzernangestellte. Mit der Abschaffung der Verordnung würden nationale oder sogar europäische Oligopole großer Kettenbetreiber entstehen. Die Monopolgewinne würden dann nicht mehr in kleineren Beträgen einzelnen Apothekern zufließen, sondern wenigen Großkonzernen, die um die Vorherrschaft über den deutschen, ja europäischen Markt kämpfen würden. Ob damit den Patienten gedient ist, sei dahingestellt. Der Kampf gegen den Mittelstand findet an vielen anderen Stellen statt: Metzgereien haben mittlerweile so aufwendige Verordnungen beachten, dass viele Metzger aufgegeben haben. Es ist nicht ausschließlich die „Effizienz“ der großen Discounter, es sind zum großen Teil auch Regeln, die sich bewusst gegen den Mittelstand richten und eine kapitalistische Planwirtschaft begünstigen.
16 Wir machen den Mittelstand mit Bürokratismus platt 217 Auch unabhängige Vermögensberater, die eigentlich die großen Gewinner der Finanzkrise hätten sein können, wurden durch die 2008 still und heimlich erlassene MiFID der Europäischen Union systematisch benachteiligt. Zwar ist es zu begrüßen, dass es schärfere Regeln für die Wertpapierberatung gibt. Aber als Folge des neuen Regelwerks werden die Vermögensberater mit einer Fülle von Compliance-, Berichts- und Prüfungspflichten überhäuft, deren Einhaltung sehr aufwendig und kostenintensiv ist, ohne dass es in der Sache Wesentliches zur Verbesserung betrüge. Viele kleinere Anbieter können sich das nicht leisten. Den Wettbewerb durch unabhängige Vermögensberater hat die Finanzbranche damit so weit wie möglich ausgeschaltet. Nur die freien Berufe der Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater entwickeln sich nach wie vor gut. Sicher hängt dies auch damit zusammen, dass diese Berufe rechtspflegenden Charakter haben und über eine besonders gute Lobby verfügen. Es wirft allerdings kein gutes Licht auf die großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, dass keiner einzigen Bank in den USA vor der Finanzkrise von einem Prüfungsunternehmen das Testat verweigert wurde. Wirtschaftsprüfungsgesellschaften sind ein wichtiger Stützpfeiler der kapitalistischen Planwirtschaft, da sie von einer ausufernden Compliance-Bürokratie profitieren. 16.3 Kapitalistische Nomenklatura Mittlerweile ist eine kapitalistische Nomenklatura – eine herrschende Kaste von Konzernmanagern, willfährigen Politikern und Lobbyisten – entstanden, die die Regeln zugunsten der großen Akteure gestaltet und wirklich unabhängige bürgerliche Berufe bis aufs Messer bekämpft. Wo früher für Kaufleute die Pflicht zu besonderer Sorgfalt galt, werden heute die Herrscher über zehn- oder hunderttausende von Mitarbeitern durch Haftpflichtversicherungen und hohe Abfindungen von den Konsequenzen ihres Fehlverhaltens isoliert. Banken und Automobilkonzerne, die Fehler mit Milliardenkonsequenzen gemacht haben, werden auf Kosten der Allgemeinheit gerettet. Gleichzeitig sind die Vergütungsspannen zwischen Arbeitern und Angestellten sowie Top Management massiv auseinandergeklafft. 16.4 Es ginge auch anders Alfred Chandler, der große Wirtschaftshistoriker des Massachusetts Institute of Technology, hat in seinem Monumentalwerk Unterschiede der Industrialisierung in Europa und den USA untersucht. Seine These: In Europa gab es viele gut ausgebildete Menschen, aber wenig Land und Rohstoffe. Also versuchte man, die Menschen möglichst breit auszubilden, sie flexibel einzusetzen und ihnen in dezentralen Organisationsformen
218 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell möglichst viel Eigenverantwortung zu übertragen. In den USA waren Land und Rohstoffe sowie ungebildete Einwanderer nahezu unbeschränkt vorhanden. Also versuchte man, Prozesse zu standardisieren und den Menschen sofort einsetzbar, aber auch austauschbar zu machen. Die Denkarbeit leisteten wenige Menschen in der Unternehmenszentrale, der Rest führte aus. Heute sehen wir allerorten, wie sich das amerikanische zentralistische System, das mit einer Dequalifikation der Menschen einhergeht, in Deutschland durchsetzt. Der nächste Angriff wird im Apothekensektor erfolgen, nachdem Metzgereien, Bäckereien oft schon kapituliert haben und der Berufsstand der Ärzte mit dem Rücken zur Wand steht. Dabei ginge es auch anders: Wir können selbstbewusster für die freien Berufe und gegen die Macht der Oligopole eintreten. Noch gibt es die freien Berufe in Deutschland. Lassen wir es nicht zu, dass sie untergehen!  Ursprünglich erschienen in Steuerberater Magazin (Sonderdruck 7–8/2012), bei NWB Verlag GmbH & Co. KG, 2012.
17 Government statt Governance – warum die Corporate-Social-Responsibility-Debatte in die falsche Richtung führt 17 Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Frau Meck, ich freue mich sehr, heute hier sein zu dürfen. Dies ist eine ganz wichtige Tagung zu einem ganz wichtigen Thema, über das zwar ständig gesprochen, das dann aber doch wieder zur Seite gelegt wird. Damit sich tatsächlich etwas ändert, müssen gedankliche Anstöße in konkrete Handlungen umgewandelt werden. Wie sich die Impulse, die es ja durchaus gibt, umreißen lassen und welche Rahmenbedingungen zu setzen sind, damit wir nicht länger den Risiken unkontrollierter Finanzmärkte ausgesetzt sind, werden Sie am Ende meines Vortrages wissen. Sie werden die eine oder andere These hören, die Ihnen gewagt vorkommen mag. Ich nenne das Problem und die verantwortlichen Akteure trotzdem beim Namen. Im Augenblick bin ich bis auf die unerlässliche Administration von meiner staatlichen Professur beurlaubt. Ich bin an vier Unternehmen beteiligt, die nachhaltig und vernünftig wirtschaften. Alles in allem manage ich rund 200 Millionen Euro in Assets. Damit bin ich am Kapitalmarkt ein ziemlich kleiner Fisch. Ich habe Nationalökonomie, Politikwissenschaft und Wirtschaftsgeschichte studiert und lehre diese Fächer. Gleichzeitig bin ich als Praktiker auf den Kapitalmärkten unterwegs. Ich kenne also beide Seiten, die Theorie und die Praxis. Ethik ist ein Modethema. Bei aktuellen Anlässen kommt es immer wieder hoch, in den zurückliegenden Jahren mit deutlich erhöhter Frequenz. Daran merken wir natürlich, dass sich irgendwo sehr gravierende Probleme verbergen, die angegangen werden müssen. Die Frage ist: Für wen bedeuten diese Probleme ein Ärgernis? Wer will ihnen tatsächlich an die Wurzel gehen – und wer nicht? Wenn man die Antwort weiß, erkennt man, dass ernsthaftes Nachdenken und Bemühen um eine Lösung stets mit Augenwischerei verbunden ist. 219 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_17
220 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell Augenwischerei ist auch die treffende Ergänzung zum Begriff Corporate Social Responsibility. Das Wort ist für mich – ebenfalls auf Neudeutsch – ein No-Go. Denn Unternehmen sind dazu da, Gesetze zu beachten, und nicht, um sich das edle Mäntelchen von der gesellschaftlichen Verantwortung umzuhängen. Ich will ein Beispiel nennen: Die Webseite des Flughafens Frankfurt strotzt nur so von grünen Wiesen und Wäldern. Natur pur, sozusagen. Und überall unter den schönen Bildern steht das Wort „nachhaltig“. Der Flughafen Frankfurt ist aber nicht nachhaltig gut für die Umwelt, sondern er trägt zur Verpestung der Welt bei. Das muss man wissen, das muss man akzeptieren, wenn man für möglichst wenig Geld in die Ferne fliegen will. Als Unternehmen macht der Flughafen Frankfurt einen guten Job. Aber, bitteschön, man sollte nicht das Mäntelchen Nachhaltigkeit darüber hängen. Jedenfalls nicht in dieser durchsichtig heuchlerischen Form. 17.1 Die Ethik des Marktes Bevor ich zu den Fehlentwicklungen des aktuellen Finanzsystems komme, möchte ich zunächst noch ein wenig tiefer in das Thema Ethik einsteigen. Während meines Studiums hätte ich mich gern stärker auf Politik und Philosophie konzentriert. Nun bin ich aber auch ein Pragmatiker, der Geld verdienen will. Mit der Nationalökonomie habe ich mich für einen Mittelweg entschieden: Als Volkswirt verdient man weniger als ein in Betriebswirtschaftslehre geschulter Banker, aber mehr als ein Philosoph. Lassen Sie mich trotzdem kurz auf meinem Steckenpferd reiten. Es erhellt den Hintergrund. Wenn wir vom Markt sprechen und davon, dass der Markt alles regelt, dann folgen wir nach Ansicht des großen Ordoliberalen Alexander Rüstow fast religiösen Denkstrukturen. Wir projizieren in den Markt eine Problemlösungskapazität, die er nicht hat. Was soll der Markt zum Beispiel bei Emissionsrechten besser steuern können, als es der Staat könnte? Konkret kommt es immer darauf an, wie die Dinge organisiert und geregelt sind. Wenn man behauptet, der Markt führe zu Gerechtigkeit, zu hocheffizienten Leistungen und zum maximalen Output, dann hinterfragt man nicht mehr die Regeln des Marktspiels. Dann spielt man Monopoly nach der Anleitung der Parker Inc., und dann weiß man auch, was am Ende herauskommt. Das ist immer und überall so, wenn man das Marktdenken konsequent zu Ende führt. Nehmen Sie die Spielregel – frei nach Rüstow könnte man auch sagen: den Glaubensgrundsatz – „nutzenorientierte Preisfestsetzung“. Ich habe eine Weile mit Hermann Simon zusammengearbeitet, der mit diesem Thema ein weltweites Beratungsunternehmen aufgebaut hat. Ich bewundere Herrn Simon, dennoch stelle ich die Frage: Was ist eigentlich nutzenorientiertes Pricing? Die Antwort lautet: Wenn Ihnen eine Airline gehört, dann nehmen Sie als Preis das, was der Kunde dafür bereit ist, zu zahlen. Das heißt, eine Stunde vor Abflug verlangen Sie den dreifachen Preis dessen, was das Ticket eine Woche vorher gekostet hat. Schließlich hat der Kunde, der vor dem Abflugschalter ner-
17 Government statt Governance – die Corporate-Social-Responsibility-Debatte 221 vös von einem Bein aufs andere tritt, jetzt anscheinend einen größeren Nutzen davon, mitfliegen zu können. Ich sage Ihnen: Früher hätte man das Thema „nutzenorientiertes Pricing“ mit dem Etikett Wegelagerei belegt. Und das ist aus meiner Sicht auch treffender. Wenn Sie, wie ich heute Morgen, an der Autobahnraststätte 4 Euro 50 für ein Labberbrötchen bezahlen sollen, dann ist das nicht mehr ethisch, das kann mir keiner erzählen. Dann ist das Wegelagerei. Und dagegen kann man Gesetze machen, wenn man das will. Die alten deutschen Ökonomen haben von Wirtschaftssitten gesprochen. Und davon, dass es eben immer konkret darauf ankommt, wie in einer bestimmten Gesellschaft Dinge umgesetzt werden. Nicht mechanisch gesehen, sondern als ganzheitlicher Ansatz, dem eine bestimmte Denkweise zugrunde liegt. Dies zeigt sich auch an den drei Arten von Konkurrenz, die zu unterscheiden der große Berliner Nationalökonom Werner Sombart gelehrt hat: die Leistungskonkurrenz, wie sie zumindest theoretisch im Sport herrscht, die zu höheren Leistungen führt; die Suggestionskonkurrenz, bei der man durch den Anschein, durch Show, durch Suggestion versucht, etwas besser darzustellen, als es ist; und die Gewaltkonkurrenz, im Angelsächsischen Cut-throat Competition, die sich schon aus dem Wort erklärt und Ende des 19. Jahrhunderts in den USA in Hochblüte stand. Lässt man die Gewaltkonkurrenz zu, dann steht am Ende die unbeschränkte Herrschaft der Konzerne, die den Wettbewerb ausschalten und sich erst zu Oligopolen verbünden, um dann ein Monopol anzustreben. Implizit werden die Anwendung und Ausübung massiver Gewalt in Kauf genommen. Leistungskonkurrenz, Suggestionskonkurrenz, Gewaltkonkurrenz – das sind drei unterschiedliche moralische Qualitäten, denen völlig unterschiedliche ethische Fundamente zugrunde liegen. Offenbar haben wir uns schon lange entschieden, die Regeln des Marktes zu befolgen. Wir sprechen heute nur noch von Konkurrenz, wir fördern Konkurrenz, wir leben Konkurrenz. Eine der seltenen Ausnahmen bildet der Apothekensektor. Man sagt immer, die Apotheker verdienen zu viel. Dass man nur vier Apotheken besitzen dürfe, sei fürchterlich ineffizient. Mag sein, aber man wird freundlich bedient und kompetent beraten. Sicherlich verdienen die Apotheker dank ihres Marktschutzes etwas mehr, als sie bekämen, würden wir das Apothekenmonopol abschaffen. Doch was hätten wir Verbraucher davon? Sofort den Kampf Kapitalstark gegen Kapitalschwach, und nach kurzer Zeit würden zwei oder drei Ketten den europäischen Markt komplett dominieren. Ich bezweifle, dass sich die Konsumenten letztlich darüber freuen würden. Ich habe das Glück gehabt, dank meines Lehrers Robert Gilpin in Princeton tiefer in dieses Thema einsteigen zu können. Hierzulande haben wir die politische Ökonomie, deren Wurzeln sogar aus Deutschland kommen, größtenteils vergessen. Robert Gilpin definiert drei Perspektiven. Die individualistische Perspektive, die besagt, alles geht vom Individuum aus, das Individuum ist das Maß aller Dinge, und so betrachte ich auch alle Prozesse. Das ist übrigens auch im Prinzip die Grundannahme fast aller modernen ökonomischen Modelle. Die zweite Perspektive ist die der Klasse. Soziale Klassen stehen im Konflikt miteinander. Das ist die marxistisch-leninistischsozialistische Perspektive, die uns nicht so weit gebracht hat. Die letzte ist die national-
222 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell staatliche Perspektive, entwickelt von dem großen deutschen Patrioten Friedrich List, der einige Jahre lang in den USA ein Exil fand und sich dort als Unternehmer betätigte. List sagt, es käme weniger auf den Markt an als auf das System der Produktivkräfte, also auf das Humankapital und die Verbindungen zwischen den produktiven Elementen. Die Hauptaufgabe des Staates sei es, die Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, damit sich diese Kräfte vollends entfalten können. Das sind die drei möglichen Perspektiven – Individuum, Klasse oder Schicht, Staat. Wem gebührt das Vorrecht, den Menschen seine Perspektive diktieren zu dürfen? Das ist die entscheidende Frage bei der Gestaltung der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, und sie geht einher mit der Frage nach der Macht, die bei jeder ökonomischen Transaktion eine Rolle spielt. Soll man verschweigen, dass Macht überhaupt ein Teil dieser Transaktion ist, um keine Widerständler und Neider auf den Plan zu rufen? Oder geht man offen damit um und sagt: In jeder ökonomischen Transaktion steckt auch eine Menge Macht? In den Preisen beispielsweise, dort spiegeln sich die herrschenden Machtverhältnisse wider. Deswegen gibt es Wettbewerbsregelungen und die Antikartell-Gesetzgebung. Auch in den Gewinnen spiegeln sich Macht und Ohnmacht wider. Und in den Arbeits- und Kapitaleinkommen ohnehin. Wenn wir von Ethik sprechen, sprechen wir also immer auch von Macht und von Werten, die von der Macht an die Spitze des anzustrebenden Ideals befördert werden. Da wir nicht alle möglichen Werte gleichzeitig erreichen können, müssen wir Richtungsentscheidungen treffen. Natürlich lebten wir gerne in einer Welt, in der alle Menschen reich, gebildet und lieb im Umgang miteinander sind. Bis es so weit ist, wird es allerdings noch eine Weile dauern. So lange zwingen uns die knappen Ressourcen, uns für das eine oder für das andere zu entscheiden. Wollen wir Gewinne erzielen und dafür eine stärkere Belastung der Umwelt in Kauf nehmen? Streben wir nach einem menschenfreundlichen Arbeitsklima und verzichten wir dafür auf ein Einkommen, wie wir es in und mit einer Druckkultur verdienen könnten? Betriebswirte kennen die Entscheidungsproblematik genau. Die wissen, dass es nicht nur auf die Assets einer Firma ankommt, sondern dass auch das Wertesystem eines Unternehmens zum Erfolg beiträgt. Die Unternehmenskultur ist sogar ein extremer Erfolgsfaktor! Warum soll das nicht auch für eine Volkswirtschaft gelten? Auch hier entscheidet die gewählte Wirtschaftsnatur, also die Frage, welche Freiheiten wir dem Markt einräumen, über Prosperität, Gerechtigkeit und Wohlbefinden der Bürger. Allerdings machen wir uns gar nicht mehr klar, dass wir diese Entscheidung treffen können. Wir kehren das unter den Teppich und sagen stattdessen: „Der moderne Kapitalismus und die Globalisierung sind gesetzt.“ Das ist gewissermaßen das Betriebssystem, unter dem unsere Gesellschaft und Wirtschaftsordnung läuft.
17 Government statt Governance – die Corporate-Social-Responsibility-Debatte 17.2 223 Die „Betriebssysteme“ der Wirtschaft Allein es ist nicht das einzig Denkbare. 1919 hat der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler in seiner kleinen Schrift „Preußentum und Sozialismus" drei mögliche „Betriebssysteme“ für Nationen skizziert. Grundlage des ersten ist die Ethik des Erfolges. Es geht den Individuen darum, Erfolg zu haben, und der wirtschaftliche Erfolg rechtfertigt fast jedes Mittel. Nach dieser Philosophie, sagt Spengler, hätten die Tory-Regierungen im England des vorletzten Jahrhunderts den Staat so weit wie möglich zurückgedrängt, um die Freiheit für die Erfolgreichen grenzenlos werden zu lassen. Die Folge, anno 1919: Milliardäre regieren die Welt. Die Vermögenden wehren sich zwar gegen staatliche Auflagen und Intervention, weil sie die Freiheit, ihre Freiheit, über alles stellen. Sie schließen Zweckbündnisse zur Erreichung wirtschaftlicher Ziele, aber am Ende sind sie unter Umständen durchaus so großzügig, dass sie ein Großteil ihres Vermögens stiften. Das ist kein Widerspruch. Von Andrew Carnegie, damals dem reichsten Mann der Welt, stammt die Mahnung: „Wer reich stirbt, stirbt ehrlos.“ Carnegie selbst hat sich konsequent daran gehalten. Der Erfolg rechtfertigt sich mithin selber. Neid, auf den wir in Deutschland an jeder Ecke treffen, ist im angelsächsischen System längst nicht so en vogue wie bei uns. Diesem Denken gegenüber stellt Spengler die preußische Ethik, die Ethik der Arbeit. Eine Aufgabe muss gut erledigt werden, man ist stolz auf die Aufgabe und deren bestmögliche Erledigung. Der Rang in der Gesellschaft ist das entscheidende Kriterium für die Motivation des Einzelnen, nicht der Reichtum. Spengler sagt, für den echten Engländer wäre es ebenso unerträglich, sich vor einem armen Menschen zu verbeugen, wie für den Preußen, sich vor bloßem Reichtum zu verneigen. Das dritte Modell ist eine Ethik der Lebensfreude und des Lebensgenusses. Das verortete Spengler in Frankreich. Wir sehen natürlich, dass die angelsächsische Ethik des Erfolgs und des Reichtums im Moment das proprietäre Betriebssystem der Welt ist. Rang und Reichtum sind historisch gewachsene Ordnungskriterien, bei denen es immer um Macht und um Positionen in der Gesellschaft geht. Und eine Ethik darf ja auch nicht die Unterschiede in der Gesellschaft wegdiskutieren. Menschen positionieren sich im sozialen Gruppen. Die Frage ist nur: Welche Kriterien legt man dabei an? Mit welchem „Betriebssystem“ fährt eine Gesellschaft am besten? Tatsächlich mit völlig freien, unreglementierten Märkten – wie sich die Finanzmärkte derzeit gebärden? Finanzmärkte sind die liquidesten, die flexibelsten, die transparentesten Märkte der Welt. Es sind Märkte, die ideal funktionieren. Das hervorzuheben werden die Kollegen der Volkswirtschaftslehre nicht müde. Dennoch ist es grundfalsch. Es gibt keine ineffizienteren Märkte als Finanzmärkte, denn sie neigen per se zu Über- und Untertreibungen. Wenn man sie loslässt, schaffen sie Instabilität. Der Grund: Finanzentscheidungen sind zu 80 bis 90 Prozent eben nicht von der Vernunft getrieben, sondern von Emotionen. Für diese Erkenntnis hat Daniel Kahneman im Jahr 2002 den Wirtschafts-Nobelpreis bekommen. Er hat Menschen in Kernspintomografen geschoben und geschaut, was pas-
224 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell siert, wenn man die Probanden mit Finanzentscheidungen konfrontiert, etwa so: „Hättest du lieber 100 Euro heute oder 110 Euro in einem Jahr?“ Je komplizierter die Fragen wurden und je schneller die Entscheidungen getroffen wurden, desto mehr übernahm das Kleinhirn die Kontrolle. Das Kleinhirn ist derjenige Teil des Gehirns, der uns evolutionsgeschichtlich mit der Gattung der Reptilien verbindet. Darin dominiert die Angst, gefressen zu werden. Und genau diese Furcht treibt die Finanzmärkte an. Hinzu kommen noch gewisse Heuristiken, die die verhaltenswissenschaftliche Finanzforschung herausgefunden hat. Zum Beispiel der Mechanismus, Entscheidungen zu vereinfachen: Wir setzen auf das, was die letzten vier, fünf, sechs, sieben Jahre funktioniert hat. Oder im Falle der US-Immobilien, was die letzten 40 Jahre anscheinend wunderbar funktioniert hat. Auf diese „Gewissheit“ bauen wir dann Modelle und Produkte. Das treibt die Preise natürlich noch weiter. Und schon haben wir eine Blase. Nein, meine Damen und Herren, ich sage, wie es ist: Finanzmärkte sind inhärent instabil, neigen zur Blasenbildung und zur Destabilisierung des Wirtschaftssystems. Sie müssen also reguliert werden. Wenn man das will. In Deutschland hatten wir lange keine größeren Finanzkrisen. 1873 bis 1876 war die Gründerzeitkrise, da standen wir noch relativ am Anfang, die Krise 1929 wurde vom Ausland induziert. Bis auf die Zwischenkriegszeit nahmen die Finanzmärkte eine dienende Rolle ein, nicht die beherrschende Rolle, die sie heute haben. Das sieht übrigens Hannes Rehm, langjähriger Vorstand der NordLB und jetzt Chef des SoFFin, also des Sonderfonds für Finanzmarktstabilisierung, genauso. Er hat einen sehr lesenswerten Artikel in „Geld und Kredit“ geschrieben. „Die Finanzmärkte müssen auch eine dienende Rolle haben,“ steht darin, „sie dürfen nicht herrschen.“ Die Kritik, die dem sehr stabilen, nachhaltigen und dem Angelsächsischen weit überlegenen deutschen Finanzsystem entgegenschallt, es sei ineffizient und die Eigenkapitalrenditen stimmten nicht, widerlegt Hannes Rehm brillant. Sämtliche Produktivitätskennziffern unseres Systems seien hervorragend, Cost-to-Income-Ratio, Personalkostenquote, Kreditgewährung, all das sei wunderbar. Nur die Eigenkapitalrendite sei in der Tat gering. „Na und?“, frage ich, „was heißt denn das?“ Eine geringe Eigenkapitalrendite bedeutet, dass der Wettbewerb funktioniert. Dass wir ein System geschaffen haben, das genau das tut, was es tun soll, nämlich die Anbieter unter Wettbewerb zu setzen. In Ländern mit einer hohen Eigenkapitalrendite, also in Italien, Spanien oder England, werden die privaten Bankkunden grauenhaft unterversorgt. Für Bankabhebungen verlangt man Gebühren von 10, 15, 20 Euro. Dort wird die Marktmacht massiv ausgenutzt. Das ist Wegelagerei in Reinkultur. Sie sehen: Vor Ihnen steht ein Gesinnungspreuße. Ich kann nur aus dieser Richtung argumentieren, ich lege meine Weltanschauung offen. Das tun wir immer seltener. Und deswegen ist die Begriffsverwirrung immer größer, und es lässt sich viel leichter im Trüben fischen. Da bin ich wieder bei der Augenwischerei.
17 Government statt Governance – die Corporate-Social-Responsibility-Debatte 17.3 225 Regulierung des Finanzsystems Oft höre ich die Forderung, das Finanzsystem müsse reguliert werden. Ebenso oft höre ich den Einspruch, kein System sei so stark reguliert wie das Finanzsystem. Was stimmt denn jetzt? Man darf nicht Quantität mit Qualität verwechseln. In der Tat gibt es viele erdrückende Regulierungen. Es wird hin und her geredet, und vieles verwirrt im Dickicht der politischen Diskussion. Dabei liegen die Ordnungshebel offen zutage. Es sind eigentlich nur drei, die hier zu nennen wären. Der erste Ordnungshebel: Eigenkapital und rechtssichere Buchhaltung Der erste Ordnungshebel ist das Eigenkapital. Eigenkapital ist die Basis einer soliden Marktwirtschaft. Wenn man es verlässlich schaffen würde, Finanzakteure mit haftendem Eigenkapital auszustatten, dann hat man fast alle Probleme vom Tisch. „Wir sind doch auf dem Weg“, könnten Sie nun sagen, „nach Basel II müssen Finanzakteure doch Kernkapitalquoten von acht oder zehn Prozent vorhalten.“ Gewiss, doch was ist denn das Kernkapital? Da geht’s schon mit der Begriffsverwirrung los. Denn Kernkapital ist nicht Eigenkapital. Auch ungesichertes Hybridkapital kann als Kernkapital gelten. In Wirklichkeit haben etliche Finanzakteure bei acht bis zehn Prozent Kernkapital nur zwei Prozent echtes Eigenkapital. Die Deutsche Bank hat noch weniger. Sie ist 50-fach gehebelt – das geht nicht, das darf man nicht zulassen. Aber glauben Sie im Ernst, dass Frau Merkel oder Herr Ackermann das irgendwann abstellen werden? Wohl kaum. Die Genossenschaftsbanken, die Volksbanken, die Raiffeisenbanken und die Sparkassen haben oft acht bis zehn Prozent echtes Eigenkapital. Da gibt es keine Finanzkrise. Man kann es natürlich nicht exakt beziffern, aber das Risiko ist hier um ein Vielfaches geringer. Ich verlange ja gar nicht zehn Prozent Eigenkapital. Sechs, sieben, acht Prozent – echtes! – Eigenkapital würden genügen. Und zwar nicht nur für Banken, sondern auch für Hedgefonds, Versicherungen und Private Equity. Brüssel kündigt an, dass Hedgefonds demnächst Mindesteigenkapital vorhalten müssen. Aber nur solche über 100 Millionen Euro Volumen! „Na gut,“ werden deren Manager sagen, „dann legen wir eben zehn Fonds mit 99 Millionen Euro Volumen auf.“ Wo eine Vorfahrtsregel ist, findet sich in diesem System auch ein Schleichweg. „Ein Hedgefonds müsse 120.000 bis 130.000 Euro Eigenkapital vorhalten,“ verlangt Brüssel. Das ist im Prinzip gut, doch dieses Geld ist vor allem dafür da, dass der Anwalt seine Gebühren bekommt, falls der Fondsmanager Mist baut. So funktioniert Brüssel. Brüssel ist das Einfallstor für die unbegrenzte und intransparente Herrschaft der Konzerne und Interessengruppen. Die Verhandlungen finden hinter verschlossenen Türen statt. Und Protokolle gibt es nicht. Da sind wir wieder beim eingangs erwähnten „Betriebssystem“ und bei der Frage: Bei wem liegt die Macht? Im Moment ist viel Macht äußerlich unsichtbar bei den großen Interessengruppen in Brüssel versammelt.
226 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell Eigenkapital ist die Basis eines funktionierenden Finanzsystems. Hinzukommen muss eine saubere Buchführung. Wenn man beides als verbindliche Auflagen festschreibt und kontrolliert, dann braucht man keine weitere Regulierung und muss die Akteure nicht unnötig bevormunden. Schon liegt der Finger in der nächsten Wunde. Denn wir haben ja auch keine saubere Buchhaltung mehr. Mit International Accounting Standard und Fair Value Accounting ist Poesie und positive Schaffenskraft in die Buchhaltung eingezogen. Zugegeben: Als das vor zehn Jahren diskutiert wurde, war ich auch noch dafür. Es klang gut: aktionärsorientiert auf der einen Seite, gläubigerorientiert auf der anderen. Aber wozu führt es? Derivate, besonders speziell gestrickte Derivate, für die es keinen Markt gibt, müssen zum Modell bewertet werden. Damit beauftragt werden ausgerechnet die Söldnertruppen des Kapitalismus – die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Die begutachten die Berechnungen der Modelle und Derivate, die sich zum Teil über zehn, zwanzig Jahre erstrecken und jede Menge Stellschrauben enthalten. Wenn Sie in den Annahmen um ein Prozent an den Zinsen drehen, kommen Sie beim Endwert auf Schwankungsbreiten von 300, 400, 500 Prozent. Dagegen kann keiner etwas sagen, diese Annahmen sind legitim. Bis zu einem gewissen Grad kann man sich heute Bilanzen so zurechtbiegen, wie man will. Die Stresstests sind ein kleiner Versuch gewesen, Licht ins Dunkel zu bringen. Was die Politik aber in Wirklichkeit sagt, ist das: „Liebe Banken, wir wollen eigentlich nicht so genau wissen, wie es Euch geht. Macht weiter wie bisher. Füllt schnell Euer Kapital wieder auf, damit es weitergehen kann.“ Im Fair Value-Accounting gibt es einige paradoxe Dinge. Etwa das: Wenn die Risikoprämien am Kapitalmarkt steigen und die Anleihekurse in den Keller gehen, dann hat die Bank auf einmal mehr Eigenkapital. Denn die Banken haben sich ja auf der Passivseite mit Anleihen verschuldet. Nun könnte die Bank diese Anleihen billiger zurückkaufen, also hat sie noch weniger Schulden. Ist das nicht eine krude Logik? Wir bekommen ein manipulierbares System, das mit Transparenz und Rechtssicherheit wenig zu tun hat. Man kauft sich die entsprechende Buchhaltungskapazität, und dann definiert man fleißig. Natürlich kann man auch in diesem System noch Rechtsbrüche begehen. Aber man kann auch vieles innerhalb des Systems gestalten. Rückblickend betrachtet war das deutsche HGB letztlich doch das bessere System. Auch da gab es Betrug, auch da war nicht alles in Ordnung. Aber damals wurden die Assets nach dem strengen Niederstwertprinzip bewertet. Und nicht nach dem Prinzip Modellbau. Ausreichend Eigenkapital zusammen mit besserer, rechtssicherer Buchhaltung würde im Prinzip einen Großteil der Probleme lösen. Das werden wir aber nicht kommen sehen, weil die Machtstrukturen eben anders sind. Und weil in den Ministerien leider auch wenig Spitzenbeamte arbeiten, die es mit den Heerscharen der bezahlten Lobbyisten, Anwaltskanzleien und PR-Agenturen aufnehmen können. Ich habe selber fünf Jahre lang Bundes- und Landesministerien beraten, von Ende der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre, und dann habe ich es gelassen. Ich habe meine eigenen Unternehmen gegründet, weil ich mir gesagt habe: Da kann ich selber noch gestalten.
17 Government statt Governance – die Corporate-Social-Responsibility-Debatte 227 Der zweite Ordnungshebel: Finanztransaktionssteuer Der zweite Ordnungshebel wäre die Finanztransaktionssteuer. Darüber ist viel Falsches und viel Richtiges geschrieben worden. Die Finanztransaktionssteuer ist eine Umsatzsteuer auf Finanztransaktionen. Auf jede, auf eine Kreditaufnahme wie auf Aktien- und Fondskäufe und -verkäufe. Im Gespräch war eine Steuer von 0,05 Prozent. Die Finanzlobby lehnte ab und schlug stattdessen eine Financial Activity Tax vor. Ich war zur Anhörung im Bundestag geladen und hörte die Argumente, mit denen die Transaktionssteuer madig gemacht und die Aktivitätssteuer blankpoliert wurde. Was unterscheidet eine Transaktionssteuer von einer Aktivitätssteuer? Letztere besteuert eben nicht die Aktivitäten, sondern das Ergebnis der Aktivitäten. Damit wären die Finanzakteure hochzufrieden, denn so könnten sie nach wie vor emsig spekulieren, und drehen, drehen, drehen. Besteuert wird ja nur der Gewinn, der am Jahresende nach Dutzenden oder Hunderten von Transaktionen herauskommt. Finanzaktivitätssteuer – für den Begriff hat George Orwell die Blaupause geliefert: Man benennt eine Sache mit dem Gegenteil dessen, was sie faktisch ist. Ich halte das für dreist und unverfroren. Ich bin selbst Hedgefondsmanager und sage Ihnen: Die Finanztransaktionssteuer von 0,05 Prozent beißt wirklich nicht. Wenn Daimler in Indien ein Werk bauen oder wenn ich eine amerikanische Aktie kaufen will, dann macht uns das beide nicht arm. Das kann man wegstecken. Wen trifft sie dann? Die Finanzakteure, die am Hebel sitzen. Entscheidend für die Steuerbelastung sind die beiden Multiplikatoren Hebel und Anzahl der Transaktionen pro Jahr. Wer mit 90 Prozent Fremdkapital arbeitet, muss schon 0,5 Prozent Steuern zahlen. Und wenn derjenige zehn Mal im Jahr dreht, dann sind das schon fünf Prozent. Dann kam der nächste Angriff. Vor allem eine gewisse Partei rannte aufgeregt herum und klagte, die Transaktionssteuer belaste ausgerechnet den Riester-Sparer. Ich habe ausgerechnet: Über 20 Jahre hinweg würde die Transaktionssteuer den durchschnittlichen Riester-Sparer mit 60 Euro belasten. In derselben Zeit würde die Finanzbranche am entsprechenden Riester-Produkt ungefähr 6000 Euro verdienen. Auf dieser Ebene der Begriffsverwirrung sind wir mittlerweile angekommen. Ich sehe nicht mehr Transparenz, nicht mehr Klarheit in der wirtschaftlichen Diskussion. Neben den beiden Ordnungshebeln Eigenkapital samt sauberer Buchhaltung und einer Finanztransaktionssteuer würde ich Zertifikate und Derivate für Privatanleger sehr stark beschränken, weil man den tatsächlichen Wert der meisten Produkte nicht berechnen kann. Bei Aktien kann ich es, bei Anleihen kann ich es auch. Aber viele Derivate sind an einen exotischen und von der Bank selbst kreierten Index gebunden. Die Bank macht sich also selbst die Preise. Die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger nennt jedes Jahr horrende Beispiele. Aber es ist nichts geschehen, um diesen institutionalisierten Sumpf auszutrocknen. Mein eigener Hedgefonds arbeitet nach dem, wie ich es nenne, „Reinheitsgebot“. Es sind nur Aktienanleihen und echtes Gold im Safe. Keine Derivate, keine Putz, keine Scrolls, kein Schnickschnack. In der Schweiz gilt Gold im Safe als Rohstoff, das sei laut Regulierungsbehörde viel zu gefährlich. Sie sehen: Überall sind die Regeln so festge-
228 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell schrieben worden, dass sie der bestehenden Finanzoligarchie dienen, aber innovative Produkte nicht zulassen. Der dritte Ordnungshebel: ein schlanker, starker Staat Als dritten Ordnungshebel brauchen wir einen Staat. Einen schlanken Staat, der aber nicht die Bürger reguliert und niederhält, sondern der die großen Player reguliert und kontrolliert. Wir müssen dazu wieder Spitzenbeamte schaffen und den Respekt vor ihnen. Frankreich hat einen Beamtenkader, der mitredet und dessen Stimme Gewicht hat. Ziel muss es sein, den Staat als Gegengewicht zur Finanzbranche in Stellung zu bringen. Und ich sage Ihnen auch, warum ich das für nötig halte. Erinnern Sie sich noch an die Rettungsaktion der Hypo Real Estate? Monate zuvor ging es um die IKB. Die Deutsche Bank verkaufte der IKB ihren ganzen Müll an Schrottpapieren. Als der dort abgeladen ist, warnte Josef Ackermann die Bundesaufsicht: „Ich glaube, die IKB hat ein Problem.“ Hatte sie auch, wie sich dann herausstellte. Und warum? In einer Talkshow gab sich Ackermann völlig unschuldig: Ja wieso, das waren doch Vollkaufleute? Gedacht haben wird er sich: Es ist doch deren Schuld, wenn sie sich übervorteilen lassen. Und dann kam es zur IKB-Rettungsaktion. Ackermann reist ja ständig durch die Welt und sagt, die Deutsche Bank habe kein Geld vom Staat genommen. In jener Nacht der eilig einberufenen Kanzlerrunde mit Martin Blessing, Josef Ackermann, Staatssekretär Jörg Asmussen und zwei, drei anderen gestanden die Privatbanken zu, sich an der Rettung der IKB mit 40 Prozent des Schadens beteiligen zu wollen. Die restlichen 60 Prozent übernahm der Steuerzahler. Kein Geld vom Staat genommen …? An einer solchen Rettungsaktion beteiligen können sich an vorderster Stelle die Aktionäre aus Eigenkapital, denn das ist die Funktion des Eigenkapitals – es haftet. Und es gehört ausradiert, wenn der Akteur insolvent ist. Insofern war die Haltung der FDP, die die Kleinaktionäre verteidigt hat, nicht ganz konsequent und nicht ganz seriös. Die Aktionäre gehörten enteignet, entmachtet, rausgekickt, das Eigenkapital war nichts mehr wert. Sich außerdem an der Sanierung beteiligen können sich die gut informierten Gläubiger. Zum Beispiel Finanzakteure, die diesem Unternehmen Geld geliehen haben. Und die dritte Gruppe, die sich an einer Sanierung beteiligen kann, ist die Allgemeinheit, also wir Steuerzahler. Nun saßen also die gut informierten Gläubiger mit den Vertretern der Allgemeinheit, sprich: den hohen Regierungsbeamten, in Berlin zusammen und hörten, dass sich die Gläubiger, also die Banken mit 40 Prozent am Schaden beteiligen wollten. Allerdings nur bis zu einer Gesamtschadenssumme von zehn Milliarden. Mehr werde es ja wohl auch nicht. Staatssekretär Asmussen hat sich dem Vernehmen nach riesig über das großzügige Zugeständnis gefreut. Mittlerweile stehen wir bei 120 Milliarden Euro Gesamtschaden. Ich schätze, dass die Deutsche Bank alleine 15 bis 17 Milliarden durch diese Hintertür bekommen hat. Für Schrottpapiere, die sie ansonsten hätte abschreiben müssen. Genau wissen wir es nicht, denn die Dinge sind natürlich höchst geheim.
17 Government statt Governance – die Corporate-Social-Responsibility-Debatte 17.4 229 Schluss Wenn Sie meine Grundanschauung teilen, sind die Prinzipien für eine nachhaltige Regulierung des Finanzsystems einfach. Eigenkapital und eine rechtlich saubere Buchhaltung, die Einführung einer Finanztransaktionssteuer und einen starken, schlanken Staat. Diese Prinzipien ließen sich schnell umsetzen, und wir hätten vieles nicht, was uns im Augenblick und wahrscheinlich auch künftig sehr zu schaffen macht. Wir müssen uns nur international einigen. Und hier stellt sich wieder das Problem Macht. Ethik hat etwas mit Macht zu tun, mit der Verwendung von Macht, mit den Zielen der Macht und den zur Durchsetzung der Macht verwendeten Mitteln. Ich glaube, dass Deutschland in Koalition mit Frankreich, Österreich und ein paar anderen Ländern durchaus etwas bewegen könnte. Aber wenn wir auf England warten, wird das nicht passieren. Die englische Wirtschaft tickt nach einem anderen Betriebssystem, nach einer anderen Ethik, wie die amerikanische Wirtschaft auch. Aber wenigstens wir in Mitteleuropa sollten uns an einen Staat halten, der in den Kernfunktionen seine Aufgaben erfüllt. Wenn wir das schaffen, dann hätten wir ein Finanzsystem, das diese Krisen nicht produzieren würde. Vielen Dank.  Ursprünglich erschienen in Finethikon – Jahrbuch für Finanz- und Organisationsethik: Ethik, Werthaltigkeit und Nachhaltigkeit im Finanzsystem, bei SteinbeisEdition, 2010.
18 Zum Umgang mit Griechenland 18 Nachdem die heiße Phase der Finanzkrise überwunden schien, trifft der drohende Staatsbankrott Griechenlands die Europäische Union und darüber hinaus die Weltgemeinschaft anscheinend überraschend. Dies hätte nicht der Fall sein müssen. Schon 2004 war bekannt geworden, dass die Angaben zum griechischen Staatsdefizit von 1997 bis 2000 unsauber oder falsch waren und dass Griechenland zu Unrecht Mitglied der Eurozone geworden ist. (vgl. Mussler 2010) Seit Jahren zeichnen sich ökonomische Ungleichgewichte zwischen Spanien, Griechenland, Portugal, Italien sowie Irland und dem Rest der europäischen Union ab. Bereits in ihrem Monatsbericht vom Februar 2007 warnte die Europäische Zentralbank vor wachsenden Ungleichgewichten im Euroraum und riet, die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Risiken aus dem Leistungsbilanzdefiziten mancher Euro-Staaten in den Blick zu nehmen und die gute wirtschaftliche Lage dazu zu nutzen, die Konsolidierung der Staatshaushalte voranzutreiben. (vgl. Europäische Zentralbank 2007) Zudem ist absolut unverständlich, dass die Europäische Union keine Eventualpläne für den Fall der drohenden Zahlungsunfähigkeit eines Mitgliedslandes entwickelt hatte. Die Zahlungsunfähigkeit von Staaten ist ein regelmäßig auftretendes Phänomen. So traten lateinamerikanische Schuldenkrisen seit der ersten Welle von Staatsbankrotten in den 1820er Jahren mit geradezu beängstigender Regelmäßigkeit alle 50 Jahre auf: in den 1870ern, den 1930ern und den 1980ern. In ihrem 2009 erschienenen Buch „This Time is Different“ präsentieren Kenneth Rogoff und Carmen Reinhard eine detaillierte und auch quantitativ hinterlegte Geschichte der Finanzkrisen. Seit dem Jahr 1800 befanden sich Länder, die im Schnitt zwei bis zehn Prozent des Welt-Bruttosozialproduktes repräsentieren, im Zahlungsverzug oder der Insolvenz. In den Jahren um 1814, 1840, 1850 erreicht der Wert um die 15 Prozent, 1945 sogar fast 45 Prozent. Auch in den 1980er Jahren war der Anteil der Länder, die ihre Schulden nicht bezahlen konnten, mit ungefähr 231 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_18
232 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell zehn Prozent relativ hoch. Ab 1989 sank der Anteil dann stetig bis nahe Null im Jahr 2004. Dies war aber eine Ausnahmesituation, wie sie ansonsten nur zweimal, nämlich zwischen 1891 und 1931 und um 1821 vorgekommen ist. Der drohendes Staatsbankrott Griechenlands ist also keinesfalls ein Vorgang ohne Präzedenzfälle; im Gegenteil: Es gibt einen reichhaltigen historischen Erfahrungsschatz, der uns helfen kann, damit umzugehen. 18.1 Der Geburtsfehler der Europäischen Währungsunion Ökonomie ist hoch politisch, und die Währungs- und Schuldenpolitik von Staaten ist dies ebenfalls. Zwar haben alle Staaten ein Interesse an stabilen Währungen und Wechselkursen, aber Gläubiger und Schuldnerländer weisen doch unterschiedliche Interessen und Sichtweisen auf, die einer politischen Vermittlung bedürfen. Das wurde an vielen Punkten in der Geschichte der Währungspolitik deutlich: bei den Verhandlungen zum System von Bretton Woods im Jahr 1944, bei denen die USA als Gläubiger und England als Schuldner auftraten, bei der einseitigen Aufkündigung des Systems von Bretton Woods durch US-Präsident Richard Nixon im Sommer 1971 („Nixon-Schock“), bei den Verhandlungen zur Gründung des Europäischen Währungssystems durch Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing 1978 bis 1979, den Verhandlungen über Hilfen für die lateinamerikanischen Schuldnerländer nach 1982 und bei der Gründung der europäischen Wirtschaftsunion, die mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 und dem Delors-Bericht vom April 1989 eingeleitet und durch den Vertrag über die Europäische Union (Maastricht-Vertrag) vom Dezember 1991 beschlossen wurde. Dennoch wurde dieser Interessenkonflikt sowohl von den eher wirtschaftspolitisch als auch von den eher mathematisch orientierten Ökonomen in Deutschland weitgehend verdrängt. Die Wirtschafts- und Währungsunion beruhte auf einem politischen Kompromiss zwischen Helmut Kohl bzw. Deutschland (und implizit den Ländern des DMark-Blocks: Österreich, die Niederlande, Belgien, Luxemburg) sowie François Mitterrand bzw. Frankreich (sowie den Südländern). Die letztgenannten stimmten der deutschen Wiedervereinigung unter der Voraussetzung zu, dass das deutsche Wirtschaftspotenzial in der EU eingebunden sei und für alle EU-Länder nutzbar gemacht werde. (vgl. Otte 2000) Die Deutschen ihrerseits trösteten sich damit, dass für die Aufnahme in die Europäische Währungsunion strenge Konvergenzkriterien ausgehandelt und vertraglich festgelegt wurden, dass die Europäische Zentralbank, wie zuvor die Bundesbank, von Weisungen unabhängig und der Geldwertstabilität verpflichtet sein sollte und dass die Staaten gemäß Artikel 125 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) nicht gegenseitig für ihre Schulden einstehen würden (No-Bail-out-Clause). Man tröstete sich damit, dass die Obergrenze für die Neuverschuldung von drei Prozent, die Gesamtschuldengrenze von 60 Prozent sowie die Grenzen für Zinsniveau und Inflation ausreichend seien, um eine Stabilisierung und Konvergenz der Wirtschaftspolitiken zu erreichen.
18 Zum Umgang mit Griechenland 18.2 233 Grundstein- oder Krönungstheorie? Damit setzten sich in der öffentlichen Debatte in Deutschland die Vertreter der Grundsteintheorie durch, die die Währungsunion als wichtigen Impuls für die weitere Integration sahen. Die Warnungen der Vertreter der Krönungstheorie, die forderten, dass zunächst die Wirtschaftspolitik harmonisiert werden müsse, bevor man das Wagnis einer Wirtschafts- und Währungsunion eingehen könne, blieben ungehört. Bereits 1997 reichten die Professoren Wilhelm Hankel, Wilhelm Nölling, Joachim Starbatty und Karl Albrecht Schachtschneider Klage beim Bundesverfassungsgericht gegen den Vertrag von Amsterdam zur Einführung des Euro ein, die jedoch abgewiesen wurde. (vgl. Hankel et al. 1998) Der ehemalige Chefvolkswirt der Bundesbank, Otmar Issing, setzte sich ebenfalls für die Krönungstheorie ein. Und in einem Diskussionspapier aus dem Jahr 1998 schrieb ich, dass ,,gegenwärtig die Währungsunion ein ökonomisch schlechter Schritt sei“ und dass die Währungsunion über kurz oder lang in ernsthafte Schwierigkeiten geraten werde. Ebenso bezeichnete ich die Institutionen der EU als nicht demokratisch legitimiert und merkte an: ,,Die Währungsunion trägt den Keim der eigenen Zerstörung schon in sich und wird schließlich zum Kollaps des Kartenhauses führen, das wir als das Europa von Brüssel kennen.“ (vgl. Otte 1998a) Das sich bereits 1998 abzeichnende Scheitern des Euro sah ich keinesfalls als Scheitern der Europäischen Idee an, sondern als Chance Europas, sich demokratisch zu legitimieren. (vgl. Otte 1998b) Warum war die Einführung des Euro im Jahr 1999 eine schlechte Wirtschafts- und Währungspolitik? Die Argumentation folgt der „Krönungstheorie“ sowie der von Robert Mundell entwickelten Theorie der optimalen Währungsräume. (Mundell 1961) Nach Mundell müssen in einer Währungsunion die Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital und Waren) innerhalb des Währungsraumes mobil sein, um eventuelle Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung auszugleichen. Dies ist notwendig, da keine flexiblen Wechselkurse existieren, um eventuelle Ungleichheiten in der Entwicklung abzufedern. Entsteht zum Beispiel ein Boom in Spanien, der dort die Preise und die Löhne aufgrund der höheren Nachfrage in die Höhe treiben und den außenwirtschaftlichen Saldo der Region aufgrund der höheren Nachfrage nach Importen sinken lassen würde, würden in einer mobilen Welt eben auch Arbeitskräfte und Unternehmen und nicht nur Waren in diese Region strömen. Dieses höhere Angebot würde sich dämpfend auf die Nachfrage auswirken. Es kam, was kommen musste. Angesichts der fehlenden wirtschaftspolitischen Koordination zwischen den Mitgliedstaaten entwickelten sich seit Beginn der Europäischen Währungsunion im Jahr 1999 bis 2006 die Volkswirtschaften sehr unterschiedlich. Die Solidität der Bundesrepublik Deutschland und einiger anderer Staaten garantierte einheitlich niedrige Zinsen innerhalb der Währungsunion. Das wirkte insbesondere für die traditionell eher unsolide wirtschaftenden südeuropäischen Länder und Irland wie ein Stimulant, das einen massiven, wenn auch zum großen Teil künstlichen Boom vor allem in der Baubranche förderte. Die Preise zogen in diesem Zeitraum gegenüber dem Durch-
234 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell schnitt des Euroraums in Griechenland um zehn Prozent an, in Spanien um neun und in Irland gar um 14 Prozent, während sie in Deutschland und Finnland um vier, in Österreich um drei Prozent fielen. Parallel dazu verlief die Entwicklung der Lohnstückkosten und der Wettbewerbsfähigkeit in den einzelnen Ländern. Die künstlich durch den einheitlichen Währungsraum aufgeheizte Binnenkonjunktur führte auch dazu, dass die kumulierten Leistungsbilanzdefizite in Portugal zwischen 1999 und 2006 fast 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, in Griechenland 50 und in Spanien 30 Prozent betrugen, dass diese Länder also außenwirtschaftlich jahrelang über ihre Verhältnisse lebten. Die EU-Kommission blieb allerdings untätig, da die Konvergenzkriterien aufgrund des weltweiten Niedrigzinsumfeldes im Großen und Ganzen eingehalten wurden. (Ausgerechnet Deutschland und Frankreich hatten zudem aufgrund der Rezession im Jahr 2002 gegen die Verschuldungskriterien verstoßen). Für die Leistungsbilanzsalden (die ja statistisch in einer Währungsunion gar nicht existieren) gibt es kein Konvergenzkriterium. 18.3 Die Krise in Griechenland (und in den PIIGS) Mit mehr als 120 Prozent Schulden des Bruttoinlandsproduktes ist Griechenland Spitzenreiter der Europäischen Union. Dies alleine muss noch nicht in die Insolvenz führen: In den letzten zehn Jahren schwankte der Schuldenstand Japans um die 150 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, bevor er auf aktuell nahezu 200 Prozent kletterte. Es kommt auf die Leistungsfähigkeit der entsprechenden Volkswirtschaft an. Mittlerweile steht aber auch Japan vor der Krise. (vgl. Katsenelson 2010) Im Falle Griechenlands steht außer Frage, dass das Land über seine Verhältnisse gewirtschaftet hat – eine Tatsache, die erst durch die Finanzkrise offen zutage trat, die aber eine wachsame EU-Kommission auch früher hätte bemerken können. Das laufende Budgetdefizit beträgt nahezu 13 Prozent des BIP (auch Spanien, Irland und das EU-Land Großbritannien mit eigener Währung sowie das Nicht-EU-Land USA liegen über zehn Prozent). Der öffentliche Sektor in Griechenland ist aufgebläht – von elf Millionen Griechen sind eine Million vom Staat abhängig. Die Pensions- und Rentenregelungen sind extrem generös. Die Arbeitslosenquote beträgt 10,6 Prozent. Zwischen 2004 und 2008 betrugen die Transferleistungen aus Brüssel rund fünf Prozent der griechischen Wirtschaftsleistung. Korruption und Bestechung sind allgegenwärtig, pro Jahr muss eine Familie durchschnittlich ca. 1600 Euro an „Fakelaki“, Schmiergeldern, ausgeben. (vgl. Focus 2001) Nachdem die Bankenkrise 2008 durch Liquiditäts- und Eigenkapitalhilfen der Staaten in Höhe von über fünf Billionen Dollar abgewendet wurde – das weltweite Bankensystem weist immer noch ein negatives Eigenkapital auf, ist also faktisch insolvent – ist nun die nächste Schwachstelle der übermäßig kreditfinanzierten Weltwirtschaft das Ziel spekulativer „Angriffe“. (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung 2010a) So wird bereits mit Hilfe
18 Zum Umgang mit Griechenland 235 von Credit Default Swaps, Derivaten bei denen mit geringen Einsätzen bereits große Summen bewegt werden können, auf eine Pleite Griechenlands spekuliert. Credit Default Swaps spielten auch bei der Subprime-Krise eine unheilvolle Rolle. (vgl. Der Spiegel 2010a) Dabei darf nicht übersehen werden, dass derartige „Angriffe“ zumeist einen realen Hintergrund haben, wie auch bei der Bankenkrise 2008 und dem von George Soros erzwungenen Ausscheiden des britischen Pfundes aus dem Europäischen Währungssystem im Jahr 1992. Griechenland hat unsolide, korrupt und über die eigenen Verhältnisse gewirtschaftet. Selbst bei einem radikalen Sparkurs werden die laufenden Defizite zunächst weiter sehr hoch sein – vielleicht sieben bis neun Prozent des BIP und die Schuldenlast wird dementsprechend weiter ansteigen. Die Tatsache, dass der griechische Staat mit mittlerweile 6,5 Prozent mehr als doppelt so hohe Zinsen wie die Bundesrepublik Deutschland für Anleihen zahlen muss, gibt durchaus die realen Unterschiede in der Solidität beider Länder wieder. Zwar macht die griechische Wirtschaft nur 2,7 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung aus (zusammen mit Portugal, Spanien und Irland 17,9 Prozent), aber wie bei der Bankenkrise geht es auch um Dominoeffekte: Nach Griechenland könnten andere Problemländer zahlungsunfähig werden. Die deutschen Banken sind mit 522 Milliarden Euro in den PIIGS-Staaten engagiert (davon mit 31,8 Milliarden Euro in Griechenland), das sind Forderungen in Höhe von 20 Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes. Sollte ein Teil dieser Forderungen ausfallen, stehen auch etliche deutsche Banken wieder vor der Insolvenz und müssten erneut gerettet werden. Die Weltwirtschaft stünde dann wahrscheinlich – ähnlich wie schon im Herbst 2008 – vor dem Kollaps. Nach Subprime ist also „Sovereign Debt“ der nächste Brandherd, der die Schwäche der übermäßig kreditfinanzierten Weltwirtschaft schonungslos offenlegt. Griechenland wird daher aus der selbst verschuldeten Misere gerettet werden und wird nicht – was richtig wäre – den Staatsbankrott erklären müssen. 18.4 Wege aus der Krise Prinzipiell kann ein souveräner Staat sich auf viererlei Weise seiner Schulden entledigen (siehe Abb. 18.1): 1. durch Inflation (aber nur, wenn die Schulden in der eigenen Währung aufgenommen wurden), 2. durch Insolvenz und/oder Umschuldung (Vergleich), 3. durch Innovation und Wachstum und 4. durch Wirtschaftsreformen und einen Sparkurs (weniger Staatsausgaben und mehr Einnahmen).
236 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell Möglichkeiten der Reduzierung von Staatsschulden I Inflation Abwertung der Währung kann Inflation beschleunigen, gegebenenfalls Hyperinflation hervorrufen. II Innovation & Wachstum Neue Technologien können die Kapitalmärkte aus einem Abschwung befreien, aber es besteht das Risiko der Überbewertung der Kapitalmärkte und von Blasenbildung. Großbritannien 1949, USA 1970er, Europa 1970er, Argentinien 2002 Neubewertung des Yuan 2010/2011? USA 1950er, Japan 1970er, ,,New Economy" 1998-2001: USA, Westeuopa, USA, Großbritannien, Spanien: Immobilienmarkt 2002–2007 III Staatsinsolvenz, Umschuldung ökonomische Härten für entsprechende Staaten, Kettenreaktionen in anderen Staaten. IV. Wirtschaftsreformen Reduzierung der Staatsausgaben und der lnvolvierung des Staates, Privatisierung Russland 1998, Griechenland (Portugal, Spanien, Irland, Italien) 2010Einzelne MOE-Länder 2010- Großbritannien 1980, Kanada 1996, Kalifornien 2010? Quelle: Frei nach: Worst-case debt scenario – protecting yourself against economic collapse, Société Générale, Special Report, 4. Quartal 2009. Abb. 18.1 Möglichkeiten der Reduzierung von Staatsschulden (Quelle: frei nach: Worst-case debt scenario protecting yourself against economic collapse, Soci) Keine dieser Optionen ist ohne Risiken und Nebenwirkungen.   Inflation: Die Schuldnerländer der EU sowie andere Länder mit niedriger Sparquote wie die USA würden sich ihrer Verpflichtungen am liebsten durch Inflation entledigen. Sogar der Chefökonom des Internationalen Währungsfonds denkt mittlerweile offen über die Option nach, die Inflation zum Beispiel auf vier Prozent steigen zu lassen. (vgl. Der Spiegel 2010b) (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung 2010b) Gerade dieser Weg ist Griechenland allerdings durch die Währungsunion verwehrt – es sei denn, es gelänge, die Währungsunion von einer geldpolitischen Stabilitätsgemeinschaft zu einer Inflationsgemeinschaft umzudefinieren. Innovation und Wachstum können theoretisch aus der Krise führen: Sinkende Arbeitslosigkeit entlastet das Staatsbudget, Wirtschaftswachstum erhöht die Steuerbasis. Oftmals verstecken sich dahinter aber Scheininnovationen auf Kosten der zukünftigen Entwicklung oder eine Erhöhung des Risikos wie bei der US-Immobilienblase und wohl auch dem Aufschwung der PIIGS-Staaten seit dem Beginn der Europäischen Währungsunion.
18   Zum Umgang mit Griechenland 237 Insolvenz oder Umschuldung: Ein kompletter Staatsbankrott ist selten. Meistens wird ein Land die Zahlung auf die Schuldtitel einstellen und dann mit den Gläubigern verhandeln. Im Jahr 1998 stellte Russland zum Beispiel den inländischen Schuldendienst auf seine Staatsanleihen ein, bediente aber die externen Schulden weiter. Wirtschaftsreformen können helfen, indem die Staatsausgaben gesenkt und die Steuerbasis erhöht wird, gegebenenfalls mit Hilfe von Privatisierungen. Aber auch hier können Scheinblasen entstehen, wie zum Beispiel in der maroden englischen Wirtschaft nach den Thatcher- und Blair-Reformen. Wahrscheinlich wird sich die Staatengemeinschaft zu einer Mischung aus Finanzhilfen für Griechenland und der Forderung nach Wirtschaftsreformen in Griechenland durchringen. Reformen sind relativ gut kontrollierbar: Staatsausgaben und die Steuerpolitik müssen überwacht werden. Die jetzt bekannt gewordenen Forderungen der EU sind hart: Die Neuverschuldung soll von derzeit 13 Prozent des BIP bis Ende 2012 auf drei Prozent gedrückt werden. (Handelsblatt 2010) Erfahrungen mit ähnlichen Programmen gibt es – wenn auch außerhalb der EU – schon seit etlichen Jahrzehnten beim Internationalen Währungsfonds, der im Fall externer Schuldenkrisen im Gegenzug für Finanzhilfe Reformen einfordert und überwacht. Dieser Vorgang ist als „IMF Conditionality“ bekannt. 18.5 Institutionen und Akteure Prinzipiell kommen im Falle Griechenlands drei Gruppen von Akteuren in Frage, ein solches Hilfsprogramm anzubieten: der Internationale Währungsfonds, die Europäische Union oder einzelne Länder bzw. Gruppen einzelner Länder. Vieles spräche für den Internationalen Währungsfonds. Dann müssten sich die europäischen Regierungschefs weder für die Europäische Union noch für eigene Länder exponieren und der berühmte Artikel 125 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, der verbietet, dass die Union oder einzelne Mitgliedstaaten der EU gegenseitig für ihre Schulden einstehen, würde eingehalten. Leider haben sich insbesondere deutsche Politiker, allen voran Finanzminister Wolfgang Schäuble, frühzeitig damit exponiert, dass Griechenland eine Aufgabe für die EU sei. Hier besteht die Gefahr, dass politisches Prestigedenken zu Nachteilen für Deutschland führt, das die Hauptlasten zu tragen hätte. (vgl. Handelsblatt 2010b) Zudem müsste definitiv der AEU-Vertrag gebrochen werden, wenn auch sicher eine Begründung gefunden wird, warum dies nicht der Fall ist oder eben notwendig sei. Aktuell scheint aber ein Umdenken stattzufinden. So stellte Angela Merkel angesichts des Treffens mit dem griechischen Ministerpräsidenten Papandreou fest, dass es nicht um Hilfen für Griechenland gehe. (vgl. Die Welt 2010)
238 18.6 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell Instrumente Neben direkten Krediten der Geberländer oder -institutionen wäre auch eine griechische Anleihe denkbar, die von einzelnen Institutionen garantiert würde. Zudem könnte Griechenland theoretisch noch erhebliche Mittel des europäischen Strukturfonds für einzelne lnfrastrukturprojekte abrufen, die dem Land noch zustehen. Hierzu wären aber förderungswürdige Projekte in Griechenland und eine weitgehend funktionierende und korruptionsfreie Wirtschaft notwendig. Dies ist nicht gegeben, was ja gerade der Grund dafür ist, dass die Mittel nicht abgerufen werden können. Letztlich wird eine Lösung gefunden werden, die Griechenland erhebliche Sparanstrengungen auferlegen wird, gleichzeitig aber neue Kredite für das Land beinhaltet. Damit wird neue Liquidität geschaffen. Es wird also „ein bisschen Inflation“ und ein „bisschen Sparen“ geben. Geschähe das im Rahmen der EU oder ihrer Mitgliedstaaten, wäre die alte Wirtschafts- und Währungsunion klinisch tot. Schon jetzt wird von einer „Wirtschafts- und Währungsunion 2.0“ gesprochen. 18.7 Außenpolitische Ungleichgewichte Außenpolitische Ungleichgewichte haben immer zwei Seiten: Während in den Südländern nach Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion Preise und Löhne kräftig stiegen, war in der Bundesrepublik Deutschland, deren Wirtschaftsleistung 27 Prozent des BIP der Euro-Länder ausmacht, eine so starke Lohnzurückhaltung festzustellen, dass Heiner Flassbeck von „deutschem Lohndumping“ spricht. (vgl. Kaiser und Lange 2010) Nun kann eine deutsche Sparquote von gut zehn Prozent nicht wirklich als hoch bezeichnet werden – in China beträgt sie über 30 Prozent und auch in Deutschland erreichte sie in den 1960er Jahren 30 Prozent –, aber angesichts der extrem niedrigen Sparquoten in vielen anderen Ländern führt sie zu Ungleichgewichten. Die deutschen Exportüberschüsse in den Euroraum steigen beständig und machen im Handel mit Griechenland zum Beispiel 55 Prozent des Ausfuhrvolumens aus. Da kann es nicht verwundern, dass aus den Südländern massive Vorwürfe und Forderungen gegenüber Deutschland laut werden, die Binnennachfrage zu stärken. (vgl. Hank und von Petersdorff 2010) Gleichzeitig gibt es in Griechenland Proteste gegen den drastischen Sparkurs, den Ministerpräsident Papandreou einschlagen muss. Gewerkschaften und andere politische Gruppierungen formieren sich zum Widerstand – und man kann es ihnen nicht verdenken, dass sie Sparmaßnahmen, die ihnen durch eine demokratisch nur unzureichend legitimierte EU-Kommission auferlegt werden, zum Teil auch mit drastischen Argumenten bekämpfen. (vgl. Martens 2010) So ist dies nicht nur eine Wirtschaftskrise, sondern auch eine größere politische Krise, wie ich bereits 1998 prognostiziert hatte. (vgl. Otte 1998b)
18 Zum Umgang mit Griechenland 18.8 239 Weitergehende Lösungen Die Wirtschafts- und Währungsunion stellt sich als kolossaler ökonomischer und politischer Fehler, im Zug der deutschen Wiedervereinigung wohl aber als notwendiger außenpolitischer Kompromiss, heraus. Die mantrahaft wiederholte Behauptung, die Währungsunion befördere die wirtschaftliche Integration, ist endgültig diskreditiert. Vielleicht sind in Teilbereichen der Wirtschaft durch die Umstellung auf eine einheitliche Währung Kostenvorteile entstanden. Nicht aber berücksichtigt haben die Befürworter der Wirtschaftsunion die ökonomischen Kosten des Wegfalls der Wechselkurse: Angesichts sehr unterschiedlicher Volkswirtschaften hätten feste, aber anpassungsfähige Wechselkurse wie im Europäischen Währungssystem oder dem System von Bretton Woods bis 1971 eine wichtige Informationsfunktion über den Zustand einzelner Volkswirtschaften geben können. Es wäre wünschenswert, wenn als Folge dieser ernsten Krise der Status quo ante des Europäischen Währungssystems mit nationalen Währungen und festen, aber anpassungsfähigen Wechselkursen wiederhergestellt würde. Wolfgang Gerke zum Beispiel fordert einen Ausschluss Griechenlands aus der Wirtschafts- und Währungsunion. (vgl. Die Zeit 2010) Dies wäre keinesfalls die Katastrophe, als die es gerne dargestellt wird: Die EUStaatengemeinschaft könnte im Gegenteil einem Staat Griechenland mit anpassungsfähigen oder floatenden Wechselkursen besser und flexibler helfen, da damit ein weiteres wirtschaftspolitisches Instrument oder Ventil zur Verfügung steht. Griechenland muss seinen ökonomischen Kurs selber bestimmen dürfen. Ebenso wäre theoretisch die Aufspaltung Europas in zwei Währungsblöcke möglich. Parallel dazu müsste eine von Frankreich und Deutschland geführte „Koalition der Willigen“ die Re-Regulierung der Finanzmärkte vorantreiben, die bislang nur sehr zögerlich erfolgt. Der Einsatz von Finanzderivaten, die US-Superinvestor Warren Buffett bereits 2003 als „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ bezeichnet hat, geht nahezu uneingeschränkt weiter. Credit Default Swaps wurden im großen Umfang eingesetzt, um gegen den griechischen Staat zu spekulieren. Mit Hilfe derartiger Finanzderivate konnte Griechenland seinen Schuldenstand in den letzten Jahren sogar verschleiern. Wohlgemerkt, Finanzderivate sind nicht die Ursache der Probleme, aber sie tragen zu einer unnötigen Verschärfung bei. Besonders wichtig wäre es auch, dass sich einige europäische Kernländer über die Erhöhung der Eigenkapitalquoten für große Banken einig werden. Im globalen Rahmen wird dies kaum möglich sein, aber Deutschland, Frankreich, Österreich, einige nordische Länder und vielleicht auch die Schweiz könnten hier gegen den als sicher zu erwartenden Widerstand Großbritanniens Vorreiter sein. Eigenkapital ist der Sicherheitspuffer der Marktwirtschaft, ausreichende Eigenkapitalquoten erhöhen das Risiko der Spekulation für die Akteure an den Kapitalmärkten und schaffen Risikopolster, wenn einzelne Akteure in Schieflagen geraten. (vgl. Otte 2010)
240 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell All dies würde die Optionen der europäischen Staaten erhöhen und keinesfalls ein Ende der europäischen Integration bedeuten. Es würde im Gegenteil das Augenmerk der Politik von technischen und wirtschaftspolitischen auf die eigentlich wichtige Frage lenken: den Entwurf einer europäischen Verfassung, die diesen Namen verdient.  Ursprünglich erschienen in Wirtschaftsdienst – Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 90. Jahrgang, 2010, Heft 3, S. 143-171, Coypright © ZBW und Springer-Verlag Berlin Heidelberg, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2010/3/schuldenkrise-in-dereuropaeischen-union/, https://doi.org/10.1007/s10273-010-1051-3. 18.9 Literatur Der Spiegel (2010a): „Spiel mit höchstem Risiko", in: Der Spiegel 8/2010, S. 64–68. Der Spiegel (2010b): „Folgenreicher Flirt", in: Der Spiegel 8/2010, S. 76. Die Welt (2010): „Merkel will den Griechen keine Hilfe anbieten", in: Die Welt, 3.3.2010, online unter: https://www.welt.de/politik/deutschland/article6635478/Merkel-will-den-Griechenkeine-Hilfe-anbieten.html Mark Schieritz (2010): „Griechenland. Rauswerfen – oder Retten?", in: Die Zeit vom 18. Februar 2010, S. 24. Europäische Zentralbank (2007): Monatsbericht Februar 2007, Frankfurt am Main. Focus (2001): „Die Griechenland-Pleite“, in: Focus 8/2001, S. 120–136. Frankfurter Allgemeine Zeitung (2010a): „Hedgefonds formieren sich gegen Europa“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.2.2010. Frankfurter Allgemeine Zeitung (2010b): „IWF-Chefökonom denkt über höhere Inflation nach“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 17.2.2010. Handelsblatt (2010a): „Papandreou zwingt Griechen drastische Einschnitte auf", in: Handelsblatt, 3.3.2010, online unter: https://www.handelsblatt.com/politik/international/weiteres-milliardensparprogramm-papandreou-zwingt-griechen-drastische-einschnitte-auf/3382276.html. Handelsblatt (2010b): „EU verspricht Lösung in der Schuldenkrise", in: Handelsblatt, 8.2.2010, insbesondere S. 1, 8–10, 16, 36, 42. Hank, R. und von Petersdorff, W. (2010): Die Deutschen werden gepiesackt, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 28. Februar 2010, S. 35. Hankel, W. et al. (1998): Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muss. Frankfurt. Kaiser, A. und Lange, K. (2010): Deutsches Lohndumping sprengt die Währungsunion, in: manager magazin, 19.2.2010, online unter: http://www.manager-magazin.de/unternehmen/artikel/a678880.html. Katsenelson, V. N. (2010): Japan – Past the Point of No Return? Investment Management Associates. Denver. Martens, M. (2010): Griechenland schwarz in schwarz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Februar 2010, S. 6. Mundell, R. A. (1961): A Theory of Optimum Currency Areas, in: American Economic Review 51, S. 657–665.
18 Zum Umgang mit Griechenland 241 Mussler, W. (2010): Schwere Fehler in der griechischen Statistik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Januar 2010, online unter: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/ staatsdefizit-schwere-fehler-in-der-griechischen-statistik-1908399.html Otte, M. (1998a): The Euro and the Future of the European Union – A lecture prepared for the Department of International Relations, Boston University; The Dynamics of Organisation Programme, University of Pennsylvania, New York, American Council on Germany Occassional Paper 1998/ #5, S. 3. Otte, M. (1998b): The Euro and the Future of the European Union – A lecture prepared for the Department of International Relations, Boston University; The Dynamics of Organisation Programme, University of Pennsylvania, New York, American Council on Germany Occassional Paper 1998/ #5, S. 3 und S. 21–23. Otte, M. (2000): A Rising Middle Power? German Foreign Policy in Transformation, S. 126 ff. New York. Otte, M. (2010): Finanzplatz Deutschland versus deutsches Bankensystem – zwei politökonomische Perspektiven für die Zukunft, in: Frank Keuper, Dieter Puchta (Hrsg.): Deutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall – Rückblick und Ausblick, S. 179–205 ff., hier: S. 196 ff. Wiesbaden.
19 Globalisierung, mitteleuropäisches Wirtschaftsmodell und angelsächsischer Kapitalismus 19 Zur ökonomischen Selbstbehauptung Europas 19.1 Zusammenfassung Wenn „Sicherheit“ für Staaten oder Staatengebilde bedeutet, möglichst souverän zu entscheiden und das Eigene zu behaupten, dann ist Europas ökonomische Sicherheit massiv bedroht. Der Kontinent befindet sich – entgegen dem Wunschdenken der europäischen Politik – in einem weit fortgeschrittenen Prozess der Balkanisierung und der Fremdbestimmung. Das europäische Wirtschaftsmodell liegt unter Dauerbeschuss. Wenn das Ruder nicht bald herumgerissen wird, sind die tragenden Säulen unseres Wirtschaftsmodells – dezentrale Produktionsprozesse und in der Breite gut ausgebildete Menschen, ein leistungsfähiger Mittelstand, Sozialstaaten, die eine solidarische und leistungsorientierte Gesellschaft garantierten, und schließlich Bankensysteme, die der Wirtschaft und nicht einer kleinen Finanzoligarchie dienen – in ein bis zwei Jahrzehnten endgültig zerstört. Dieser Beitrag beschäftigt sich insbesondere mit den Bedrohungen, denen das (mittel)europäische Wirtschaftsmodell in Zeiten globaler Hyperkonkurrenz ausgesetzt ist. Er will zeigen, dass die Veränderungen der letzten Jahrzehnte keinesfalls mit quasi naturgesetzlicher Konsequenz als Folge der „Globalisierung“ stattgefunden haben, sondern dass in den meisten Fällen ordnungs-, wirtschafts- und machtpolitische Überlegungen und Aspekte den Gang der Wirtschaftsentwicklung maßgeblich beeinflusst haben. Es soll auch gezeigt werden, dass das zentraleuropäische Wirtschaftsmodell zukunftsweisend für den Umgang mit Ressourcen und Nachhaltigkeit für die ganze Welt sein kann, wenn Österreich, Deutschland, die Schweiz und andere Länder sich dieser Stärken bewusst werden und bereit sind, das eigene Wirtschaftsmodell entsprechend zu schützen. 243 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_19
244 19.2 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell Der Hintergrund Von Europa nahm der globale Kapitalismus vor gut 200 Jahren seinen Ausgang. Obwohl der Kontinent durch zwei Weltkriege schwer verwüstet wurde, etablierte sich Europa schnell wieder als eine hoch entwickelte Industrieregion. Die globale Dominanz der USA, die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten militärisch, ökonomisch und ideologisch spürbar war (letzteres natürlich auf den „Westen“ beschränkt), bröckelt zumindest im ökonomischen Bereich. Europa ist nach wie vor eine der drei großen Industrieregionen der Welt und gemessen am Wirtschaftspotenzial ungefähr gleichwertig mit den USA. Zusammen stehen Europa und die USA immer noch für ca. 40 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung, auch wenn sich die Gewichte schnell zugunsten Asiens und der Emerging Markets verschieben. Wirtschaft und Bevölkerung der USA wachsen etwas schneller als die Europas, sodass auch hier – wenn auch sehr langsam – eine Verschiebung stattfindet. Die Regeln für die Weltwirtschaft werden meistens durch eine dominante, hegemonial auftretende Nation festgelegt. Die entsprechenden politikwissenschaftlichen Ansätze sind als „hegemoniale Stabilitätstheorie“ bekannt. (vgl. Gilpin 1983) In der Pax Britannica bis 1914 war das Großbritannien. In der Nachkriegszeit sind das für den „Westen“ und ab 1990 für größere Teile der Welt die Vereinigten Staaten von Amerika gewesen. Solange solche hegemonial auftretenden Mächte ein großes Machtpotenzial haben und die Regeln zwar zu ihren eigenen Gunsten, aber auch zum Nutzen der internationalen Gemeinschaft festlegen und beeinflussen, ist die internationale Ordnung legitim – alle profitieren davon. Probleme entstehen, wenn eine Großmacht an Bedeutung verliert und die Regeln immer enger zur Förderung nationaler Interessen auf Kosten der internationalen Stabilität auslegt. (vgl. Friedberg 2010) Probleme entstehen auch dann, wenn keine Großmacht bereit oder in der Lage ist eine hegemoniale Rolle einzunehmen, wie in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Zu den von den USA vorgegebenen Regeln gehörten Freihandel, aber auch eine wenig nachhaltig agierende Wirtschaft, die Ausbeutung der Öl- und anderer Ressourcen und der massive, teilweise überzogene Schutz von geistigem Eigentum und Patenten sowie der Rechte von Konzernen gegenüber der Allgemeinheit, die in etlichen Fällen mittlerweile schon wieder wohlstandsmindernd wirken. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn Unternehmen sich bereits vorhandenes Saatgut in der Dritten Welt patentieren lassen und dann den dortigen Bauern die Verwendung des Saatgutes verbieten. In jüngster Zeit lässt sich in Bezug auf diesen überzogenen Schutz der Rechte von Konzernen gegenüber Bürgerinnen und Bürgern der weitgehend fehlende Datenschutz bei sogenannten „sozialen Netzwerken“ aufführen. Zeiten der Verlagerung des ökonomischen Zentrums in der Weltwirtschaft sind auch oft Zeiten globaler Krisen bis hin zu Kriegen – von Spanien nach Holland, von Holland nach England, von England in die USA (mit Deutschland und Japan als Rivalen) und heute vielleicht von den USA nach China. Im Zuge der Umgestaltung der Weltordnung
19 Mitteleuropäisches Wirtschaftsmodell und angelsächsischer Kapitalismus 245 täte es Europa gut, sich auf seine eigenen Stärken und Traditionen zu besinnen, weiter zusammenzuwachsen und als ökonomischer Akteur wahrnehmbar zu werden. 19.3 Das europäische Wirtschaftsmodell Produktionsprozesse, Mittelstand, Sozialstaaten und Bankensysteme Der bekannte US-Wirtschaftshistoriker Alfred D. Chandler schrieb, dass die Industrialisierung in Mitteleuropa vollkommen anders verlief als in den USA, England oder Russland. (vgl. Chandler 1994) Mitteleuropa war schon immer eine Region mit relativ wenig Rohstoffen und Land, dafür aber vielen und oft gut ausgebildeten Menschen. In Russland und in den USA war es anders herum: Rohstoffe und Land waren im Überfluss vorhanden, gebildete Menschen Mangelware. So schuf Europa ein Wirtschaftsmodell mit langen Ausbildungszeiten und hoher Qualifikation der Mitarbeiter. Diese Mitarbeiter entschieden vieles selber, sodass die Organisationsform europäischer Produktionsprozesse oft deutlich dezentraler als die der entsprechenden amerikanischen Prozesse war. Weil europäische Mitarbeiter breit ausgebildet und flexibel einsetzbar waren, die Mobilität im Unternehmen also höher war, war auch die Mobilität zwischen Unternehmen geringer als zum Beispiel in den USA. In den USA wiederum verlief die Industrialisierung anders herum. Wenig ausgebildete Menschen mussten sofort in den Produktionsprozess integriert werden. Dazu waren die Produktionsprozesse zentralisiert und standardisiert. Spezialisten in den Zentralen ersannen Systeme, bei denen Menschen austauschbar waren – Henry Fords Fließband ist ein gutes Beispiel. Bei ökonomischen Veränderungen oder Problemen waren Unternehmen nicht (wie in Europa) Systeme, die Mitarbeiter flexibel einsetzten und auch in Krisen zu beschäftigen suchten. Arbeitskräfte wurden relativ schnell entlassen oder verließen ihren Arbeitsplatz. Unternehmen und Staaten waren in Mitteleuropa weit mehr als in den angelsächsischen Ländern seit Ausgang des 19. Jahrhunderts auch Solidargemeinschaften. Dies gilt insbesondere für den Mittelstand, dem Österreich, Deutschland, die Schweiz und einige andere Länder bis heute ihre wirtschaftliche Stärke zu verdanken haben. (vgl. Simon 1996) Bis heute werden in diesen Ländern über 90 Prozent der Arbeitsplätze der Wirtschaft durch den Mittelstand bereitgestellt. In den Jahren nach 2000 haben Mittelständler Arbeitsplätze geschaffen, während die Großkonzerne in Summe abgebaut haben. (vgl. Simon 2007) Ein erheblich dezentraleres Wissen und dezentralere, aber auch auf Loyalität und Solidarität beruhende Organisationsformen führten dazu, dass in (Mittel-)Europa relativ kleine Unternehmen auch global mitspielen. Basierend auf dem Grundgedanken der Solidarität hat Europa Sozialsysteme aufgebaut, die weltweit vorbildlich sind. Auch hier ist der Gedanke der ökonomischen Verträglichkeit durch Tarifpartnerschaften sehr wichtig gewesen. Während in den USA und England Funktionsgewerkschaften auf Kosten der Unternehmen und der Gesamtheit ihre
246 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell eigene Klientel bedienten, war zumindest in Österreich und Deutschland durch größere Gewerkschaftsbünde auch immer eine gewisse Rücksicht auf das Wohl des Unternehmens und der Gesamtgesellschaft gegeben. Sicherlich hat es Europa nach dem Zweiten Weltkrieg teilweise mit den Sozialsystemen übertrieben, aber die Situation in Österreich, Deutschland, Dänemark, Schweden oder den Niederlanden zeigt, dass eine solidarische Gesellschaft auch ein Wettbewerbsvorteil sein kann. Fundamental anders als in den angelsächsischen Ländern war und ist teilweise noch das Bankensystem, das oftmals in der Fläche auf Raiffeisen- und Volksbanken sowie Sparkassen beruhte und ein wichtiges Komplement zum Mittelstand bildet. Das europäische, insbesondere aber das österreichische und deutsche Bankensystem beruhte vor allem auf Vertrauen und langfristigen Kreditbeziehungen zwischen Hausbanken und Unternehmen. Unternehmer und Manager benahmen sich im Großen und Ganzen so, dass dieses Vertrauen gerechtfertigt war. Damit waren zwei Ziele erreicht: Für Sparerinnen und Sparer gab es – zumindest in normalen Zeiten – einen Ort der relativ sicheren Geldanlage und Mittelstand sowie Industrie wurden mit relativ günstigen Krediten versorgt. (vgl. Otte 2010a) Dieses Bankensystem, das durch Sparkassen und Volksbanken dezentral war und mit Hilfe großer Universalbanken gleichzeitig auch die großen Finanzierungsaufgaben stemmen konnte, wurde schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts von anderen Ländern neidisch betrachtet, wie zum Beispiel in einer Abhandlung des französischen Professors Henri Hauser aus dem Jahr 1917. (vgl. Hauser 1918) Schließlich muss man auch betonen, dass das kontinentaleuropäische Rechtssystem grundlegend anders als das angelsächsische System aufgebaut ist. Im kontinentaleuropäischen Recht gibt es den Begriff des Gemeinwohls bzw. des Staates als ein unabhängiges Rechtssubjekt – im angelsächsischen Bereich nicht. Daraus leiten sich auch wesentlich weitere Aktionsfelder für den Staat als Garant des öffentlichen Interesses ab. Beginnend mit den napoleonischen Reformen zu Anfang des 19. Jahrhunderts wurden hierzu Rechtsstandards vereinheitlicht und die Verwaltung rationalisiert. Das führt auch dazu, dass wir in Mitteleuropa von „Ordnungspolitik“ und „Marktordnung“ – auch zum Schutz mittelständischer und kleiner Gewerbetreibender – sprachen, während im angelsächsischen Sprachraum von „Regulierung“ gesprochen wird – ein Begriff, der suggeriert, dass der Markt gute Ergebnisse erzielt, wenn er nur etwas nachreguliert wird. 19.4 Europa als ökonomisches Objekt Was wir heute als rauen Wind des „globalen Kapitalismus“ empfinden, ist in mancherlei Hinsicht auch der Wind des angelsächsischen Kapitalismus, der teilweise nicht mit dem mitteleuropäischen Wirtschaftsmodell kompatibel ist. Europa wird zunehmend zum ökonomischen „Objekt“ – und zwar nicht nur, weil es nicht in der Lage ist, seine Kräfte
19 Mitteleuropäisches Wirtschaftsmodell und angelsächsischer Kapitalismus 247 bei Hochtechnologie und Spitzenforschung zu bündeln sowie bestehendes geistiges Eigentum angemessen zu schützen, sondern auch, weil es sich des Systemkonflikts zwischen den angelsächsischen und den kontinental- und insbesondere mitteleuropäischen Wirtschaftsmodellen nicht bewusst ist. 19.4.1 Bedrohung des Mittelstandes Der Mittelstand ist als Leistungs- und Wertschöpfungsträger der österreichischen, deutschen und schweizerischen Wirtschaft massiv bedroht. Gesetzliche Regelwerke und Compliance-Bestimmungen sind meistens auf Großkonzerne zugeschnitten, also auf Unternehmen, die letztlich von Funktionären geleitet werden, und nicht von verantwortlichen Eigentümern. Auch kleinere Unternehmen trifft das volle Regelwerk. Viele kleine und auch mittlere Mittelständler haben schon aufgeben müssen. Das traditionelle mitteleuropäische Wirtschaftsmodell war weniger planwirtschaftlich orientiert: Es setzte auf eine gute Ausbildung und dann auf die Haftung und Verantwortung der Unternehmer und Unternehmen, nicht auf Überregulierung. Banken müssen für Mittelstandskredite nach den Regelwerken von Basel II und Basel III aufgrund stark verschärfter Eigenkapitalbestimmungen mittlerweile sehr viel Eigenkapital vorhalten, sodass solche Kredite immer schwieriger werden. Auch für kleine Mittelstandskredite sind bürokratische Regeln einzuhalten, die denen für Großkredite ähneln. Gleichzeitig sind kapitalmarktorientierte und spekulative – und damit kurzfristige und nicht nachhaltige – Geschäfte oftmals mit sehr wenig Eigenkapital zu hinterlegen. Die überwiegend am Investmentbanking orientierte Deutsche Bank hat zum Beispiel weniger als zwei Prozent Eigenkapital in ihrer Bilanz, viele Raiffeisenbanken haben zehn Prozent und mehr. In einem Bankensystem, das überwiegend auf dezentralen Kreditinstituten beruhte, wäre die Finanzkrise wohl nicht vorgefallen. (vgl. Otte 2010b) Bezeichnend ist dabei, dass die Regeln von Basel II durch die Vereinigten Staaten von Amerika mit einem weitgehend kapitalmarktbasierten System durchgesetzt wurden, sich die USA im Anschluss aber nicht an ihre eigenen Regeln hielten, während diese in Europa mit großen Kosten flächendeckend durchgesetzt wurden. 19.4.2 Volatile Kapitalmärkte Noch hält der Mittelstand und noch funktionieren die europäischen Sozialsysteme in den Kernländern einigermaßen. Volatile Kapitalmärkte und Regeln, die vor allem den spekulativen Finanzsektor begünstigen, setzen aber Mittelstand und Sozialsysteme massiv unter Druck. (vgl. Otte 2011) Auch hier sind die Regeln weitgehend von New York und London vorgegeben und von Brüssel sanktioniert.
248 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell 19.4.3 Währungspolitik – der Euro Teilweise ist der Euro eine Erfolgsgeschichte. Seit seiner Einführung wurden jedes Jahr mehr Währungsreserven der Welt in Euro angelegt – von 17 Prozent bei der Einführung auf 27 Prozent im Jahr 2011. Währungspolitik ist hohe Politik. Eine solche Stärkung Europas konnte den USA, die den Reservestatus des Dollars und damit die Emissionsgewinne aus dem Druck von Dollars benötigen, um ihr Außenwirtschaftsdefizit zu finanzieren, nicht recht sein. Die derzeitige „Eurokrise“ ist ein Fallbeispiel für die wirtschaftliche Stärke und gleichzeitige politische Schwäche Europas. Die Länder der Europäischen Union haben einen Schuldenstand unterhalb jenes der USA und ein laufendes Defizit von ca. 40 Prozent des Defizits der USA – 4,4 Prozent gegenüber 10,8 Prozent. Europa hat einen Schuldenstand von weniger als 50 Prozent des Schuldenstandes Japans und weniger als 50 Prozent des laufenden Haushaltsdefizits. Dennoch läuft seit 2010 das Drama der „Eurokrise“ und der „europäischen Schuldenkrise“ ab, und zwar induziert von einem kleinen, unbedeutenden Land an der europäischen Peripherie. Der Euro hat Konstruktionsfehler, weil eine einheitliche Währung nur in einem einheitlichen Wirtschaftsraum möglich ist. Somit mussten früher oder später massive Spannungen auftreten, die der Autor dieses Beitrags bereits 1998 vorausgesagt hat. (vgl. Otte 1998) Dabei ist die Staatsschuldenkrise Griechenlands und einiger anderer Randstaaten keinesfalls eine Veranlassung, von einer „Eurokrise“ zu reden. Eine geordnete Staatsinsolvenz hätte das Problem schon Mitte 2010 beenden können. Erst die Tatsache, dass die Staaten der Eurozone einem Land, das zahlungsunfähig ist, immer mehr Kredite gegeben und so das Drama verlängert haben, ermöglichte die Ausweitung der Krise. Denn die Ratingagenturen stellen ein angelsächsisches Kartell dar, das stark planwirtschaftliche und wenig marktwirtschaftliche Züge hat. Es wäre ureigenste Aufgabe einer Großbank, die Qualität von Investments zu prüfen, von Investments, die diese Bank nicht bewerten kann, Abstand zu nehmen und sich dabei nicht auf externe Bürokratien zu verlassen. Das Gegenteil ist der Fall: Das System der Ratingagenturen führt dazu, dass amerikanische Subprime-Produkte oder Staatsanleihen im Vertrauen auf Ratings gekauft werden, die sich im Nachhinein als nicht haltbar erweisen. Gerade bei Staatsanleihen ist hier auch eine Interessenskoalition zwischen Staaten, Banken und Ratingagenturen zu verzeichnen. Auch die Staaten haben einen (kurzfristigen) Vorteil davon, dass die Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt wird und sie sich zu niedrigeren Zinsen refinanzieren können. Wenn aber Plan- statt Marktwirtschaft gelebt wird, dann kann sich der Mechanismus auch umdrehen, wie wir es in der jetzigen Eurokrise erleben. Wenn nun nach Ausbruch der „Eurokrise“ europäische Länder schrittweise abgestuft werden, ergibt sich eine Negativspirale: Ein Land muss höhere Zinsen bezahlen, was den Staatshaushalt weiter belastet und ggf. eine weitere Herabstufung nach sich zieht. (vgl. Otte 2012) Das führt zu
19 Mitteleuropäisches Wirtschaftsmodell und angelsächsischer Kapitalismus 249 der paradoxen Situation, dass ein Land wie Italien, das wirtschaftlich erheblich gesünder als die Vereinigten Staaten von Amerika ist, im Herbst 2011 sieben Prozent Zinsen zahlen musste, während die USA nur zwei Prozent zahlten. Amerika hat ein Interesse an einem schwachen Euro, und das Kartell der Ratingagenturen ist dabei zumindest nicht hinderlich. Solange Europa nicht zu politischer Einigkeit findet, nützt die wirtschaftliche Stärke hier wenig. 19.4.4 Geistiges Eigentum Europa hat noch keinen Weg gefunden, geistiges Eigentum nachhaltig und umfassend zu schützen. Industriespionage in großem Stil wird nicht nur von China und einigen jungen Industrienationen, sondern auch von den USA betrieben. 19.4.5 lnteressenpolitik für Konzerne Interessenpolitik für Konzerne ist oftmals noch nationale Politik und wird von China, den USA, Russland und auch Frankreich massiv betrieben. Wenn amerikanische Kanzleien und Aufpasser aufgrund angeblicher Korruptionsaffären die Zentralen von Siemens und Daimler durchforsten – und amerikanische Anwaltskanzleien dafür auch noch 400 Millionen Dollar an Gebühren von Siemens erhalten –, so ist das auch Wirtschaftspolitik. Amerika wendet eigenes Recht unilateral auf andere Länder an und wirft seinen Markt und Marktzugang als Machtfaktor ins Gewicht. Europa hat hier noch keine angemessene Antwort gefunden. Lediglich im Bereich der Antitrustpolitik ist eine annähernde Parität der Kräfte vorhanden. 19.4.6 Spitzentechnologie Aufgrund seiner geistigen Ressourcen müsste Europa die Spitzentechnologieregion Nummer eins sein. Stattdessen stehen die USA in vielen Bereichen vorne und China rückt auf. Europa hat es in vielen Bereichen noch nicht geschafft, seine Kräfte zu bündeln. Wo dies der Fall ist (wie zum Beispiel beim Airbus-Konsortium), kann Europa trotz der dezentralen Prozesse vielfach bei der Weltspitze mithalten. Hoffnung machen auch die Pläne für ein eigenes Netz von Navigationssatelliten. Dringend notwendig wären Initiativen für Software und Informationstechnologie.
250 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell 19.4.7 Rohstoffversorgung Beim Thema Rohstoffversorgung steht Europa nicht besonders gut da und ist eher Objekt als Subjekt. Ganz schlecht ist Europas Position aber auch nicht – vom Öl in der Nordsee und in den Anrainerstaaten Nordafrikas, Gas und anderen Rohstoffen aus Russland, Eisenerzen in Schweden und Österreich sowie innovativen und rohstoffsparenden Technologien ist Europas Position sicherlich besser als die Japans und vielleicht sogar Chinas. 19.4.8 Migration Die Migration stellt für Europa eine große Chance und gleichzeitig ein großes Risiko dar. Wirtschaften sind langfristig vor allem dann dynamisch, wenn auch eine positive Bevölkerungsentwicklung – und zumindest keine massive Stagnation – vorliegt. Was in einer einstmals als kommende Wirtschaftsmacht der Welt hochgelobten Nation passiert, wenn die Bevölkerung rasch überaltert und keine Migration zugelassen wird, ist derzeit in Japan zu beobachten. Noch hat Europa keine Migrations- und Integrationspolitik, die diesen Namen verdient. 19.5 Europa als ökonomisches Subjekt Europas ökonomische Sicherheit ist bedroht – und zwar nicht nur in den traditionellen Bereichen der Energie- und Rohstoffversorgung und der Spitzenforschung, sondern auch in der Art und Weise, wie Wirtschaftspolitik insgesamt auf der Welt gestaltet wird. Mittelstand, Sozialstaaten und Bürgertum leiden auch, weil sich Europa in diesen Bereichen teilweise selbst entmachtet hat. Europa muss endlich zusammenwachsen, um vom ökonomischen Objekt zum Subjekt zu werden. Hierbei reicht nicht die jetzt angepeilte Fiskalunion, denn dies ist nur eine reaktive, weitgehend passive Union, keine gestaltende Politik mit positiven Zielen. Schuldenbremsen bei fehlenden positiven Zielen der Wirtschaftspolitik helfen lediglich, Staaten an die Kandare der „Finanzmärkte“ zu nehmen und sie weiter der Finanzoligarchie auszuliefern. Sicherlich sind Sparanstrengungen sinnvoll, es gehören aber auch Schuldenschnitte – also die Beteiligung der informierten Akteure in der Finanzbranche – und Wachstumskonzepte hinzu.
19 Mitteleuropäisches Wirtschaftsmodell und angelsächsischer Kapitalismus 251 19.5.1 Zollgesetzgebung und Antitrustpolitik Dass die Europäische Union als weltpolitischer Akteur wahrnehmbar ist, zeigen die beiden Bereiche Zollgesetzgebung und Antitrustpolitik. Bei Verhandlungen über Zölle spielt die Europäische Union ganz vorne mit. In der Antitrustpolitik beugen sich auch so mächtige Konzerne wie Microsoft ihrem Urteil. 19.5.2 Vergemeinschaftung der Interessenvertretung und Kontrolle von Großkonzernen zur Abwehr von Industriespionage Die Interessenvertretung für und die Kontrolle der Großkonzerne befindet sich noch weitgehend auf der nationalen Ebene. Dies hat für die europäischen Konzerne Vor- und Nachteile: Einerseits haben sie eine starke Stellung gegenüber ihren nationalen Regierungen, andererseits sind sie durch andere, größere Länder wie die USA oder China angreifbar und ggf. sogar erpressbar. Es wäre daher notwendig, die Industriepolitik für die europäischen Konzerne auf die europäische Ebene zu heben. Gleiches gälte für die Abwehr von Industriespionage. Hier benötigten wir eine europäische Behörde mit weitreichenden Kompetenzen. 19.5.3 Rettungsfonds und Insolvenzordnung für Staaten der Europäischen Union bzw. der Eurozone In der jetzigen „Eurokrise“ ist Europa alleine aufgrund seiner politischen und institutionellen Schwäche zum Krisenfall geworden. Denn die ökonomischen Daten Europas sind um ein Vielfaches besser als die der USA oder Japans. Mit dem Stabilitätsfonds EFSF und der engeren fiskalpolitischen Koordination sind die Weichen nur unzureichend gestellt. Europa benötigt einen Stabilitätsfonds, der sich im Zweifelsfall an Banken beteiligen und diese stützen kann (gegen angemessene Übertragung von Eigentumsanteilen nach dem schwedischen Modell). Auch gegen eine engere fiskalpolitische Koordinierung ist nichts einzuwenden. Gleichzeitig muss aber endlich auch ein geordnetes Insolvenzverfahren für Staaten geschaffen werden, um die Macht der Banken gegenüber den Regierungen zu brechen. Denn die Finanzbranche, die Kredite vergeben und Anleihen gekauft hat, ist an der Staatsschuldenkrise zu 50 Prozent mitverantwortlich. Wenn also der europäische Stabilitätsfonds in Zukunft mit einer Summe X einem Land hilft (er hilft ja nicht dem Land, sondern den Gläubigern), sollte im selben Zug ein Schuldenschnitt um dieselbe Summe erfolgen. Ein solches Zug-um-Zug-Insolvenzverfahren würde die europäischen Institutionen wieder zum Subjekt der Politik machen und wäre eine deutliche Verbesserung zum jetzigen Zustand, in dem sie Getriebene sind.
252 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell 19.5.4 Finanzmarktordnung Das kreditorientierte Bankensystem war und ist eine große Stärke Österreichs, Deutschlands, der Schweiz und anderer Länder. Über Basel II und III wurden hier angelsächsische Strukturen über die Hintertür eingeführt. Dies führt zu einer massiven Schwächung des dezentralen und kosteneffektiven Bankwesens und des Mittelstandes. Europa muss sich bemühen, die Regeln von Basel II komplett zu revidieren oder außer Kraft zu setzen und eine mittelstandsfreundliche Politik zu betreiben. Katastrophal ist die Entscheidung zu nennen, die europäische Bankenaufsicht nach London zu verlagern und den kontinentaleuropäischen Regierungen weiteren Einfluss auf ihre Bankensysteme zu nehmen. Problematisch ist auch die Zersplitterung in Banken-, Versicherungs- und Börsenaufsicht. Europa benötigt eine eigene Ratingagentur, zumindest für Staatsschulden. Diese Agentur sollte als staatliche Behörde organisiert sein und wie die Österreichische Nationalbank oder die deutsche Bundesbank einem strengen Auftrag verpflichtet sein. Auch wenn diese Agentur vielleicht gelegentlich Fehler zugunsten europäischer Nationen machen würde, so wäre doch das Kartell der angelsächsischen Agenturen durchbrochen und Europa auch hier als Player etabliert, wie es seiner wirtschaftlichen Bedeutung entspricht. China positioniert sich mit der eigenen Ratingagentur Dagong bereits als Akteur. Auch eine Finanztransaktionssteuer ist in Europas – wenn auch nicht in Londons – Interesse. Eine solche Steuer würde Kleinsparerinnen und -sparer kaum treffen. Sie würde auch dem Mittelstand oder der Realwirtschaft nicht schaden. Sie würde überwiegend die spekulativen Geschäfte im Investmentbanking marktwirtschaftlich „dämpfen“. (vgl. Otte 2010c) Kontinentaleuropas Kapitalbilanz ist in etwa ausgeglichen, das heißt, Europa ist nicht auf Kapitalimporte angewiesen. Eine Dämpfung der spekulativen Kapitalflüsse würde also eher die Kapitalabwanderung mindern und Europa als politischen Akteur in diesem Bereich etablieren. 19.6 Schlussbemerkung Europa wurde lange als politischer Zwerg und wirtschaftlicher Riese wahrgenommen. Heute merken wir, dass die gehobene wirtschaftliche Position Europas nicht ohne eine Stärkung der politischen Union zu halten ist. Etliche Fragen gehören auf die europäische Ebene gehoben: der Schutz geistigen Eigentums, die Ordnung der Finanzmärkte, die Kontrolle und Interessenvertretung von Konzernen sowie die Abwehr von Industriespionage. Hierzu benötigen wir funktionierende europäische Institutionen mit klaren Mandaten. Gleichzeitig muss aber die kleinteilige Regulierungspolitik Brüssels in vielen Bereichen zurückgefahren werden, damit das dezentrale mitteleuropäische Wirtschaftsmodell und der Mittelstand auch in zehn oder zwanzig Jahren noch Bestand haben und weiter eine Stärke Europas bleiben können.
19 Mitteleuropäisches Wirtschaftsmodell und angelsächsischer Kapitalismus 253 Die Entwicklung muss in Richtung einer föderalen, aber dezentralen Europäischen Union mit zentralen Kompetenzen und Behörden in den Kernbereichen und dezentralen Freiheiten in vielen anderen Bereichen gehen. In gewisser Weise wäre das das Gegenteil der Ende der 1980er Jahre ausgearbeiteten Delors-Strategie. Auf diesem Weg müssen Frankreich und Deutschland vorangehen, denn ohne diese beiden Nationen ist in Europa kein politischer Fortschritt vorstellbar. (vgl. Otte 2011b) Im Falle des Vereinigten Königreichs sollten sich die kontinentaleuropäischen Politiker bewusst sein, dass das Land sich bis heute nicht als Teil des Kontinents versteht und oftmals eine Politik betreibt, die dem Interesse der kontinentaleuropäischen Nationen entgegengesetzt ist. Es muss also eine Koalition der Willigen auf dem Weg zu einem neuen – und wirtschaftspolitisch gesicherten und relevanten – Europa vorangehen. Österreich kann mit seinen Erfahrungen in internationaler Kooperation und Koordination signifikante Beiträge leisten und oft gemeinsam mit dem großen Nachbarn im Norden darauf drängen, dass das mitteleuropäische Wirtschaftsmodell eine Stärke Europas in der Welt bleibt.  Ursprünglich erschienen in Strategie und Sicherheit – Der Gestaltungsspielraum der österreichischen Sicherheitspolitik, bei Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co. KG, 2012. 19.7 Literatur Chandler, A. D. (1994): Scale and Scope: The Dynamics of industrial Capitalism. Cambridge. Friedberg, A. L. (2010): The Weary Titan: Britain and the Experience of Relative Decline, 1895– 1905. Princeton. Gilpin, R. (1983): War and Change in World Politics. Cambridge. Hauser, H. (1918): Germany’s Commercial Grip on the World. Her Business Methods Explained. Translated by Manfred Emanuel. London. Otte, M. (1998): The Euro and the Future of the European Union. American Council on Germany, Occasional Paper 1998, #5. New York. Otte, M. (2010a): „Finanzplatz Deutschland“ versus deutsches Bankensystem – Zwei politökonomische Perspektiven für die Zukunft. In: Frank Keuper, Dieter Puchta (Hrsg): Deutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall – Rückblick und Ausblick, S. 179–204, S. 201. Wiesbaden. Otte, M. (2010b): Volks- und Raiffeisenbanken als Stabilitätsfaktor in Wirtschaftskrisen – Eine polit- und institutionenökonomische Perspektive. In: Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen (ZfgG), 2/2010, S. 89 ff. Otte, M. (2010c): Finanztransaktionssteuer, speziell: Belastungen von Riester- und Kleinsparern durch die Finanztransaktionssteuer. Expertise von 16.05.2010 anlässlich der Stellungnahme vor dem Finanzausschuss des Bundestages am 17.05.2010. Otte, M. (2011): Stoppt das Euro-Desaster. Berlin.
254 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell Otte, M. (2012): Der Währungskrieg geht weiter. In: Handelsblatt, 6.12.2011. Online: https://www.handelsblatt.com/politik/international/krisenoekonom-otte-zu-sundp-derwaehrungskrieg-geht-weiter/5926446-all.html. Zugegriffen: 7. Januar 2012. Simon, H. (1996): Die heimlichen Gewinner. Frankfurt am Main, New York. Simon, H. (2007): Champions des 21. Jahrhunderts: Die Erfolgsstrategien unbekannter Weltmarktführer. Frankfurt.
20 Der BREXIT und andere „Unfälle“ – tiefere Ursachen und Konsequenzen für die deutsche Wirtschaft 20 Zusammenfassung Am 23. Juni 2016 geschah das Unerwartete: Die britische Bevölkerung stimmte mehrheitlich für einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Premierminister David Cameron, der sich häufig kritisch über die Europäische Union geäußert hatte, dieses Ergebnis aber bestimmt nicht wollte, bekam die Quittung für seine Politik. Das BREXIT-Referendum wie auch die Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der USA sowie das gescheiterte Verfassungsreferendum in Italien sind dabei Symptome einer tiefgreifenden Krise der globalen Ordnung. Diese Krise ist real. Sie löst Unsicherheit bei den Funktionseliten aus. Aber sie ist auch – um ein viel benutztes Klischee noch weiter zu strapazieren – eine Chance. In meinen Ausführungen werde ich die Ursachen und Manifestationen der tiefgreifenden Krise am Beispiel des BREXIT beleuchten. Ich werde zweitens argumentieren, dass Protektionismus nicht immer schlecht sein muss, sondern dass es sich, wie bei eigentlich allen politischen Entscheidungen, um eine Frage von Maß und Mitte handelt. Und ich werde drittens skizzieren, wie sich die deutsche Wirtschaft und Industrie in einem veränderten Umfeld positionieren sollen – denn neben Großbritannien hat eine ähnliche Entwicklung in den USA bereits eingesetzt. Dabei werde ich mich der etwas aus der Mode gekommenen politischen Ökonomie bedienen und berücksichtigen, dass eine Wirtschaftsordnung immer auch einen Interessenausgleich zwischen Interessengruppen und Klassen leisten muss, wenn sie auf Dauer legitim sein soll. Zudem muss auch der Ausgleich zwischen Ländern und Re- 255 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Otte, Die Finanzmärkte und die ökonomische Selbstbehauptung Europas, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23179-8_20
256 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell gionen gelingen. Damit befinde ich mich in der besten Tradition des von mir verehrten Friedrich Lists, aber auch François Quesnays, John Maynard Keynes’, Karl Marx’ und meines Lehrers Robert Gilpin. Wer, wie die meisten zeitgenössischen Ökonomen, die aktuellen politischen Phänomene ausschließlich auf individuelle Konsumund Produktionsentscheidungen zurückführen will, wird ihnen nicht gerecht. Und er wird sie nicht verstehen. Der Dekan der Wirtschaftswissenschaften der Universität Graz äußerte auf einer Veranstaltung mit heterodoxen Ökonomen und dem Verfasser im Jahr 2012, dass die Wirtschaftswissenschaften mittlerweile sehr gut darin seien, zu analysieren, wie sich Regeln auswirken. Es gäbe aber große Lücken bei den Ökonomen, zu verstehen, wie Regeln gemacht werden. Genau das ist die Aufgabe der politischen Ökonomie. Wer bestimmt die Regeln in welchem Fall, und wem nützt es? Dies ist die Kernfrage, und sie wird viel zu selten gestellt. In diesem Beitrag beleuchte ich, wie der BREXIT und verwandte Ereignisse die globalen Regeln beeinflussen könnten. The decadent international but individualistic capitalism, in the hands of which we found ourselves after the war, is not a success. It is not intelligent, it is not beautiful, it is not just, it is not virtuous – and it doesn’t deliver the goods. In short, we dislike it, and we are beginning to despise it. But when we wonder what to put in its place, we are extremely perplexed. John Maynard Keynes (1933, S. 758) 20.1 Der BREXIT als Symptom einer tiefgreifenden Krise der „liberalen Wirtschaftsordnung“ Die „vier Freiheiten“ – freier Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr – stellen neben der gemeinsamen Währung die Basis der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion dar. Bereits 1998 prognostizierte ich, dass die fehlende Balance zwischen Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr auf der einen und (faktischer) Mobilität der Arbeitskräfte auf der anderen Seite zu einer tiefgreifenden demokratischen Legitimationskrise der Institutionen der Europäischen Union und zu einem Kollaps des „alten Regimes“ („Regime“ als politikwissenschaftlich-systemtheoretischer Begriff) von Brüssel führen würde (Otte 1998). Genau dies passierte, als sich die Kapitalströme in Richtung Südeuropa mit Einsetzen der sogenannten Eurokrise umkehrten. Meine zweite Prognose, dass wir dann ein bürgernäheres und demokratisch besser legitimiertes Europa bekommen würden, harrt allerdings noch auf ihr Eintreffen. Im Gegenteil: Es sieht danach aus, dass unser Wirtschaftssystem immer unfreier wird. „Freihandel“ ist spätestens seit Unterzeichnung des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT im Jahr 1947 eine der Grundsäulen des Weltwirtschaftssystems geworden, genauso wie Freihandel die offizielle Doktrin für die Welt zwischen 1846 und 1914 war. Die Basis der Theorie der komparativen Kostenvorteile wurde von David
20 Der BREXIT und andere „Unfälle“ 257 Ricardo in seinen „Principles of Political Economy and Taxation 1817“ entwickelt. Es macht für Länder auch dann Sinn, Handel zu treiben, wenn ein Land in jedem einzelnen Waren- und Dienstleistungssektor absolute Kostenvorteile besitzt. Durch Handel würde es allen Ländern besser gehen und jedes Land würde sich auf die Güter und Dienstleistungen spezialisieren, bei denen es relative Vorteile besitzt. Dabei muss unbedingt berücksichtigt werden, dass die Debatte um Freihandel in Großbritannien vor einem sehr realen politischen Hintergrund mit realen politischen Interessen erfolgte. Das ist eine Frage, die auch bei der heutigen Diskussion angebracht ist. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten in England die adligen Großgrundbesitzer im Parlament Gesetze durchgebracht, die ab 1815 den Import von Getreide (Weizen, Hafer, Roggen) mit hohen Zöllen belegten. In Preisen von 2015 wurden damit ungefähr 200 Pfund je 13 Kilogramm Weizen („Quarter Hundredweight“) gezahlt (Wikipedia 2017). Dies schützte die Einkommen des Adels und benachteiligte sowohl Produzenten als auch Industriearbeiter. Unter den letzteren brachen regelmäßig Hungersnöte aus. Nach der großen Hungersnot in Irland in den Jahren 1845 und 1846 bekamen die Befürworter eines „Repeal“ der Getreidegesetze die Oberhand. England hob die Gesetze zum Schutz der Getreideproduzenten auf. Auch als in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Konkurrenz vor allem durch billiges amerikanisches Getreide sehr groß wurde, behielt England anders als fast alle europäischen Länder seine Freihandelspolitik bei. England war ab 1846 unbestreitbar der Champion des globalen Freihandels. Allerdings – und das ist eine der entscheidenden Voraussetzungen, die gerne von Ökonomen übersehen wird – konnte sich Großbritannien diese Freihandelspolitik nur deswegen erlauben, weil die Royal Navy zum dominanten Machtfaktor auf den Weltmeeren geworden und die Versorgung Großbritanniens mit Getreide nicht gefährdet war. Charles Kindleberger legte 1973 in seinem Buch „The World in Depression“ die Basis für das, was später „Hegemonic Stability Theory“ genannt werden sollte: „For the world economy to be stable, there needs to be a stabilizer, one stabilizer.“ (Kindleberger 2013). Ein Hegemon, eine Führungsmacht müsste die Regeln (zum Beispiel einer liberalen Weltwirtschaftsordnung) durchsetzen, von denen letztlich alle profitierten. In der Zeit nach 1846 war dies eindeutig England. Zwar würde der Hegemon spezielle Privilegien in Anspruch nehmen, aber die Stabilität und Berechenbarkeit der Wirtschaftsordnung würde letztlich allen nutzen. In der Zwischenkriegszeit 1919 bis 1939 konnte England diese Rolle nicht mehr erfüllen, und die USA wollten es nicht. In diese Zeit fielen die Große Depression sowie das Aufkommen autoritärer Regimes. Seit der Bretton-Woods-Konferenz im Jahr 1944 waren die USA der Champion einer liberalen Weltwirtschaftsordnung. Nach 1989 bestand die Hoffnung, dass durch den Zusammenbruch des Kommunismus nun die liberale Weltwirtschaftsordnung auf die ganze Welt ausgedehnt werden könne. Das Buch „The End of History“ von Francis Fukuyama symbolisierte diese Hoffnung (Fukuyama 1992). Mit dem Vertrag von Maastricht zur Etablierung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (1992), der Forcierung der Welthandelsorganisa-
258 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell tion WTO (1994), dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA (1994) sowie in jüngerer Zeit der Trans-Pacific Partnership und dem Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) schien es, als ob Fukuyamas Thesen sich erfüllten. Gleichzeitig setzen aber die USA, die Führungsmacht des Westens, zunehmend das Prinzip des Wirtschaftskriegs und der Sanktionen ein, zuletzt gegen Russland. „Wandel durch Handel“ wird zumindest teilweise wieder durch ökonomische Konfrontation ersetzt. Bereits 1971 hatten die USA durch den unilateralen Rückzug aus dem Weltwährungssytem von Bretton Woods einen ersten Schritt zur Aufgabe der alten Prinzipien gemacht. Mein Lehrer Robert Gilpin hat in War and Change in World Politics und später in The Political Economy of International Relations auf Basis der Theorie der hegemonialen Stabilität eine Zyklentheorie entwickelt, welche in einem Vier-Phasen-Schema die Fluktuationen im Grad der Offenheit und der Stabilität der internationalen Ordnung erklären soll (Gilpin 1983, 1987): 1. Durch geografische Vorteile, bessere Produktionsmethoden oder sonstige Ereignisse erlangt eine Nation eine dominante Stellung in der Weltwirtschaft. 2. Diese Nation (der „Hegemon“) nutzt seine dominante Position, um verbindliche Regeln in der Weltwirtschaft durchzusetzen, von denen sie zwar am meisten, alle anderen aber ebenfalls profitieren. 3. Auf Dauer führen die Lasten, aber auch die Privilegien der hegemonialen Rolle zu einem Schwinden der Innovations- und Produktivkräfte. 4. Neue Wirtschaftsmächte entstehen und wollen die Regeln aktiv mitgestalten. 5. In der multi- oder bipolaren Phase des Übergangs von einem Hegemon auf den nächsten ist das Weltwirtschaftssystem instabil. In der Vergangenheit ist es dann regelmäßig zu großen Kriegen gekommen, so nach 1914, als die USA und Deutschland sich anschickten, England zu beerben, oder als England Spanien und Holland vom Zentrum der Weltbühne verdrängte. Die USA stehen nicht mehr für 40 Prozent des Welt-BIP wie 1960, sondern nur noch für 20 Prozent. Aktuell macht das chinesische BIP 61 Prozent der US-amerikanischen Wirtschaftsleistung aus. Gemessen an der Kaufkraftparität ist das chinesische BIP mittlerweile sogar größer als das amerikanische (Desjardins 2015). Das Weltwirtschaftssystem befindet sich wieder in einer multipolaren Phase des Übergangs (Patton 2016). BREXIT, „America First“, internationale Unruhen und populistische Bewegungen sind Symptome dieser Phase. Wir wissen noch nicht, wie die globale Wirtschaftsordnung der Zukunft aussehen wird. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird sie sich jedoch von der aktuellen Ordnung unterscheiden. Und hoffentlich bleiben wir von größeren Kriegen, wie sie in solchen Phasen in der Vergangenheit regelmäßig aufgetreten sind, verschont.
20 Der BREXIT und andere „Unfälle“ 20.2 259 Die Zukunft: Protektionismus und Re-Nationalisierung? Letztlich waren es nicht primär wirtschaftliche Probleme, welche zum Erfolg des BREXIT-Referendums führten, sondern die Sorgen um unkontrollierte Einwanderung und nationale Souveränität. Eine Mehrheit der Briten fühlte sich nicht mehr wohl mit einer Wirtschaftsordnung, in welcher viele das Land und die Menschen betreffende Entscheidungen zunehmend außerhalb des britischen Parlaments fielen. Diese „populistischen“ Sorgen sind angesichts einer komplexen und zunehmend undurchschaubaren europäischen und globalen Wirtschaftsordnung und angesichts der Aushöhlung der Demokratie aus Sicht des Verfassers durchaus verständlich. Der Slogan „America First“ des amerikanischen Präsidenten Donald Trump zielt in eine ähnliche Richtung. Er wurde von den Medien weitgehend als eine „Kampfansage an die liberale Wirtschaftsordnung“ gesehen (Hulverscheidt 2016; von Marschall 2016). Dabei darf nach Ansicht des Verfassers durchaus die Frage gestellt werden, ob die Liberalisierung nicht zu weit gegangen, ob das Auseinanderdriften von zunehmend irrelevanter politischer Willensbildung in den Parlamenten und der Art und Weise, wie durch Lobbyismus ökonomische Entscheidungen gefällt werden, nicht kontraproduktiv ist. Im 19. Jahrhundert stellte sich für viele Ökonomen die soziale Frage, die Frage, wie es sein konnte, dass es trotz ungeahnten Wirtschaftswachstums weiter Massenarmut und Elend gab. Der neue soziale Kluft des 21. Jahrhunderts besteht zwischen den großen Kapitalvermögen und der internationalen Funktionselite in Konzernen, Investmentgesellschaften, Medien, Politik und Stiftungen – den international mobilen Produktionsfaktoren auf der einen Seite – und Arbeitnehmern, kleinerem Mittelstand oder regional gebundenen Unternehmen – den immobilen Produktionsfaktoren auf der anderen Seite. Die Frage, ob die negativen Auswüchse des globalen Hyperkapitalismus nicht so groß geworden sind, dass es zu einer weiteren, größeren Krise kommen muss, wird zunehmend gestellt (Sinn 2017; Streek 2016; Wagenknecht 2016). Internationale Kapitaltransaktionen sind in Sekundenbruchteilen möglich, Güter- und vor allem Personenströme reagieren viel langsamer. Wenn diese Asymmetrie nicht durch eine entsprechende Markt- und Wirtschaftsordnung behoben wird, sind die international mobilen Akteure gegenüber den regional und nationalen gebundenen im Vorteil. Die letzteren werden dann durch „Standortwettbewerb“ erpressbar sein. Der Mehrwert wandert in Richtung der mobilen Faktoren. Dies passiert: Finanzströme brausen ungefesselt um den Globus und führen zu massiver Fehlallokation von Kapital und Boom-BustZyklen, wie zum Beispiel in Asien nach 1997, in Irland nach der Finanzkrise 2008, in Südeuropa – verstärkt durch die Fehlkonstruktion Euro – nach 2010, mehrfach in Mexico und anderswo. Der durch diese Instabilität angerichtete Schaden ist immens. Die populistischen Forderungen (BREXIT = Great Britain First, America First) können auch so gelesen werden, dass ein Land zuerst vor seiner eigenen Haustür kehren und die eigene Wirtschaft, Gesetzgebung und Gesellschaft in Ordnung bringen sollte. Wenn Irland ein laxes Steuerregime einführt und Konzerne einfach Gesellschaften dorthin verlagern, während die Produktion woanders bleibt, ist das dysfunktional und führt zu
260 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell einer Benachteiligung der immobilen Faktoren. Die Wertschöpfung kommt dort, wo sie entstanden ist, nicht in Form von Steuern an. Gestützt durch massive Lobbymacht scheinen die Regeln aber noch weiter zu Gunsten der Kapitalseite vorangetrieben zu werden. Auch bei TTIP geht es nicht prinzipiell um „mehr Handel“ – die positiven Zusatzeffekte sind auch in den Augen der TTIPBefürworter eher bescheiden – sondern darum, dass die Regeln noch günstiger für die Kapitalseite sind.  So rechnen Erixon und Brauer mit einer dynamischen BIP-Steigerung von von 0,23 bzw. 0,47 Prozent in der EU und 0,99 bis 1,33 Prozent in den USA (nach Freytag et al. 2014). Auch die politische und rechtsstaatliche Kontrolle wird zunehmend schwieriger. Wenn auf facebook in Deutschland ggf. strafrechtlich relevante Inhalte gepostet werden, das zuständige Gericht aber in Irland ist und alle Akten erst ins Englische übersetzt werden müssen, ist das schlichtweg inakzeptabel und ein Politikversagen ersten Ranges. Hinzu kommt die Tatsache, dass die sich überlappenden Jurisdiktionen (national, Europäische Union, global) zunehmend unüberschaubarer und komplexer werden und auch die Planungssicherheit gerade für kleinere und mittlere Akteure verhindert wird. Fast fühlt man sich mit Thierry Baudet an das Mittelalter vor Einführung des Rechts- und Nationalstaats erinnert, in dem ebenfalls sich überlappende Jurisdiktionen von Kaiser und Papst um Einfluss rangen – zu Lasten von Wirtschaft und Menschen. Das Auseinanderfallen von politischer (Ohn-)Macht und wirtschaftlicher Macht wurde von John Maynard Keynes schon 1933 kritisch gesehen: Das Auseinanderfallen von Eigentum und der wirklichen Verantwortung des Managements ist schon innerhalb eines Landes ein Problem, wenn bei Aktiengesellschaften zahllose Eigentümer heute kaufen und morgen verkaufen und dabei keinerlei Wissen über und Verantwortung gegenüber dem haben, was sie gerade besitzen (Keynes 1933, S. 756). Noch schwieriger wird es laut Keynes, falls die internationale Dimension zu stark wird: „Wenn dasselbe Prinzip international angewendet wird, ist es in Zeiten der Belastungen unhaltbar und unerträglich – ich verhalte mich unverantwortlich gegenüber meinem Eigentum und die, die es managen, sind unverantwortlich mir gegenüber. Ja, es mag eine Finanzkalkulation geben, die zeigt, dass es vorteilhaft ist, wenn meine Ersparnisse im letzten Winkel der bewohnbaren Welt investiert werden, wo es den größten Grenznutzen des Kapitals oder die höchsten Zinsen gibt. Aber die Erfahrungen mehren sich, dass der Abstand zwischen Eigentum und Management ein Übel für die Beziehung zwischen den Menschen ist, der wahrscheinlich oder sogar sicherlich langfristig Spannungen produzieren wird, welche die reine Finanzkalkulation zunichte machen. (Keynes 1933, S. 756)“ Aber nicht nur zwischen immobilen und mobilen Produktionsfaktoren müssen politische Regeln für einen vernünftigen Ausgleich sorgen. Auch bei der Handelsgesetzgebung und bei der Regulierung ist zwischen verschiedenen Ländern und Wirtschaftsblöcken entwe-
20 Der BREXIT und andere „Unfälle“ 261 der echte Supranationalität oder ansonsten „Waffenparität“ geboten. Beides haben wir derzeit nicht. Insbesondere Europa scheint – mit einigen Ausnahmen in der Handelsgesetzgebung – hier zunehmend zum Objekt der Politik zu verkommen (Otte 2012). Das hat Folgen: Nicht-kontinentaleuropäische Akteure drücken Kontinentaleuropa ihre Politik auf. Diese Asymmetrien in den Verhandlungspositionen haben die USA gegenüber Europa in den letzten Jahren massiv genutzt. Mit der potenziellen Drohung, den Zugang zum größten Markt der Welt zu verschließen, wurden europäischen Konzernen die amerikanischen Regeln aufgezwungen – Siemens, Deutsche Bank und VW sind nur einige Beispiele. Die schweizerische Bankenaufsicht agiert mittlerweile fast wie eine nachgeordnete Behörde des US Department of Justice. Zudem sind die Belastungen hochgradig asymmetrisch: Während das US Department of Justice von der Deutschen Bank für Subprime-Papiere, die noch nicht einmal an Privatanleger verkauft wurden, 16 Milliarden Dollar Buße forderte, kam Wells Fargo, die eine halbe Million Konten falsch angelegt hatten, mit der höchsten Strafe davon, die jemals die amerikanische Verbraucherschutzbehörde erhoben hat: 185 Millionen Dollar (Korkey 2016). Der Gesamtschaden der VW-Affäre wird auf über 40 Milliarden Euro geschätzt (Jahberg 2015). In der GM-Affäre, in der defekte Zündschlösser 125 Menschen das Leben kosteten, betrug die Strafe eine Milliarde Dollar (Ivory und Vlasic 2015). Zudem wird Kontinentaleuropa (wo die Finanzkrise nicht ihren Ursprung hatte) mit raschen Schritten von einem bank- und kreditorientierten Wirtschaftssystem (das gut funktionierte) zu einem kapitalmarktbasierten System umgebaut (Otte 2010). Wenn allerdings eine Mannschaft, die American Football spielt, eine Fußballmannschaft zwingt, das Spiel nach ihren Regeln zu spielen, wird die Fußballmannschaft haushoch verlieren. Es mag also durchaus sinnvoll sein, die nationale Kontrolle zumindest in Teilbereichen wieder zu stärken. Auch regionale Zusammenschlüsse wie die EU können effektiv sein, wenn sie richtig konstruiert sind. Es geht eben in der realen Handelspolitik nicht nur um komparative Kostenvorteile, sondern auch darum, wie die Gewinne verteilt werden. Wirtschaftskrieg um relative Gewinne ist real. Google, facebook, Amazon & Co, hätten niemals diese Stellung in Europa erlangen können, wenn Europa mit derselben Konsequenz seine Datenschutzgesetze durchsetzen würde, wie die USA das für ihre Gesetze in anderen Bereichen gemacht haben. Das wäre nicht nur aus datenschutzrechtlichen Gründen dringend notwendig gewesen: Wenn sich einmal ein Oligopol wie im Falle der großen US-Technologiekonzerne etabliert hat, ist es schwer zu knacken. Und der Mehrwert auch der heimischen Produktion wird abgezogen, in diesem Fall zum Beispiel von den europäischen Telekomkonzernen. So haben im Wesentlichen nur Russland (Yandex) und China (Baidu, Tencent) eigene Internetgiganten, obwohl Europa über einen Binnenmarkt verfügt, der größer ist als der chinesische. In Deutschland propagierte Friedrich List die Idee von Schutzzöllen zur Entwicklung einer eigenen Industrie und legte diese Ideen ausführlich in seinem Hauptwerk „Das nationale System der politischen Ökonomie“ (List 1930) dar. Wenn das „System der Produktivkräfte“ hinreichend entwickelt sei, könne man sich zunehmend dem Wettbewerb stellen. Zuvor hatte in den USA bereits 1791 Alexander Hamilton in seinem Be-
262 Teil 3 Finanzkapitalismus und europäisches Wirtschaftsmodell richt an den amerikanischen Kongress ähnliche Ideen vertreten. Ein Land müsse einen Gemeinwohlvertrag zum Wohle seiner Bürger abschließen. Auch diesen Vorschlägen lag die Vorstellung zugrunde, dass internationaler Handel auf Basis der Parität der Akteure unter Regeln zu erfolgen habe, die einen fairen Interessenausgleich bewirken. 20.3 Ein Kompass für die deutsche Industrie und Politik in einer Ära steigender Unsicherheit Deutschland ist wie keine andere große Wirtschaftsnation mit der Weltwirtschaft verflochten. Alle Strukturveränderungen im Weltwirtschaftssystem werden uns zuerst stark (be)treffen. Der BREXIT ist nur ein Symptom der Krise der globalen Handelsordnung. Die Grenzausgleichssteuer (Border Adjustment Tax, BAT), die zum Beispiel in den USA im Gespräch ist, wäre eine Maßnahme, die die deutsche Wirtschaft weitgehend stärker treffen würde (Tully 2017). Mit Exporten nach Großbritannien von 89 Milliarden Euro und Importen von 38 Milliarden Euro im Jahr 2015 war Großbritannien der drittgrößte Handelspartner Deutschlands. Der Handel mit den USA liegt um 40 Prozent höher. Viele Produkte der deutschen Industrie haben Alleinstellungsmerkmale und sind relativ wenig preissensitiv. Auch nach einem erfolgten BREXIT sehe ich hier keine allzu große Beeinträchtigung des deutschen Außenhandels, zumal Großbritannien viele Industrien einfach weitgehend fehlen. Selbst im Szenario des „harten BREXIT“ würde Großbritannien versuchen, einen liberalen Handelsvertrag mit der EU zu schließen und die offenen Gütermärkte zu bewahren. Es ist dennoch richtig, dass sich Deutschland und die Europäische Union grundsätzliche Gedanken zu ihrer Strategie in einer sich verändernden Welt machen sollten. Dazu müssen europäische und deutsche Positionen entwickelt werden. 1. Bilateralismus und gesamteuropäische Politik: Mit dem BREXIT und America First hat der Bilateralismus einen Schub bekommen. Bilateralismus muss nicht schlecht sein, aber er muss in geordneten Bahnen ablaufen. Nationale Akteure sind allerdings schneller und wendiger als supranationale. Die Europäische Union und die Mitgliedstaaten werden sich darüber klar werden müssen, ob sie weiter gemeinsam als EU in diese Verhandlungen gehen wollen. Wenn das der Fall ist, müssen die Kompetenzen der entsprechenden Organe deutlich ausgeweitet werden. 2. Waffenparität bei Handelspolitik und Standards: Während die USA durch globale Anwendung nationalen Rechts Fakten schaffen, hat die Europäische Union dem nicht viel entgegenzusetzen. Das Ziel kann auch für die Europäische Union nur sein, den Marktzugang als Pfand für faire Lösungen einzusetzen. Hierzu gehört auch die Schaffung eines begünstigten Heimatmarktes für Technologiekonzerne. Eine Maßnahme wie die BAT (Border Adjustment Tax), die in den USA für Waren diskutiert wird,
20 Der BREXIT und andere „Unfälle“ 263 kann genauso gut bei Dienstleistungen erhoben werden. Bei der Border Adjustment Tax würde nicht der mit Importen erzielte Gewinn besteuert, sondern der Umsatz. Genauso gäbe es Steuervorteile für Exporte. Bei Waren wäre dies nachteilig für Europa bzw. Deutschland, bei Dienstleistungen für die USA. 3. Die wichtigeren Debatten mit Großbritannien werden sich um die Freizügigkeit von Personen- und Dienstleistungsverkehr drehen, insbesondere um Finanzdienstleistungen. Es kann nicht übersehen werden, dass Deutschland als die größte Wirtschaftsnation Europas mit dem Finanzplatz Frankfurt zunehmend als Finanzplatz auf einen nachrangingen Platz verwiesen wurde. In Europa ist London Finanzplatz Nummer eins. Dies ist umso paradoxer, als Großbritannien bis heute nicht Mitglied der Eurozone ist. Der BREXIT gibt Deutschland nun die Chance, den Finanzplatz wieder zu stärken. Ein erstes Opfer des BREXIT ist wahrscheinlich die Fusion der London Stock Exchange mit der Frankfurter Börse. Die Eigentümer haben ihre Zustimmung zu dieser Fusion zurückgezogen, seitdem klar ist, dass nach einem BREXIT nicht London alleine Standort der Muttergesellschaft sein kann. Die hessische Landesregierung sowie der Verfasser sehen darin eine Chance, den Finanzplatz Frankfurt zu bewahren (BILD 2017). Der BREXIT bietet damit die Chance, die Finanzmarktordnung zu überdenken und für Deutschland und Kontinentaleuropa angemessen zu gestalten. Dabei gilt es auch, zu berücksichtigen, dass Kontinentaleuropa ein eher kredit- als kapitalmarktbasiertes Finanzsystem hat. 4. Kerneuropa: Aktuell wird die Idee eines „Kerneuropa“, eines „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ von Jean-Claude Juncker und Angela Merkel wiederbelebt. Nach dieser Idee sollen einige Staaten bei der Integration vorangehen können und andere folgen später. Erstmalig wurde sie von Karl Lamers und Wolfgang Schäuble 1994 vertreten, von Helmut Kohl damals aber vehement abgelehnt. Nun scheint die Zeit reif für eine Renaissance, und für den Verfasser überwiegen hier die Chancen. Zwar sind auch hier die Schwierigkeiten enorm, aber eine Kerngruppe von EU-Ländern hätte zumindest die Chance, in einigen Bereichen voranzuschreiten. Zu diesen Punkten sollten sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die Europäische Union unverzüglich eine Strategie entwickeln. Sonst setzt sich die Marginalisierung Europas fort.  Ursprünglich erschienen in List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik (43:1), Springer Gabler, 2017.
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