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Sayfo – Das Jahr des Schwertes
SCHOLA NISIBINA BEṮ SEFRO DA-NṢIḆIN Herausgegeben von der Forschungsstelle für Aramäische Studien BAND 2
Dorothea Weltecke und Boris Barth (Hrsg.) Sayfo – Das Jahr des Schwertes Herausgegeben unter Mitarbeit von Dominik Giesen, Ralph Barczok und Zeki Bilgic
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Horst Oberkampf ISBN 978-3-631-76854-9 (Print) E-ISBN 978-3-631-77400-7 (E-PDF) E-ISBN 978-3-631-77401-4 (EPUB) E-ISBN 978-3-631-77402-1 (MOBI) DOI 10.3726/b15491 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Berlin 2019 Alle Rechte vorbehalten. Peter Lang – Berlin · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Diese Publikation wurde begutachtet. www.peterlang.com
Dorothea Weltecke Vorwort Abstract: The Research Centre of Aramaean Studies organized a conference with the title “The genocide on the Aramaic community (Syriac Christians) in the Ottoman Empire and ottoman occupied Iran (1914–1918)” from 29th–30th May 2015 at the HU Berlin. The publication contains most of the papers of the conference. Am 2. Juni 1915 erreichten die Vernichtungsaktionen gegen Christen in der spätosmanischen Türkei die Stadt Nisibis, einst eine zentrale Stätte der Gelehrsamkeit der Kirchen syrischer Tradition und der aramäischen Sprache. Im Jahr 2015 wurde dieser Tag zum ersten Mal zum Gedenken an den Genozid an den Aramäern/Assyrern/Chaldäern in Berlin begangen, um für die besonderen Erfahrungen und Gedanken Raum zu bieten. Als Gedenktag wurde auf der Synode der syrisch-orthodoxen Kirche in Beirut vor drei Jahren der 15. Juni als offizieller Gedenktag angenommen; auch die syrisch-katholische Kirche hat sich inzwischen angeschlossen. Vertreter anderer Kirchen der syrischen Tradition nehmen an den Feierlichkeiten teil, deren ökumenischer Ansatz für ihr Selbstverständnis wesentlich ist. Zugleich wurde in Gemeinschaft mit Griechen und Armeniern in der Ökumenischen Gedenkstätte auf dem Luisenkirchhof in Berlin-Charlottenburg ein gemeinsames Mahnmal geschaffen, um der gemeinsamen Trauer einen Ort zu geben. Konzeption und Durchführung für dieses Mahnmal lag und liegt in den Händen der „Fördergemeinschaft für eine ökumenische Gedenkstätte für die Genozidopfer im Osmanischen Reich e.V. (FÖGG)“. Dieser Genozid bedarf jedoch auch der wissenschaftlichen Erforschung. Während an der Tatsache des Verbrechens wissenschaftlich kein Zweifel besteht, steht die Analyse der besonderen Aspekte noch am Anfang: Die spezifischen Hintergründe und die politischen und religiösen Konstellationen in den von Aramäern/Assyrern/Chaldäern bewohnten Orten, die Formen der Gewalt und die genauen Opferzahlen müssen untersucht werden. Haben sich etwa die Erfahrungen der Aramäer/Assyrer/Chaldäer von
6 Dorothea Weltecke denen der Griechen oder der Armenier unterschieden? Waren die legitimierenden Argumente und die Formen der Verfolgungen sowie die zeitlichen Abläufe für die aramäischsprachigen Christen ähnlich oder verschieden? Wie waren die sozialen Lebensumstände der Aramäer/Assyrer/Chaldäer im Vergleich mit denen von Armeniern und Griechen? Wie haben sie selbst die Ereignisse erfahren und verarbeitet und welche Nachwirkungen sind zu verzeichnen? Diese Fragen wurden auf einer Tagung in Berlin gestellt, die von der Forschungsstelle für Aramäische Studien (seinerzeit Konstanz, jetzt Frankfurt am Main) in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Karl-Heinz Ohme an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin durchgeführt wurde. Sie fand vom 29. bis 30. Mai 2015 unter dem Titel „Der Genozid an der aramäischen Gemeinschaft (Syrische Christen) im Osmanischen Reich sowie im osmanisch besetzten Iran (1914–1918)“ in Berlin statt. Die Theologische Fakultät mit ihrer konfessionskundlichen Tradition ist seit Langem wichtig für die Erforschung der syrischen Kirchen, und Herrn Prof. Dr. Karl-Heinz Ohme ist herzlich für seine Partnerschaft in dieser Veranstaltung zu danken. Die Veranstaltung wäre auch ohne die Arbeiten von Prof. Dr. Tessa Hoffmann und Amill Gorgis nicht zu denken, die sich seit vielen Jahren für diese Problematik politisch engagieren und dazu publizieren. Die meisten Beiträge dieser Veranstaltung wurden für die Publikation überarbeitet und in einem Nachwort von Prof. Dr. Boris Barth wissenschaftlich in den Rahmen der historischen Genozidforschung eingeordnet. Ich bin sehr froh, dass er sich mit seiner Expertise an der Herausgabe dieses Bandes beteiligt. Dieser erscheint etwa zeitgleich mit weiteren Sammelbänden zu diesem Thema, die als Grundstock gesehen werden sollten, auf den weitere Forschungen aufbauen können. Diese wissenschaftliche Anstrengung hat auch eine politische Seite. Die in den letzten Jahren in Deutschland intensiv erfolgte Diskussion zur Anerkennung des Völkermordes und des historischen Umgangs stellte die Beziehung zwischen der Türkei und den Nachkommen des Völkermordes in den Mittelpunkt. An dieser Stelle entzündeten sich politische Kontroversen, werden Anstrengungen zur Versöhnung angeboten oder sogar angemahnt. Auch das Verhältnis der heutigen Türkei zum heutigen Deutschland wurde hier zum Thema. Der Deutsche Bundestag und die
Vorwort 7 deutsche Öffentlichkeit möchten sich schließlich, trotz der eingeräumten Mitschuld des Deutschen Reiches, als Vermittler zwischen den Nachkommen des Völkermordes und der Türkei anbieten und zur Versöhnung beitragen. Dieses Angebot wird allerdings erst dann überzeugen können, wenn sich die deutsche Öffentlichkeit und die historische Wissenschaft sehr viel stärker darüber bewusst werden, dass sie gefordert sind, die eigene Rolle zu hinterfragen. Ab Mai 1915 erreichten Nachrichten über die Massaker an Christen im Osmanischen Reich die Weltöffentlichkeit. Die englischen, französischen und russischen Regierungen kündigten an, die beteiligten türkischen Regierungsmitglieder zur Verantwortung ziehen zu wollen und klagten auch die deutsche Regierung als Mittäter an. Die deutsche Regierung versuchte zu lavieren, um in der westlichen Welt ihr Gesicht zu wahren und zugleich an der militärischen Zusammenarbeit festzuhalten. Deutsche Offiziere sollten im Vorderen Orient kämpfen, aber sie sollten sich aus den Massakern heraushalten. Diese Strategie war praktisch nicht durchzuhalten. Deutsche Offiziere waren am Völkermord von 1915 insofern durch mehr als Mitwisserschaft und Untätigkeit beteiligt, als sie militärisch kreativ im Sinn der gemeinsamen Ziele auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches handelten. Von den öffentlich und wissenschaftlich sehr viel bekannteren und anerkannten Bemühungen von Johannes Lepsius und anderen abgesehen, ist also festzustellen, dass der Völkermord von 1915 keineswegs nur das Verhältnis zwischen der Türkei und den Aramäern/Assyrern/Chaldäern belastet, sondern es belastet auch das Verhältnis zwischen den Letzteren und den Deutschen. Das zeigen die Augenzeugenberichte, von denen einer in diesem Band vorgestellt wird. Es scheint, dass die deutschen Historiker grundsätzlich umdenken müssen, um das Problem der historischen Analyse des Völkermords nicht mehr als einen Sachverhalt zu betrachten, der sie als Wissenschaftler und Bürger nicht direkt betrifft. Auch dazu möchte dieser Band beitragen, der, wie der erste Beitrag in dieser Reihe, wieder sowohl von erfahrenen als auch von jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bestritten wird. Die aktive Beteiligung von Forscherinnen und Forschern in der Qualifikationsphase zeigt, dass künftig mehr in diesem Bereich zu erwarten sein wird, und dies lässt hoffen.
8 Dorothea Weltecke Ich danke neben dem Mitherausgeber und den Mitarbeitern der Forschungsstelle auch den wissenschaftlichen Mitarbeitern Dr. Heiko Conrad, Dr. Magnus Ressel und Markus Stich, M.A., sehr herzlich für fruchtbare Diskussionen und ihren Beitrag zu diesem Band. Frankfurt, im Oktober 2017.
Inhaltsverzeichnis Joachim Jakob Das Ende einer Koexistenz. Das Verhältnis zwischen Kurden und ostsyrischen Christen vor dem Hintergrund der zerfallenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung in Ostanatolien im 19. Jahrhundert ..................................................................................   11 Tessa Hofmann Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen im Iran und Osmanischen Reich 1914 bis 1918 .....................................................   55 Amill Gorgis Al-qusara fi nakbat an-Nasara – „Das Äußerste in den Katastrophen der Christen“ ...............................................................   87 Martin Tamcke Die Stationen der deutschen Orientmissionen im Sayfo ...................... 103 Volker Metzler Mission M/macht Politik: Die OIK und ihre Einflussarbeit hinsichtlich der armenischen Frage 1918 ............................................ 125 Andreas Schmoller „Sayfo continues today“: Erinnerungsdiskurse und Identität im Kontext von Syrienkrieg und „Islamischen Staat“ .............................. 141 Boris Barth Der Sayfo im Rahmen der internationalen Genozidforschung ............ 175

Joachim Jakob Das Ende einer Koexistenz. Das Verhältnis zwischen Kurden und ostsyrischen Christen vor dem Hintergrund der zerfallenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung in Ostanatolien im 19. Jahrhundert Abstract: Under the local rule of the Kurdish emir Bedīrḫān massacres on the East Syriac Christians took place in the years 1843 and 1846. These events shattered their antecedent modus vivendi. The article discusses the impact these events had on the relationship between Christians and Kurds. Die Apostolische Kirche des Ostens ist nur den wenigsten westlichen Christen ein Begriff, obwohl sie eine reiche und vielseitige Tradition vorzuweisen hat. Ähnlich verhält es sich mit dem Schicksal ihrer Mitglieder, den ostsyrischen Christen,1 während des Ersten Weltkriegs, das im kollektiven Bewusstsein vom 1 In der Literatur werden unterschiedliche Begriffe für die ostsyrischen Christen verwendet. In älteren Publikationen werden sie in der Regel als „Nestorianer“ bezeichnet, was aber sachlich unzutreffend ist. Jüngeren Datums ist der Terminus „Assyrer“, der zum Ausdruck bringen soll, dass es sich um die Nachfahren des antiken Volkes der Assyrer handele. Dieser Begriff war aber die längste Zeit nicht die vorherrschende Selbstbezeichnung der ostsyrischen Christen und wurde erst ab dem 19. Jahrhundert durch westliche Missionare populär gemacht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm die Kirche des Ostens das Adjektiv „assyrisch“ offiziell in ihren Namen auf (zur Geschichte der Verwendung des Begriffs „Assyrer“ für die ostsyrischen Christen cf. Butts, Assyrian Christians, 599–612). Ich verwende hier die Bezeichnung „ostsyrische Christen“, weil der Begriff „Assyrer“ in der hier behandelten Epoche keine geläufige Eigenbezeichnung war. Außerdem unterstellt die Benennung „Assyrer“, dass es sich um die Angehörigen einer Nation handele, was aber in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht dem Selbstverständnis der ostsyrischen Christen entsprach: Sie waren zwar Anhänger einer Kirche, lebten in der Hakkārī-Region aber in clanartigen Strukturen. Diese scheinen ihre primäre Identität gebildet zu haben, denn selbst angesichts der Bedrohung durch den kurdischen Emir
12 Joachim Jakob Genozid an den Armeniern dominiert wird. Die Massaker an den ostsyrischen Christen im Ersten Weltkrieg2 verliefen auch mit kurdischer Beteiligung, was die Frage aufwirft, weshalb ein nicht unerheblicher Teil der Kurden sich gegen die ostsyrischen Nachbarn stellte. Ein Blick auf die vorangegangene Geschichte des Verhältnisses zwischen den Kurden und den ostsyrischen Christen zeigt, dass dieses ab den 1840er Jahren eine neue Qualität erreichte, da für die Zeit davor keine gewaltsamen Ausschreitungen größeren Umfangs gegen die ostsyrischen Christen bekannt sind. Im Folgenden wird daher untersucht, wie es zu den Massakern an den ostsyrischen Christen durch den kurdischen Emir Bedīrḫān3 (‫ بدير خان‬oder auch ‫ )بدر خان‬in den Jahren 1843 und 1846 kam, und welche Auswirkungen diese Ereignisse auf die weitere Entwicklung des Verhältnisses zwischen ostsyrischen Christen und Kurden hatten. Um diesen Fragen nachzugehen ist es notwendig, den größeren politischen und sozialen Kontext der Koexistenz von ostsyrischen Christen und Kurden im Osmanischen Reich zu erläutern. Deshalb wird zuerst die Stellung der ostsyrischen Christen in den Machtstrukturen Kurdistans behandelt. Daran schließt sich ein Überblick über die Folgen der Massaker sowie ein Ausblick auf die weitere Entwicklung des Verhältnisses zwischen ostsyrischen Christen und Kurden bis zur Jahrhundertwende 2 3 Bedīrḫān Bey standen sie einander nicht bei. Der Bezug auf die jeweilige lokale Gruppe war offensichtlich wichtiger als die Zugehörigkeit zu einer – wie auch immer definierten – übergeordneten Gruppe der „Assyrer“. Die Bezeichnung „ostsyrische Christen“ orientiert sich dagegen an dem in der Kirche des Ostens verwendeten aramäischen Dialekt der antiken Stadt Edessa, der auch als „Syrisch“ bezeichnet wird. Im 19. Jahrhundert kommunizierten nur noch die wenigsten ostsyrischen Christen in dieser Sprache – Neuaramäisch, Kurdisch, Türkisch oder Arabisch hatten sich längst als Alltagssprachen durchgesetzt. Das klassische Syrisch blieb aber die Liturgiesprache der Kirche des Ostens. Cf. die derzeit umfassendsten Darstellungen zu dieser Thematik: Gaunt, Massacres; Hellot-Bellier, Chroniques de massacres annoncés, 411–567. In kurdischer Transliteration Bedīrxān. Die Transliteration osmanisch-türkischer Namen und Begriffe orientiert sich in diesem Beitrag an dem System der İslâm Ansiklopedisi (İA), das sich bei einigen Konsonanten vom System der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG), welches für die anderen orientalischen Sprachen bevorzugt wird, unterscheidet. Titel und Begriffe, die sich bereits im Deutschen eingebürgert haben, folgen der deutschen Schreibung, so z. B. Pascha (‫)پاشا‬, Scheich (‫)شيخ‬, Schah (‫ )شاه‬oder Osmanen (nach dem Dynastiegründer ‫)عثمان‬.
Das Ende einer Koexistenz 13 an. Dabei entwickelt dieser Aufsatz eine zentrale These: Die Massaker der 1840er Jahre sind eng mit der Aufhebung der traditionellen Ordnung in der Region im Zuge der Tanẓīmāt-Reformen verbunden. Die Geschichte der ostsyrischen Christen und ihrer Kirche in der Zeit des Osmanischen Reiches wurde bisher kaum erforscht.4 Zu den wichtigsten Quellen für das 19. und frühe 20. Jahrhundert zählen die Berichte westlicher Missionare, die unter den ostsyrischen Christen wirkten. HansLukas Kieser zufolge sind solche Berichte von besonderer Bedeutung, weil die Missionare sich in der Regel deutlich länger in Ostanatolien aufhielten als westliche Diplomaten und Reisende, aber auch länger als die Repräsentanten der osmanischen Zentralregierung, die relativ häufig versetzt wurden. Allerdings waren gerade die publizierten Missionarsberichte, die sich an die Öffentlichkeit ihrer Heimatländer richteten, mit Intentionen wie der Werbung um Spenden und Interessenten für die Mission verbunden.5 Wenngleich die Kurden in den Missionsquellen laut Kieser in der Regel „bloss illustrierende, kontrastierende oder exotische Anhängsel eines Hauptdiskurses, der von anderen – den missionarischen Akteuren und den christlichen Minderheiten – handelt“,6 sind, so wird sich doch zeigen, dass 4 5 6 Als wichtige Monographien jüngeren Datums sind zu nennen: Murre-van den Berg, Scribes and Scriptures; Hellot-Bellier, Chroniques de massacres annoncés (Standardwerk für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert); Joseph, Modern Assyrians; Wilmshurst, Ecclesiatical Organisation (Standardwerk zur Organisation der Kirche des Ostens in osmanischer Zeit); Jakob, Ostsyrische Christen und Kurden. Cf. Kieser, Der verpasste Friede, 28–30. Kieser, Zwischen Ararat und Euphrat, 118. Die hier untersuchten Quellen vermitteln meistens ein negatives Bild von den Kurden, die in der Regel als unzivilisierte Räuber dargestellt werden. Der amerikanische Missionar Frederick Coan (1859–1943), der wichtige Augenzeugenberichte zum Völkermord an den Armeniern lieferte, meinte beispielsweise, das Bergland sei “an excellent base for the depredations constantly made by the Kurds on their neigh­ bors, chiefly the Christian Assyrians and Armenians” (Coan, Missionary Life, 55). Weiterhin stellte er in seinem Buch über sein Leben als Missionar im Nahen Osten fest: “The Kurds’ greatest delight is to go on a raid” (ibid., 57). Diese Urteile lassen sich leicht um weitere Beispiele ergänzen (cf. Jakob, Ostsyrische Christen und Kurden, 164–193). Gleichwohl betonte Coan auch, dass es „gute“ und „schlechte“ Kurden gebe (cf. Coan, Missionary Life, 60). Das Problem ist dabei weniger, dass die Missionare Überfälle von
14 Joachim Jakob die Missionare durchaus über Prozesse Auskunft gaben, die für andere Bevölkerungsgruppen als die ostsyrischen Christen besser erforscht sind. Die Erforschung der Geschichte der Kirche des Ostens im 19. Jahrhundert beruht zu einem großen Teil auf den Berichten von ausländischen Missionaren und Diplomaten. Das Verhältnis der ostsyrischen Christen zu ihren kurdischen Nachbarn interessierte die moderne Wissenschaft aber meist nur am Rande. Ferner fehlen umfassende Untersuchungen zu den Auswirkungen der osmanischen Politik auf die Beziehungen zwischen diesen beiden Gruppen. Im Folgenden werden daher diese Auswirkungen der osmanischen Politik auf das kurdisch-ostsyrische Verhältnis anhand von Missionarsberichten beleuchtet, wobei auf Forschungen zur osmanischen Politik in Ostanatolien während des 19. Jahrhunderts zurückgegriffen wird. Die so aufgezeigte Entwicklung kann möglicherweise Rückschlüsse auf die Beteiligung von Kurden bei den Massakern an den ostsyrischen Christen im Ersten Weltkrieg zulassen. 1 Die ostsyrischen Christen am Beginn des 19. Jahrhunderts Seit dem 14. Jahrhundert war der Kirche des Ostens – mit Ausnahme der Thomas-Christen in Indien – angesichts der politischen Rahmenbedingungen nur noch das abgeschiedene nordmesopotamische Bergland verblieben, in dem sie sich zu einer durch tribale Strukturen geprägten Gemeinschaft entwickelt hatte. Zugleich unterhielten die Ostsyrer auch Kontakte zu den indischen Christen und zur katholischen Kirche. Aus den Beziehungen zu Rom gingen mehrere kirchliche Unionen hervor, Kurden auf Christen erwähnen, denn diese waren nach ihren übereinstimmenden Berichten eine Realität. Hierbei wurden die sozialen Strukturen im Hintergrund aber nicht reflektiert. Ebenso gingen die Missionare nicht auf die Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen, die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen hervorriefen oder verstärkten, ein. Mitunter finden sich auch sehr einseitige Geschichtsdeutungen, die das Leben der Christen seit Beginn der islamischen Herrschaft als leidvoll charakterisieren. So schrieb etwa Frederick Coan vor dem Hintergrund der Massaker an den ostsyrischen Christen in den 1840er Jahren: “For nearly fifteen hundred years the history of this ancient Nestorian Church has been one long, monotonous story of suffering, flight, exile, and massacre for Christ’s sake” (ibid., 218).
Das Ende einer Koexistenz 15 die schließlich zur Entstehung der chaldäisch-katholischen Kirche führten.7 Somit lebten viele ostsyrische Christen bis zum Ersten Weltkrieg in einer Region, deren Bevölkerung großenteils kurdischer Herkunft war. Am Beginn des 16. Jahrhunderts eroberten die Osmanen unter Sultan Selīm I. (1512–1520)8 den überwiegenden Teil Kurdistans. Angesichts der Grenze zum benachbarten Ṣafavīden-Reich, die durch das kurdische Siedlungsgebiet verlief, und aufgrund der kaum zu gewährleistenden Kontrolle der Region ließen die Osmanen die kurdischen Fürsten (‫مير‬, mīr) weitgehend unabhängig agieren.9 Unter diesen von den Großmächten relativ unberührten Rahmenbedingungen gestalteten die in der Region lebenden Bevölkerungsgruppen ihre Beziehungen zueinander selbst. Die Patriarchen der Kirche des Ostens führten seit dem 17. Jahrhundert jeweils den Namen Mār Šemʽōn und residierten in dem Bergdorf Qūdšānīs (syrisch: oder ),10 das zum kurdischen Fürstentum Hakkārī (syrisch: ܼ) gehörte.11 Ob die Kirche des Ostens im Osmanischen Reich offiziell als selbstständige Religionsgemeinschaft mit eigenen Rechten (osmanisch: ‫ملت‬, millet) anerkannt wurde, lässt sich aus den Quellen nicht mehr eindeutig erschließen, gilt in der heutigen Forschung aber als unwahrscheinlich. Die ostsyrischen Christen beharrten wohl auf ihrer 7 8 Cf. Murre-van den Berg, Church of the East. Die Jahreszahlen beziehen sich in diesem Beitrag bei Patriarchen und weltlichen Herrschern jeweils auf den Beginn und das Ende ihrer Regierungszeit. Bei allen anderen Personen werden das Geburts- und das Todesjahr angegeben. 9 Zur Eingliederung Kurdistans in das Osmanische Reich und zu der Sonderstellung der Region innerhalb desselben cf. vor allem van Bruinessen, Ottoman Conquest; Tezcan, Development of the Use of „Kurdistan“, 543–549; cf. ferner auch Ateş, Ottoman-Iranian Borderlands, 37–42; Behrendt, Nationalismus in Kurdistan, 96–98; van Bruinessen, Agha, Scheich und Staat, 183–190 und 206–211; Kartal, Rechtsstatus Kurden, 26–34; McDowall, A Modern History, 25–29; Özoğlu, Kurdish Notables, 47–57; Strohmeier/Yalçın-Heckmann, Kurden, 63–67. 10 Zur syrischen Schreibweise cf. Maclean, Dictionary, 272. Youel A. Baaba nennt ܵ ‫ܩܘ‬, nur die offenbar verbreitetere Schreibweise ‫ܕܫ ̣ܢܝܣ‬ ̣ cf. Baaba, Assyrian Homeland, 52 (syr.). Verschiedene Schreibweisen in der westlichen Literatur: Qud­ shanes, Qudshanis, Kochanes, Koçanis. Seit 1960 lautet der offizielle türkische Ortsname Konak. Alle folgenden syrischen Bezeichnungen orientieren sich an den Schreibweisen bei Maclean und/oder Baaba. 11 Cf. Wilmshurst, Ecclesiastical Organisation, 295.
16 Joachim Jakob Unabhängigkeit innerhalb des Osmanischen Reiches und suchten eher Unterstützung durch ausländische Missionare als eine Integration in das millet-System.12 Die ostsyrische Bevölkerung setzte sich aus zwei Gruppen zusammen: den Mitgliedern von unabhängigen seminomadischen Clans ( ʽāšīrat) und den rāʽyat ( Untertanen).13 Die ʽāšīrat bestanden aus fünf 12 Cf. Merten, Nestorianische Millet. Zur Forschungskontroverse um das milletSystem cf. Papademetriou, Render unto Sultan, 19–62. 13 Zu den syrischen Schreibweisen und den arabischen, türkischen, persischen und kurdischen Pendants – ‫( عشيرة‬Arabisch) bzw. ‫( عشيرت‬Türkisch und Kurdisch) und ‫( رعايا‬im Arabischen Plural zu ‫ – )رعية‬cf. Maclean, Dictionary, 244 und 295. In der Forschung werden die ostsyrischen ʽāšīrat häufig als ‚Stämme‘ bezeichnet. Denn die Kritik, die seit den 1960er Jahren an dem Begriff ‚Stamm‘ geübt worden ist und zu seinem Verschwinden aus vielen Forschungsfeldern geführt hat, wird für den geographischen Kontext des Nahen und Mittleren Ostens als weitgehend unzutreffend erachtet, insofern der Terminus ‚Stamm‘ hier keine pejorative Bedeutung hat, sondern vielmehr dem Selbstverständnis von Gruppen entspricht, die ihre Herkunft auf einen gemeinsamen Ahnen zurückführen. Die Zugehörigkeit zu einem ‚Stamm‘ schließt für die Betroffenen zudem die Integration in größere religiöse oder staatliche Strukturen nicht aus (zur Verwendung des Stammesbegriffs in diesem Zusammenhang angesichts der Kritik an dem Terminus cf. Kraus, Islamische Stammesgesellschaften, 27–45; zur Problematik des Begriffs cf. auch Beck/Huang, Tribes, 390–392). Wolfgang Kraus kommt so etwa zu dem Schluss: „Die Anwendung der Bezeichnung ‚Stamm‘ auf Einheiten dieser Art erhebt also nicht die zu Recht getadelten Ansprüche eines globaleren Stammesbegriffes und hat auch nicht dessen abwertenden Beigeschmack. Die meisten Autoren sind sich daher einig, dass eine solche Anwendung des Begriffes zulässig und sinnvoll ist“ (Kraus, Islamische Stammesgesellschaften, 44). Im Nahen und Mittleren Osten werden allerdings verschiedene Termini verwendet, die in der wissenschaftlichen Literatur als ‚Stamm‘ übersetzt werden. Dabei kann der Gebrauch und die Bedeutung dieser autochthonen Begriffe je nach Kontext variieren (cf. Beck/Huang, Tribes, 391). So kann das arabische Wort ʽašīra sowohl im Sinne von ‚Stamm‘ als auch als Untergruppe (Clan) eines solchen gemeint sein (cf. Lecerf, ʽAshīra, 700), generell bezeichnet es aber eher eine Untergruppe oder zumindest eine zahlenmäßig kleinere Gruppe als der Ausdruck qabīla (‫)قبيلة‬, der im Arabischen häufig für ‚Stamm‘ verwendet ܵ wird (cf. Chelhod, Ḳabīla, 334–335) und dessen syrisches Synonym ‫ܒܝ ܵܠܐ‬ ܼ ‫ ܩ‬ist (cf. Maclean, Dictionary, 269). Daher ist der syrische Begriff ʽāšīrat vielleicht besser mit ‚Clan‘ als mit ‚Stamm‘ wiederzugeben. Aufgrund der Konventionen der Geschichtswissenschaft wird der Begriff ‚Stamm‘ in diesem Beitrag aber auch für entsprechende Gruppierungen von Kurden oder Arabern vermieden.
Das Ende einer Koexistenz 17 Gruppen: Der größte ostsyrische Clan waren die Ṭyārī ( = OberṬyārī, = Unter-Ṭyārī), weitere waren die Dīz ( oder ), Ǧīlū ( ), 14 Bāz ( ) und Tḥūmā . Kleinere Clans waren diesen großen Gruppen teilweise unterstellt. Während diese Seminomaden im Bergland lebten, siedelten die rāʽyat in den Ebenen und waren Untertanen von kurdischen oder osmanischen Herren. Gänzlich christliche Dörfer verfügten über ein eigenes christliches Dorfoberhaupt (kōḥā oder kōḥāyā, oder ),15 welches in der Regel der wohlhabendste Mann des Dorfes war.16 Die Einteilung in ʽāšīrat und rāʽyat galt auch für die Kurden. Christen im Einflussbereich eines kurdischen Clanoberhauptes (‫اغا‬, aġā) waren diesem unterstellt. Umgekehrt waren muslimische Kurden, die im Gebiet eines ostsyrischen Clanführers ( , mālek) lebten, diesem untertan. Der Emir von Hakkārī bestätigte als übergeordnete Autorität sowohl die kurdischen als auch die ostsyrischen Anführer in ihren Ämtern. Zwei tribale Konföderationen, der „rechte Flügel“ und der „linke Flügel“, erwiesen sich als stabilisierender Faktor für das christlich-muslimische Verhältnis in der Hakkārī-Region: Beiden gehörten sowohl kurdische als auch ostsyrische Clans an.17 Am Beginn des 19. Jahrhunderts lebten die ostsyrischen Christen in der Region zwischen dem Vān-See im Westen und dem Urmia-See im Osten. Durch ihr Siedlungsgebiet verlief die Grenze zwischen dem Osmanischen Reich und dem Iran.18 Obwohl schon im Vertrag von Erzurūm (1639) eine 14 Cf. Wilmshurst, Ecclesiastical Organisation, 285. Eine Beschreibung der jeweiligen Siedlungsgebiete bietet: Chevalier, Montagnards chrétiens, 90–124. 15 Zum syrischen Wort cf. Maclean, Dictionary, 126. 16 Cf. Becker, Revival, 46–47. 17 Cf. Talay, Zusammenleben, 162–163. 18 Von den etwas mehr als 100.000 Mitgliedern der Kirche des Ostens am Beginn des 19. Jahrhunderts lebten ca. drei Viertel im Osmanischen Reich, der Rest siedelte westlich des Urmia-Sees in der iranischen Provinz Āẕarbāiǧān (cf. Coakley, Church of the East, 11). Hakkārī wurde 1888 ein sancāḳ der Provinz Vān und soll laut einer Studie der Provinzregierung in Vān im Jahr 1900 schätzungsweise über 97.000 ostsyrische Christen beheimatet haben, was etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung von Hakkārī ausmachte. Damit bildeten die Ostsyrer die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe nach den Kurden (cf. Wilmshurst, Ecclesiastical Organisation, 284–285). In den Ebenen von Salmās, Urmia und Sūldūz im Iran lebten gegen Ende des 19. Jahrhunderts etwa 60.000 ostsyrische und armenische Christen (cf. Wilmshurst, Ecclesiastical Organisation, 322), von denen
18 Joachim Jakob Grenze zwischen dem Osmanischen Reich und dem Iran skizziert worden war, gab es keinen klar vorgegebenen Grenzverlauf. Entlang des stets durchlässigen Grenzgebiets neigten die einzelnen regionalen Herrscher mal der osmanischen, mal der iranischen Seite zu. Erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden im Rahmen der Modernisierungsbestrebungen in beiden Reichen Anstrengungen unternommen, einen klaren Grenzverlauf festzulegen. Dieser Prozess fand erst 1914 seinen Abschluss.19 Die Grenze erlaubte den verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Grenzgebiet also weiterhin grenzübergreifenden Austausch. Der britische Missionar George Percy Badger (1815–1888) zählte zu jenen Europäern, die im 19. Jahrhundert relativ früh zu den ostsyrischen Christen reisten und noch Einblicke in die alte soziale Struktur dieser Gemeinschaft und ihrer kurdischen Nachbarn erhielten. Badger hielt sich von 1842 bis 1844 in Mosul und der Hakkārī-Region auf.20 Auf der Grundlage seiner Kontakte zur ostsyrischen Kirche veröffentlichte er 1852 sein Werk “The Nestorians and their Rituals”. Dessen erster Band ist nicht nur eine wertvolle Quelle über die Situation in diesem Teil des Osmanischen Reiches zu jener Zeit,21 die von Badger überlieferten Informationen sind darüber hinaus noch heute eine wichtige Grundlage für die Forschung zur Geschichte der Kirche des Ostens in osmanischer Zeit. Während die mit der römisch-katholischen Kirche verbundenen chaldäischen Patriarchen von Mosul laut Badger, der sie als “Nestorian patriarchs of the plains” bezeichnete, von der Hohen Pforte anerkannt wurden, indem jeder Patriarch einen fermān erhalten habe, der seine geistliche Autorität über die etwas mehr als die Hälfte – 30.000 bis 35.000 – ostsyrische Christen gewesen sein dürften (cf. Naby, Assyrians of Iran, 238). Insgesamt wird die Zahl der ostsyrischen Christen am Beginn des 20. Jahrhunderts vor dem Ersten Weltkrieg auf ca. 150.000 Personen beziffert (cf. Gaunt, Relations, 243; Winkler, 20. Jahrhundert, 119). Bei diesen Zahlen ist jedoch zu berücksichtigen, dass es sich – wie bei den anderen orientalischen Kirchen mit Ausnahme der Armenier – um vage Schätzungen handelt, weil kaum zuverlässiges statistisches Material vorhanden ist (cf. McCarthy, Muslims and Minorities, 105). 19 Cf. Ateş, Ottoman-Iranian Borderlands. 20 Cf. Coakley, Church of the East, 35–43. 21 So Roper, Badger, 142.
Das Ende einer Koexistenz 19 chaldäisch-katholischen Christen bestätigt habe,22 sei die Lage der ostsyrischen Patriarchen von Qūdšānīs anders gewesen: “The predecessors of Mar Shimoon, who had taken up their abode among the wild and really independent tribes of Coordistan, were not thus recognized by the Turkish government, and exercised their jurisdiction with the concurrence of their own people, being tolerated and protected therein by the Coordish Emeers.”23 Laut Hans-Lukas Kieser hatte sich ein hierarchischer Modus vivendi zwischen den Bevölkerungsgruppen in Kurdistan herausgebildet, der relativ friedlich funktionierte, solange die osmanische Regierung den Kurden ihre Autonomie beließ.24 Dies bedeutete in der tribal geprägten Gesellschaft aber keine vollkommene Abwesenheit von Gewalt. Adam H. Becker hat dies wie folgt formuliert: “The tribes maintained a feud and vendetta system of controlled violence, which functioned to maintain order in a region without a state.”25 Dementsprechend waren auch die ostsyrischen Clans gut bewaffnet und bereit, ihre Rechte gewaltsam zu verteidigen.26 Die verhältnismäßig große politische Unabhängigkeit der Bergregion führte Badger auf die Rivalität zwischen dem Osmanischen Reich und dem Iran zurück. Entsprechende Versuche der Großmächte, die tribal organisierten Kurden unter ihre Kontrolle zu bringen, hätten eher dazu geführt, dass diese sich mit ihren ostsyrischen Nachbarn zusammengeschlossen hätten, um sich ihre Unterstützung für die Bewahrung der Freiheit der Kurden zu sichern.27 Als oberste politische Autorität der Region nannte Badger den kurdischen Emir von Hakkārī, dem die Ostsyrer untertan seien und der ihre Rechte gewähre: “The Emeer of Hakkari has been for ages the presiding chief, and the predecessors of Noorallah Beg granted to the Nestorians the rights of clanship, which freed them from tribute, and gave them a voice in the election of the Emeer, and in all the councils of the tribes, on condition that they supplied a certain contingent of armed men for the common defence of the state.”28 22 23 24 25 26 27 28 Cf. Badger, Nestorians, 149. Badger, Nestorians, 149. Cf. Kieser, Der verpasste Friede, 42. Becker, Revival, 47. Cf. Masters, Christians and Jews, 46. Cf. Badger, Nestorians, 258. Ibid.
20 Joachim Jakob Die einzigen Ausnahmen seien die Dörfer ʽĀšīṯā , Zāwīṯā und Minyānīš gewesen, von denen der Emir einen regulären jährlichen Tribut fordere. Darüber hinaus erhebe der Emir von allen ostsyrischen Christen die ḫarāǧ-Steuer (auf Agrarland erhobene Steuer), wie sie den Christen im gesamten Osmanischen Reich auferlegt werde. Der Emir verzichte allerdings dann auf den Einzug dieser Steuer, wenn er die Unterstützung der ostsyrischen Christen benötige. Wenn er ihrer Hilfe hingegen nicht bedürfe, verlange er von den Ostsyrern jedoch so viel wie möglich, ohne dabei zu großen Druck auszuüben, der dann zu Widerstand führen könne, welcher nur schwer zu unterwerfen sei.29 2  Die osmanische Zentralisierungspolitik als Auslöser der Spannungen zwischen Kurden und ostsyrischen Christen im Emirat Hakkārī Die Geschichte der Beziehungen zwischen den Kurden und den ostsyrischen Christen im 19. und frühen 20. Jahrhundert weist erkennbar Parallelen zum Verhältnis zwischen den Kurden und der größten christlichen Bevölkerungsgruppe in der Region, den Armeniern, auf. Hans-Lukas Kieser benennt vier Phasen dieser armenisch-kurdischen Beziehungen in jenem Zeitraum: 1. die neue Ordnung der Tanẓīmāt (osmanisch: ‫)تنظيمات‬, beginnend mit der Unterwerfung der kurdischen Fürstentümer; 2. das Massaker an den Armeniern im Herbst 1895; 3. die Revolution der Jungtürken im Jahr 1908; 4. der Genozid während des Ersten Weltkriegs, der die Kohabitation definitiv beendete.30 Im Folgenden steht die erste der von Kieser benannten Phasen im Mittelpunkt, weil sich bereits in dieser Zeit zeigte, dass das traditionelle Verhältnis zwischen den ostsyrischen Christen und den Kurden den neuen Rahmenbedingungen nicht gewachsen war. Mit der Regentschaft Sultan Maḥmūds II. (1808–1839) begann die Periode der Tanẓīmāt-Reformen, die angesichts der offenkundigen Rückständigkeit des Osmanischen Reiches im Vergleich zu den europäischen Mächten auf eine umfassende Modernisierung des Staates zielten. Die osmanische Regierung nahm vielfältige Maßnahmen in Angriff, zu denen 29 Cf. Badger, Nestorians, 258–259. 30 Cf. Kieser, Réformes ottomanes, 45.
Das Ende einer Koexistenz 21 unter anderem eine Neuordnung des Verhältnisses zwischen Muslimen und Nichtmuslimen gehörte. So heißt es im ersten großen Reformdekret der Tanẓīmāt-Zeit, dem Ḫaṭṭ-ı Şerīf von 1839, gemäß der deutschen Übersetzung von Thomas Scheben: „Damit nun dieser unserer Begünstigungen alle Unsere Untertanen, Mohammedaner und Anhänger der übrigen Religionsgemeinschaften, ohne Ausnahme teilhaftig werden, wurde von Uns eine vollkommene Sicherheit des Lebens, der Ehre und des Vermögens der Bevölkerung aller Unserer wohlbehüteten Länder gemäß den Bestimmungen der Scheriatsgesetze gewährleistet.“31 Diese Aussage wird oftmals im Sinne einer offiziellen Gleichstellung von Muslimen und Nichtmuslimen interpretiert, was aber nicht der SchariaOrdnung entspricht. De facto enthält die zitierte Passage nur eine Erklärung, dass die osmanischen Untertanen der im Ḫaṭṭ-ı Şerīf proklamierten Privilegien unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit teilhaftig werden sollen. Eine explizite Gleichstellung von Muslimen und Nichtmuslimen formulierte erst das zweite große Tanẓīmāt-Reformdekret, der Ḫaṭṭ-ı Hümāyūn von 1856.32 Die zumindest theoretische Beendigung der traditionellen Ungleichheit zwischen Muslimen und Nichtmuslimen war einer der Gründe für die zunehmenden Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften im Osmanischen Reich. Für die hier behandelte Thematik war aber eine weitere der vielfältigen Reformmaßnahmen von noch größerer Bedeutung, nämlich der Versuch, eine zentrale Verwaltung auch in jenen Regionen des Reiches zu etablieren, die zuvor weitgehend autonom von lokalen Machthabern regiert worden waren. Diese Zentralisierungspolitik der Hohen Pforte war durch ihre Bekämpfung traditioneller Machtstrukturen einer der wesentlichen Faktoren für die Zerstörung der kurdisch-ostsyrischen Koexistenz in Ostanatolien. Im Hinblick auf die Auswirkungen der osmanischen Zentralisierungspolitik auf die ostsyrischen Christen und die an ihnen verübten Massaker sind wiederum die Ausführungen des britischen Missionars George Percy Badger, der den Tanẓīmāt-Reformen sehr kritisch gegenüberstand, von 31 Scheben, Verwaltungsreformen, 257. 32 Cf. Findley, Tanzimat, 18–19.
22 Joachim Jakob besonderem Interesse.33 So haben die Tanẓīmāt-Reformen nach Meinung Badgers die Situation der Christen in Kurdistan nicht verbessert: “In the more distant provinces bordering on Coordistan, such as Bahdinan and the Tyari, which are now supposed to be entirely under Ottoman rule, the Christians continue to be oppressed as usual without any means of obtaining redress. The poor Nestorians are the chief sufferers here, so that it is to be doubted whether they have profited much by their change of masters.”34 Badger bezieht sich hier offensichtlich auf das Ziel der Tanẓīmāt-Reformen, die Untertanen des Osmanischen Reiches unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit gleichzustellen. Dabei erwähnt er einen anderen Aspekt der Reformpolitik, der darauf zielte, eine effektive Kontrolle der Zentralregierung in Konstantinopel über die Provinzen des Reiches zu etablieren (“change of masters”), nur am Rande. Die Zentralisierung zählte laut Thomas Scheben aber zu den wichtigsten Zielen der osmanischen Reformpolitik im 19. Jahrhundert, weil sie die Grundlage für die tatsächliche Durchsetzung der Reformen darstellte. Die Zerschlagung der alten Machtstrukturen gelang unter der Herrschaft Sultan Maḥmūds II. zwar weitgehend, doch wurde damit ein Machtvakuum geschaffen, das die Zentralgewalt hätte füllen müssen, wozu sie jedoch nicht imstande war. Das Hauptproblem dieser Entwicklung sieht Scheben daher im mangelnden Aufbau einer den neuen Staatsstrukturen angemessenen Verwaltung.35 Die Zentralisierungspolitik der Tanẓīmāt-Zeit hatte jedoch nicht zwangsläufig die Entmachtung aller Familien von Lokalfürsten im Osmanischen Reich zur Folge. Denn derartige Maßnahmen betrafen primär jene Notabeln, die sich der Reformpolitik widersetzten, während andere, die die Linie Maḥmūds II. und seines Nachfolgers ʽAbdülmecīd I. (1839– 1861) akzeptierten oder unterstützen, in die Führungselite des Reiches integriert wurden und beispielsweise zu Provinzgouverneuren aufsteigen konnten. Gerade die Lokalherrscher in den schwer zu kontrollierenden Randgebieten des Osmanischen Reiches, die ein relativ großes Maß an Autonomie genossen, standen aber den Zielen der Reformer im Wege. Sie 33 Cf. Roper, Badger, 142. 34 Badger, Nestorians, 364. 35 Cf. Scheben, Verwaltungsreformen, 13–17.
Das Ende einer Koexistenz 23 wurden vielfach mit politischen Mitteln entmachtet, gegen die kurdischen Clans in Ostanatolien wurde jedoch ebenso militärische Gewalt eingesetzt wie in Südostanatolien und Syrien, wo die Osmanen nach dem Rückzug der ägyptischen Truppen ihren Herrschaftsanspruch erst wieder durchsetzen mussten.36 Der Abschluss des Vertrags von Adrianopel (1829), der den russischosmanischen Krieg von 1828/29 beendete und dem Osmanischen Reich erhebliche Gebietsverluste abverlangte, war für Sultan Maḥmūd II. der Anlass, mit der Niederwerfung der weitgehend unabhängigen Territorien im asiatischen Teil seines Reiches zu beginnen. In den folgenden zwei Jahrzehnten entmachtete die Hohe Pforte die jeweiligen Lokalherrscher und ersetzte sie durch loyale Gouverneure. Von dieser Politik waren unter anderem die autonomen kurdischen Emirate, aber auch die syrisch-christlichen Gruppierungen in Ostanatolien betroffen.37 So stellte der amerikanische Missionar Thomas Laurie (1821–1897) eindeutig fest, dass neben den Kurden auch die ebenfalls weitgehend autonomen ostsyrischen Clans von den Osmanen unterworfen werden sollten: “Meanwhile, the Turks, who included Kûrdistan within the limits of their empire, were annoyed by the existence of Nestorians and Kûrds, equally independent, within the boundaries of their empire, and they were determined to subdue them.”38 Zur Durchsetzung ihrer Ambitionen griffen die Osmanen auf verschiedene Methoden zurück, wobei sie die Divergenzen zwischen den verschiedenen lokalen Machtzentren ausnutzten. In Bezug auf die tribal organisierten Araber und Kurden im Gebiet des heutigen Irak beschreibt Ebubekir Ceylan diese Maßnahmen, die die Osmanen im 19. Jahrhundert anwendeten: “they varied considerably from granting favors to certain tribes, creating inter-tribal frictions, recognizing a rival chieftain within a given tribe, the use of military force, incorporation of the tribal structures into the provincial political mechanism, and settlement of the tribal confederations”.39 36 37 38 39 Cf. Scheben, Verwaltungsreformen, 63–71. Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 159–161. Laurie, Dr. Grant, 105. Ceylan, Ottoman Origins, 135; zu den einzelnen Maßnahmen cf. auch ibid., 135–152.
24 Joachim Jakob Ein wichtiger Protagonist dieser Politik, der dabei aber auch eigene Machtambitionen verfolgte, war İnce Bayraḳdār Meḥmed Pascha, der osmanische Gouverneur von Mosul.40 Seine Ernennung war im Interesse der Hohen Pforte, weil der Pascha eine wichtige Rolle bei der Ausdehnung des Einflusses der Zentralgewalt spielte: “The new governor, in collaboration with Mehmed Reşid Pasha of Sivas, strived to subjugate the Kurdish beys”.41 In der Folge wurden die kurdischen Fürstentümer im Bereich des heutigen Nordiraks nach und nach militärisch unterworfen: 1836 wurde 40 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 170–172. Mosul war zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine eigenständige Provinz des Osmanischen Reiches, die von 1726 bis 1835 von Statthaltern aus der ortsansässigen Familie Ǧalīlī geleitet wurde. Danach wurden die Gouverneure im Zuge der Zentralisierungspolitik direkt von der Hohen Pforte eingesetzt. Ab 1852 war Mosul dann nur noch ein sancāḳ der Provinz Bagdad (cf. Ceylan, Ottoman Origins, 45–47; Herzog, Osmanische Herrschaft, 40). Der erste, 1835 mit Zustimmung der osmanischen Zentralregierung eingesetzte Gouverneur von Mosul war İnce Bayraḳdār Meḥmed Pascha, ein Protegé des Statthalters von Bagdad, ʽAlī Rıżā Pascha (cf. Herzog, Osmanische Herrschaft, 90). Unsicherheit besteht in der Forschung hinsichtlich der Dauer von İnce Bayraḳdār Meḥmed Paschas Amtszeit, was die Frage aufwirft, ob er zur Zeit der Massaker an den ostsyrischen Christen durch Bedīrḫān Bey politisch verantwortlich war. Nach Christoph Herzog hat İnce Bayraḳdār Meḥmed Pascha das Amt des Gouverneurs noch 1840 innegehabt (cf. ibid., 241 und 282 [Anm. 251]). Laut Sarah D. Shields wurde İnce Bayraḳdār Meḥmed Pascha 1834 als Gouverneur von Mosul eingesetzt und soll dieses Amt dann vier Jahre innegehabt haben. Nach seinem Tod hätten die osmanischen Gouverneure von Mosul ihr Amt dann jeweils nur kurz ausüben können, weil die Hohe Pforte eine lokale Machtakkumulation vermeiden wollte (cf. Shields, Mosul, 29). An anderer Stelle widerspricht Shields allerdings nicht den Angaben Stephen Hemsley Longriggs, nach denen İnce Bayraḳdār Meḥmed Pascha von 1835 bis zu seinem Tod im Jahr 1843 Gouverneur von Mosul gewesen sein soll. Shields nennt hier eine Amtszeit von acht Jahren (cf. ibid., 216–217 [Anm. 12]). In ihrer Übersicht der Gouverneure von Mosul nennt Shields eine Dauer von acht Jahren und zehn Monaten (1835 bis 1844) als Amtszeit İnce Bayraḳdār Meḥmeds (cf. ibid., 194). In einem Schreiben vom 23. März 1844 erwähnt der britische Botschafter in Konstantinopel, Sir Stratford Canning (1786–1880), die Abreise des neu ernannten Paschas von Mosul (cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 221). Da auch Herzog nachweist, dass İnce Bayraḳdār Meḥmed Pascha 1840 noch Gouverneur von Mosul war, ist anzunehmen, dass er tatsächlich bis 1843 oder 1844 dieses Amt bekleidet hat. 41 Ceylan, Ottoman Origins, 47.
Das Ende einer Koexistenz 25 das mächtige Emirat Sōrān (‫ )سوران‬besiegt, 1838 folgte Bahdīnān )‫(بهدينان‬, 1847 Bohtān (‫ )بوتان‬und 1850 schließlich Bābān )‫(بابان‬.42 Allerdings gelang es dem Kurdenfürsten von Bahdīnān, Ismāʽīl Pascha, seine Unterstützer hinter sich zu versammeln und seine Hauptstadt ʽĀmādiyā (syrisch: ) zurückzuerobern. Gemäß den herrschenden Traditionen brachte Patriarch Mār Šemʽōn XVII. Abraham (1820–1860) dreitausend ostsyrische Kämpfer in Stellung, um einen erneuten Vormarsch İnce Bayraḳdār Meḥmeds auf ʽĀmādiyā zu verhindern. Dieser forderte den Patriarchen jedoch auf, sich nicht an der Wiederherstellung von Ismāʽīl Paschas Position als Emir von Bahdīnān zu beteiligen, weil die ostsyrischen Christen sich damit gegen die osmanische Regierung stellen würden. Der daraufhin von Šemʽōn XVII. eingeleitete Rückzug der ostsyrischen Truppen hatte nicht nur die endgültige Einnahme ʽĀmādiyās durch die Osmanen und die Eingliederung Bahdīnāns in die Provinz Mosul zur Folge (1842), sondern auch einen Kurswechsel in der Politik der kurdischen Oberhäupter: Von nun an bekämpften sie die autonomen ostsyrischen Clans, was ganz im Sinne der osmanischen Zentralisierungsbemühungen war.43 Unter den ostsyrischen Christen bestand in dieser Situation offenbar keine Einigkeit. Nūrullāh Bey, der kurdische Emir von Hakkārī, hatte Mār Šemʽōn XVII. gemäß der Darstellung des Missionars Thomas Laurie Frieden angeboten, wenn der Patriarch auf weltliche Machtansprüche verzichten und die Politik den māleks und ihm selbst als Emir überlassen würde. Viele ostsyrische Christen hätten Nūrullāh zugestimmt und Mār Šemʽōn XVII. beschuldigt, für ihr Elend verantwortlich zu sein, weil er das Angebot des Emirs nicht angenommen habe. Der Patriarch habe die ostsyrischen „Stämme“ aufgefordert, gegen Nūrullāh vorzugehen, doch dieser Aufruf sei ohne Konsequenzen geblieben. Aufgrund dieser inneren Zerstrittenheit sei eine gemeinsame Verteidigung der Ostsyrer unmöglich gewesen. Stattdessen habe jedes Dorf nur auf seine eigenen Belange geachtet und seine Nachbarn ihrem Schicksal überlassen.44 42 Cf. Ceylan, Ottoman Origins, 48–53. 43 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 183–186. 44 Cf. Laurie, Dr. Grant, 344–345.
26 Joachim Jakob Dies hing offensichtlich auch mit einer Auseinandersetzung innerhalb der kurdischen Herrscherfamilie von Hakkārī zusammen, in die der ostsyrische Patriarch ebenfalls verwickelt war. Während Nūrullāh Bey sich genötigt fühlte, die osmanische Oberhoheit anzuerkennen, wollte sein Kontrahent Süleymān Bey die Unabhängigkeit des Emirats wahren und wurde dabei vom ostsyrischen Patriarchen unterstützt.45 Davon berichteten bereits die Missionare im 19. Jahrhundert. So habe Nūrullāh Bey laut George Percy Badger 1839 im Auftrag der osmanischen Regierung vom Pascha von Erzurūm eine Bestätigung in seinem Amt erhalten, wofür Nūrullāh jedoch seine Unabhängigkeit habe aufgeben müssen und die osmanische Oberhoheit über sein Emirat habe akzeptieren müssen. Da er sich nun im Notfall der Unterstützung durch die Osmanen sicher wähnte, habe Nūrullāh die Machtbefugnisse eines Fürsten überschritten: Er habe jetzt von allen ostsyrischen Christen ohne Unterschied die ḫarāǧ-Steuer eingefordert, den Einfluss des Patriarchen einzuschränken und die māleks auf seine Seite zu ziehen versucht, indem er ihnen den Teil der kirchlichen Einnahmen überschrieben habe, der eigentlich dem Patriarchen zugestanden habe.46 Die Erkenntnis der modernen Forschung, dass die Hohe Pforte die verschiedenen Potentaten in der Region gegeneinander auszuspielen versuchte, wird für das Emirat Hakkārī durch die Ausführungen Badgers bestätigt. Demnach waren aufgrund ihrer Einbindung in das System auch die ostsyrischen Christen von dieser Entwicklung betroffen: “But there is every reason to believe that the Porte, in thus extending for a time the powers of the Coordish chiefs, entertained the design of finally subjecting them to Ottoman rule. The stratagem had so far succeeded in central Coordistan, that the power of the mountaineers was weakened by the dissensions which 45 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 182. Es kam offenbar immer wieder zu derartigen Auseinandersetzungen innerhalb der Herrscherfamilien in den kurdischen Fürstentümern, in die mitunter auch Repräsentanten der osmanischen Regierung involviert waren. Das Primogenitur-Prinzip scheint zwar das Ideal dargestellt zu haben, wer sich in der Erbfolge aber tatsächlich durchsetzen konnte, hing vor allem von der Unterstützung durch die Clans, die osmanische Regierung und die benachbarten mīrs ab. Teilweise wurde das Gebiet eines Fürstentums auch aufgeteilt (cf. Yalçın-Heckmann, Tribe and Kinship, 49–55). 46 Cf. Badger, Nestorians, 261–262.
Das Ende einer Koexistenz 27 soon sprang up among them. In furtherance of this political scheme, the Turkish government in 1841 divided the authority, which until then was almost entirely exercised by Noorallah Beg, between two individuals, giving to the latter the district of Bash-Kala, and to his nephew, Suleiman Beg, that of Julamerk. New intrigues were now secretly set on foot by the rival chiefs, and the latter so far succeeded that an attempt was made about this time by the Nestorians to raise him to the dignity of Emeer, and to depose Noorallah Beg.”47 Badger gibt dann einen Bericht von zwei ostsyrischen Priestern wieder, nach dem die Eingriffe Nūrullāh Beys in die Rechte der Christen einige māleks dazu veranlasst habe, sich gegen den Emir zu stellen. Das Resultat ihrer Besprechungen mit Patriarch Mār Šemʽōn XVII. sei gewesen, dass von ostsyrischer Seite die Absetzung Nūrullāhs angestrebt wurde, an dessen Stelle dann mit kurdischer Unterstützung Süleymān zum neuen Emir gewählt werden sollte. Im Distrikt Barwār hätten die ostsyrischen Christen dagegen ihre Loyalität gegenüber Nūrullāh Bey bekundet. Nach Badger waren die ostsyrischen Anführer insgesamt in Unterstützer ihres Patriarchen und Anhänger Nūrullāhs gespalten.48 Der amerikanische Missionar Thomas Laurie führte die Unterstützung Mār Šemʽōns XVII. für Süleymān darauf zurück, dass der Patriarch mit Süleymāns Vater, dem Vorgänger Nūrullāhs als Emir, befreundet war. Deshalb habe Šemʽōn sich auf die Seite des Sohnes seines Freundes gestellt, als Nūrullāh zu dessen Nachfolger als Emir von Hakkārī gewählt wurde.49 3 Die Massaker an den ostsyrischen Christen in Hakkārī durch Bedīrḫān Bey Für Badger stand fest, dass Bedīrḫān Bey (ca. 1808–1870), der Emir von Bohtān (syrisch: ),50 das mächtigste Mitglied der kurdischen Allianz war. Seine Beschreibung der Intentionen Bedīrḫāns ist zwar polemisch, deutet aber zumindest an, dass es dem Emir von Bohtān nicht einfach um ein Bündnis gegen die ostsyrischen Clans ging, sondern dass damit 47 48 49 50 Badger, Nestorians, 262. Cf. ibid., 262–264. Cf. Laurie, Dr. Grant, 104–105. Zur syrischen Schreibweise cf. Maclean, Dictionary, 26.
28 Joachim Jakob offenbar auch der Erhalt der Unabhängigkeit gegenüber der Hohen Pforte verbunden war: “An innate hatred of Christianity, combined with a restless anxiety to prevent as far as possible the extension of Osmanli rule in Coordistan, made this bold and bigoted chieftain a ready confederate against the Nestorians. Had it not been for his powerful co-operation, there is every reason to believe that the attack upon the Tyari would not have been made, or if attempted, would have been successfully met and repulsed by the hardy mountain Christians.”51 Die Rolle Bedīrḫān Beys ist in diesem Zusammenhang näher zu betrachten, weil er für die Geschichte der ostsyrischen Christen im 19. Jahrhundert von großer Bedeutung ist.52 Bedīrḫān kam 1821 in Bohtān an die Macht und setzte seine Herrschaft in dem Fürstentum auch gegen andere kurdische Führer durch. Gegenüber der osmanischen Regierung demonstrierte er Selbstständigkeit, als er sich weigerte, Kontingente für den Krieg gegen Russland in den Jahren 1828/29 zur Verfügung zu stellen.53 Bedīrḫān Bey hatte zunächst dem seit 1834 andauernden Feldzug von Reşīd Meḥmed Pascha gegen die kurdischen Fürstentümer Widerstand geleistet, musste sich 1838 aber geschlagen geben. Bohtān wurde von der osmanischen Regierung nun dem Pascha von Diyarbakır unterstellt. Bedīrḫān Bey verhielt sich in dieser Zeit loyal zu den osmanischen Behörden, konnte in seinem Bereich aber faktisch weitgehend autonom regieren. 1842 ordnete die Hohe Pforte jedoch Cezīre (Cīzre), einen Teil von Bedīrḫāns Einflussgebiet, dem Paschalik Mosul zu, sodass der Emir fortan den Paschas von Diyarbakır und Mosul Abgaben zu entrichten hatte. Gegen diese Ausweitung der Kompetenzen des Paschas von Mosul setzte sich Bedīrḫān Bey durch Interventionen bei den Osmanen zur Wehr. Außerdem bildete sich 1842 eine Föderation kurdischer 51 Badger, Nestorians, 266. 52 Der Zugang zu dieser historischen Figur ist schwierig, weil Bedīrḫān Bey in den Quellen und den späteren Traditionen unterschiedlich dargestellt wird: Während er von kurdischer Seite zum Nationalhelden stilisiert wurde, der für die Unabhängigkeit Kurdistans gekämpft habe, erscheint er in christlichen Quellen in der Regel als grausamer Christenmörder und fanatischer Muslim. Da jedoch keine dieser Positionen dem Handeln des Emirs gerecht wird, ist es umso notwendiger, Bedīrḫān Beys Agieren in den historischen Kontext einzuordnen. 53 Cf. van Bruinessen, Agha, Scheich und Staat, 239.
Das Ende einer Koexistenz 29 Anführer um ihn, zu deren bedeutendsten Mitgliedern Ḫān Maḥmūd von Vān, Nūrullāh Bey von Hakkārī, ʽAbdulsamed Bey von Barwār54 und Ismāʽīl Pascha von ʽĀmādiyā gehörten.55 Zu dieser Förderation merkte Badger an, dass die Aufforderung Bedīrḫān Beys, seines Generals Zeynel Bey und Ismāʽīl Paschas Ende 1842 an die kurdischen Führer im Distrikt Barwār, sich bei ihrem Versuch, die osmanische Oberhoheit abzuschütteln, zu beteiligen, zugleich an Mār Šemʽōn XVII. ergangen sei. Der Patriarch habe aber umgehend einen Bericht über dieses kurdische Bündnis an İnce Bayraḳdār Meḥmed Pascha weitergeleitet, in dem er jegliche Beteiligung an diesem Bündnis bestritten und seine Loyalität gegenüber dem Sultan erklärt habe.56 Offensichtlich wurde anfangs also versucht, den ostsyrischen Patriarchen in die kurdische Föderation gegen die osmanischen Zentralisierungsbestrebungen einzubinden. Der Patriarch sah sich daraufhin zwischen den Fronten und entschied sich für die osmanische Seite, was ihn erst dann aus kurdischer Sicht zum Gegner machte. Die wichtigsten ostsyrischen Clans unterstanden zu dieser Zeit aber nicht Bedīrḫān Bey, sondern dem Emir von Hakkārī, Nūrullāh Bey. Mit 54 In Barwār lebten laut Badger etwa 200 ostsyrische Familien in 15 Dörfern. Die Zahl der ostsyrischen Christen in diesem Distrikt nehme jedoch stark ab – „owing to the tyranny of the Coords and the cruelties practised upon them by Abd-ool-Samid the Emeer“ (Badger, Nestorians, 211). 55 Cf. Gökçe, Bedir Khan Bey, 81–86. Die Versuche der osmanischen Gouverneure, Teile Bohtāns unter ihre Kontrolle zu bringen, sind als Reaktionen auf die relativ erfolgreiche Politik Bedīrḫāns zu verstehen. Im Krieg des Osmanischen Reiches gegen dessen ägyptischen Vasallen Muḥammad ʽAlī Pascha (1805–1848) hatte er auf der Seite der Hohen Pforte gestanden und kehrte nach der Schlacht von Nizīb (24. Juni 1839) in sein Fürstentum zurück, das vom Krieg schwer getroffen worden war. Aufgrund des dort entstandenen Machtvakuums konnte Bedīrḫān Bey zur unbestrittenen Autorität der Region aufsteigen, indem er mehrere Fürsten unter seiner Oberhoheit vereinigte. Außerdem gelang es ihm, die Lebensbedingungen in seinem Herrschaftsbereich im Vergleich zu den umliegenden Provinzen signifikant zu verbessern und für eine relativ große Sicherheit seiner Untertanen zu sorgen. Deshalb migrierten viele Menschen aus den umliegenden Provinzen in Bedīrḫāns Herrschaftsgebiet, dem daraufhin vom Gouverneur von Mosul vorgeworfen wurde, seine Provinz entvölkern zu wollen (cf. ibid., 77–81). 56 Cf. Badger, Nestorians, 188.
30 Joachim Jakob Unterstützung von Patriarch Mār Šemʽōn XVII. stellte der mālek von Dīz 1841 die Autorität Nūrullāhs jedoch offen infrage und überfiel einige Dörfer. Nūrullāh ging daraufhin seinerseits militärisch gegen die Dīz vor und ließ unter anderem die Residenz des ostsyrischen Patriarchen zerstören. Dennoch gelang es ihm nicht aus eigenem Vermögen, die ostsyrischen Clans unter seine Kontrolle zu bringen. Deshalb ersuchte Nūrullāh den mächtigen Bedīrḫān Bey um Unterstützung, was zum Feldzug der beiden Kurdenfürsten gegen die Ostsyrer im Jahr 1843 führte.57 Zur Verschärfung der Situation scheinen auch die amerikanischen und britischen Missionare beigetragen zu haben, die ihre Arbeit in der Zeit begannen, als die traditionellen Beziehungen zwischen den Bevölkerungsgruppen in der Region zerbrachen. Insbesondere der amerikanische Missionsarzt Asahel Grant (1807–1844), der von 1835 bis 1844 in Kurdistan wirkte, war auch in politische Angelegenheiten verwickelt, wie etwa der Bitte des ostsyrischen Patriarchen, dass der Pascha von Erzurūm einen Stellvertreter ernennen solle, der das Siedlungsgebiet der ostsyrischen Christen anstelle der Kurden regieren solle.58 Insbesondere die Missionsstation von Asahel Grant, die dieser mit der Erlaubnis von Nūrullāh Bey oberhalb des Dorfes ʽĀšīṯā errichten ließ, löste unter den Kurden Gerüchte aus: Nach Ansicht vieler Kurden handelte es sich dabei um einen festungsartigen Bau, der für die Kooperation der einheimischen Christen mit ausländischen Missionaren und den Einfluss fremder Mächte in Kurdistan stehe.59 Nach der Darstellung des American Board of Commissioners for Foreign Missions wurde Grants Gebäude aber lediglich an einer Stelle errichtet, wo früher einmal eine Festung gestanden hätte, weshalb der Ort immer noch als „Festung“ bezeichnet werde. Die Missionsstation sei erst von den Kurden zu einer Festung ausgebaut worden, als diese sie nach Bedīrḫāns Invasion in das Ṭyārī-Gebiet besetzt hatten.60 Bereits Badger erwähnte die Auffassung, dass die Präsenz von Europäern bei den ostsyrischen Christen zur Eifersucht bei den Kurden beigetragen habe, da die Kurden die von der osmanischen Regierung eingeführten 57 58 59 60 Cf. Gökçe, Bedir Khan Bey, 87–88. Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 205–207. Cf. ibid., 179–181; Gökçe, Bedir Khan Bey, 89–93. Cf. Kieser, Zwischen Ararat und Euphrat, 122.
Das Ende einer Koexistenz 31 Reformen als Resultat westlichen Einflusses verstehen würden. Doch könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Anwesenheit von Ausländern große Auswirkungen auf die Beschleunigung der Krise im Jahr 1843 gehabt habe:61 “Unsettled feuds of long standing were still rife and open betwixt the Coords and Christians of central Coordistan, and the growing power of the former, fostered as it now was by the countenance and support of the bigoted Emeer of Buhtân, made them more and more impatient that a people whom they looked upon as infidels should share with them the government of the mountains.”62 Badger ist wohl insofern zuzustimmen, als die Präsenz ausländischer Missionare sicher nicht der primäre Auslöser für die Gewalt gegen die ostsyrischen Christen war. Die westlichen Missionen müssen jedoch als ein verstärkender Faktor gewertet werden, weil vor allem die Christen von ihnen profitierten, während die muslimischen Kurden ins Hintertreffen gerieten. Der Feldzug der kurdischen Föderation unter der Führung Bedīrḫān Beys gegen die Ostsyrer begann im Juni 1843. Der Vorstoß richtete sich zunächst gegen das Gebiet von Dīz, wo sich der ostsyrische Patriarch nach der Zerstörung seiner Residenz in Qūdšānīs (1841) aufhielt.63 Mār Šemʽōn XVII. musste wie viele andere ostsyrische Christen vor den heranrückenden Kurden fliehen. Der Patriarch erreichte am 27. Juli 1843 das sichere Mosul.64 Nachdem Dīz verwüstet und ein Massaker an der ostsyrischen Bevölkerung verübt worden war, wandten sich die Kurden gegen das Gebiet der Ṭyārī, wo die ostsyrischen Christen das gleiche Schicksal erlitten. Dabei wurde von kurdischer Seite nicht zwischen Kämpfern und Zivilbevölkerung unterschieden.65 In diesem Rahmen wurde auch religiöse Propaganda eingesetzt: Scheich Ṭaha von Nehrī ermunterte die Kurden, gegen die ostsyrischen Christen vorzugehen, vermutlich, weil er das Vordringen europäischer Missionare fürchtete sowie aufgrund seiner 61 62 63 64 Cf. Badger, Nestorians, 189. Ibid., 189–190. Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 196–199. So berichtete es der britische Missionar George Percy Badger: cf. Badger, Nestorians, 271. 65 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 199–200.
32 Joachim Jakob Abneigung gegen die Ostsyrer, deren Patriarch sich gegen den Emir von Hakkārī gestellt hatte.66 Von dieser ersten Attacke gegen die ostsyrischen Christen war ʽĀšīṯā, jenes Dorf, bei dem Asahel Grant seine Missionsstation errichtet hatte, zunächst ausgenommen. Dass das Tal von ʽĀšīṯā nicht angegriffen wurde, führte der Missionar Thomas Laurie auf die Zusage Bedīrḫāns gegenüber Grant zurück, die amerikanische Mission zu verschonen.67 Dies kann allerdings auch mit dem Verhalten von zwei ostsyrischen Geistlichen aus der Region, dem Diakon Hinno und dem Priester Jinno, zusammenhängen, die sich auf die Seite von Nūrullāh Bey und Bedīrḫān Bey stellten, wie Laurie ebenfalls berichtete.68 Infolge einer erneuten militärischen Konfrontation sollte dann aber auch die Umgebung von ʽĀšīṯā verwüstet werden. Bedīrḫān Bey zog sich nach der kurdischen Offensive im Sommer 1843 nach Cezīre zurück. Zuvor hatte er Zeynel Bey mit etwa 400 Soldaten als Gouverneur in ʽĀšīṯā stationiert. Nach dem Abzug Bedīrḫāns reorganisierten sich die in die Berge geflohenen Kämpfer der Ṭyārī, wobei sie von einigen Kurden aus der Gegend unterstützt wurden. Ende September griffen sie Zeynel Bey an. Bei dieser Attacke sollen mehr als 70 kurdische Kämpfer getötet worden sein. Zeynel Bey zog sich daraufhin mit seinen Soldaten in jenes festungsartige Gebäude oberhalb von ʽĀšīṯā zurück, das der amerikanische Missionar Asahel Grant hatte errichten lassen. Er konnte der Belagerung durch die Ostsyrer standhalten, bis Bedīrḫān Beys Truppen eintrafen, um eine exemplarische Bestrafung der ostsyrischen Christen zu vollziehen. Dieser zweite Feldzug Bedīrḫān Beys gegen die Ostsyrer verlief sehr blutig: Viele Christen wurden getötet und ihre Frauen und Kinder verschleppt. Die Widerstandskraft der Ṭyārī war nach der Einschätzung von 66 Cf. McDowall, A Modern History, 52. Austen Henry Layard nennt die Scheiche “the chief cause of the massacre of the unfortunate Christians” und Ṭaha als jenen unter ihnen, der Bedīrḫān Bey dazu gedrängt habe, seinen religiösen Eifer durch das Vergießen des Blutes der ostsyrischen Christen unter Beweis zu stellen (cf. Layard, Nineveh, 193; Layard, Popular Account, 162). 67 Cf. Laurie, Dr. Grant, 356. 68 Cf. ibid., 360; cf. auch McDowall, A Modern History, 46 (mit Anm. 12).
Das Ende einer Koexistenz 33 Hasan Gökçe 1843 gänzlich gebrochen worden; ihr Gebiet wurde fortan von Bedīrḫān Bey kontrolliert.69 Gemeinsam mit dem ehemaligen britischen Vizekonsul Henry Ross bereiste Austen Henry Layard (1817–1894) 1846/47 die Region, in der die Massaker stattgefunden hatten. Nach Layards Schätzung sind fast 10.000 ostsyrische Christen den Kurden zum Opfer gefallen.70 Abgesehen von Hirmis Aboona, der diese Zahl für zu gering hält,71 folgt die Forschung der von Layard genannten Opferzahl,72 manchmal auch mit dem Hinweis auf eine geringere zeitgenössische Schätzung von 7.000 Todesopfern.73 In jedem Fall ist von „insgesamt mehrere[n]‌Tausende[n] von Opfern“74 auszugehen. Laut David Wilmshurst, der ebenfalls die Zahl von 10.000 Getöteten anführt, ist die ostsyrische Bevölkerung in den von den Massakern betroffenen Gebieten auf insgesamt etwa 50.000 Menschen zu beziffern.75 69 Cf. Gökçe, Bedir Khan Bey, 88–89; zum Massaker von ʽĀšīṯā cf. auch Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 208–210. Über die Ereignisse in ʽĀšīṯā berichtete auch Badger, Nestorians, 276–277. 70 Cf. Layard, Nineveh, 153 (Anm. *); Layard, Popular Account, 122 (Anm. *). 71 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 212. 72 Cf. Arfa, Kurds, 23; Coakley, Church of the East, 40; Hellot-Bellier, Chroniques de massacres, 9; Merten, Untereinander, 170. 73 Cf. Gaunt, Inter-Religious Violence, 256 (“an estimated seven to ten thousand were killed”); Gaunt, Relations, 255 (selbe Formulierung); Tamcke, Genozid Assyrern/Nestorianern, 107 und 117 (Anm. 24). In der Anmerkung nennt Tamcke auch die geringere Schätzung von 7.000 Opfern, die auf die Einleitung zu einem in der Zeitschrift des American Board of Commissioners for Foreign Missions auszugsweise wiedergegebenen Brief von Edward Breath (1808–1861), einem Drucker der amerikanischen Mission in Urmia, zurückgeht. Dort heißt es: “The number killed in the two campaigns was said to be about seven thousand; but this estimate may be too high.” (Breath, Letter, 407). Falls diese Aussage von Breath selbst stammt, ist dazu allerdings anzumerken, dass Breath in seinen Berichten überwiegend ein positives Bild von Bedīrḫān Bey zeichnete, auch hinsichtlich der Lage der ostsyrischen Christen unter dessen Herrschaft (cf. Kieser, Der verpasste Friede, 66; Kieser, Zwischen Ararat und Euphrat, 123). 74 Kieser, Der verpasste Friede, 66. 75 Cf. Wilmshurst, Ecclesiastical Organisation, 33; Wilmshurst, Martyred Church, 374. Wilmshurst gibt nicht an, woher er die Zahl von insgesamt 50.000 von den Massakern betroffenen ostsyrischen Christen hat. Möglicherweise stützt er sich auf den Missionar Thomas Laurie, der diese Zahl erwähnt (cf. Laurie, Dr. Grant, 364–365).
34 Joachim Jakob Das Territorium der Tḥūmā war von den Massakern des Jahres 1843 im Ṭyārī-Gebiet kaum betroffen gewesen, was offensichtlich darauf zurückzuführen ist, dass die Tḥūmā sich mit Bedīrḫān Bey verbündet hatten.76 Layard zitierte dazu ein ostsyrisches Dorfoberhaupt aus dem Ṭyārī-Gebiet, das er vor Bedīrḫāns Vorstoß gegen die Tḥūmā getroffen hatte: “[…] when Nur-Ullah Bey joined Bedar Khan Bey in the great massacre, the people of Tkhoma marched with the Kurds against us; but could they do otherwise? – for they feared the chief of Hakkiari. They are our brothers, and we should forgive them; for the Scriptures tell us to forgive even our enemies.”77 Demnach scheint das Bündnis der Tḥūmā mit den Kurden in der Hoffnung zustande gekommen zu sein, dadurch verschont zu bleiben. Im Jahr 1843 war dies der Fall, dauerhaft bot es den Tḥūmā jedoch keinen Schutz: “In the autumn of 1846, Tehoma shared the fate it had helped to inflict on Tyary”, berichtete Thomas Laurie.78 Als einziges verbliebenes unabhängiges ostsyrisches Gebiet wurde Tḥūmā im November 1846 zum Ziel einer weiteren Attacke Bedīrḫān Beys. Die weitere Ausdehnung von dessen Einflussbereich war zwar nicht im Interesse der Hohen Pforte, sie sah in dem Vorgehen des Kurdenemirs aber die Chance, die letzte autonome ostsyrische Enklave auszuschalten. Bedīrḫān gab dieses Mal die Devise aus, keine Gefangenen zu machen. Auch gegen die Tḥūmā gingen die Kurden sehr grausam vor: Es wurden Massaker an der Bevölkerung verübt und das Land verwüstet.79 Austen Henry Layard schätzte, dass fast die Hälfte der Bevölkerung im Tḥūmā-Gebiet Bedīrḫān zum Opfer gefallen sei, wobei die Region kurz darauf ein weiteres Mal von Nūrullāh Bey heimgesucht wurde.80 Die Massaker an den ostsyrischen Christen in Hakkārī durch Bedīrḫān Bey in den Jahren 1843 und 1846 lagen im Interesse der osmanischen Regierung in Konstantinopel.81 Sie nutzte die Differenzen zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen zur Umsetzung ihrer Zentralisierungspolitik, 76 77 78 79 80 81 Cf. McDowall, A Modern History, 47. Layard, Nineveh, 169; Layard, Popular Account, 139. Laurie, Dr. Grant, 364. Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 239–247. Cf. Layard, Nineveh, 201–202; Layard, Popular Account, 169–170. Cf. Kieser, Der verpasste Friede, 67; McDowall, A Modern History, 46–47.
Das Ende einer Koexistenz 35 für die autonome regionale Machtzentren ausgeschaltet werden mussten. Schon Badger vermutete diese Strategie hinter dem Verhalten der osmanischen Regierung: “For my own part, I am fully convinced that the Turks, sensible of their own weakness, had all along abstained from seriously remonstrating against the proceedings of Bedr Khan Beg, and that being anxious to extend their rule throughout central Coordistan, they regarded with secret complacency, the late dissensions among the Coords and Nestorians, – dissensions which their own policy had fomented, – foreseeing that these would lead eventually to the weakening of the mountain tribes, and pave the way to the establishment of the Sultan’s authority where as yet it was recognised only in name.”82 Mit diesem Statement hat Badger die Strategie der osmanischen Regierung auf den Punkt gebracht. In der modernen Forschung weist Adam H. Becker jedenfalls darauf hin, dass sich die Massaker des Jahres 1843 deutlich von dem Ausmaß an Gewalt unterschieden, das in den kurdischostsyrischen Beziehungen vorher üblich gewesen war, und im Zusammenhang mit dem Ende der traditionellen politischen Ordnung standen: “The massacres of 1843 were spurred on by the Ottoman attempt to impose external political authority over the region and thus were not instances of traditional violence but rather disruptions caused by the breakdown of the prior political order.”83 Ausschlaggebend für die Ereignisse waren somit die osmanische Zentralisierungspolitik und die mit ihr einhergehende Zerstörung der traditionellen Machtstrukturen. Nach 1846 waren die ostsyrischen Christen als eigenständiger Machtfaktor in der Hakkārī-Region ausgeschaltet. Auch die meisten ehemals autonomen Kurdenfürstentümer waren in den 1830er und 1840er Jahren unterworfen worden. Lediglich in Hakkārī und Bohtān regierten noch unabhängige Kurdenfürsten, deren Schicksal nach den Massakern an den ostsyrischen Christen aber ebenfalls besiegelt war. Die europäischen Großmächte wurden durch die Berichte von Missionaren und Diplomaten über die Massaker Bedīrḫān Beys an den ostsyrischen Christen informiert. Der Emir von Bohtān unterschätzte zunächst offenbar den Druck, der daraufhin von westlicher Seite – allen voran von 82 Badger, Nestorians, 368–369. 83 Becker, Revival, 51.
36 Joachim Jakob Großbritannien – auf die osmanische Regierung und auf ihn selbst ausgeübt wurde.84 Angesichts des Drucks von außen verließen 1847 alle kurdischen Anführer, die sich zwischen 1843 und 1846 um Bedīrḫān Bey geschart hatten, die Allianz. Die von Bedīrḫān geleitete kurdische Föderation zerbrach, als die Kurden ihren gemeinsamen Feind, die ostsyrischen Stämme, ausgeschaltet hatten und von der osmanischen Regierung bedrängt wurden.85 Der gegen ihn aufgebotenen osmanischen Streitmacht hatte Bedīrḫān Bey nichts entgegenzusetzen, sodass er im Juli 1847 kapitulierte.86 Er wurde nach Kreta ins Exil geschickt und starb 1870 in Damaskus.87 Nūrullāh Bey beteiligte sich offenbar an der Unterwerfung Bedīrḫān Beys, mit dem er zuvor verbündet gewesen war. Die osmanische Regierung vertraute Nūrullāh anscheinend aber nicht und verfolgte überdies das Ziel der Gründung der Provinz Kurdistan,88 weshalb Truppen nach Hakkārī entsandt wurden. Nūrullāh floh daraufhin in den Iran, kehrte nach Verhandlungen mit der Hohen Pforte aber 1849 nach Hakkārī, genauer in den Distrikt Şemdīnlī (‫)شمدينلى‬, wo der Scheich Ṭaha I. aus der Familie Sādatē Nehrī für seine Sicherheit garantierte, zurück. Nūrullāh wurde dann zunächst nach Istanbul deportiert und schließlich nach Kreta.89 84 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 215–237, 247–254 und 258–260; Gökçe, Bedir Khan Bey, 93–100. 85 Cf. Aboona, Assyrians, Kurds, and Ottomans, 264–265. 86 Cf. ibid., 271–276; Gökçe, Bedir Khan Bey, 100–103. 87 Cf. Gökçe, Bedir Khan Bey, 104–105. Von Bedīrḫān Beys Expansion waren nicht nur die Ostsyrer im Hakkārī-Gebiet, sondern auch die westsyrischen Christen im ܽ betroffen. Hier ließ Bedīrḫān 1844 den Maphrian ܺ ‫)ܛܘܪ ܰܥ‬ Ṭūr ʽAbdīn (syrisch: ‫ܒܕܝܢ‬ ܳ ܰ ܳ (‫ܡܦܪܝܢܐ‬, höchster Repräsentant der Syrisch-Orthodoxen Kirche im Ṭūr ʽAbdīn) und einen weiteren Bischof ermorden, weil der Maphrian sich 1843 auf die Seite der osmanischen Regierung und damit gegen Bedīrḫān gestellt haben soll (cf. Talay, Politische und gesellschaftliche Entwicklungen, 353–355; cf. auch Merten, Untereinander, 174–180). 88 Nach dem Ende der autonomen kurdischen Fürstentümer errichtete die osmanische Regierung an ihrer Stelle 1846 die Provinz Kurdistan, um die direkte Verwaltung des Territoriums durch die Zentralregierung durchzusetzen. Die Provinz hatte bis 1867 Bestand, als sie im Zuge einer Provinzverwaltungsreform aufgelöst wurde (cf. Özoğlu, Kurdish Notables, 60–63). 89 Cf. Yalçın-Heckmann, Tribe and Kinship, 59–61.
Das Ende einer Koexistenz 37 4 Das Ende des Modus vivendi zwischen den Bevölkerungsgruppen in Kurdistan nach den Massakern der 1840er Jahre Durch die militärische Beendigung der Unabhängigkeit der kurdischen Fürstentümer wurde der Modus vivendi zwischen den Bevölkerungsgruppen in Kurdistan zerstört. Schon der britische Missionar William Ainger Wigram (1872–1953), von 1902 bis 1912 Mitglied der „Assyrischen Mission“ des Erzbischofs von Canterbury und zuletzt deren Leiter, war zu der Erkenntnis gelangt, dass sich das Verhältnis zwischen ostsyrischen Christen und Kurden bzw. Muslimen infolge der Massaker durch Bedīrḫān Bey erheblich verschlechtert habe. Die ostsyrischen Christen seien in den 1840er Jahren so sehr geschwächt worden, dass sie sich nicht mehr wie in den vorangegangenen Jahrhunderten gegen die Kurden hätten wehren können. Außerdem seien die Muslime nun von der osmanischen Regierung gegenüber den Christen bevorzugt worden.90 Die neuen osmanischen Gouverneure hatten außerhalb ihrer Residenzstädte kaum Einfluss, weshalb „das traditionelle muslimisch-christliche Machtgefälle, das [durch die Tanẓīmāt-Reformen – J. J.] hätte abgelöst werden sollen, zu einem prekären Spannungsverhältnis wurde“.91 Auf dem Land waren die Aġās und Scheiche nun die vorherrschenden Autoritäten, die an die Stelle der früheren Kurdenfürsten traten. Diese neue politische Rolle der Scheiche trug zum Anstieg der interreligiösen Spannungen bei.92 Der Distrikt Şemdīnlī in der Hakkārī-Region ist ein Beispiel für den Aufstieg neuer politischer Kräfte nach der Entmachtung der kurdischen Fürsten. In den europäischen und amerikanischen Berichten aus dem 19. Jahrhundert wird diese Region in der Regel als Shemsdin oder Shamsdin bezeichnet, was dem Namen der dortigen ostsyrischen Metropolie 90 Cf. Wigram, Assyrians, 174–175. 91 Kieser, Der verpasste Friede, 43. 92 Cf. Gaunt, Inter-Religious Violence, 257; Gaunt, Relations, 257; ausführlicher: McDowall, A Modern History, 49–53. Für das Ende des 19. Jahrhunderts bestätigt der amerikanische Missionar Frederick Coan die Vereinigung religiöser und politischer Zuständigkeiten in den Händen der Scheiche (cf. Coan, Missionary Life, 56).
38 Joachim Jakob ( , Šamsdīn) entspricht.93 Die Geschicke von Şemdīnlī wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Familie Sādatē Nehrī bestimmt. Aus dieser Familie stammte Scheich ʽUbeydullāh, der zum mächtigsten Protagonisten im osmanisch-iranischen Grenzgebiet aufstieg. ʽUbeydullāh akzeptierte die Repräsentanten der Zentralregierung in seinem Einflussbereich nicht und strebte stattdessen einen autonomen Status an, wozu er erst eine Revolte im Osmanischen Reich anführte und nach deren Scheitern in den Iran einfiel. Als nach den Iranern schließlich auch die Osmanen militärisch gegen ʽUbeydullāh vorgingen, wurde dieser nach Mekka exiliert, wo er 1883 starb.94 Die von ʽUbeydullāh angeführte Truppe umfasste auch ein ostsyrisches Kontingent unter dem Befehl eines Bischofs, obwohl der Patriarch seine Zustimmung dazu verweigert hatte. Der Scheich versuchte sich zwar als Beschützer der Christen darzustellen, konnte aber Übergriffe gegen die christliche Bevölkerung ebenso wenig verhindern wie eine Verschlechterung des christlich-muslimischen Verhältnisses infolge der neuen kurdischen Bewegung.95 Angesichts der Bestrebungen von Sultan ʽAbdülḥamīd II. (1876–1909), die Kurden für den osmanischen Staat zu gewinnen, konnte die Familie Sādatē Nehrī ihren Einfluss in der Region jedoch auch nach dem Sturz ʽUbeydullāhs bewahren. Gemäß den Berichten westlicher Missionare sollen die ostsyrischen Christen dabei vor allem unter der Herrschaft von Scheich Muḥammad Ṣiddīḳ (gest. 1911) sehr gelitten haben, was wohl auch damit zusammenhing, dass dieser mit anderen Scheichen um Einfluss konkurrierte und seine Macht durch Landkäufe und Pachterhebungen auszuweiten versuchte.96 Zu solchen Versuchen wie jenem Muḥammad Ṣiddīḳs, sein Einflussgebiet zu vergrößern, war es seit dem Erlass des osmanischen Landgesetzes im Jahr 1858 immer wieder gekommen. Das Gesetz war im Zuge der Tanẓīmāt-Reformen von Sultan ʽAbdülmecīd I. eingeführt worden. Da es 93 Cf. Fiey, Oriens Christianus novus, 132; Wilmshurst, Ecclesiastical Organisation, 279–281. Zu der Region cf. auch van Bruinessen, Shamdīnān, 282–283. 94 Cf. McDowall, A Modern History, 53–59; Özoğlu, Kurdish Notables, 74–77; YalçınHeckmann, Tribe and Kinship, 63–64. Die verschiedenen Faktoren der Rebellion von Scheich ʽUbeydullāh beleuchtet Ates, In the Name of the Caliph, 735–798 95 Cf. Gaunt, Inter-Religious Violence, 258; Gaunt, Relations, 257. 96 Cf. Yalçın-Heckmann, Tribe and Kinship, 64–65.
Das Ende einer Koexistenz 39 ab dem Ende des 17. Jahrhunderts immer mehr lokalen Größen gelungen war, umfangreiche Landflächen unter ihre Kontrolle zu bringen und de facto zu ihrem Grundbesitz zu machen,97 strebte das neue Gesetz wieder eine stärkere staatliche Kontrolle über die Landvergabe an: Nach europäischem Vorbild sollte gewährleistet werden, dass sich das zu bewirtschaftende Land im Besitz von Einzelpersonen befand. Wer das Land bestellte, sollte gemäß dem Gesetz auch darüber verfügen. In der Praxis ließen sich in Kurdistan jedoch in erster Linie die Aġās und Scheiche große Landflächen auf ihren Namen registrieren. Somit bedienten sich die Notabeln des Gesetzes, um ihren Grundbesitz zu sichern oder auszuweiten, auf dem die Bauern dann für sie arbeiten mussten.98 Gleichwohl ist bei Generalisierungen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Kurden und ostsyrischen Christen nach den Massakern Bedīrḫān Beys Vorsicht geboten. Dies ergibt sich nicht nur daraus, dass sich ostsyrische Kämpfer am Aufstand Scheich ʽUbeydullāhs beteiligten, sondern wird auch durch einen ethnologischen Aufsatz des Orientalisten Otto Blau (1828–1879) aus dem Jahr 1858 verdeutlicht.99 Nachdem Blau 1852 als Diplomat zur preußischen Gesandtschaft nach Konstantinopel gekommen war, unternahm er 1857 infolge des Abschlusses des ersten Handelsvertrags zwischen Preußen und dem Iran eine Reise nach Persien, auf die sein im Folgenden analysierter Bericht zurückgeht.100 Blaus Aufsatz ist von dem Bestreben gekennzeichnet, einige kurdische Gruppen ethnologisch zu beschreiben, deren jeweilige „nationale“ Identität er durch die politischen Rahmenbedingungen gefährdet sah.101 Bei den Šakāk 97 Cf. Matuz, Osmanische Reich, 204. 98 Cf. van Bruinessen, Agha, Scheich und Staat, 244–246. Angesichts des derzeitigen Forschungsstandes kann daraus aber nicht auf einen generellen Trend für das gesamte Osmanische Reich geschlossen werden. In vielen anderen Regionen ließen zahlreiche Kleinbauern Land auf ihren Namen registrieren. Außerdem setzte durch das Landgesetz an sich in Kurdistan keine gänzlich neue Entwicklung ein, vielmehr nutzten die Notabeln das Gesetz für eine Legalisierung der Verhältnisse (cf. Quataert, Age of Reforms, 856–861). 99 Cf. Blau, Stämme des nordöstlichen Kurdistan. 100 Zur Biographie Blaus cf. den Nachruf von Ernst, Nachruf Otto Blau. 101 Blaus Bericht weist Spuren des nationalistischen Denkens seiner Zeit auf, besonders wenn er sich für die Erhaltung der vermeintlichen ethnischen
40 Joachim Jakob (‫)شكاک‬102 bestehe zwar „die alte Stammverfassung noch in ungetrübterer Form“103 als bei den anderen tribal organisierten Kurden, doch seien sie zwischen der „Uebermacht der unabhängigen Kurden des Emirs von Rowandûz“104 und dem Urmia-See eingezwängt, was die Wanderungen der Nomaden einschränke und zunehmend dazu führe, dass sie sesshaft würden. Blau schildert die Kurden vorwiegend als räuberische und unzivilisierte Menschen, macht aber bei den Šakāk eine gewisse Ausnahme, und weist dabei auch auf ihre anscheinend relativ guten Beziehungen zur christlichen Bevölkerung der Region hin: Homogenität von Völkern ausspricht. Cf. z. B. Blau, Stämme des nordöstlichen Kurdistan, 596: „So sinken alle diese Stämme, die einen durch Verwilderung und Entsittlichung, wie die Dschelali und Melanly, die anderen durch gezwungene Ansiedlung und Verschmelzung mit anderen Nationalitäten, wie die Haideranly und Schakaki, seit der Lostrennung von ihren Stammverwandten mehr und mehr zur Stufe einer unterjochten, ihrer Nationalität entkleideten, ihrer Selbstständigkeit beraubten Mischbevölkerung herab, und es kann nicht fehlen, dass das von der türkischen Regierung den Kurden gegenüber befolgte System mehr und mehr dahin wirken wird, sie ganz zu absorbieren, da hier nicht die Schranke, die sich sonst im Osmanenreiche der Verschmelzung der Racen so schroff entgegenstellt, die Religion, dazwischen tritt.“ 102 Die Šakāk werden häufig mit den Šaḳāḳī verwechselt, die östlich und nordöstlich von Täbris leben (cf. van Bruinessen, Shakāk, 245). Otto Blau schrieb in seinem Aufsatz von den „Schakaki“. Er meinte damit aber offenbar die Šakāk, wie seinen Ausführungen über das Siedlungsgebiet und den Namen zu entnehmen ist: „Südlich von dem District, in dem die Mela hausen, nach dem See von Urumiah zu, an dessen ganzer Westseite entlang und bis in die Nähe des Van-Sees, erstrecken sich die Wohnsitze der Schakaki, einer grossen, rein kurdischen Gruppe. Den Namen schreibe ich so, und nicht, wie man allerdings auch hört, Schakaïk (Sheqoiq der amerikanischen Missionsberichte) oder Schekecht, welches im Volksmunde oft sogar zu Schikeft wird“ (Blau, Stämme des nordöstlichen Kurdistan, 591–592). Blau erklärt, dass die „Schakaki“ früher in der Gegend um Täbris gesiedelt hätten, jetzt aber nicht mehr dort anzutreffen seien, sondern in dem von ihm genannten Gebiet. Daraus ist zu schließen, dass Blau hier nicht die Šaḳāḳī meint, sondern die Šakāk. 103 Blau, Stämme des nordöstlichen Kurdistan, 592. 104 Ibid. Es ist nicht klar, was Blau mit der „Uebermacht der unabhängigen Kurden des Emirs von Rowandûz“ meint. Rawāndūz (im Norden des heutigen Iraks) war die Hauptstadt des kurdischen Emirats Sōrān, dieses wurde aber 1836 von den Osmanen unterworfen.
Das Ende einer Koexistenz 41 „Die Schakaki haben viel von dem bösen Ruf der Wildheit und Raubsucht verloren, der ihnen früher anhaftete. Ich fand sie überall bescheiden, zuthunlich und ungefährlich. In Dilman kamen sie regelmässig zu den Wochenmärkten aus allen umliegenden Gauen oft Tagereisen weit herbei und schlossen sich nicht selten den Carawanen der nestorianischen und armenischen Kaufleute an, die von da nach Van, nach Urumiah und Täbris ziehen. Der Einfluss der amerikanischen Missionsstation hat, wenn auch nur mittelbar durch die sittliche und sociale Hebung des Völkchens der Nestorianer, hier sichtlich eine segensreiche und wohlthätige Wirkung gehabt.“105 Letztlich sind es bei Blau also doch wieder Ausländer, konkret: amerikanische Missionare, die angeblich eine zivilisierende Wirkung auf die einheimische Bevölkerung gehabt haben sollen. Allerdings wurde den Šakāk insgesamt eher nachgesagt, besonders räuberisch zu sein. Ihre Überfälle richteten sich aber wohl weniger gegen Handelskarawanen als vielmehr gegen die sesshafte Bevölkerung in den Ebenen und Tälern, insbesondere gegen die ostsyrischen Christen und gegen Schiiten.106 Wenn die Šakāk selbst an Karawanen beteiligt waren, wie Blau berichtet, erklärt dies, warum sie die Karawanen eher verschonten. Mit Blick auf den weiteren Lauf der Geschichte scheint Blaus Einschätzung aber problematisch, da das Verhalten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen weiterhin von strategischen Erwägungen und dem Streben nach dem eigenen Vorteil bestimmt blieb. Als die Ostsyrer sich während des Ersten Weltkriegs aus Hakkārī zurückzogen und nach Urmia (syrisch: ) flohen, brachten sie dort die Verhältnisse zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften durcheinander. Die Kurden der Šakāk-Konföderation unter der Führung von Ismāʽīl Āqā Simkō (1887–1930)107 bemühten sich während der zweiten Hälfte des Krieges zunächst um Neutralität. Nachdem aber die russischen Truppen infolge der Oktoberrevolution (1917) aus dem Iran abgezogen worden waren, entwickelte sich ein Konflikt zwischen den Šakāk-Kurden und den ostsyrischen Kriegern aus Hakkārī um das Gebiet westlich des Urmia-Sees, das beide Parteien nicht preisgeben wollten. Da die Ostsyrer in Urmia zunächst die Oberhand gewannen und die iranische Regierung die Lage 105 Blau, Stämme des nordöstlichen Kurdistan, 593. 106 Cf. van Bruinessen, Kurdish Warlord, 84. 107 Ich folge in diesem Fall der persischen Schreibweise (‫ )آقا‬des Titels Aġā.
42 Joachim Jakob nicht in den Griff bekam, betraute sie Ismāʽīl Āqā Simkō mit dieser Aufgabe. Simkō lockte Patriarch Mār Šemʽōn XIX. Benjamin (1903–1918) unter dem Vorwand einer Besprechung nach Kohna-Shahar in der Ebene von Salmās (‫)سلماس‬, wo er ihn zusammen mit mehreren Begleitern im März 1918 ermorden ließ.108 5 Christen und Muslime in Ostanatolien in der Ära ʽAbdülḥamīds II. Mit der Regentschaft von Sultan ʽAbdülḥamīd II. endete die TanẓīmātZeit. ʽAbdülḥamīd war zwar keineswegs ein reformfeindlicher Herrscher, anstelle des „Osmanismus“, dem Bestreben der Tanẓīmāt-Reformer, Muslime wie Nichtmuslime als Staatsbürger gleichzustellen, verfolgte er aber eine Politik des „Panislamismus“, die die Einheit aller Muslime betonte. Diese Politik richtete sich gegen die europäischen Kolonialmächte, in deren Herrschaftsgebieten viele Muslime lebten. Aber auch in seinem eigenen Reich, das immer mehr von außen bedrängt wurde und Gebietsverluste hinnehmen musste, wollte ʽAbdülḥamīd die Autorität der Regierung stärken. Daher widmete er den Muslimen, deren Loyalität er sich sichern wollte, besondere Aufmerksamkeit, während die Christen oftmals als Agenten auswärtiger Interessen betrachtet wurden.109 In Ostanatolien, wo die Tanẓīmāt-Reformer die Macht der weitgehend unabhängigen Kurdenfürsten zu brechen versucht hatten, waren die Kurden nun ein wichtiger Faktor in der Politik ʽAbdülḥamīds: Da sie mehrheitlich sunnitische Muslime waren, wollte er sie für den Staat gewinnen. Angesichts der Nähe der Region zu Russland und dem Iran sowie einer armenischen Bewegung, die – in der Sicht des Sultans – nach Unabhängigkeit strebte, galten die Kurden nun als stabilisierender Faktor für die osmanische Herrschaft. ʽAbdülḥamīds übergeordnetes Ziel blieb die Durchsetzung seiner Herrschaftsansprüche, für die er die Kurden instrumentalisieren wollte.110 Schon im russisch-osmanischen Krieg von 1877/78 108 Cf. Arfa, Kurds, 50–53; van Bruinessen, Kurdish Warlord, 87; cf. dazu auch den Bericht des Missionars Frederick Coan: Coan, Missionary Life, 266–267. 109 Zur Regentschaft ʽAbdülḥamīds II. cf. Fortna, Reign of Abdülhamid II. 110 Cf. Duguid, Politics of Unity.
Das Ende einer Koexistenz 43 setzte die Hohe Pforte kurdische Krieger an der Kaukasusfront ein, wozu diese mit modernen Gewehren ausgestattet wurden. Da die Kurden diese Waffen nach dem Krieg nicht zurückgaben, verfügten sie nun über bessere Gewehre und mehr Kriegserfahrung als die ostsyrischen Christen mit ihren einfachen Jagdgewehren.111 Ein noch augenscheinlicheres Ergebnis dieser Politik war 1890 die Aufstellung der leichten Ḥamīdiye-Kavallerieregimenter (Ḥamīdiye Ḫafīf Süvārī Ālāyları, ab 1909 ʽAşīret Ḫafīf Süvārī Ālāyları). Es handelte sich dabei um nach dem Sultan selbst benannte irreguläre Kavallerieeinheiten, deren Mitglieder von bestimmten kurdischen Clans gestellt wurden. Während auf diese Weise einige Kurden privilegiert wurden, kamen andere aus Sicht der Hohen Pforte nicht für diese Positionen infrage. Somit sollte gemäß dem Prinzip divide et impera eine gemeinsame Position der Kurden gegen die Zentralregierung verhindert werden. Außerdem bestand die Aufgabe der Ḥamīdiye-Regimenter in der Grenzsicherung, um dem Expansionismus Russlands Einhalt zu gebieten. Ferner sollten sie separatistische armenische Bewegungen unterdrücken. De facto entwickelten sich die Ḥamīdiye-Milizen jedoch zu Machtbasen für einzelne kurdische Anführer, um die sesshafte Bevölkerung auszubeuten. Da die Ḥamīdiye dafür nicht juristisch belangt wurden, verlor die Regierung in Konstantinopel immer mehr die Kontrolle, statt sie zu vertiefen.112 Die christliche Bevölkerung hatte besonders stark unter den Übergriffen der Ḥamīdiye zu leiden, was nach Janet Klein eng mit der sogenannten Landfrage zusammenhing: Im 19. Jahrhundert wandelte sich die Weidewirtschaft in Ostanatolien zur Agrarwirtschaft, welche die Sesshaftwerdung der Nomaden bedingte. Diese soziale und ökonomische Veränderung führte zu einem Kampf um Ressourcen, insbesondere um Land und Vieh. Dabei machten 111 Cf. Gaunt, Inter-Religious Violence, 257; Gaunt, Relations, 256. 112 Cf. Fenz, Hamidiye-Milizen, 111–123; Klein, Margins of Empire, 20–127 (Kleins Monographie ist die derzeit umfassendste Studie zu den ḤamīdiyeRegimentern). Die Ḥamīdiye-Regimenter waren dem Kommandeur der vierten osmanischen Armee in Erzurūm verantwortlich, nicht den zivilen Behörden. Dieses Amt hatte Ẕekī Pascha, der Schwager von ʽAbdülḥamīd II., inne. Er unterstand direkt der Regierung in Istanbul und nicht dem Provinzgouverneur. Die lokale Verwaltung hatte daher keine Möglichkeiten, die Aktivitäten der Ḥamīdiye einzudämmen (cf. McDowall, A Modern History, 60).
44 Joachim Jakob sich die Oberhäupter von Ḥamīdiye-Clans ihre privilegierte Position zunutze, um sich den Besitz ihrer schwächeren Nachbarn – Christen wie Muslimen – anzueignen. Sie setzten hierzu verschiedene Mittel ein, von denen der unverhohlene Einsatz von Gewalt und Drohungen sowie die Durchführung von Überfällen das meiste Aufsehen erregten.113 Obwohl von dem Vorgehen der Ḥamīdiye-Anführer auch sesshafte Kurden betroffen waren, entwickelte sich zunehmend ein Konflikt zwischen Kurden und Armeniern um die Ressourcen der Region, wenngleich diese Auseinandersetzung nicht auf sämtliche Angehörige der beiden Gruppen verallgemeinert werden darf.114 Neben der armenischen Landbevölkerung waren auch die ostsyrischen Christen im Hakkārī-Gebiet von den Übergriffen der Ḥamīdiye betroffen. Selbiges gilt für die Ostsyrer im iranischen Urmia, wo der Einfluss der Teheraner Regierung ebenfalls gering war.115 Die Berichte europäischer Missionare zeugen von diesen Überfällen auf die ostsyrischen Christen und die daraus resultierende Situation permanenter Unsicherheit. So brachte William Ainger Wigram am Beginn des 20. Jahrhunderts die Folgen der Einrichtung der Ḥamīdiye-Regimenter auf das bis dahin herrschende Verhältnis zwischen kurdischen und ostsyrischen Clans zum Ausdruck: “Still, among the ashirets who carried arms, whether Christian or Moslem, the position was by no means intolerable a generation ago. Besides it was extremely picturesque. The various tribes fought one another freely; and of course the feuds usually, though not always, followed the religious and racial line of division. Still, arms were approximately equal; and the Christians, though outnumbered, had strong positions to defend, and were of good fighting stock, as men of Assyrian blood should be. So, until Abdul Hamid’s day, the parties were fairly matched on the whole; […] Of late years things have changed for the worse in this respect. […] the free distribution of rifles among the Kurds has done away with all the old equality. This was done, when the late Sultan raised the ‘Hamidie’ battalions; partly for the defence of his throne, partly perhaps with the idea of keeping the Christians in subjection. Now when to odds in numbers you add the additional handicap implied in the difference between Mauser and flint-lock, the position becomes impossible; and the balance has since inclined steadily against the Christian tribes.”116 113 114 115 116 Cf. Klein, Margins of Empire, 128–169. Cf. ead., Conflict and Collaboration. Cf. Joseph, Modern Assyrians, 124–126. Wigram/Wigram, Cradle of Mankind, 167–168.
Das Ende einer Koexistenz 45 Vor allem aber zählten die Ḥamīdiye zu den Hauptakteuren der Massaker an den Armeniern in den Jahren 1894 bis 1896, die insgesamt etwa 100.000 direkte Todesopfer forderten.117 Während viele Armenier versuchten, sich ihrem Schicksal durch Konversion zum Islam zu entziehen,118 nutzten die kurdischen Ḥamīdiye die Massaker und die anhaltende Einschüchterung in den nachfolgenden Jahren, um sich das Land und den Besitz der betroffenen Armenier zu eigen zu machen.119 Aufgrund der innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen wurde die Gesellschaft Ostanatoliens immer stärker religiös polarisiert. Folglich waren nicht nur die Armenier von den Massakern der Jahre 1894 bis 1896 betroffen, sondern auch syrische Christen.120 Hier lässt sich eine längere Entwicklung feststellen, denn ein Bericht von syrisch-orthodoxer Seite an die osmanische Regierung aus dem Jahr 1878 über Überfälle kurdischer Krieger auf Dörfer bei Midyāt legt laut Emrullah Akgündüz nahe, dass die Spannungen zwischen Armeniern und Muslimen auf die syrisch-muslimischen Beziehungen übergegangen seien, allerdings weniger gewaltsam.121 Gleichwohl setzte der syrisch-orthodoxe Klerus angesichts der zunehmenden Gewalt auf Kooperation mit den osmanischen Behörden, um die Ausschreitungen einzudämmen. Davon zeugt etwa ein Telegramm von Patriarch ʽAbdülmesīḥ II. (1895–1905) aus dem Jahr 1895 an ­Sultan ʽAbd­ülḥamīd II., in dem das Kirchenoberhaupt um den Schutz seiner Gemeinschaft vor der Armenier-Verfolgung bat. Der Sultan soll dieser Bitte in einem daraufhin ausgestellten fermān entsprochen haben.122 Die direkte Betroffenheit von ostsyrischen Christen spiegelt sich in einem osmanischen Bericht wider, in dem erwähnt wird, dass in einem Dorf neben Armeniern auch ostsyrische Christen („Nestorianer“) zum Islam konvertiert seien, um den Massakern zu entgehen.123 117 Cf. Duguid, Politics of Unity, 148–151; Kieser, Der verpasste Friede, 147–152. 118 Cf. Deringil, The Armenian Question, bes. 351–371. 119 Cf. Klein, Conflict and Collaboration, 158–161; Klein, Margins of Empire, 143–152. 120 Cf. Kaufhold, Zeitgenössische syrische Berichte. 121 Cf. Akgündüz, Some Notes on the Syriac Christians, 235. 122 Cf. Akgündüz, Some Notes on the Syriac Christians, 235–236; cf. auch Barsoum, History of Tur Abdin, 135–136. 123 Cf. Deringil, Armenian Question, 356.
46 Joachim Jakob In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts waren die ostsyrischen Christen ebenfalls den Übergriffen von Ḥamīdiye-Milizen ausgeliefert. Der Bericht eines britischen Missionars vom Beginn des 20. Jahrhunderts über den ostsyrischen Priester des Dorfes Tōni, der seinen rechten Arm nicht mehr einsetzen könne, nachdem er von einem Kurden angeschossen worden sei,124 scheint überdies mit der Landnahme durch Kurden in dieser Zeit zusammenzuhängen. Tōni wurde ursprünglich von armenischen und ostsyrischen Christen besiedelt, die vom wirtschaftlichen Niedergang infolge der Massaker von 1895/96 betroffen waren. Um Steuerschulden zu tilgen, musste die verarmte Bevölkerung Ackerflächen an die Agrarbank verpfänden, die dann von Kurden erworben wurden. Im Falle des Dorfes Tōni tat sich dabei im Spätsommer 1902 insbesondere ein kurdischer ḤamīdiyeOffizier namens Niʽmat Aġā hervor, gegen den sich der zuständige Gouverneur – trotz einer Intervention des britischen Konsuls – erst 1904 zu einem entschiedenen Vorgehen durchrang. Niʽmat Aġā musste das Dorf daraufhin verlassen.125 Es ist naheliegend, dass die wenige Jahre später von dem britischen Missionar berichtete Verletzung des ostsyrischen Priesters sich während dieses Konflikts zwischen Kurden und christlichen Dorfbewohnern in Tōni ereignete. Insgesamt ist also festzuhalten, dass die unterschiedlichen Versuche der Regierung in Konstantinopel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine effektive Kontrolle über die ostanatolischen Provinzen zu erlangen, nicht die gewünschten Ergebnisse erzielten. Nachdem die Regierung die althergebrachten Machtstrukturen in den 1830er und 1840er Jahren zerschlagen hatte, gelang es ihr nicht, eine flächendeckend funktionierende Verwaltung zu etablieren. Das Resultat war eine zunehmende Gesetzlosigkeit in Ostanatolien, wobei die Konfliktlinien tendenziell zwischen den Religionsgemeinschaften verliefen, wenngleich es auch hier Ausnahmen gab. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den ostsyrischen Christen und den Kurden markieren die Massaker durch Bedīrḫān Bey einen Wendepunkt, der den traditionellen Modus vivendi zwischen den beiden Gruppen beendete. Diese Massaker sind nur vor dem Hintergrund der 124 Cf. Heazell/Margoliouth, Kurds & Christians, 177–178. 125 Cf. Wießner, Hayoths Dzor, 50–52; zum Vorgehen Niʽmat Aġās cf. auch Klein, Margins of Empire, 150.
Das Ende einer Koexistenz 47 osmanischen Zentralisierungspolitik in der Tanẓīmāt-Zeit zu verstehen. Die Berichte der Missionare zeigen deutlich, dass im Siedlungsbereich der ostsyrischen Christen Initiativen ergriffen wurden, verschiedene Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen, um letztlich die Autorität der Zentralregierung in der Region durchzusetzen. Derartige Maßnahmen der Osmanen sind während der Tanẓīmāt-Zeit auch aus anderen Gebieten bekannt. Die wachsenden Spannungen zwischen ostsyrischen Christen und Kurden seit dem 19. Jahrhundert dürften dazu beigetragen haben, dass sich während des Ersten Weltkriegs Kurden an den Massakern gegen die ostsyrische Bevölkerung und der Vertreibung der Überlebenden aus ihrer Herkunftsregion beteiligten. Zwar gab es auch hier wieder Kurden, die ostsyrische Christen vor der Verfolgung beschützten, nachdem sich ein Zusammenleben der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen aber immer schwieriger gestaltet hatte, bot sich vielen Kurden die Möglichkeit, sich der Ostsyrer zu entledigen und sich ihren Besitz anzueignen. Eine genauere Untersuchung dieser Vorgänge steht aber noch aus. Vielleicht bietet der vorliegende Beitrag einen Ansatz für weitergehende Studien in diesem Bereich. Literaturverzeichnis Aboona, Hirmis, Assyrians, Kurds, and Ottomans. Intercommunal Relations on the Periphery of the Ottoman Empire, Amherst 2008. Akgündüz, Emrullah, “Some Notes on the Syriac Christians of Diyarbekir in the Late 19th Century. A Preliminary Investigation of Some Primary Sources”, in: Jongerden, Joost/Verheij, Jelle (Hrsg.), Social Relations in Ottoman Diyarbekir, 1870–1915 (The Ottoman Empire and Its Heritage 51), Leiden/Boston 2012, 217–240. Arfa, Hassan, The Kurds. An Historical and Political Study, London et al. 1966. Ateş, Sabri, The Ottoman-Iranian Borderlands. Making a Boundary, 1843–1914, New York 2013. Ateş, Sabri, “In the Name of the Caliph and the Nation: The Sheikh Ubeidullah Rebellion of 1880–81”, Iranian Studies 47 (2014), 735–798. Baaba, Youel A., The Assyrian Homeland Before World War I, Alamo 2009.
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Tessa Hofmann Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen1 im Iran und Osmanischen Reich 1914 bis 1918 Abstract: During the genocide in the Ottoman Empire, about 625.000 Aramaicspeaking Christians were killed. Today, the research on this genocide faces the challenge that the sources are to a great part dispersed and additionally interpreted in various or even contrary ways. There is a need to develop a new approach on discussing the chronology and narrative of the genocide. 1 Literatur- und Archivlage West- und ostsyrische Christen beziehen sich entweder auf regionale Ereignisse in den osmanischen Provinzen Diyarbakır, Van und Bitlis oder in der iranischen Region Urmia. Zwei der drei ereignisnah veröffentlichten Sammlungen von Berichten über Massaker im Südwesten der Türkei während der Jahre 1914–1916 wurden von Vertretern der syrisch-orthodoxen und -katholischen Kirchen gesammelt und post mortem in Deutschland und den Niederlanden veröffentlicht, wo sich durch Immigration zahlenmäßig große Gemeinschaften von Flüchtlingen gebildet hatten: a) Der aramäische Autor und Gelehrte ʿAbdulmesih Naʿman Qarabashi2 war ein Zeitzeuge des Völkermords. Im Alter von nur 15 Jahren sammelte er die Berichte von Überlebenden der Massaker, die reguläre osmanische Einheiten sowie kurdische Irreguläre im Tur Abdin begangen hatten.3 1 2 3 Ich verwende die Formulierung „aramäischsprachige Christen“ als Sammelbegriff für aramäischsprachige Angehörige sämtlicher Konfessionen syrischer Tradition, unterscheide aber im Weiteren zwischen Ost- bzw. Westsyrern oder, entsprechend den Eigenbezeichnungen, zwischen Aramäern und Assyrern. Sein aramäischer Name lautet ᶜbeḏ mšiḥo Naᶜmān Qarabāši. Deutschsprachige Ausgaben von ʿAbed Mschiḥo Na’man Qarabaschis Berichten: Vergossenes Blut (1997); Dmo zliho (1999); Vergossenes Blut (2002).
56 Tessa Hofmann b) Eine Sammlung von Berichten, die der Erzpriester Sleman d’Beth Henno [Hannah] aus Arkah unter den Überlebenden in seiner Gemeinde gesammelt hatte, erschien zunächst 1977 auf Aramäisch (Gunḥe d-ṬurʿAbdin) und seit 1987 in zwei deutschen Übersetzungen.4 Eine türkische Übersetzung wurde 1993 in Athen veröffentlicht.5 c) Bereits 1919 erschien eine Sammlung des katholischen Mönchs Ishaq/ Ishoq [Isaac] (Bar) Armalto in arabischer Sprache6, die sich auf Ereignisse in Mardin 1885 sowie 1914–1918 bezieht. d) Eine vierte Sammlung von Augenzeugenberichten syrisch-orthodoxer Kleriker und Laien erschien in den Niederlanden in deutscher Übersetzung unter dem Titel Seyfe und enthält hauptsächlich gereimte Beschreibungen der Massaker.7 Zeitgenössische Berichte über die Ostsyrer „oder die assyrischen Leiden in der Provinz Van und im Iran“ wurden bereits während des 1. Weltkrieges von Ostsyrern und ausländischen Augenzeugen veröffentlicht. Kapitel IV („Aserbaidschan und Hakkari“) des 1916 von Viscount Bryce herausgegebenen britischen „Blaubuchs“8 umfasst Ereignisse, die hauptsächlich im Zusammenhang mit den Assyrern stehen. Als Sekundärliteratur sind vor allem die vier Bände der Dissertation des assyrischen Gelehrten Joseph Yacoub9 zu nennen, die die erste umfassende wissenschaftliche Untersuchung überhaupt darstellt, und aus neuerer Zeit je eine Monographie des schwedischen Historikers David Gaunt10 sowie des australischen Historikers und Menschenrechtlers Racho Donef11; letztere bezieht sich allerdings nicht auf den hier erörterten Zeitraum, sondern die Jahre 1924 und 1925. 4 5 6 Die neuere Ausgabe Henno, Verfolgung. Hinno, Farman. Armalet, Calamités. – Eine deutsche Übersetzung wird an der Forschungsstelle für Aramäische Studien der Goethe-Universität Frankfurt/Main erarbeitet. 7 Seyfe: Das Christen-Massaker in der Türkei, 1714–1914, Glane/Losser1981. – Cf. ferner die Buchfassung der Dissertation von Courtois, Forgotten Genocide; als zeitgenössische Veröffentlichung cf. auch Nayeem, Nation, aufrufbar unter http://www.aina.org/books/stnd.htm (acc. 10.08.2017). 8 Bryce, Treatment. 9 Yacoub, Question Assyro-Chaldéenne; cf. auch Yacoub, Assyrian Question. 10 Gaunt, Massacres. 11 Donef Massacres and deportations.
Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen 57 Der französisch-armenische Historiker Raymond Kévorkian hat dankenswerterweise in seiner monumentalen, auf die Dokumentationen und Recherchen des armenisch-apostolischen Patriarchats zu Konstantinopel gestützten Geschichte des Genozids an den Armeniern auch die Verfolgung aramäischsprachiger Christen dokumentiert.12 2 Die Ereignisse im Iran und im Osmanischen Reich: Ereignishistorische Zusammenfassung und Analyse 2.1 Iran Massaker und andere Verbrechen an einheimischen und in den Iran geflüchteten osmanischen Christen erfolgten vor dem Hintergrund russisch-osmanischer Vormachtkämpfe um den Nordwest-Iran. In der iranischen Provinz Aserbaidschan wurden Christen zwei Mal, am Beginn und Ende des Ersten Weltkriegs, Opfer osmanischer Invasoren in dieser Region. Als die Türken vom Rückzug der russischen Truppen aus dem Iran Ende 1914 erfuhren, besetzten die 36. und 37. Divisionen der osmanischen Armee Nordwest-Iran. Während der folgenden Besatzung massakrierten reguläre und irreguläre osmanische Truppen zusammen mit muslimischen Einheimischen fünf Monate lang ostsyrische und armenische Gemeinden in der Region des Urmia-Sees. Siebzig Dörfer wurden dabei zerstört. In genozidalen Situationen spielt das Verhalten der designierten Oper typischerweise keine Rolle. So berichteten Augenzeugen auch aus dem türkisch besetzten Iran, dass Widerstand oder Ergebung der Christen gleichermaßen tödlich endeten: “In some cases safety was brought by professing Mohammedanism, but many die as martyrs of the faith. In several places the Christians defended themselves, but the massacring was not confined to them. Villages that deliberately gave up their arms and avoided any conflict suffered as much as those that fought”.13 Die wenigen ausländischen Hilfsstationen, bei denen im Herbst 1914 erst an die 25.000 armenische und aramäischsprachige Christen Zuflucht gesucht hatten, später weitere bis zu 50.000 Christen aus der osmanischen 12 Kévorkian, Armenian Genocide. 13 Statement by the Rev. William A. Shedd, D.D., of the American (Presbyterian) Mission Station at Urmia, zitiert nach Bryce, Treatment, 102.
58 Tessa Hofmann Provinz Van14, waren völlig überfordert. Tausende von Flüchtlingen waren dem Hungertod ausgesetzt oder lebten von der Hand in den Mund. Der Direktor der US-Mission in Urmia, Pfarrer Dr. William A. Shedd, hob hervor, dass die türkischen Truppen an regelrechten Massakern teilgenommen hatten, und nannte genaue Beispiele für seine Anschuldigung. Shedds frühe Berichte über Ereignisse der Jahre 1914–15 wie auch die Aussagen anderer US-amerikanischer Missionsangehöriger erschienen bereits 1916 im britischen „Blaubuch“. Russland hielt seit 1909 die iranischen Städte Täbris, Urmia und Choj besetzt. Als Anfang Oktober 1914 osmanische Streitkräfte Grenzzwischenfälle in der Region provozierten und die muslimische Bevölkerung zu Angriffen auf Urmia ermutigten, vertrieben im November 1914 die russischen Besatzer Kurden und andere sunnitische Muslime aus den Dörfern in der Umgebung Urmias und statteten gleichzeitig Teile der christlichen Bevölkerung mit Waffen aus. “The Turks in response expelled several thousand Christians from adjoining regions in Turkey. These refugees were settled in the villages vacated by the Sunni Moslems who had been expelled.”15 Anschließend nahmen iranische Muslime blutige Rache an den Christen, als sie während der türkischen Besetzung dazu Gelegenheit bekamen. Pfarrer Shedd resümierte in einem Bericht hinsichtlich der ethnisch-religiösen Schuldanteile: “There is no class of Mohammedans that can be exempted from blame. The villagers joined in the looting and shared in the crimes of violence, and Persians of the higher class acquiesced in the outrages and shared in the plunder. The Kurds were in their natural element. The Turks not only gave occasion for all that happened, but were direct participants in the worst of crimes. (On the other hand, individuals of every class deserve credit. (There were many villagers who showed only kindness. The Persian Governor made it possible, by his co-operation, for the American missionaries to do what they did; the Kurds responded to appeals for mercy and, in some cases, returned captive girls unsolicited and did other human service.) A few individual Turkish officers and a number of their soldiers took strong measures to keep order. One such officer saved the city (Urmia; TH) from loot when riot had already begun. There were various causes; jealousy of the greater prosperity of the Christian population was one, and political animosity, race hatred and religious fanaticism all had a part. There was a definite and 14 Statement by the Rev. William A. Shedd, zitiert nach Bryce, Treatment, 104. 15 Bryce, Treatment, 100.
Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen 59 determined purpose and malice in the conduct of Turkish officials. It is certainly safe to say that a part of this outrage and ruin was directly due to the Turks, and that none of it would have taken place except for them.”16 Am 21. Februar 1915 nahmen die türkischen Militärbehörden in Urmia 61 führende Assyrer als Geiseln aus der Französischen Mission und forderten enorme Lösegelder für ihre Freilassung. Allerdings hatte die Mission nur so viel Geld, um die Osmanen zu überzeugen, 20 der Männer zu befreien. Nach grausamsten Folterungen wurden die übrigen 41, darunter der assyrische Bischof von Tergawar, Mar Dencha, am nächsten Tag ermordet, indem ihre Köpfe in aller Öffentlichkeit abgeschnitten wurden. Ein türkischer Vorstoß zur Einnahme der Stadt Choj, der von Cevdet Bey, dem Schwager des Kriegsministers Enver geführt wurde, scheiterte. Vielleicht zur Vergeltung für den Fehlschlag ordnete Cevdet Anfang März 1915 „die kaltblütige Ermordung von etwa 800 Menschen – meist alte Männer, Frauen und Kinder – im Bezirk Salmas (…)“ an.17 Am 25. Februar 1915 stürmten osmanische Truppen das Bezirkszentrum Salmas (Salamas) sowie Gulpaschan, „the largest and wealthiest Syrian village“18 in der Region Urmia. Fast alle Männer aus Gulpaschan wurden gefesselt und auf dem Friedhof abgeschlachtet. In Salmas schützten türkische Zivilisten aus dem Ort 725 armenische und assyrische Flüchtlinge. Trotzdem stürmte der Kommandeur der Division die Häuser, obwohl sich auch Türken darin befanden, und ließ sämtliche Männer in großen Gruppen fesseln und trieb sie auf die Felder zwischen Chusrawa und Haftewan. Die Männer wurden erschossen oder auf andere Weise getötet, nachdem sie Erklärungen unterschrieben hatten, dass ihnen eine „freundliche Behandlung zuteil geworden“19 sei. Allein im Winter 1915 starben 4.000 Assyrer an von türkischen Soldaten eingeschleppten Seuchen, vor allem Typhus, sowie an Hunger und Erschöpfung. Etwa eintausend weitere wurden in den völlig ungeschützten 16 Bryce, Treatment, 104. Hervorhebung v. Tessa Hofmann. 17 Walker, Armenia, 205, übers. von Tessa Hofmann; Walker stützt sich hier auf den Bericht des Pfarrers und Missionars zu Urmia, Shedd; cf. Bryce, Treatment, 13. 18 Brief des Pfarrers Robert M. Labaree vom 12. März 1915 an seine Mutter, zitiert nach Bryce, Treatment, 110. 19 Tamcke, Genozid, 108, übers. von Martin Tamcke.
60 Tessa Hofmann Dörfern der Urmia-Region getötet. Wie die übrigen nichtmuslimischen Bürger des Osmanischen Reiches wurden auch die Assyrer sowohl im Osmanischen Reich als auch im besetzten Iran zur Zwangsarbeit herangezogen und dann getötet. Assyrische Männer aus Gawar (Provinz Hakkari), die Rollen von Telefondraht über die Grenze tragen mussten, wurden während ihrer Haft in Urmia ohne Nahrung gelassen und auf ihrem Rückweg in das Dorf Ismael Aghas Kala ermordet.20 Siebzig Leichen blieben dort für sechs Monate unbestattet und wurden schließlich von dem amerikanischen Missionar E.T. Allen begraben, der den Vorgang in einem Brief vom 8. November 1915 beschreibt. Derselbe Missionar bestatte auch 40 assyrische Opfer in Tscharbasch, darunter einen Bischof sowie 51 Opfer in Gulpaschan: “These 161 persons, which I buried, have been killed in the most cruel way, by regular Turkish army troops and assisted by the Kurds under their command.”21 In Diliman wurden alle Männer über zwölf Jahren getötet, während die Frauen zum Islam konvertieren mussten und zwangsweise mit muslimischen Männern verheiratet wurden. Die verwaisten und völlig traumatisierten Kinder wurden kurdischen Familien übergeben. Im Jahresbericht 1915 der medizinischen Abteilung von Urmia an die Leitung der ausländischen Missionen der presbyterianischen Kirche der USA heißt es in diesem Zusammenhang: “One of the most terrible things that came to the notice of the Medical Department was the treatment of Syrian women and girls by the Turks, Kurds and local Mohammedans. After the massacre in the village of …, almost all women and girls were outraged, and two little girls, aged eight and ten, died in the hands of Moslem villains. A mother said that not a woman or girl above twelve (and some younger) in the village of … escaped violation. This is the usual report from the villages. One man, who exercised a great deal of authority in the northern part of the Urmia plain, openly boasted of having ruined eleven Christian girls, two of 20 Cf. Urmia: Extracts from the Annual Report (for the Year 1915) Presented by the Medical Department at Urmia to the Board of Foreign Missions of the Presbyterian Church in the U.S.A., in: Bryce, Treatment, 162; cf. ibid. die Zeugenaussage von Überlebenden des Massakers bei Ismael Agha’s Kala im Schreiben von Pfarrer E.T. Allen vom 8. November 1915. Der Ortsname Ismael Aghas Kala (Ismael Aghas Festung) bezieht sich auf eine neue Siedlung für Christen, die vor den Massakern von 1895/96 aus dem Osmanischen Reich geflüchtet waren. Cf. Gaunt, Massacres, 137 u. Fußnote 48. 21 Bryce, Treatment, 163.
Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen 61 them under seven years of age, and he is now permitted to return to his home in peace and no questions are asked. Several women from eighty to eighty-five years have suffered with the younger women.”22 Anfang 1918 begannen erneut viele Assyrer aus dem Osmanischen Reich zu flüchten. Der charismatische ostsyrische geistige und nationale Führer, der Katholikos-Patriarch Mar Binjamin Schimon XXI., hatte es erreicht, dass sich 3.500 Assyrer im Bezirk Choj niederlassen konnten. Doch bald nach ihrer Ankunft massakrierten kurdische Hilfstruppen der Osmanischen Armee diese Bevölkerung fast vollständig. Allein am 3. März 1918 metzelten osmanisch-kurdische Einheiten 2.270 Assyrer in Choj nieder. Gleichzeitig sammelten die Türken die restlichen Christen des Bezirks Salmas, etwa 800 alte Männer, Frauen und Kinder, und schlachteten sie ab, angeblich im Auftrag von Cevdet, bevor dieser sich wieder vor den vorrückenden Russen zurückzog.23 Patriarch Mar Binjamin Schimon wurde heimtückisch vom kurdischen Stammesführer Simko ermordet, während sich der Patriarch mit diesem traf, um eine gemeinsame Verteidigungslinie für die Entente zu erörtern. 2.2 Osmanisches Reich In dem an den Iran angrenzenden osmanischen Bezirk Hakkari kam es bereits im Oktober und November 1914 zu ersten Massakern an aramäischsprachigen Christen. Am 30. Oktober 1914 wurden 71 Männer aus Gawar verhaftet und in die regionale Hauptstadt von Başkale (auch Bashkallah, Pashqala; kurdisch Elblak, auch Albak) überführt, wo sie getötet wurden. In Reaktion auf wiederholte Massaker an Christen in den Dörfern um Başkale bzw. Albak ab Mitte November 1914 und unter dem Druck der assyrischen Stammesführer (Maliken) erklärte Patriarch Mar Binjamin am 10. Mai 1915 dem Osmanischen Reich förmlich den Krieg, wie ihn auch eine große Stammesversammlung bereits am 18. April 1915 beschlossen hatte.24 Dies rief eine Strafexpedition türkischer Truppen und kurdischer Freiwilliger hervor. 22 Zitiert aus Bryce, Treatment, 161. 23 Tamcke, Genozid, 109. 24 Cf. Stafford, Tragedy, 25; ebenso Yonan, Assyrer, 30.
62 Tessa Hofmann Im Februar 1915 löste Cevdet „den schlauen und angeblich philo-armenischen Tahsin Hassan“25 als Gouverneur der Provinz Van ab. Im April 1915 umzingelten während der Vernichtung der Gawar-Region und der Tötung ihrer syrischen Bevölkerung kurdische Freischärler das Dorf Tel Mozilt und inhaftierten 475 Männer, die am nächsten Morgen erschossen wurden. Zwischen den Kurden und den osmanischen Beamten entbrannte ein Streit darüber, was mit den zurückgelassenen Frauen und Waisen geschehen solle. Am Ende entschied die Armee, auch diese zu töten. Nachdem er Ende Mai 1915 von den vorrückenden Russen aus der Provinz Van vertrieben worden war, floh Cevdet zusammen mit seinen 8.000 Freischärlern, den „Metzger-Einheiten“ (kasaplar taburu), nach Süden, gefolgt von General Halil (dem Onkel des Kriegsministers Enver) und einem Heer von 18.000 Mann.26 Bei der Ankunft in der Kreisstadt Sa’irt (auch Sahirt, Siirt, Seerd, Srerd) in der osmanischen Provinz Bitlis begingen sie, zusammen mit lokalen kurdischen Stämmen, ein allgemeines Blutbad in Sa’irt und seiner Umgebung, das einen Monat dauerte. In diesem Sandschak oder Bezirk lebten etwa 60.000 Christen (25.000 Armenier, 20.000 Syrisch-Orthodoxe, 15.000 Chaldäer). Rund 70.000 osmanische Ostsyrer flüchteten in den benachbarten Iran, von wo aus ein Teil dieser Menschen durch ihre russischen Verbündeten in den Kaukasus deportiert wurde. Die restlichen flohen unter enormen Verlusten an Menschenleben infolge fortgesetzter kurdischer Angriffe Richtung Hamadan, um Zuflucht bei den Briten zu suchen. Bis Mitte 1918 hatte die britische Armee die Osmanen überredet, ihnen Zugang zu den verbliebenen etwa 30.000 Assyrern aus verschiedenen Teilen des Iran zu gewähren. Die Briten entschlossen sich, diese 30.000 Assyrer aus dem Iran nach Bakuba im Irak zu überführen. Obwohl der Transfer nur 25 Tage dauerte, starben unterwegs mindestens 7.000 Deportierte. 2.000 weitere kamen während der folgenden zwei Jahre in den elenden Lagern von Bakuba um, die von den Briten im Jahre 1920 endgültig geschlossen wurden. Die Mehrheit der Ostsyrer entschied daraufhin, in ihre Heimat in den Bergen Hakkaris zurückzukehren, während die übrigen über den 25 Walker, Armenia, 206, übers. von Tessa Hofmann. 26 http://net.lib.byu.edu/~rdh7/wwi/1915/bryce/a04.htm (acc. 10.08.2017).
Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen 63 Irak zersiedelt wurden. Aber die Rückführung nach Hakkari scheiterte am starken Widerstand der Kurden. Heute lebt kein einziger Gläubiger der Apostolischen Kirche des Ostens mehr in der alten Heimat in der Südost-Türkei. Die materiellen Zeugnisse und Architekturdenkmäler ihrer bedeutenden frühchristlichen Kultur wurden systematisch vernichtet. Die überlebenden Ostsyrer verteilten sich über mehrere Staaten des Nahen und Mittleren Osten, wo ihre Existenz auch gegenwärtig bedroht ist, wie die jüngsten Entwicklungen im Irak beweisen. Die meisten osmanischen Aramäer oder Westsyrer lebten in der Provinz Diyarbakır, regiert im Jahr 1915 von Dr. Mehmet Reşid Şahingiray, einem notorischen Christenhasser. Es gibt mehrere Sammlungen von zeitgenössischen Berichten darüber, was mit den ortsansässigen Christen sowie mit jenen Armeniern geschah, die 1915 in Konstantinopel verhaftet wurden und aus Angora (Ankara) in die Provinz Diyarbakır verlegt worden waren. In seinem sogenannten „Geheim-Bericht“ widmete der deutsche evangelischen Missionar Dr. Johannes Lepsius ein Kapitel der Provinz Diyarbakır, wenn auch nur auf drei Druckseiten.27 Dort lesen wir, dass sich die Bevölkerung – 471.000 Einwohner – zu zwei Dritteln aus Muslimen zusammensetzte, bestehend aus 200.000 Kurden und 63.000 Türken, und zu einem Drittel aus Christen – bestehend aus 105.000 Armenier und „60.000 syrischen Christen (Syrisch-Orthodoxen, Nestorianer und Chaldäer)“.28 Ab Sommer 1914 wurden die männlichen nichtmuslimischen Bürger des Osmanischen Reiches in sogenannte Arbeitsbataillone der osmanischen Streitkräfte rekrutiert, wo sie unbewaffnet unter extrem harten Bedingungen als Lastträger oder beim Straßenbau arbeiten mussten, sodass viele ihrer Erschöpfung erlagen. Am 5. März 1915 wurde der aus Diyarbakır stammende Westsyrer ʿAbdulmasih Naʿman Qarabashi in ein Bataillon eingezogen, das 1.100 Männer umfasste und an der Landstraße von Diyarbakır nach Aleppo arbeitete. Nach seiner Darstellung steigerten sich die Drangsalierungen von Tag zu Tag, mit Bastinaden und anderen 27 Lepsius, Bericht. Spätere Ausgaben erschienen unter dem Titel „Der Todesgang des armenischen Volkes in der Türkey während des Weltkrieges.“ 28 Lepsius, Todesgang, 74.
64 Tessa Hofmann Misshandlungen. Die Gewalt eskalierte bis Ende März 1915 in sporadischen Morden von Wehrpflichtigen.29 In der Provinz Diyarbakır und anderswo im Osmanischen Reich war es gängige Praxis, dass die Behörden während des Genozids an den osmanischen Christen deren wertvolle und heilige Bücher sowie Handschriften vernichteten. Eines von vielen Beispielen ist die Zerstörung der Bibliothek des Addai Scher, des chaldäischen Bischofs von Sa’irt, im Juli 1915, die Tausende von Büchern zählte. Die Bibliothek der Kirche des Heiligen Johannes in Mardin wurde gleichfalls beschlagnahmt und die Bücher an Geschäfte in Mardin verteilt oder praktisch ohne Gegenwert verkauft. Ein Lehrer des syrisch-orthodoxen Klosters Deyrulzafaran erwähnt in seinen Memoiren, dass die Regierung bestimmten kurdischen Stämmen quasi einen Freibrief ausstellte, um die Christen anzugreifen. Mor Gabriel, das zweite wichtige syrisch-orthodoxe Kloster im Tur Abdin, wurde im Herbst 1917 von dem kurdischen Räuber Sendi angegriffen, der auch seine Einwohner massakrieren und die Bibliothek vernichten ließ.30 Im Frühjahr 1915 richtete Gouverneur Reşid Bey eine Kommission „zur Erforschung der armenischen Frage“ ein. Ihr stand ein gewisser Bedri Bey vor, der einem möglichen armenischen Widerstand durch die Verhaftung von wirklichen oder mutmaßlichen Mitgliedern der armenischen Partei Daschnakzutjun zuvorzukommen versuchte, 27 Personen insgesamt, darunter ein Geistlicher. Alle 27 Verhafteten wurden gefoltert und anschließend ermordet. Bei solchen Verhaftungen und gruppenweisen Morden waren von Anfang an auch syrische Christen unter den Opfern. Lepsius berichtet: „Zwischen dem 10. und 30. Mai [1915] wurden weitere 1.200 der Angesehensten unter den Armeniern und Syrern aus dem Wilajet [Diyarbakir] verhaftet. Am 30. Mai wurden 674 von ihnen auf 13 Keleks (Flöße, die von aufgeblasenen Schläuchen getragen wurden) geladen, unter dem Vorwande, dass man sie nach Mossul bringen wolle. Den Transport führte der Adjutant des Wali mit etwa 50 Gendarmen. Die Hälfte derselben verteilte sich auf die Boote, während die andere Hälfte am Ufer entlang ritt. Bald nach der Abfahrt nahm man den Leuten alles Geld, ca. 6000 türkische Pfund (110.000 Mark) und die Kleider ab. Dann warf 29 Qarabashi zufolge wurden neun Armenier abgeführt und getötet. Cf. Qarabasch, Dmo zliho, 62, 64–66. 30 Üngör, Persecution, 184.
Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen 65 man sie sämtlich in den Fluss. Die Gendarmen am Ufer hatten die Aufgabe, alle, die sich etwa durch Schwimmen retten wollten, zu töten. Die Kleider der Ermordeten wurden in Diyarbakir auf dem Markte verkauft.“31 Allen muslimischen Untertanen, die Armenier versteckten, drohte die Todesstrafe. Beamte, die sich weigerten, den Deportationsbefehl der Regierung vom 27. Mai 1915 auszuführen, wurden durch gehorsame Beamte ersetzt: In Mardin wurde der Landrat (mutassarıf), in Midyat32 und Lice die Kreisvorsteher (kaimakam) Beşiri (Sabit Bey) und Nesimi Bey ihres Amtes enthoben und getötet.33 Nach der Entlassung des Landrats von Mardin, so Lepsius, wurden die „ersten 500 und später 300 weitere armenische und syrische Würdenträger nach Diyarbakir geschickt. Die ersten 500 kamen nie in Diyarbakir an; noch hat man etwas über das Schicksal der anderen 300 gehört.“34 Es entging nicht der Aufmerksamkeit des deutschen Vize-Konsuls in Mosul, Walter Holstein, dass sich die Vernichtung in der Provinz Diyarbakır nicht auf die Armenier beschränkte, wie Holstein am 10. Juni 1915 in einer Depesche an die deutsche Botschaft zu Konstantinopel mitteilte.35 Schon drei Tage darauf, am 13. Juni 1915, berichtete der Vize-Konsul, dass sich die Verbrechen zu einer „wahren Christenverfolgung“ ausgeweitet hatten: „Die Niedermetzelung der Armenier im Vilajet Diarbekir wird hier alltäglich bekannter und erzeugt eine wachsende Unruhe unter der hiesigen Bevölkerung, die bei der unverständigen Gewissenlosigkeit und der Schwäche der hiesigen Regierung36 leicht unabsehbare Folgen herbeiführen kann. In den Bezirken 31 Lepsius, Todesgang, 75. 32 Telegramm des Vizekonsuls Walter Holstein vom 16. Juli 1915 aus Mosul. PA AA, RAV Konstantinopel, 169, zitiert nach http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-07-15-DE-011 (acc. 10.08.2017). 33 Kieser, Reshid, 265. 34 Lepsius, Todesgang, 76. 35 Cf. Telegramm vom 10. Juni 1915, PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, 169, zitiert nach http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-06-10-DE-011 (acc. 10.08.2017). 36 In der zeitgenössischen deutschen diplomatischen Korrespondenz war mit „Regierung“ meistens die örtliche oder Provinzverwaltung gemeint, im Unterschied zur Zentralregierung in der Hauptstadt Konstantinopel.
66 Tessa Hofmann Mardin und Amadia haben sich Zustände zu einer wahren Christenverfolgung ausgewachsen. Daran trägt zweifellos die Regierung die Schuld; Christen sind auch zweifellos hier beinahe vogelfrei; von vielen Fällen sei genannt, dass der hiesige alte und würdige chaldäische Patriarch heute – ich war gerade bei ihm – von einem gewöhnlichen Polizisten mündlich ohne Grundangabe vor das Kriegsgericht citiert wurde. Das ist seitens der Regierung eine kindische Provokation der hiesigen Christenheit. Eine Regierung wie die hiesige, deren Beamte öffentlich mit den gemeinsten Frauenzimmern verkehren und für die Dirnenwünsche ihre Amtstätigkeit beeinflussen, sollte nicht gerade jetzt so provozieren. Falls Centralregierung ihr Programm der Christenverfolgung nicht ändert, werden wir bald überall den hellsten Aufruhr haben. Die Armeniermassacres müssen unbedingt verhindert werden.“37 Einen Monat darauf, am 10. Juli 1915, telegraphierte Holstein aus Mosul: „Der frühere Mutessariff von Mardin, zurzeit hier, mitteilt mir folgendes: Der Vali von Diarbekir, Reschid Bey, wüte unter der Christenheit seines Vilajets wie ein toller Bluthund; er hat vor kurzem auch in Mardin siebenhundert Christen (meistens Armenier), darunter armenischen Bischof in einer Nacht durch aus Diarbekir speziell entsandte Gendarmerie sammeln und in der Nähe der Stadt wie Hammel abschlachten lassen. Reschid Bey fährt fort in seiner Blutarbeit unter Unschuldigen, deren Zahl wie der Mutessariff mir versicherte, heute zweitausend übersteigt. Falls d. Regierung38 nicht sofort ganz energische Maßnahmen gegen Reschid Bey ergreift, wird muselmanische niedere Bevölkerung d. hiesigen Vilajets gleichfalls Christenmetzeleien beginnen. Die Lage hier in dieser Hinsicht wird täglich drohender. Reschid Bey sollte sofort abberufen werden, womit dokumentiert würde, dass die Regierung seine Schandtaten nicht billigt und wodurch allgemeine Erregung hier beschwichtigt werden könnte.“39 Der Vorschlag des Vizekonsuls Holstein führte am 12. Juli 1915 zu einer Protestnote der deutschen Botschaft Konstantinopel gegen die unterschiedslose Christenverfolgung durch den Gouverneur Reşid, die an Innenminister Talaat gerichtet war. Holstein hatte vorgeschlagen, dass 37 PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, 169, http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-06-13-DE-011 (acc. 10.08.2017). 38 Hier ist die osmanische Zentralregierung gemeint. 39 PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, 169, zitiert nach Gust, Völkermord Armeniern, 198; online verfügbar unter http://www.armenocide.net/armenocide/ armgende.nsf/$$AllDocs/1915-07-10-DE-011 (acc. 10.08.2017).
Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen 67 die Botschaft die Amtsenthebung Reşids fordern solle. Doch der deutsche Protest blieb völlig wirkungslos. Im Gegenteil: Bereits drei Tage später, am 15. Juli 1915, telegraphierte Holstein, dass das chaldäische Dorf „Feinauruschabur“ [d.i. Faysch Chabur] nahe Dschesire in der Provinz Diyarbakır40 von muslimischen Kurden angegriffen worden sei, die die christliche Bevölkerung abgeschlachtet hätten. Holsteins Schlussfolgerung lautete deshalb: „Solange die Regierung nichts gegen den Vali von Diarbekir unternimmt, werden Massakres fortdauern.“41 Dass die Ereignisse in der Provinz Diyarbakır mehr als nur eine eigenmächtige Initiative eines Provinzgouverneurs bildeten, wird auch aus der Dokumentation des Sleman Henno ersichtlich. Bei der Beschreibung der Ereignisse in Midyat erwähnt er, dass am 22. Juni 1915 der Armeekommandant Rauf Bey folgendermaßen auf Proteste entgegnete: „All dies geschieht auf Beschluss des Reiches. Wir müssen nach Waffen zu suchen. Falls wir sie finden, werden wir sie beschlagnahmen (…)“.42 Bereits die europäischen und nordamerikanischen Zeitgenossen bezogen sich bei der Bewertung der Verbrechen, die an der aramäischsprachigen Bevölkerung des Osmanischen Reiches und des osmanisch besetzten Iran begangen wurden, auf den Völkermord an den Armeniern, der wegen seiner schnellen und umfassenden Durchführung zur Referenzgröße geworden war. Die Art und Weise, in der die Vernichtung der syrischen Christen durchgeführt wurde, ähnelt in vielen Zügen dem Muster der systematischen Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich: Der Entwaffnung und Tötung der Eliten folgte die Deportation oder Abschlachtung der übrigen Bevölkerung. Nur Kinder unter fünf Jahren wurden verschont, und besonders schöne Frauen. Christliche Geistliche aller Konfessionen lösten offenbar den Blutdurst und die Grausamkeit ihrer Unterdrücker in besonderem Maße aus. Eine Besonderheit bei der Zerstörung der aramäischen Gemeinschaft in der Provinz Diyarbakır und insbesondere im Bezirk von Mardin ist 40 Heute eine Kleinstadt in der nordirakischen Provinz Dohuk. 41 PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, 169, zitiert nach http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-07-15-DE-011 (acc. 10.08.2017). 42 Henno, Verfolgung, 77.
68 Tessa Hofmann allerdings, dass direkte Tötungen das Hauptvernichtungsmittel bildeten. David Gaunt gelangt zu dem Schluss: “(…) Throughout the broad region, Christian villages were plucked one by one. In these cases, all persons were killed except the few who were taken captive, usually children or young women. In a few villages, the populations were formed into deportation columns, but often they were cut down just outside their own village at the nearest convenient cliff or riverbank. The countryside was turned into one large killing field, with nearly the whole rural Christian population annihilated during the months of June and July. In the towns and cities, the Christian groups were arrested piecemeal.”43 2.3 Ereignisdeutung und Kontextualisierung Die Mehrheit der heutigen Genozidforscher geht von der Annahme aus, dass die Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich eine Folge der Nationalstaatsbildung darstellt, die das Osmanische Reich im frühen 20. Jahrhundert durchlief. Die Frage, welche Rolle in diesem Prozess der Religion zukam, ist dabei meist von nachgeordneter Bedeutung bzw. wird häufig gar nicht erst gestellt. Aber wer so verfährt, klammert möglicherweise nicht nur zentrale Besonderheiten der türkischen Nationalstaatsbildung aus, sondern übersieht auch bis in die Gegenwart wirkmächtige Spezifika des türkischen Nationalismus und der nationalen türkischen Identität. Vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Urmia-Ebene während der türkischen Besatzung 1915 notierte ein US-amerikanischer Missionar am 23. Januar 1915 in sein Tagebuch: “Most of the Kurds have left, but the Syrians are unarmed, and, just as from the beginning, their Moslem neighbours are their greatest enemies. If it isn’t a Djihad (Holy War), it is very near it. It must have been planned beforehand, for there has been concerted action from one end of the [Urmia; TH] plan to the other, though here and there some Moslems have been friendly throughout, have done many kindly deeds and saved many lives.”44 Betrachtet man also die Wahrnehmung sowohl zeitgenössischer europäischer und amerikanischer Beobachter, als auch der von Verfolgungen, wirtschaftspolitischen Repressionen und Boykotten sowie schließlich von Deportationen und Massakern betroffenen christlichen Ethnien im 43 Gaunt, Massacres, 312. 44 Bryce, Treatment, 126.
Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen 69 Osmanischen Reich, dann ergibt sich das Bild einer allgemeinen, von der osmanischen Regierung angestrebten Vernichtung und Ausschaltung nichtmuslimischer ethno-religiöser Gruppen. Der deutsche Botschafter zu Konstantinopel, Hans von Wangenheim, zitiert beispielsweise in seinem Bericht vom 17. Juni 1915 den osmanischen Innenminister mit folgender Vernichtungsabsicht: „Dass die Verbannung der Armenier nicht allein durch militärische Rücksichten motiviert ist, liegt zutage. Der Minister des Innern Talaat Bey hat sich hierüber kürzlich gegenüber dem zur Zeit bei der Kaiserlichen Botschaft beschäftigten Dr. Mordtmann ohne Rückhalt dahin ausgesprochen, dass die Pforte den Weltkrieg dazu benutzen wollte, um mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen – gründlich aufzuräumen, ohne dabei durch die diplomatische Intervention des Auslandes gestört zu werden; das sei auch im Interesse der mit der Türkei verbündeten Deutschen, da die Türkei auf diese Weise gestärkt würde.“45 Wangenheims amerikanischer Kollege Henry Morgenthau äußerte sich ähnlich in seinen zeitnah 1919 veröffentlichten Memoiren: “The Armenians are not the only subject people in Turkey which have suffered from this policy of making Turkey exclusively the country of the Turks. The story which I have told about the Armenians I could also tell with certain modifications about the Greeks and the Syrians. Indeed the Greeks were the first victims of this nationalizing idea”.46 Der Venezolaner Rafael de Nogales, der im Ersten Weltkrieg als Söldner für die Osmanen kämpfte, wobei er unter anderem die Belagerung des Armenierviertels der Stadt Van im Frühjahr 1915 leitete, gewann 1915 während des anschließenden Rückzugs vor den vorrückenden Russen direkte und umfassende Kenntnis von den Vergeltungsaktionen der regulären und irregulären osmanischen Streitkräfte an den indigenen Christen der Provinzen Van, Bitlis und Diyarbakır. Er spricht gleichwohl in seinen ebenfalls ereignisnah veröffentlichten Erinnerungen von einer vorsätzlichen, staatlich gelenkten Vernichtung der christlichen Bürger des Osmanischen Reiches: 45 PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, R 14086, zitiert nach Gust, Völkermord Armeniern, 170-171; online verfügbar unter http://www.armenocide.net/ armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-06-17-DE-003 (acc. 10.08.2017). Hervorhebung durch Tessa Hofmann. 46 Morgenthau, Ambassador, 323.
70 Tessa Hofmann „Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Metzeleien und Deportationen einem fest vorgezeichneten Plan der rückschrittlichen Partei, mit dem Großwesir Talaat Pascha und seinen Zivilbeamten an der Spitze, entsprungen war, um zuerst mit den Armeniern, dann mit den Griechen und den übrigen Christen des türkischen Reiches aufzuräumen. Den Beweis dafür liefern die Metzeleien von Sairt, Dschesiret und den umliegenden Provinzen, bei denen nicht weniger als 200.000 nestorianische Christen, katholische Syrer, Jakobiten usw. umkamen, die mit den Armeniern nichts zu tun hatten und stets treue Untertanen des Sultans gewesen waren.“47 Der an einer deutschen Realschule in Aleppo unterrichtende Lehrer Martin Niepage erklärte in einer schon 1916 an die deutschen Reichstagsabgeordneten verschickten Schrift das Übergreifen der Armenierverfolgungen auf andere christlichen Ethnien – oder präziser formuliert: andere Glaubensnationen – als Folge des bevölkerungspolitischen Programms der Jungtürken. Aus der Perspektive dieses auf ethnische Homogenisierung, sprich Türkisierung abzielenden Vorhabens seien nur die Muslime für assimilierbar befunden worden: „Dem Jungtürken schwebt das europäische Ideal eines einheitlichen Nationalstaates vor. Die nicht-türkischen mohammedanischen Rassen wie Kurden, Perser, Araber usw. hofft er auf dem Verwaltungswege und durch türkischen Schulunterricht unter Berufung auf das gemeinsame mohammedanische Interesse turkifizieren zu können. Die christlichen Nationen – Armenier, Syrer, Griechen – fürchtet er wegen ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Überlegenheit und sieht in ihrer Religion ein Hindernis, sie auf friedlichem Wege turkifizieren zu können. Sie müssen daher ausgerottet oder zwangsislamisiert werden.“48 Alle hier zitierten Zeitzeugen – die Diplomaten Wangenheim und Morgenthau ebenso wie der Militär Nogales und der Lehrer Niepage – gingen von einer nicht nur die Armenier betreffenden Vernichtungsabsicht des jungtürkischen Kriegsregimes aus. Im Fall der griechisch-orthodoxen Bevölkerung lassen sich Vernichtungsdrohungen seit dem Jahr 1909 nachweisen und wurden spätestens nach den osmanischen Verlusten während der Balkankriege 1913 in die Tat umgesetzt, während Kriegsminister Enver noch am 25. Februar 1915 die ermeni milleti, also die armenisch-apostolische „Glaubensnation“, wegen ihrer patriotischen Pflichterfüllung an der Front in einem Schreiben an den armenischen Patriarchen zu Konstantinopel pries. 47 Nogales, Halbmond, 98. 48 Niepage, Wort, 11–12.
Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen 71 Wie hohl dieses Lob für die traditionell als milleti sadıka (loyale Nation) geltenden Armenier zumindest im Jahr 1915 war, zeigt der Umstand, dass derselbe Enver noch am selben Tag die Entwaffnung der meisten armenischen Soldaten und ihre weitere Verwendung als wehrlose Zwangsarbeiter anordnete. Wir haben es hier wie so oft mit einer Diskrepanz zwischen Worten und Handeln des jungtürkischen Regimes zu tun, die sich womöglich aus seinem Ursprung als Geheimorganisation erklärt. Für die Deutung der mit der Vernichtung der aramäischsprachigen Christen verbundenen Ereignisse ist diese Diskrepanz von besonderer Bedeutung. Rache und Vergeltung nicht nur für die Vertreibung und Tötung muslimischer Bevölkerungsgruppen durch Christen, aber auch bevölkerungspolitische Erwägungen bilden den Motor der genozidalen Dynamik während der letzten Dekade osmanischer Herrschaft. Dabei spielte vor allem eine Rolle, dass sich im Verlauf des 19. Jhs. die Zahlenverhältnisse zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen im anatolischen Kerngebiet dank der muslimischen Zuwanderung entscheidend zugunsten der Muslime geändert hatten; Ende des 19. Jhs. war annähernd Gleichstand zwischen beiden Gruppen erreicht, was offenbar bei der muslimischen Elite das Bedürfnis auslöste, eine Entscheidung herbeizuführen (vgl. Tab. 1). Obwohl de facto von diesem Zeitpunkt an die Minorisierung der Nichtmuslime ihren Verlauf nahm, stieg parallel zu den Territorialverlusten, die das Osmanische Reich zunehmend hinnehmen musste, die Wahrnehmung der einheimischen Christen als Bedrohung. Namentlich die Griechen, deren Siedlungsgebiete sich an den Küsten des Schwarzen Meeres und der Ägäis konzentrierten, galten als innere Feinde und wurden im dehumanisierenden Jargon führender Jungtürken spätestens ab Sommer 1914 als Tumore bezeichnet. Die Griechen Kleinasiens definierten sich selbst noch zu diesem Zeitpunkt überwiegend als romies bzw. romiosyni, also als Römer bzw. Byzantiner und übernahmen mithin das tiefe Misstrauen und die Feindseligkeit, die osmanische Herrscher seit der Eroberung der byzantinischen Hauptstadt Konstantinopels den rumlar („Römern“) entgegenbrachten. Zehn Jahre nach der Einnahme Konstantinopels (1453) bauten Mehmet der Eroberer und seine Nachfahren die Armenier als Gegengewicht zur einstigen byzantinischen Elite sowie zur griechischen Orthodoxie auf und statteten das schon von Sultan Mehmet ins Leben gerufene armenischapostolische Patriarchat zu Konstantinopel mit Privilegien aus, zu denen
72 Tessa Hofmann auch gehörte, dass alle übrigen vor-chalcedonensischen Kirchen, darunter die syrischen Kirchen, der Oberaufsicht des armenisch-apostolischen Patriarchen zu Konstantinopel unterstellt wurden. An dieser Ordnung änderte sich erst im späten 19. Jahrhundert etwas, als die syrisch-orthodoxe Kirche im Zuge der osmanischen Reformbewegung analog zur armenisch-apostolischen Kirche eine eigene Verfassung sowie das Recht erhielt, ihre Interessen selbst und ohne armenische Vermittlung vor der osmanischen Regierung zu vertreten.49 Der Verlauf der Vernichtung der christlichen Glaubensnationen im Osmanischen Reich widerspiegelt nicht diese politischen und rechtshistorischen Besonderheiten in den Beziehungen der christlichen Konfessionen zum osmanischen Staat, aber es erscheint gleichwohl erforderlich, sich diese Besonderheiten in Erinnerung zu rufen, um die oft gespannten Beziehungen der Kirchen untereinander zu verstehen, die gerade in der Phase ihrer existentiellen Bedrohung nicht wirklich von ökumenischem Geist bzw. Solidarität geprägt sein konnten. Infolgedessen durchlitt jede millet ihr Schicksal allein. Die rum millet-i der Griechisch-Orthodoxen bildete mit 2,7 bis 3 Millionen die größte Glaubensnation im Osmanischen Reich. Sie erlitt bereits seit dem 2. Balkankrieg 1913 Deportationen und Massaker, zunächst in Ostthrakien, dann in Ionien bzw. Westanatolien, während des Weltkrieges vor allem im Pontosgebiet. Dem Genozid an den kleinasiatischen Griechen fielen in drei verschiedenen Phasen vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg über eine Million Menschen zum Opfer. Dieser fortgesetzte bzw. kumulative Genozid – auf Griechisch „genoktonia en roi“ – wurde während des Weltkrieges zumindest bis 1917 aus außenpolitischen Erwägungen und auf Drängen Deutschlands gebremst und beschränkte sich auf einzelne Regionen; erst in der Phase 1919 bis 1922 nahm er im Zuge der Befreiungsbewegung unter den Nationalisten Mustafa Kemals landesweite Züge an und endete schließlich mit dem Holocaust der christlichen Viertel in der unverteidigten Hafenstadt Smyrna sowie mit der anschließenden Zwangsarbeit 49 Cf. Hage, Art. Jakobitische Kirchen, 479–480; Parry, Six Months, 314 (‘The present [Syriac-Orthodox] Patriarch has obtained, by strenuous exertions, the right to be directly represented at Constantinople, instead of the mere right to appeal through the Gregorian-Armenian Patriarch. He has now a bishop at Constantinople with the right of audience of the Sultan.’); Joseph, MuslimChristian Relations, 29.
Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen 73 Hunderttausender griechisch-orthodoxer Osmanen, bei denen mindestens 300.000 Männer an Seuchen und Entkräftung zugrunde gingen.50 Im Gegensatz dazu vollzog sich der Genozid an den osmanischen Armeniern seit Ende Mai 1915 beinahe landesweit51 als schnelle Abfolge von Massakern an der männlichen wehrfähigen Bevölkerung sowie Todesmärschen der übrigen Bevölkerung, die allerdings zunächst knapp jeder zweite der insgesamt zwei Millionen Deportierten überlebte. Als das anschließende Hungersterben im mesopotamischen Deportationsgebiet den zuständigen Behörden im Frühjahr 1916 zu langsam vorkam, wurden die dortigen Konzentrationslager sukzessive durch staatlich rekrutierte Totschlägerbanden liquidiert. In nur 19 Monaten starben mithin 1,5 Millionen Armenier, d.h. 60 Prozent der armenisch-osmanischen Vorkriegsbevölkerung bei direkten 50 Cf. Hofmann/Bjørnlund/Meichanetsidis, Genocide Ottoman Greeks; Shirinian, Asia Minor Catastrophe. 51 Ausnahmen bildeten die osmanische Hauptstadt Konstantinopel, die überwiegend von Christen bewohnte zweitgrößte Stadt des Osmanischen Reiches Smyrna sowie die ostthrakische Hauptstadt Adrianopel, wo jeweils mit Rücksicht auf die starke Präsenz von Ausländern keine allgemeine Deportation der Armenier durchgeführt wurde. Immerhin wurden aber aus Smyrna 600 Mitglieder der armenischen Partei Daschnakzutjun deportiert; am 13. November 1916 meldete die deutsche Botschaft den Beginn der „allgemeinen Deportation“ der Armenier aus Smyrna; cf. PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, R 14094, zitiert nach http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/ 1916-11-13-DE-002 (acc. 10.08.2017). Aus Konstantinopel wurden im Sommer und Winter 1915 34.000 amtlich nicht gemeldete Armenier deportiert; es handelte sich vor allem um Angehörige der ärmeren Schichten, die aus den östlichen Provinzen bzw. Westarmenien zugezogen waren. Am 7. Dezember 1915 berichtete der deutsche Botschafter Paul Wolff-Metternich dem Reichskanzler:  „Von vertrauenswürdiger Seite erfahre ich, dass nach Auskunft des hiesigen Polizeipräsidenten, die ich bitte geheim zu halten, auch aus Konstantinopel neuerdings etwa 4000 Armenier nach Anatolien abgeführt worden sind, und dass mit den 80000 noch in Constantinopel lebenden Armeniern allmählich aufgeräumt werden soll, nachdem schon im Sommer etwa 30000 aus Konstantinopel verschickt und andere 30000 geflohen sind. Soll Einhalt geschehen, so sind schärfere Mittel notwendig.“ PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, R 14089, zitiert nach Gust, Völkermord Armeniern, 394–395; online verfügbar unter http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs-de/1915-12-07-DE-001 (acc. 10.08.2017).
74 Tessa Hofmann Tötungen und an den Begleitumständen der Todesmärsche sowie in den Deportationsgebieten. Kommen wir nun zu den Spezifika der Vernichtung aramäischsprachiger Christen (vgl. Tab. 2). Die Hauptfrage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, lautet, ob es überhaupt aufseiten der Zentral- oder Provinzregierungen einen gegen die Aramäer gerichteten Vernichtungsvorsatz gab, oder ob die betroffenen Konfessionen, gleichsam als Nebeneffekt, der Vernichtung der beiden größeren Glaubensnationen, namentlich der ermeni millet-i, zum Opfer fielen. Mit anderen Worten: Hätte es die Vernichtung aramäischsprachiger Christen ohne eine Vernichtung der Armenier gegeben? Das würde ich nach den vorliegenden Erkenntnissen und mit Ausnahme des Bezirks Hakkari bezweifeln. Betrachten wir daraufhin die Situationen in Hakkari sowie im übrigen osmanischen Raum: Der von Racho Donef erstellte Anhang zu David Gaunts Monographie (2006) enthält einen Deportationsbefehl des osmanischen Innenministeriums vom 26. Oktober 1914, in dem die Zwangsumsiedlung und anschließende Zersiedlung der Nestorianer aus dem Bezirk Hakkari in die Region um Konya angeordnet wurde.52 Unter der Voraussetzung der Echtheit dieses Dokuments und der Zuverlässigkeit seiner Übersetzung ergeben sich bemerkenswerte Unterschiede zu den „Deportationsmaßregeln“ vom 14./27. Mai 1915. Denn im Unterschied zu dem Befehl vom 26.10.1914, wo dezidiert von Nestorianern die Rede ist, enthalten die späteren Maßregeln des türkischen Kriegsregimes keinerlei Hinweis auf Armenier. Es ist in diesem Dokument lediglich von „verdächtigen Personen“ die Rede.53 Welcher Personengruppe der Verdacht galt, wurde außerhalb Konstantinopels den zuständigen Staatsdienern von eigens aus der Hauptstadt entsandten Deportationsemissären mündlich erläutert. In einem kleinen, 2008 veröffentlichten Artikel wies der deutsch-amerikanische Turkologe und Historiker Hilmar Kaiser darauf hin, dass die am 24.10.1914 angeordnete Deportation der Nestorianer nie stattgefunden 52 Gaunt, Massacres, 446–447. 53 Cf. französische Übersetzung der Deportationsmaßregeln in: Lepsius, Deutschland, 78. Lepsius gibt hier die „Maßregeln“ nach folgender Publikation wieder: Aspirations et agissements révolutionaires des Comités Arméniens avant et après la proclamation de la Constitution Ottomane, Constantinople, 1917.
Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen 75 habe, nachdem die Ortsbehörden dem Innenministerium mitteilten, dass kein Aufstand der Nestorianer drohe. Kaiser zufolge habe sich das Innenministerium davon überzeugen lassen. Der Vorgang erscheint jedoch in mehrfacher Hinsicht überprüfenswert. Denn zum einen zitiert Kaiser für seine Behauptung primäre osmanische Archivalien in ungenauer Weise, sodass anscheinend andere Forscher bisher keine Gelegenheit hatten, den Schriftverkehr zwischen dem Ministerium und den Ortsbehörden zu überprüfen. Noch bedenklicher erscheint mir aber Kaisers implizite Hypothese, wonach die osmanischen Behörden im Weltkrieg nur dann deportierten, falls von einer Bevölkerungsgruppe wirkliche Gefahr ausging. Müssen wir nach dieser Logik im Umkehrschluss annehmen, dass die gesamte armenische Nation im Osmanischen Reich gefährlich war und mithin ihr Schicksal verdient hatte? Dieser Behauptung hat der bereits zitierte Botschafter Hans von Wangenheim am 7. Juli 1915 energisch widersprochen, als er dem Reichskanzler schrieb: „Die Austreibung und Umsiedelung der armenischen Bevölkerung beschränkte sich bis vor etwa 14 Tagen auf die dem östlichen Kriegsschauplatze benachbarten Provinzen und auf einige Bezirke der Provinz Adana; seitdem hat die Pforte beschlossen, diese Maßregel auch auf die Provinzen Trapezunt, Mamuret-ul-Aziz und Siwas auszudehnen, und mit der Ausführung begonnen, obwohl diese Landesteile vorläufig von keiner feindlichen Invasion bedroht sind. Dieser Umstand und die Art, wie die Umsiedelung durchgeführt wird, zeigen, daß die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten.“54 Doch selbst wenn die Deportation der Hakkari-Nestorianer Ende Oktober 1914 nicht stattfand, so fiel die aramäischsprachige Bevölkerung nicht nur in der Provinz Wan, sondern auch in der Nachbarprovinz Bitlis der ungehinderten Vergeltung des Provinzgouverneurs Cevdet sowie Halils, des Befehlshabers des osmanischen Expeditionskorps, im Sommer 1915 zum Opfer. Oberstleutnant Halil und Cevdet, beide eng mit Kriegsminister Enver verwandt bzw. verschwägert, waren sich offenbar zumindest der Duldung der Zentralregierung für die von ihnen angerichteten Blutbäder unter der armenischen und aramäischsprachigen Bevölkerung sicher. 54 PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, R 14086, zitiert nach Gust, Völkermord Armeniern, 185–188; online verfügbar unter http://www.armenocide.net/ armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-07-07-DE-001 (acc. 10.08.2017).
76 Tessa Hofmann Deutlicher noch als Kaiser hat der schottische Genozidforscher Donald Bloxham die These aufgestellt, dass 1915 keine allgemeine Absicht zur Vernichtung der osmanischen Christen bestanden habe und begründet dies damit, dass die „Assyrer“, wie er die aramäischsprachigen Christen pauschal umschreibt, allein schon aufgrund ihrer geringen Anzahl keine Bedrohung für den osmanischen Staat dargestellt hätten; er schränkt allerdings ein, dass die prorussische Annäherung des nestorianischen Patriarchen Benjamin Schimun XXI. die osmanische Zentralregierung stärker herausforderte, als es irgendein Armenier je vermocht hatte.55 Damit aber widerlegt sich Bloxhams Argument von der politisch-militärischen Bedeutungslosigkeit der Nestorianer von selbst. Ohnehin erscheint es als Trugschluss, den Vernichtungsbegründungen von Genozidtätern Rationalität bzw. eine nachvollziehbare Logik zu unterstellen. Überzeugender sind Bloxhams quantifizierende Hinweise: Im Vergleich mit der Vernichtung der Armenier weise die Verfolgung der Assyrer eine geringere Intensität und Systematik auf.56 Empirisch abgesichert ist diese Aussage auf Provinzebene durch die Berechnungen des Leiters der Dominikanermission zu Diyarbakır, Jacques Rhétoré (vgl. Tab. 3). Danach lag die armenisch-apostolische Bevölkerung mit einer Fatalitätsrate von 95 % am höchsten, gefolgt von den unierten Armeniern (92 %) und den Chaldäern (90 %); bei den Syrisch-Orthodoxen, die – abweichend von den Zahlenangaben bei Lepsius – mit einer Gesamtzahl von 84.725 die größte christliche Gruppe in der Provinz gewesen sein sollen, lag die Rate immerhin bei 71 %. Zum Beweis seiner These, wonach es sich in der Provinz Diyarbakır um keine von der jungtürkischen Zentralregierung gewollte allgemeine Christenverfolgung gehandelt habe, führt Bloxham Talats Telegramm an den Gouverneur der Provinz Diyarbakir, Dr. med. Reşid Şahingiray, vom 12. Juli 1915 an. Auch in diesem Fall bleibt aber zu prüfen, ob Talats Anordnung nicht ein Mittel war, um – wie es 1915 und 1916 häufig belegt ist – in erster Linie den verbündeten Deutschen Sand in die Augen zu streuen. Tatsächlich leitete Talat Holsteins neuerliches Telegramm vom 10. Juli 1915 zwei Tage später an Reşid mit der Aufforderung weiter, die Ausweitung der „Strafmaßnahmen“ [tedabir-i inzibatiye] auf andere Christen als die 55 Bloxham, Great Game, 97. 56 Ibid.
Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen 77 Armenier aufzugeben, da dies „schädlich für das Land“ sei.57 Wie unter II) bereits dargelegt, geschah aber de facto rein gar nichts. Reşid blieb im Amt und setzte bis weit in den September 1915 unterschiedslos die Massakrierung und Deportation der armenischen und aramäischsprachigen Bevölkerung in seinem Amtsbereich fort bzw. duldete Übergriffe auf Armenier, Syrisch-Orthodoxe und Chaldäer. Der Schweizer Historiker Hans-Lukas Kieser, dem eine ausführliche biografische Studie zu Reşid Şahingiray zu verdanken ist, behauptet darin, dass sich die unterschiedslose Vernichtung von Syrern und Armeniern auf die Provinz Diyarbakır beschränkte. Auch dies trifft nicht zu. Denn zumindest der US-amerikanische Konsul Leslie L. Davis berichtete von einem allgemeinem Deportationsbefehl in einer anderen Provinz als Diyarbakır; Davis teilte aus der gleichnamigen Hauptstadt der Provinz Mamuret-ulAziz oder Harput (heute: Elazıg) mit: “On Saturday, June 28th, it was publicly announced that all Armenians and Syrians were to leave after five days.”58 3 Zusammenfassung und Schlussfolgerung: Die These, dass es sich beim Genozid an den osmanischen Armeniern um keinen singulären Vorgang handelte, erscheint mit Blick auf die beiden großen christlichen Volksgruppen bzw. Glaubensnationen der Armenier und Griechen unstrittig. Die griechische Autorin Dido Sotiriou erklärte dies in ihrem bekannten Roman „Matomena Chomata“ – „Blutgetränkte Erde“ (1962) wie folgt: „Die tief in Anatolien verwurzelte christliche Bevölkerung hielt in ihren Händen den Wohlstand und die Schlüssel zu Anatolien. Daher musste sie vernichtet werden.“59 Armenier und Griechen wurden in der letzten Dekade osmanischer Herrschaft nicht nur als Gefahr für die Staatssicherheit wahrgenommen, sondern auch als auszuschaltende Wirtschaftskonkurrenten angesehen. Im Zuge ihrer Vernichtung kamen aber auch bis zu 625.000 aramäischsprachige Christen um. Selbst wenn 57 Kieser, Reshid, 267. 58 Davis, Slaughterhouse Province, 144. 59 Σωτηρίου, Διδώ, Ματωμένα Χώματα, zitiert nach der englischen Ausgabe: Sotiriou, Farewell, 138, übers. nach der englischen Ausgabe v. Tessa Hofmann.
78 Tessa Hofmann sie nicht ursächlich eine Zielgruppe bildeten, unterschieden sich weder die Mittel, noch die Folgen ihrer Vernichtung. Besondere Schwierigkeiten bei der vergleichenden Erforschung der Spezifika und Varianzen bereitet der Umstand, dass primäre und sekundäre Quellen zu einem großen Teil sehr verstreut sind und darüber hinaus unterschiedlich, teilweise sogar gegensätzlich interpretiert wurden. Die von manchen Forschern aufgestellte Behauptung, dass es keine Deportationsbefehle gegen aramäischsprachige Christen gegeben habe bzw. diese nicht ausgeführt wurden, lässt sich allerdings nicht aufrechterhalten. Zumindest in den Provinzen Diyarbakır und Mamuret-ul-Aziz kam es auch zu Deportationen aramäischsprachiger Christen, da Christen unterschiedslos deportiert wurden.60 Als weitere Forschungsaufgaben ergeben sich nicht nur die Notwendigkeit einer Überprüfung der bisher bekannten und diskutierten Quellen – bei gleichzeitiger Erschließung möglichst neuer Quellen –, sondern vor allem auch ihre Neubewertung. Dabei sollten organisationssoziologische Studien zu den Befehlsstrukturen und Besonderheiten der osmanischen Bürokratie, insbesondere das Wechselverhältnis von Orts-, Regional- und zentralen Behörden stärker als bisher Berücksichtigung finden. Wir müssen uns dabei von der Chronologie und den Narrativen verabschieden, die durch eine nur auf die Betrachtung des Genozids an den 60 Der deutsche Konsul im „Deportationsdrehkreuz“ Aleppo, Walter Rössler, berichtete u.a. am 3. September 1915: „In den östlichen Provinzen sind außer den Armeniern nicht nur Nestorianer, sondern auch Altsyrer (Jakobiten), katholische Syrer (Syrianer) und andere Christen verbannt worden. Schon seit längerer Zeit verlautete hier, dass solche Christen auch getötet worden seien. Ich habe einen hier im Lande geborenen, vermöge seines Berufes mit verschiedenen Bevölkerungsklassen in Berührung kommenden, gut beobachtenden europäischen Bekannten gebeten, mir schriftlich mitzuteilen, was ihm darüber bekannt geworden ist und beehre mich, seine Aufzeichnungen darüber hier beizufügen. Danach gibt es eine ganze Anzahl nicht armenischer christlicher Frauen, die ohne ihre Männer hier angekommen sind. Es ist kaum ein anderer Schluss möglich als dass die Männer getötet worden sind. In einem nachgewiesenen Fall sind die Vermissten griechisch katholisch.“ PA AA, RAV Botschaft Konstantinopel, R 14095, zitiert nach Gust, Völkermord Armeniern, 279–291; online verfügbar unter http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/191509-03-DE-002 (acc. 10.08.2017).
Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen 79 Armeniern beschränkte Sicht hervorgerufen wurden. Die genozidal ausufernde Politik der Jungtürken radikalisierte sich stufenweise seit dem Militärputsch von 1908, den Parteitagen der Ittihat ve Terakki Cemiyeti von 1910 und 1911 (auf denen die Zer- und Umsiedelung sämtlicher Bevölkerungsgruppen zwecks religiöser und kultureller Homogenisierung – Islamisierung und Türkisierung – des Reiches besprochen und beschlossen wurde), den Balkankriegen 1912/3, in denen in Ostthrakien mit zwei Typen der Deportation „experimentiert“ wurde – Vertreibung über die Landesgrenze nach Griechenland und eigentliche Deportation ins anatolische Landesinnere –, den anschließenden Vorkriegsdeportationen in Ionien 1914 zur „Säuberung“ der Ägäis- und Marmaraküsten, den Einberufungen von Nichtmuslimen in Zwangsarbeiterbataillone sowie den gewalttätigen Razzien und Hausdurchsuchungen vor allem der armenischen Landbevölkerung ab Sommer 1914. Die beiden Weltkriegsgenozide des 20. Jahrhunderts, wie sie auch der Initiator und Hauptautor der UN-Völkermordkonvention, Raphael ­Lemkin, empirisch seiner Definition von Völkermord zugrunde legte, stellten multiple, komplexe Verbrechen dar. Im osmanischen Fall wurden sie durch den Versuch ethnischer Homogenisierung im Kontext der türkischen Nationalstaatsbildung ausgelöst, mit dem Ziel, die Kontrolle über ein zerfallendes Staatengebilde wieder zu erlangen; weitere Tätermotive bildeten Vergeltung für angeblichen Verrat und traditioneller Religionshass. Im nationalsozialistischen Fall wirkten vor allem rassistische Motive. In beiden Fällen erklärten jedoch die Hauptverantwortlichen, präventiv, zum Schutz und Nutzen der eigenen Volkszugehörigen handeln zu müssen. So schlussfolgerte die den Jungtürken nahestehende Schriftstellerin Halide Edip Adıvar in ihren zeitnah veröffentlichen Memoiren: “(…) the massacres [of the Muslims] did not arouse one quarter of the indignation which the Armenian massacres had done. These facts spoke bitterly in Turkey against Europe, and in the Islamic world of Asia. I believe that the two different measures meted out by Europe to the Moslem Turks and to the Christian peoples in Turkey keenly intensified nationalism in Turkey. They also aroused the feeling that in order to avoid being exterminated the Turks must exterminate others”.61 61 Edip, Memoirs, 333.
80 Tessa Hofmann Die Autorin zitiert den damaligen Innenminister Talat mit folgendem Bekenntnis zur genozidalen Skrupellosigkeit: “ ‘Look here, Halidé Hanum. I have a heart as good as yours, and it keeps me awake at night to think of the human suffering. But that is a personal thing, and I am here on this earth to think of my people and not of my sensibilities. If a Macedonian or Armenian leader gets the chance and the excuse he never neglects it. There was an equal number of Turks and Moslems massacred during the Balkan war, yet the world kept a criminal silence. I have the conviction that as long as a nation does the best for its own interests, and succeeds, the world admires it and thinks it moral. I am ready to die for what I have done, and I know that I shall die for it.’ In 1922 (sic!)62 he was shot by an Armenian in Berlin.”63 Anlagen Tab. 1: Minorisierung von Mehrheiten: Nichtmuslime im Osmanischen Reich/Türkei im Verlauf eines Jahrhunderts (1820er–1920er Jahre). Quelle: Karpat, Population, 72, zitiert nach Özbudun, Plural Society, 65 Dekade 1820er Jahre 1840er Jahre 1870er Jahre 1890er 1927 (Zensus der Türkischen Republik) 1935 (Zensus) 2012 (Schätzung) Anteil der Nicht-Muslime an der osmanischen Gesamtbevölkerung (%) 68.0 63,9 57.0 52.5 2.0 Anteil der Muslime an der osmanischen Gesamtbevölkerung (%) 32.0 36,1 43.0 47,5 0.1 0.1 62 Mehmet Talat wurde am 15.03.1921 im selbst gewählten Exil in Berlin-Charlottenburg von dem armenischen Attentäter Soġomon T’ehlerean erschossen. 63 Edip, Memoirs, 387.
Armenier aramäischsprachige Christen (Aramäer/Assyrer) Griechen (Griechisch-Orthodoxe bzw. Angehörige der osmanischen „Rum milet“) Deportation ange- Innenminister Talat, Mai 1915 Übertragungs-Effekt der armeniInnenminister (Talat; Mai 1914, ordnet von: schen Deportationen, besonders in Ionien) d. Provinz Diyarbakır. Kriegsminister (Ismail Enver; Dez. Verantwortung trugen: a) 1916); Dt. Befehlshaber Liman in Provinz Diyarbakır von Sanders (April 1917, Ayvalık/ 1915: Gouverneur Dr. Mehmet Ionien); kemalistische Behörden Reşid Şahingiray; b) in Provinzen (Pontos, Juni 1922; Smyrna, Van u. Bitlis 1915: Cevdet September 1922) Bey; Zentralregierung) c) im Iran 1914/15, 1918: osman. Militärbehörden; Cevdet Bey Genozidäre Gendarmen bzw. Feldpolizei; Reguläre Streitkräfte (in Provinzen Reguläre osman. Streitkräfte und Handlungen durch Paramilitärs; reguläre Streitkräfte Van und Bitlis), Paramilitärs (hoher musl. Irreguläre; (in Provinzen Van und Bitlis); Anteil kurdischer Irregulärer, 1919–1922: paramilitär. Teile d. muslim. Bevölkerung; Teile der musl. Bevölkerung (hohe „Befreiungsstreitkräfte“; Teile der mancherorts reguläre Streitkräfte Beteiligung tribaler Kurden) muslim. Bevölkerung beteiligt Zeitgen. Mets jerern („Großes Sayfo („Schwert“, wegen sphagi („Massaker“) und xerisoBezeichnung der Verbrechen“ bzw. „Großer Massakern und versuchter mos („Entwurzelung“); Megali Verbrechen durch Frevel“) Selbstverteidigung 1915) katastrophi („große Katastrophe“) Opfergruppe als Dauer 19 Monate (Frühjahr 1915 – Okt. 1914 – März 1918 1912/13 – 1922/23 (kumulativ) Herbst 1916) Opfergruppen Tab. 2: Der Genozid an den Christen des Osmanischen Reichs 1912–1922 im Vergleich Die Vernichtung der aramäischsprachigen Christen 81
Landesweit (Ausnahmen: Konstantinopel/ Istanbul, Adrianopel/Edirne, Smyrna/Izmir) Systematische Vernichtung der Elite (Elitozid); Zwangsarbeit; Deportation; Massaker Ort/Region Vernichtet durch: Griechen (Griechisch-Orthodoxe bzw. Angehörige der osmanischen „Rum milet“) 1) Landesweit; osman. Provinzen 1) 1912/13: Ost-Thrakien Diyarbakır und Van/Hakkari, fer- 2) 1913–15: Ionien (Westner Bitlis, Mamuret-ul-Aziz, Aleppo Anatolien), Marmaraküste 2) NW Iran (Provinz 3) 1916–17: Pontos Aserbaidschan: Bezirke Urmia, 4) 1919–1922: Landesweit Choj, Salmas) Teilweise Vernichtung der Elite; Teilweise Vernichtung der Elite; Zwangsarbeit; Massaker (in Zwangsarbeit; Deportation; besonders hohem Maße) Massaker aramäischsprachige Christen (Aramäer/Assyrer) Opferzahlen armenischer und aramäischsprachiger Christen in der Provinz Diyarbakır nach Berechnung von Jacques Rhétoré (Leiter der franz. Dominikanermission in Diyarbakır seit 1881) Konfession „Anzahl vor der „Verschwundene“ „Nach der Verfolgung Verluste in Prozent Verfolgung“ Übrig gebliebene“ (%) der Bevölkerung Armenisch-Apostolische 60.000 58.000 2.000 95% Unierte Armenier 12.500 11.500 1.000 92% Chaldäer 11.120 10.010 1.100 90% Unierte Syrer 5.600 3.450 2.150 61% Syrisch-Orthodoxe 84.725 60.725 24.000 71% Protestanten 725 500 225 69% Tab. 3: Courtois, Forgotten Genocide, 198. Armenier Opfergruppen 82 Tessa Hofmann
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Amill Gorgis Al-qusara fi nakbat an-Nasara – „Das Äußerste in den Katastrophen der Christen“ Abstract: The article is a summary of the book ‘The utmost in the catastrophes of Christians’ by the Syriac Catholic chorepiscope Ishaq Armale. It contains a chronological history of the Christians in Mardin since 3rd century and peaks in the description of the genocide. Attached to the article is an historic commentary on Armale and his book. Der Verfasser des Buches „Das Äußerste in den Katastrophen der Christen“ ist der syrisch-katholische Chor-Episkopos Ishaq Armale, der 1879 in Mardin geboren wurde und 1952 verstarb. Im Jahre 1895 trat er im Alter von 16 Jahren in das Kloster Scharfe im Libanon ein, in dem er sich mit Begeisterung dem Studium und der Forschung widmete. Er wurde am 24. Januar 1898 im Alter von 19 Jahren zum Diakon und im September desselben Jahres vom Patriarchen, dem Gelehrten Aphrem II. Rahmani, zum Priester geweiht. Dieser ernannte ihn zusätzlich zu seinem Sekretär. Nach Reisen durch Europa und in einige syrische Zentren in der Türkei wurde er im Jahre 1910 damit beauftragt, Mönche des Ephrem-Ordens zu unterrichten. Bei seinen Reisen war er beispielsweise in Rom und hat die wertvollen syrischen Handschriften der Vatikanbibliothek durchforscht. Dabei verfasste er mehr als fünfzig Schriften, die teilweise gedruckt wurden, meist jedoch handschriftlich geblieben sind. In den Schriften, in denen es um dogmatische und historische Auseinandersetzungen mit der syrischorthodoxen Kirche geht, ist er sehr polemisch. Das führte dazu, dass auf einige seiner Schriften mit einer Gegenschrift reagiert wurde. Hier sind beispielsweise der Archidiakon Ni’mar Allah Danno (1884–1951) mit seiner Schrift „Kritische Auseinandersetzung mit dem Chor-Bischof Ishaq Armale“ oder der Patriarch Aphrem Barsaum mit seiner Schrift „Ar-rad’a fi tafnid ar-rag’a“, was übersetzt „Widerlegung der Irrtümer der ‚Rückgängigmachung‘ “ bedeutet, zu nennen. Auch in dem hier besprochenen Buch sind seine Berichte nicht frei von Seitenhieben gegen die syrisch-orthodoxen Geistlichen.
88 Amill Gorgis Das entsprach einer anderen Denkweise übereinander, welche die unterschiedlichen Konfessionen und Traditionen pflegten. Ich bin froh, dass die Christen und diejenigen, die Verantwortung in der Kirche tragen, heute anders im Miteinander auf die dramatischen Herausforderungen unserer Zeit reagieren. Abgesehen davon zeigt das Buch das Elend auf, welches die ganze christliche Bevölkerung aller Ethnien und Konfessionen im damaligen Osmanischen Reich im Jahre 1895 und in den Jahren 1914 bis 1919 erlitt. Es bietet uns eines der seltenen historischen Zeugnisse, die detailliert über das berichten, was den Christen an Grausamkeiten, an Tyrannei, Rechtlosigkeit, Entführungen, Vertreibung, Gefangenschaft, Gemetzel, Tötung und allen Arten von Abscheulichkeiten widerfahren ist. Das Buch, dessen Berichte Mardin und seine Umgebung betreffen, ist in fünf Teile geteilt: Im ersten Teil des Buches beschreibt Armale die Stadt Mardin. Dabei streift er die Geschichte des Christentums ab dem 3. Jahrhundert, um dem Leser zu signalisieren, wie tief die Stadt Mardin im christlichen Glauben verwurzelt war. Erst danach beginnt er chronologisch auf die Geschichte des Landes einzugehen, beginnend mit dem Einmarsch der Assyrer von 1115 v. Chr. und den von ihnen verübten Grausamkeiten. Weitere Kapitel handeln von den Persern, den Arabern Mesopotamiens in vorislamischer Zeit, von den Muslimen in Mesopotamien, der Ortoqiden- (auch Artuqiden- oder Artukiden-) Dynastie von 1095 bis 1421, dem Qara Qoyunlu-Fürstentum von 1410 bis 1468, dem Aq Qoyunlu-Fürstentum von 1468 bis 1514 und schließlich von den Osmanen ab dem Jahre 1621. In diesem Kapitel berichtet er: „Im Jahre 1630 wurde Ya’qūb zum Wali von Amīd ernannt. Sogleich ließ er das neue Regierungsgebäude im Osten der Stadt bauen. Jedoch die, die ihm auf den Stuhl folgten, waren hart gegenüber den Christen: Sie fügten ihnen Leid zu und verfolgten sie. Deswegen sahen sich die Christen von Assūr, al-Agmadī, Astel, Rašmel, Qabāle, die Sippen der al-Mahallamiyye, ar-Rāšidiyye und al-Machāšniyye gezwungen, ihren christlichen Glauben aufzugeben und Muslime zu werden.“ Auch wenn wir hier keine Details der Unterdrückung erfahren, so kann man doch erahnen, wie hoch der Preis für diejenigen gewesen sein muss, die an ihrem christlichen Glauben festhielten. Spätestens hier erfahren wir, dass die Kirchen der orientalischen Christen aus seiner Sicht Kirchen der Märtyrer sind.
Das Äußerste in den Katastrophen der Christen 89 Ein weiteres Kapitel widmet Armale dem Bezirk Dyārbakir, wobei er eine Kontinuität der grausamen Herrscher von Dyārbakir bis in seine Zeit sieht. Er fährt fort, als Augenzeuge zu berichten: „Wir sahen solche Missetaten mit eigenen Augen, besonders zur Zeit des tyrannischen Wali Rašīd von Dyārbakir, dem der Teufel seine Eier in seinen Kopf legte und wartete, bis er die bösen Banden um sich sammeln konnte. Sodann überfiel er die schuldlosen Christen, führte sie aus der Stadt hinaus, mordete, plünderte und beraubte sie. Für die Durchführung seiner hinterlistigen Ziele wählte er Leute, die seine schlechten Gedanken ausführten, wie Chalīl Adīb, der Vorsitzende des Strafgerichts, al-Ḥāğ Zakī sowie dessen Bruder Badrī, Mamdūḥ, Tawfīq, Hārūn und andere, die noch erwähnt werden. Er sandte sie in das friedliche Mārdīn, wo sie sich wie in einem Zornesausbruch über die Stadt entluden, die Befehle in blutvergießende Taten umsetzten, Jungfrauen schändeten, die Christen aus der Stadt vertrieben, sie auf den Hügeln, Bergen, Feldern und Tälern mordeten.“ Anschließend geht er auf die Geschichte und den Glauben der christlichen Bevölkerung ein, explizit auf Armenier, Syrer, Chaldäer sowie die lateinischen und protestantischen Missionen von Mardin und Umgebung. In dieser Darstellung ist er konfessionell sehr parteiisch. Das gilt ganz besonders, wenn es um die rechtmäßige Nachfolge (Sukzession) geht. Das sechzehnte und letzte Kapitel im ersten Teil dieses Buches ist der Katastrophe des Jahres 1895 gewidmet. Ishaq Armale, der wie erwähnt 1879 geboren wurde, war knapp 16 Jahre alt, als die Pogrome 1895 geschahen, und 36 Jahre alt, als 1915 die zweite noch größere Katastrophe geschah. Er schreibt als Augenzeuge des Völkermordes von 1915 die Berichte als jemand, dessen erste Wunden kaum geheilt sind, als ihm noch viel größere Wunden zugefügt werden. Auf die Ereignisse von 1895 geht er ausführlicher als auf die vorhergehenden geschichtlichen Ereignisse ein und beschreibt das Gemetzel in Diyarbakir. Dabei ist jedoch offensichtlich, dass er die ganze Geschichte der Christenheit seit Jahrhunderten in dieser Region vor Augen hat. Die Zahl der Ermordeten muss sehr hoch gewesen sein, sodass der herbeigeeilte syrisch-orthodoxe Patriarch auf dem Weg zum Wali schier auf Leichen zu treten gezwungen war – so sehr war alles von Toten übersät. Es war nicht nur die Stadt Dyārbakir betroffen, sondern auch die nahe gelegenen Dörfer und Städte: Von den 300 Einwohnern in as-Sa’diyye überlebten nur drei Männer. Der Rest wurde in der eingeschlossenen Kirche verbrannt. Die alte Stadt Maiperqat wurde von den kirchlichen
90 Amill Gorgis Chronisten bereits im vierten Jahrhundert erwähnt. Aus ihr ging der berühmte heilige Bischof Marūtha hervor, der ca. 421 gestorben ist. Ihre Einwohnerzahl betrug ungefähr 1.000 Personen. Nur 12 Männer und drei Frauen überlebten das Massaker. Die Bewohner der Stadt Qarabāš waren alle Syrer. Die Kurden eilten dorthin, ermordeten sie, nahmen ihre Eigentümer in Besitz und die Frauen in Gefangenschaft. Danach begaben sich die Kurden zum Haus des Priesters ʿAbdul al-Aḥad Assiryānī, der ein erhabener Greis war, verhafteten dessen Kinder und raubten ihm 700 Lire1 sowie 500 Mağīdīyye. Außerdem forderten sie ihn auf, sich zum Islam zu bekennen, was er aber ablehnte. Daraufhin metzelten sie vor seinen Augen seine Kinder, eins nach dem anderen. Dann schnitten sie den Bauch seiner Frau auf und ermordeten sie. Sie wollten auch ihn abschlachten, aber einer von den Kurden forderte, dass er an seiner Qual und seinem Kummer sterben solle. Danach nahmen sie seine Töchter und vergewaltigten sie. Der Priester verfiel dem Wahnsinn. In dem am Ufer des Tigris liegende Dorf Qatarbel, welches durch den Fluss von Dyārbakir getrennt wird, wohnten 300 christliche Familien: Syrer, Protestanten und Armenier. Plötzlich überfielen die Kurden vom Land das Dorf und begannen damit, Häuser und Läden zu plündern. Die Christen konnten, angeführt von dem unermüdlichen Priester ‘Abdul al-Ahad Assiryānī, in die Mār Thomas-Kirche fliehen. Er machte ihnen Mut, ließ sie das heilige Abendmahl nehmen, beichten und erteilte ihnen die Absolution. Die Stämme belagerten die Kirche, bohrten das Dach auf, gossen Kerosin hinein und steckten die Kirche in Brand. Alle, die in der Kirche waren, verbrannten. Diejenigen, die zu fliehen versuchten, wurden von den Soldaten im Rathaus erschossen. Dann verhafteten sie Yūsuf, den Sohn des Mikhaīl aus Mardin, und forderten ihn auf, zum Islam überzutreten. Als er das ablehnte, schnitten sie ihm nacheinander seine Hände, Arme und Füße ab. Zum Schluss enthaupteten sie ihn. So musste er den Märtyrertod erleiden. Jedes Mal, wenn sie ihm ein Glied abschnitten, sagten sie zu ihm, er solle sich zum Islam bekennen und er würde am Leben bleiben. Aber er beachtete ihre Worte nicht. Der junge Syrer Šem’ūn konnte dem Massaker 1 Lira bedeutete im Osmanischen Reich die goldene Währungsmünze, Mağīdīyye die silberne Währungsmünze.
Das Äußerste in den Katastrophen der Christen 91 entkommen, indem er den Tigris schwimmend durchquerte und zum Patriarchen eilte. Dieser schickte ihn mit einer Gruppe von Soldaten zurück, um die Überlebenden, Hinkenden, Gelähmten, vollkommen Nackten und fast Verhungerten zu ihm zu bringen, damit er für sie sorgen konnte. Die Bewohner der anderen Dörfer des Vilâyets Dyārbakir, wie alKaʿbiyye, al-Ğārūḫiyye, Ḫān Āqbuār, Arzʾoġlī, Qōzān, Holān, Qādye, ʿAnša, Șatya, Șāfyā Baṭrakiyye, Qara Kilisa, Qarṭa, Qanqurț sowie dem Verwaltungsbezirk al-ʾAbšīriyye, Lğiyye und Ġarzān erlitten das Gleiche: Die Kurden und Soldaten überfielen sie, töteten sie und nahmen ihre Eigentümer in Besitz. Die Chaldäer und Armenier von ʿAli-Bekār wurden von den Anführern des Dorfes auf trügerische Art überredet, indem diese ihnen versprachen, sie in die Landeshauptstadt zu bringen, um sie dort vor den kurdischen Sippen zu retten. Als die Christen das Dorf verließen, wurden sie alle mit einem einzigen Seil gefesselt und einer nach dem anderen, noch ehe sie die Stadt erreicht hatten, niedergemetzelt. In Sewerak sammelten al-Ḥāğ ʿUṯmān Pāšā und seine Brüder ihr Gefolge um sich, belagerten die Christen und massakrierten sie zwei Tage lang mit Schwert und Dolch. Nur vier Familien konnten dem Massaker entkommen. Die Zahl der Toten betrug mehr als 4.000. Urhoy, Edessa, Urfa, Tal Arman, Banābīl, Qal’et Mara, die Frauenzitadelle, das Za’faran-Kloster und die Bewohner von al-Manssūriyye hatten Glück und konnten von Regierungssoldaten beschützt werden. Nīsibīn und Tūr ‘Abdīn wurden nicht verschont. Am Ende des letzten Kapitels des ersten Teils des Buches widmet sich Ishaq Armale den Nöten und der Angst der Christen in seiner Stadt Mardin im Jahre 1895. Er stützt sich weitgehend auf die Aufzeichnungen von Maqdasī Habīb Dī Ğarwe, teilweise auch auf seine eigene Beobachtungen. Er schildert dabei die Situation zwischen Bangen und Hoffen, denn die muslimische Bevölkerung in Mardin war sich uneinig in ihrem Vorgehen. Die einen hatten das Versprechen gegeben, die Christen zu schützen und wollten ihr Wort halten. Die anderen sahen die Gelegenheit gekommen, zu plündern und zu rauben. Die Stimmung und die politische Schutzlosigkeit, in der sich die Christen befanden, trugen dazu bei, dass die Kurden sich ermutigt sahen, sich an den Christen zu vergreifen. Man kann aus der Schilderung die Angst der Christen erahnen, als ihre Stadt von allen Seiten
92 Amill Gorgis belagert war. Werden die großen Sippen der Stadt ihr Wort halten und standhaft bleiben? Die Christen waren wehrlos und auf den guten Willen der anderen angewiesen. Sie hatten am Ende Glück und der Kelch ging an ihnen vorüber. Im ersten Kapitel des zweiten Teils geht der Autor auf die Ursache des Ersten Weltkrieges und die daraus entstandenen Bündnisse ein. Das zweite Kapitel befasst sich mit dem Bündnis zwischen Deutschland und der Türkei und den daraus resultierenden Verpflichtungen. Schon nach dem ersten Tag der Kriegserklärung begann das Osmanische Reich, die Wehrfähigen in das Heer einzuziehen, das Militär zu mobilisieren, Munition vorzubereiten, um Deutschland zu helfen, und Angriffe auf das Land zurückzuweisen. Deutschland seinerseits gab sich alle Mühe, die Türkei zu stärken, indem es Waffen und Soldaten schickte, die Finanzen der Türkei reformierte und alles versuchte, was in seiner Macht stand, um der Türkei beizustehen, was mehr als ein türkischer Politiker bestätigte. Deutschland sandte sogar eine Elitegruppe von Offizieren, um die Heere der Türken neu zu organisieren und ihre Angelegenheiten zu ordnen. Eine andere deutsche Militärmission kümmerte sich um die türkische Flotte. Des Weiteren sandte Deutschland Fachleute verschiedener Arbeitsgebiete in die Türkei und verlieh Geld an sie. Das dritte Kapitel nennt er Protest gegen Deutschland und Österreich. Darin spricht er über die gegenseitige Sympathie Deutschlands und Österreichs mit der Türkei, um dann die Frage zu stellen, wie Österreich, das katholische Reich, mit Deutschland mitgehen und dem Gemetzel an den Christen zustimmen konnte? Die gleiche Frage könne auch in Bezug auf Deutschland gestellt werden, da es auch ein christliches Reich sei, in dem mehr als 30 Millionen Katholiken lebten. Wie hätten sie wie die Türken Hass und Groll gegen die Christen hegen und ihnen die Anweisung geben können, das Blut der Schuldlosen zu vergießen? Könne Deutschland leugnen, dass sein Vertreter Otto Liman von Sanders in al-Āsetāna (= Istanbul) den Befehl gab, die Christen zu töten, ihnen höllische Qualen zuzufügen und sie auf gemeine Art zu behandeln? Habe Deutschland nicht gewusst, dass die Türkei keinen Schritt tat, niemanden anderen um Rat bat und keinen Beschluss fasste, ohne die Kenntnis, den Rat und die Meinung Deutschlands? Wieso habe sein Ehrgefühl erlaubt, den Türken freie Hand zu lassen, die Christen eigenmächtig und verächtlich von oben herab zu behandeln?
Das Äußerste in den Katastrophen der Christen 93 „Das ist ein Ereignis, das im Laufe der menschlichen Geschichte ohnegleichen ist. Bei meinem Leben, es gibt für die beiden Staaten keine Entschuldigung. Sie haben den Tadel der ganzen Welt, sowie die Verewigung eines schwarzen schrecklichen Flecks in der Tiefe der Geschichte verdient, der im Laufe der Jahrhunderte nicht gelöscht werden kann. Ja, besonders Deutschlands Verhalten ist zu tadeln und Klage gegen Sanders zu erheben, den Vertreter Deutschlands in der Hauptstadt der Türkei, sowie mit lauter Stimme zu protestieren, so dass es die ganze Welt hört und Deutschland anklagt, es nach der Schwere der Schuld bestraft, denn es war in der Lage, alles Böses zu vermeiden, allen Gefahren vorzubeugen und die Übeltäter niederzuschlagen. Stattdessen fühlte Deutschland sich geehrt, die muslimische Gemeinschaft zu verteidigen, rühmte sich seiner Freundschaft mit den Türken. Zu gleicher Zeit, als die Türken die Christen vernichteten, gefangen nahmen, von ihren Reichtümern Besitz ergriffen und sie verbannten, waren die Deutschen dabei, den Muslimen eine Moschee in Deutschland zu bauen.“ Er geht in diesem Kapitel sehr scharf mit der Rolle Deutschlands um. Für Armale ist Deutschland nicht ein bloßer Mitwisser, das die Katastrophe hätte verhindern können, sondern er klagt es auch aktiver Mittäterschaft an.2 Im vierten Kapitel widmet sich Armale dem Angriff der Türken gegen die Christen. Er zitiert einige Beschlüsse der internationalen Versammlung in La Haye (Den Haag), die 1899 einberufen wurde, welche von 22 Delegierten, unter anderem einer türkischen Delegation, unterschrieben wurden. Darin heißt es, dass nur die Soldaten zweier miteinander im Krieg befindlicher Länder als Feinde gelten sollen. Zivilisten dürften nicht in Mitleidenschaft gezogen oder gar in ihrer Freiheit beschränkt werden. Die Frauen seien zu schonen, die Religionen zu respektieren und das Volk zu schützen. Kein Außenstehender dürfe verletzt, gequält, unmenschlich oder grob behandelt werden; persönliche, Eigentums-, Autoren- und Lizenzrechte müssten gewahrt bleiben. Zuwiderhandlungen sollten in allen Ländern bestraft werden. An dieser Stelle fragt er, wie mit der Türkei angesichts dieser Beschlüsse verfahren worden sei.3 2 3 Zur Rolle von Liman von Sanders s. Nachwort der Herausgeber. Die Haager Landkriegsordnung von 1899 schützt nur die Zivilisten in den vom Feind besetzten Territorien. Zumindest im europäischen Selbstverständnis bestand noch das westfälische Prinzip, das auf den Friedensschluss von 1648 zurückging, auch wenn dies im 19. Jahrhundert nicht immer respektiert wurde. Staatsrechtlich unterstanden die Aramäer deshalb der Regierung des
94 Amill Gorgis Im fünften und den darauf folgenden Kapiteln geht er auf die Vorbereitung des Landes auf den Ersten Weltkrieg ein. Er beschreibt es sehr lebendig und berichtet von Hetze, von der Angst der eingezogenen Soldaten, von der Planlosigkeit der Regierung bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln für die Soldaten, von der Kriegslast, die die Familien überall im Lande tragen mussten und davon, wie die Christen ganz besonders zu leiden hatten. Ishaq Armale schreibt: „Man kann nicht alle Nöte nennen, denen die Christen anfangs ausgesetzt waren: Kapitalverbrechen und Raub ihrer Reichtümer. Die Verantwortlichen, ja, doch, alle Muslime ohne Ausnahme, hegten seit 1895 Hass und Groll gegen die Christen. Sie verbargen ihre Gefühle, auf eine passende Gelegenheit wartend, um sich an ihnen zu vergreifen. Als sie merkten, dass die Regierung willig war, die Christen zu unterdrücken, freuten sich ihre bösen Seelen. Zum Sommeranfang 1915 begannen sie ihre Bosheit zu zeigen, indem sie die Christen angriffen und alles begingen, was Gott verbietet.“ Im achten Kapitel schreibt Armale: „Am Freitag, den 21. August 1914, wurden wir informiert, dass 1500 Läden und Lagerhäuser in Dyārbakir mit den verschiedensten Waren, die alle den Christen gehörten, in Flammen aufgingen. Alles war durch den Wali und seine Komplizen geplant und durchgeführt. Das Feuer dauerte drei Tage, vom 19. bis 21. August, also drei Tage und drei Nächte, so dass alles in Schutt und Asche endete. Die Christen erlitten dadurch große Verluste. Eine Gruppe von Muslimen und Soldaten konnte von einem beträchtlichen Teil der Vermögenswerte und Waren Besitz ergreifen. Die Christen schrieben an hohe Instanzen der Regierung, verlangten die Bestrafung der Täter, aber ihr Gesuch wurde ignoriert.“ Auch das sind Momentaufnahmen, die Armale in seinem Buch dokumentiert, noch bevor das massenhafte Töten und Vertreiben begann. Er schreibt als Augenzeuge weiter: „Am Mittwoch, den 26. August 1914, sahen wir gegen Sonnenuntergang eine große Menge von Männern und Frauen, ihre Kinder tragend, barfuß, todmüde, von Verānšahar nach Mārdīn kommen. Ihre Zahl betrug mehr als 200 Menschen. Ihr Kaymakām (Statthalter) hatte sie gezwungen, nach Mārdīn zu gehen, um ihre Namen in das Register der Regierung einschreiben zu lassen.“ Osmanischen Reiches, und nach zeitgenössischer Auffassung durfte ein Staat mit seiner eigenen Bevölkerung auch nach seinen eigenen Regeln verfahren. Erst die Genozidkonvention von 1948 hat hier neues Völkerrecht geschaffen.
Das Äußerste in den Katastrophen der Christen 95 Armale zweifelt, dass dieser Kaymakām wirklich keine Zeit gehabt habe, diese Menschen an ihrem Wohnort registrieren zu lassen. Weitere Kapitel tragen Titel wie „Plünderung der Läden und Überfall auf die Kirchen und Häuser“, „Ermordung von Ğalīl Kōke“, „Geschehnisse vom 1. bis 15. September 1914“, „Verfolgung und Festnahme der wehrpflichtigen Männer und ihre Deportation vom 16. bis 30. September“. Hier ein Absatz aus diesem Kapitel: „Der 19. September war ein schwerer und schlechter Tag, denn die christlichen jungen Männer wurden wie demütige Schafe zum Gerichtshaus getrieben, um ihre Namen ins Register einschreiben lassen. Zur Mittagszeit erging der Befehl, alle Soldaten nach Dyārbakir zu transportieren. Die Mütter, Frauen, Söhne und Töchter weinten herzzerreißend und klagten laut. In den Kolonnen befanden sich auch sehr arme Leute, die barfuß und hungrig dahin zogen und ihre Angehörigen in Armut und miserablem Zustand verlassen mussten. Die Kinder fragten mit schluchzender, weinender Stimme: Vater, Vater! Wohin gehst du, warum verwirfst du mich, wer ernährt mich? – Worte, die ins Herz dringen. Die Zahl der Christen, die nach Amīd geführt werden sollten, betrug 200 Personen. Ungefähr 2000 Verwandte begleiteten die Soldaten bis zur Wasserquelle. Die Rekruten trugen Säcke auf ihren Rücken, die ihre Kleider und ein wenig Nahrung enthielten. Der Himmel war ihre Decke, die Erde das Bett.“ Die nächsten Kapitel sind wie ein Tagebuch geschrieben. Monat für Monat berichtet Armale von der Rechtlosigkeit und der Ohnmacht der Menschen und davon, wie sie der Willkür der Mächtigen ausgeliefert sind. Im 15. Kapitel fasst er die Monate vor dem eigentlichen Völkermord allgemein zusammen: „Neujahrsabend. Es ist ein Abend, der die Augen entzückt, die Gemüter beruhigt. Ein Abend, an dem jeder mit überwältigender Freude erfüllt ist, jeder beglückwünscht den anderen, die Weingläser werden freudig geleert und es werden Hoffnungen für das neue Jahr gehegt. Die Eltern versammeln sich mit ihren Kindern, erinnern sie, wie sie waren, was sie bis jetzt erreicht haben, reden mit ihnen, wen sie verloren haben, wer neu in die Welt gekommen ist. Und so bereiten sie ihnen Freude, geben ihnen Mut, ihre Tätigkeiten unter der Gnade Gottes fortzusetzen. Die Kinder küssen die Hände ihrer Eltern, erheben die Gebete zu Gott, dass er sie schütze, ihnen gute Gesundheit schenke und sie vor dem Verrat der Feinde rette. O, mein Gott, wie schön ist dieser Anblick. Dann werden die Tische mit den verschiedensten Speisen, Süßigkeiten, Obstsorten, Früchten
96 Amill Gorgis u.a. gedeckt. Und die geordneten farbigen Kerzen sowie Lampen auf dem Tisch scheinen wie die Sterne am Himmel. Die Kinder und Jugendlichen umgeben sie und ihre Gesichter strahlen Freude und Glücksgefühl aus. Dann singen sie die schönen, den Geist berührenden Loblieder auf Gott und danken seiner Erhabenheit, dass sie diesen Abend erleben dürfen. Das war eine Tradition, an die sich die Christen in Mesopotamien in den vergangenen Jahren hielten. Das unselige Jahr 1914 brachten sie jedoch ohne Danksagen hinter sich, da es mit Trauererinnerung verbunden war, und in ihren Gedächtnissen große Verluste bedeutete. Es riss durch die oben geschilderten Ereignisse die alten Wunden wieder auf, sodass sie sie aus ihrem Kopf gar nicht tilgen konnten, da sie Nöte und Schläge erlitten hatten, Ungerechtigkeiten und Untaten erdulden mussten und auf Erleichterung und Frieden vom Allmächtigen warteten. Die Feinde aber hörten nicht auf, sie durch ihre unmenschliche Behandlung in Angst und Schrecken zu versetzen, und zwar in den letzten fünf Monaten des Jahres 1914, bis das laufende Jahr 1915 anbrach. In diesem Jahr wurden sie mannigfaltigen, harten Missetaten ausgesetzt, sodass sie im Laufe der Tage und Monate einem Baum glichen, der sein Laub verlor. Hätten sich die verbrecherischen Feinde doch mit dem, was sie den Christen angetan hatten, begnügt und die Abkommen und Versprechungen gehalten. Aber nein, sie versuchten mit beispielloser Bösartigkeit und Schlechtigkeit, diesen Baum ganz und gar zu entwurzeln und nichts von ihm übrig zu lassen.“ Ab hier beginnt Armale von den Geschehnissen des Völkermordes 1915 zu berichten, zuerst mit dem Monat Juni.4 Auf die Zusammenfassung der restlichen 350 Seiten verzichte ich, da die grausamen Geschehnisse 4 Das ist auch der Grund, warum die NISIBIN – Stiftung für Aramäische Studien den Gedenktag für die Syro-Aramäer Anfang Juni begehen will. In diesem Monat begann in ihren Städten und Dörfern das Morden. Inzwischen haben die syrischorthodoxe Synode und die syrisch-katholische Kirche den Vorschlag der Stiftung für Aramäische Studien berücksichtigt, den wir vor einem Jahr an die SayfoKommission der syrisch-orthodoxen Kirche und an alle Organisationen unseres Volkes geschickt haben. Unsere Absicht war es, uns auf einen Gedenktag zu einigen. Mit dem Beschluss der beiden Kirchen ist es leichter geworden, dass alle aramäisch sprechenden Christen einen gemeinsamen Gedenktag begehen können.
Das Äußerste in den Katastrophen der Christen 97 der Tatsache nach bekannt sind. Hier sollte die Zeit unmittelbar vor dem Völkermord vorgestellt werden, wie sie von Armale geschildert wird. So sollte die Denkweise und die Vorgeschichte gezeigt werden, in welchen die Bereitschaft zu solchen Taten gegen die Christen vorhanden war, und schließlich zu einem umfassenden Vernichtungswillen anwuchs. Nachwort (Dorothea Weltecke, Boris Barth, Dominik Giesen) Diese von Amil Gorgis dankenswerterweise präzise zusammengefasste Quelle ist ohne Zweifel von besonderem Wert, erlaubt sie doch einen Zugang zu den Erlebnissen, Emotionen und zu den Sichtweisen der Opfer der Massaker. Auch die Art der individuellen Verarbeitung des Völkermordes kann durch die Analyse solcher Quellen erschlossen werden. Die quellenmäßige Erschließung des Völkermordes an den Aramäern steht noch am Anfang. Die sprachlichen Hürden sind erheblich; um so wichtiger sind Amill Gorgis’ Bemühungen um Übersetzung und Vermittlung.5 Hier wird sich nur in der interdisziplinären Zusammenarbeit und in der Kooperation mit den Gemeinschaften, die Berichte in gedruckter aber auch in handschriftlich weitergegebener Form besitzen, ein wissenschaftlicher Fortschritt erzielen lassen. Mit der inhaltlichen und quellenkritischen Analyse der Chroniken und Augenzeugenberichte wurde auch deshalb bisher kaum begonnen.6 Sie bietet aus geschichtswissenschaftlicher Sicht einige Schwierigkeiten, da sie zwar durch einen hohen Grad von Authentizität bestechen, in der Interpretation aber einige Probleme aufwerfen. Dazu gehört die spezifische historische Perspektive der Texte, wie sie zuletzt von Talay beschrieben wurde:7 Die Chronisten des Sayfo betrachten diesen als einen weiteren Schritt in einer kontinuierlichen über Jahrhunderte andauernden religiösen Unterdrückung. Dies ist Teil der Erinnerungskultur der orientalischen Christen wie die Erfahrung des Mordes als Christenverfolgung und vergleichbar mit anderen historischen Deutungen aus der Perspektive von Opfern von Gewalt. 5 6 7 Henno, Verfolgung und Vernichtung; Gorgis, Völkermord Syro-Aramäer et al. Einen Überblick bietet zuletzt Talay, Sayfo. Ibid.
98 Amill Gorgis Zu Armales spezifischer Perspektive gehört auch die moralische Deutung von Tätern und Opfern sowie seine bisweilen polemische konfessionelle Haltung. Damit vermittelt er einen unmittelbaren Eindruck vom Erleben der betroffenen Gemeinden. Für die Analyse der Ursachen ist sein Bericht wertvoll, doch wird diese weitere Faktoren und Quellen heranziehen. Eine ausgewogene Darstellung der Beziehungen zwischen den unterschiedlichen religiösen Gruppen in der Geschichte ist dieser Bericht nicht und will er nicht sein. Die Opferzahlen bei Armale erwecken den Eindruck einer hohen Authentizität; wissenschaftlich geprüft wurden sie bisher noch nicht. Ein in der deutschen wissenschaftlichen und öffentlichen Landschaft einerseits brisantes und die Beziehungen zwischen orientalischen Christen und Deutschen andererseits belastendes Element ist die Frage nach der deutschen Beteiligung. Der vorgestellte Text zeigt die in manchen Gruppen fast zur Gewissheit gewordene Annahme, dass Deutsche nicht nur anwesend und kämpfend beteiligt waren, sondern sogar den Befehl zur Christenverfolgung gegeben haben. Sie wird weiter tradiert und ist in den Gemeinden allgemein verbreitet. Mit der Übersetzung der Texte wird auch die historische Forschung erneut damit konfrontiert.8 Ohne Zweifel gab es eine deutsche Mitverantwortung an den Massakern, doch gab es keinen deutschen Befehl, Christen zu töten. Otto Liman von Sanders, dem in Armales Bericht eine führende Rolle zugeschrieben wird, war tatsächlich keine treibende Kraft im Hintergrund.9 Er drohte sogar mit einer militärischen Intervention, falls die Deportationen von Armeniern in Smyrna nicht aufhören würden. Dies geht aus seinem Schreiben vom 12. November 1916 an den Geschäftsträger der Botschaft in Konstantinopel, Wilhelm von Radowitz, hervor: „[…] Weiter füge ich ein Schreiben des Grafen Spee bei, welches er mir gestern in Smyrna übergab. Es betrifft die Armenier-Ausweisungen, die große Unruhe in Smyrna erregten. <Da derartige Massen-Deportationen in das militärische Gebiet hinübergreifen – Wehrpflichtige, Gebrauch der Eisenbahnen, Gesundheitsmaßnahmen, Unruhe der Bevölkerung in einer Stadt nahe vor dem Feinde, pp. – so hatte ich den Vali benachrichtigt, daß ohne meine Genehmigung derartige Massen-Verhaftungen und -Deportationen nicht mehr stattfinden dürften. 8 9 Stangeland, Rolle Deutschlands. Cf. Stangeland, Rolle Deutschlands, 235–237, 340.
Das Äußerste in den Katastrophen der Christen 99 Ich verständigte den Vali, daß ich sie im Wiederholungsfalle mit Waffengewalt verhindern lassen würde. Daraufhin hat der Vali nachgegeben und mir gesagt, daß sie unterbleiben würden. Da er aber angiebt von Constantinopel aus (Talat Bey) dazu veranlaßt zu sein, so bin ich nicht sicher, daß nur vielleicht andere Wege gewählt werden. […]“10 Auch wenn seine Motivation offensichtlich militärpolitischer Natur war, zeigt sich hier ein anderes Bild als in der Darstellung Armales. Des Weiteren war Liman von Sanders ab Ende März 1915 bis Februar 1916 – somit während der Hauptphase des Völkermordes – an der Schlacht von Gallipoli beteiligt. Bisher ist unbekannt, warum in diesem Bericht der Name dieses Offiziers als Hauptverantwortlicher genannt wird. Zwei Erklärungen wären denkbar: Erstens war Liman von Sanders einer der exponiertesten deutschen Offiziere, und aus Sicht der Opfer dürfte es kaum vorstellbar gewesen sein, dass die Türken gegen den Willen der Deutschen derartige Gewaltausbrüche durchführten. Daran knüpft die zweite Erklärung an, die aus dem Schreiben vom 11. November 1916 des Grafen Spee hervorgeht. Nach einem Bericht über türkische Repressionen gegen die armenische Bevölkerung fügt er hinzu: „[…] <Die ganze Angelegenheit ist, abgesehen von der rechtlichen Vergewaltigung und den unabsehbaren Folgen fuer die Opfer/fuer die deutschen Interessen bezw. das deutsche Ansehen von groesster Tragweite. Die Massnahmen der Regierung erfolgten in einer Zeit zu welcher ausser dem deutschen Korpskommandeur auch der Oberbefehlshaber, Marschall Liman von Sanders, in Smyrna anwesend war. Das Geruecht geht in der Stadt, dass das planmaessige Vorgehen von den Deutschen vorbereitet sei, damit sie sich der ihrem Handel unbequemen armenischen Konkurrenten auf diese Weise entledigen könnten. Materiell wird ein direkter Schaden entstehen, da tatsaechlich die armenischen Kaufleute deutsche Waren in grossem Umfang abgenommen haben, die zum Teil noch nicht bezahlt sind. Die von den Armeniern noch zurueckgehaltene Ware wird unter Anwendung des neuen Gesetzes ueber zurueckgelassene Habe den noblen türkischen Elementen die Handhabe bieten, sich ohne weiteres in den Besitz dieser Waren gleichzeitig mit dem sehr betraechtlichen Vermoegen der Armenier zu setzen. Und dies alles unter dem billigen Vorwande, dass die Deutschen es gemacht haben. 10 PA AA, RAV Konstantinopel, R 14094, zitiert nach Gust, Völkermord Armeniern, 531–532.
100 Amill Gorgis Die im grossen und ganzen unter franzoesischem und englischem Einfluss aufgewachsene christliche Bevoelkerung nimmt diese Nachrichten nicht ungerne auf, um gar nicht zu reden von den Angehoerigen der feindlichen Staaten, die dem amerikanischen Konsul nahestehen und dessen Berichterstattung entsprechend ausfallen wird.>“11 Die türkische Seite hatte kein Interesse daran, Gerüchte über eine deutsche (Mit-)Schuld oder sogar Hauptverantwortung zu revidieren, um von der eigenen Rolle abzulenken. Ähnliche Gerüchte über Liman von Sanders sind für weitere Städte und Regionen denkbar und entwickelten sich womöglich zu einem Selbstläufer. In der Forschungsstelle für Aramäische Studien wird derzeit ein Forschungsprojekt betreut, das die Handlungsräume deutscher Diplomaten, Politiker und Offiziere in Bezug auf den Völkermord an den Aramäern untersucht. Dabei soll auch die Rolle dieser Personen genauer betrachtet werden, damit Quellen, wie Armales Augenzeugenbericht, kontextualisiert werden können. Dorothea Weltecke, Boris Barth, Dominik Giesen Literaturverzeichnis Armale, Ishaq, Das Äußerste in den Katastrophen der Christen, übers. von Toro, Georges (in Vorbereitung). Gorgis, Amill, „Der Völkermord an den Syro-Aramäern“, in: Hofmann, Tessa (Hrsg.), Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich. 1912–1922, Münster 2004, 119–128. Gust, Wolfgang, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe 2005. Henno, Sleman, Die Verfolgung und Vernichtung der Syro-Aramäer im Tur Abdin 1915, übers. u. komm. von Gorgis, Amill/Toro, Georges, hrsg von Föderation der Aramäer (Suryoye) in Deutschland (FASD), Glane/Losser 2005. Stangeland, Sigurd Sverre, Die Rolle Deutschlands im Völkermord an den Armeniern 1915–1916, Trondheim 2013. 11 PA AA, RAV Konstantinopel, R 14094, zitiert nach Gust, Völkermord Armeniern, 533.
Das Äußerste in den Katastrophen der Christen 101 Talay, Shabo, “Sayfo, Firman, Qafle: The First World War from the Perspective of Syriac Christians”, in: Gaunt, David/Atto, Naures/ Barthoma, Soner O. (Hrsg.), Let them not return. Sayfo – The Genocide against the Assyrian, Syriac and Chaldean Christians in the Ottoman Empire, New York/Oxford 2017, 132–147.

Martin Tamcke Die Stationen der deutschen Orientmissionen im Sayfo Abstract: German missionaries of the Lutheran Church started to pay attention to Syriac Christians of all denominations only at the late 19th century. However, their stations as well as their correspondences and publications are an important source to the research on the Sayfo in the area around Urfa and Mardin. 1 Einleitung Deutsche Missionen waren eher spät im Kontext der syrischen Christenheit aktiv geworden. Zwar spielte die syrische Christenheit schon bei den ersten Missionsbemühungen der Lutheraner eine herausgehobene Rolle, aber diese Kontakte zielten nicht auf die syrischen Christen im Nahen Osten, sondern auf die in Indien. Hier kam es zu ersten intensiven Bemühungen der von Halle ausgehenden Mission, die in Indien unter der Hoheit der dänischen Krone wirkte.1 Bartholomäus Ziegenbalg sammelte gezielt erste Informationen, seine Nachfolger erlernten sowohl die syrische Sprache als auch Schrift und traten mit den Führern der syrischen Christen in Indien in Verbindung.2 Diese Bemühungen hielten über Jahrhunderte an und so wurde der lutherisch-orthodoxe Dialog im 20. Jahrhundert nicht nur einer der spannendsten Dialoge zwischen Lutheranern und Orthodoxen, sondern umfasste von Anfang an auf der Seite der Orthodoxen ausschließlich Vertreter der syrisch-orthodoxen Tradition.3 1.1 Die Deutsche Orientmission im Tur Abdin Erst im 19. Jahrhundert aber betraten die Sendboten der deutschen Missionen dauerhafter auch den Bereich des Osmanischen Reiches und des Iran, 1 2 3 Klassische Darstellung cf. Lehmann, Tranquebar. Mehr die politischen Implikationen der dänischen Herrschaft berücksichtigend: Nørgaard, Mission. Tamcke, Lutheran Contacts. George/Hoefer, Dialogue.
104 Martin Tamcke um sich dort mit den syrischen Christen aller Konfessionen zu befassen. Die Deutsche Orientmission sondierte im Bereich der heutigen Osttürkei – sie war anscheinend eine gewisse Zeit in Mardin aktiv gewesen4 – und unterhielt ein Waisenhaus in Diyarbakir sowie eines in Urfa.5 Unter der Leitung von Johannes Lepsius arbeitete die Mission vorrangig unter Armeniern, öffnete sich an beiden Orten jedoch von Anfang an zugleich den Syrern.6 Währenddessen hat sich Lepsius mit dem chaldäischen Metropoliten Addai Scher in Kontakt befunden, was dokumentiert, dass selbst die mit Rom unierten Chaldäer nicht aus dem Wirkungsbereich der Mission ausgenommen gewesen sind.7 Dem Wunsch Addai Schers, Lepsius möge in Seert ein Waisenhaus errichten und betreiben, entsprach die Mission dann aber nicht. Scher ließ an der schwierigen Situation der syrischen Christen in seiner Stadt schon damals keinen Zweifel. „Nous sommes dans le plein Kurdistan, dans une contrée bien pauvre, plein de misères et bien digne de pitié. Je ne crois pas qu’on puisse se faire en Europe une idée de notre malheur; et la cause de nos misères est trop connue pour oser Vous l’exposer ici. Bien des villages sont pillés; quelques uns même ont été pillés trois quatre fois depuis 1903. La plupart des villageois n’ayant pas de quoi vivre, viennent de s’expatrier, laissant après eux des femmes abandonnées, des enfants soutien. Les rues de Séert sont pleines de pauvres misérables, demandant du pain et de la nourriture.“8 1.2 Die Stationen der deutschen Missionen im Orient, die unter den syrischsprachigen Christen arbeiteten Den Schwerpunkt bei den von der Mission betreuten Syrern in Urfa bildeten freilich syrisch-orthodoxe Christen. Im Iran war die Mission ebenfalls mit zwei Missionsstationen vertreten. Hier wirkte vor allem das Waisenhaus in Dilguscha und die mit ihm verbundenen Werke vorrangig unter syrischen Christen, die fast ausschließlich Angehörige der Kirche des Ostens waren.9 4 5 6 7 8 9 Tamcke, Mardin Bölgesinde. Für erste Informationen zu beiden Waisenhäusern und Missionsstationen, cf. Feigel, Das evangelische Deutschland und Armenien. Zu ihm zuletzt Hosfeld, Lepsius. Cf. Tamcke, J’ai commencé. Zitiert nach Tamcke, J’ai commencé. Cf. id., Mardin und Tur Abdin; Tamcke, Bagdadbahn. Die Archivalien sind weithin im Johannes-Lepius-Archiv erhalten und leicht zugänglich durch: Goltz, Deutschland, Armenien und die Türkei.
Die Stationen der deutschen Orientmissionen im Sayfo 105 Zudem zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass syrische Christen auch an anderen Missionsstationen mit der deutschen Mission kooperiert haben, etwa in Mahabad.10 Die älteste dauerhafte Mission unter den syrischen Christen war die der Hermannsburger Mission, heute das evangelisch-lutherische Missionswerk in Hermannsburg, und ihrer Tochtermission, des „Vereins für lutherische Mission in Persien“.11 Sie wirkte seit 1875 im Iran in der Umgebung von Urmia, erhielt durch den Ersten Weltkrieg einen vernichtenden Schlag und wurde 1941 endgültig aufgelöst. Ihre Arbeit verstand sie als Evangelisationsarbeit und – bis auf einen Ausnahmefall im Kontext der politischen Spannungen des Ersten Weltkrieges – blieben alle zu ihr sich haltenden Priester und Gläubigen der Kirche des Ostens treu und widersetzten sich folgerichtig auch dem Versuch der Russischen Orthodoxen Kirche, die Angehörigen der Kirche des Ostens (zumindest die auf dem Boden des Iran) mit der Russischen Orthodoxen Kirche zu vereinigen.12 Stationen im eigentlichen Sinn unterhielten die Hermannsburger dabei nicht. Sie schulten vorrangig junge syrische Theologen sowie Priester in Deutschland und unterhielten diese dann später in den Gemeinden bei ihrer Arbeit als Priester der Kirche des Ostens.13 Erst im Zuge der Migration nach Amerika traten daraufhin ebenso syrische Gläubige zu lutherischen Kirchen über, und wirkten migrierte Priester in den Vereinigten Staaten von Amerika im Auftrag etwa der Ohio-Synode.14 Die einzige Missionsstation, die die Hermannsburger in der Region unterhielten, war die in Mahabad.15 Dort sind es neben armenischen Christen Gläubige der syrischen Christenheit gewesen, welche von Anfang an mit den Hermannsburgern zusammengearbeitet haben und somit als Beispiele jener Verbindungen zum Westen dienen können, die John Joseph als einen der Schlüssel für das Verständnis des rapiden Gewaltanwachsens 10 11 12 13 14 Cf. Tamcke, Kurdenmissionen. Cf. Tamcke, Arbeit; id., Zwischen kurdischem Nationalismus. Cf. Tamcke, Ambivalenz; Suttner, Union. Cf. Tamcke, Hermannsburger Mission. Zu einzelnen dieser Priester, cf., Tamcke, Johannes Pascha; id., Urmia und Hermannsburg; id., Lazarus Jaure. Zur ersten syrischen Migration nach Amerika: id., Russland. 15 Cf. Tamcke, Deutsche Missionare; id., Archivalien.
106 Martin Tamcke in der Region auffasst.16 Natürlich verweigerten sich auch andere Missionen der syrischen Christen nicht, wo sie auf deren Arbeitsfeldern im Orient mit ihnen in Kontakt kamen: Christoffels Blindenmission, das Asyl der Herrnhuter in Jerusalem, die Stationen und Häuser der Kaiserswerther und der Johanniter, die Schneller-Schulen und die zahlreichen Einrichtungen der deutschen Missionen in Jerusalem und dem Heiligen Land, die alle in der Orient- und Islamkommission vertreten waren und ihre Arbeit zur Zeit des Genozids koordinierten. Ein syrisches Waisenhaus gehört da gar zu den frühesten Reaktionen der protestantischen Christenheit Deutschlands anlässlich der Massaker in Damaskus 1860 vorwiegend an Maroniten.17 Aber alle diese Aktivitäten zielten entweder nicht primär auf syrische Christen oder jedenfalls nicht auf Angehörige der beiden großen syrischen Traditionsströme. Das aber taten die Deutsche Orientmission und die Hermannsburger Mission, und neben ihnen ebenfalls kleinere Werke der Adventisten oder der Verein für christliche Liebestätigkeit, deren schriftliche Hinterlassenschaft der Kollege Pinggéra zu edieren versprochen hat.18 Für die Erhebung dessen, was den Stationen der beiden großen Werke im Sayfo widerfahren ist, kommen also vorrangig sowohl die Stationen in und um Urmia als auch die Stationen in Diyarbakir und Urfa in Betracht, nur beiläufig auch die Station der Deutschen Orientmission in Khoi, die sich den Armeniern widmete, und die Station in Mahabad, die sich der Arbeit an den Kurden verschrieb, aber großenteils armenische und syrische Christen anzog. 2 Erster Blick in die Akten zu Urfa Der erste Blick in das Archiv ist frustrierend, es hat sich aber zu der Station der Deutschen Orientmission in Urfa einiges Aktenmaterial erhalten. Neben den Akten im Johannes-Lepsius-Archiv gibt es zu wichtigen Repräsentanten der Station eigenständige Aktenbestände, dazu die üblichen Berichte aus den diplomatischen Diensten im Umfeld der Station und in einigen wenigen Fällen genauso selbstständige Monographien zu einzelnen 16 Cf. Joseph, Modern Assyrians. 17 Gegenposition mit prodrusischer Tendenz cf. Schäbler, Aufstände. 18 Cf. Pinggéra, Liebesarbeit.
Die Stationen der deutschen Orientmissionen im Sayfo 107 Mitarbeitern. Und doch erlaubt dieses Aktenmaterial kaum einen Blick auf die Christen der syrisch-orthodoxen Tradition in Urfa (inklusive der aus ihr erwachsenen syrisch-katholischen und syrisch-protestantischen Gemeinden). Die Syrer kamen nur am Rande in dieser Missionsarbeit vor, die sich im Kern an Armenier richtete. Peinlich genau machte etwa die Missionsärztin Josephine Zürcher aufschlussreiche Notizen zur Religionszugehörigkeit ihrer Patienten.19 Im Rapport vom 4. September bis zum 1. Oktober waren von den neuen Patienten in diesem Berichtszeitraum 612 Armenier aller Konfessionen (Gregorianer, Protestanten und Katholiken).20 Aus dem Volk der Syrer hatten sich jedoch nur 19 Patienten in der Klinik eingefunden, die von ihr als Katholiken und Protestanten identifiziert wurden. Orthodoxe weist Zürcher nicht aus, obwohl diese die Mehrheit der syrischen Christen vor Ort bilden. Die Muslime verteilen sich auf 59 „Türken“ und 22 Kurden. Unter den 13 Arabern gab es sowohl Muslime als auch Katholiken. Außerdem nahmen sieben Juden die Klinik in Anspruch. Die Hemmschwelle für Muslime, die Klinik der protestantischen Deutschen zu betreten, war also noch ziemlich hoch. Das änderte sich schon mit Blick auf die Visiten bei neuen Privatpatienten. Hierbei war nämlich die knappe Hälfte muslimischer Religion. Gleichermaßen fanden sich hier darüber hinaus syrische und jüdische Patienten. Die Muslime stellten bei den Visiten bei Privatpatienten sogar deutlich die Mehrheit. Diese Inanspruchnahme des Hospitals durch alle Konfessionen und Religionen der Region war gewollt, ließ aber tatsächlich Syrer und Juden deutlich im Interesse der Missionsangehörigen zugunsten von Armeniern sowie muslimischen Arabern, Kurden und Türken zurücktreten. Eine Ärztin, die für die Stadt die Zahlen von 4.000 armenischen und 500 „altsyrischen“ Familien angibt, berichtet bereits von ständigen Spannungen zwischen den Christen und den türkischen Behörden.21 Das gesonderte Stadtviertel der syrisch-orthodoxen Christen lag im Südosten der Stadt.22 Die syrisch-protestantische Gemeinde in der Stadt verfügte über eine eigene Sekundarschule (neben 19 Cf. Frutiger, Ärztin; die Erinnerungen der Tochter: Sdun-Fallscheer, Jahre des Lebens. 20 Der Bericht findet sich unter: Die deutsche Klinik in Urfa, Türkei, AHJL 1898, 12–13. 21 Cf. Fritzmaurice, Blutbäder in Urfa, 123–124. 22 Cf. La Roche, Doctor, 52.
108 Martin Tamcke den bestehenden Sekundarschulen der armenisch-apostolischen und der armenisch-protestantischen Kirche).23 Fast die Hälfte der Schüler an diesen Schulen besuchte protestantische Bildungseinrichtungen, an denen die Schülerschaft überwiegend der armenisch-apostolischen und der syrischorthodoxen Kirche angehörten.24 Im Primarschulbereich war die Kluft des Schulbesuchs vonseiten der christlichen und der muslimischen Kinder der Stadt noch eklatanter als im Sekundarschulbereich.25 Sie beschreibt ebenfalls kurz die beiden „altsyrischen“ Kirchen, die ihrem Eindruck nach beide in jüngerer Zeit nach westlichem Vorbild gebaut seien.26 3 Interaktion mit Christen syrischsprachiger Tradition in Urfa Die Beziehungen zu den syrischen Christen in der Stadt intensivierten sich, sodass syrisch-orthodoxe Bischöfe der Mission offizielle Besuche abstatteten. Allerdings ist auffällig, dass die Einschätzungen zu den syrisch-orthodoxen Christen bei den Mitarbeitern geradezu diametral entgegengesetzt gewesen sind. Die einen hielten sie für arm, die anderen für reich. Der Missionsarzt Christ – Jakob Künzler bezeichnet ihn als den speziellen „Krankenfreund der Syrer“27 – wies darauf hin, dass ihr Viertel von den Massakern 1895 unberührt geblieben sei, sie „erfreuen sich daher auch gegenüber den bettelarmen Armeniern eines relativen Wohlstandes“.28 Christ verweist seinerseits auf seine besonderen Beziehungen zu den Syrern. Sie vom Krankenhaus seien „besonders mit den Alt-Syrern befreundet und von ihrem Zutrauen beehrt.“29 Nunmehr gesteht auch Christ ein, dass die Syrer sich in noch größerem Elend als die Armenier befänden. Weder betrieben sie ein ihnen spezifisches Handwerk noch einen bedeutenden Handel; „sie arbeiten meist nur, wenn sie Arbeit haben, als 23 24 25 26 27 28 Vgl. Kieser, Der verpasste Friede, 237. Ibid. Ibid. Ibid., 183. Zitiert nach La Roche, Doctor, 52. PA, 26. Brief, Urfa 05.03.1899; La Roche, Doctor, 52 (PA = Privatarchiv La Roche). 29 PA, 68. Brief, Urfa 28.01.1900 LR, 52.
Die Stationen der deutschen Orientmissionen im Sayfo 109 Tagelöhner untersten Ranges“.30 Da sie auf engstem Raum miteinander in beengten Verhältnissen lebten, steckten sich bei den Typhuswellen immer wieder besonders viele Süryani an und seien so zu einer besonders intensiven Herausforderung für die Ärzte geworden.31 Die Missionare besuchen die Liturgie des syrischen Bischofs und erhalten ihrerseits Besuch auf der Missionsstation durch den Bischof.32 Zu syrisch-orthodoxen Priestern entwickelte sich ein vertrauter, auch privater Umgang.33 Doch meinten die Protestanten feststellen zu müssen, dass sie völlig ungebildet seien.34 Der Schweizer Jakob Künzler hat hingegen die syrischen Christen von Anfang an als ökonomisch schwach gestellte Menschen gesehen. Die Syrer, so schreibt er in einem seiner Berichte von 1906, seien „heute arm, doppelt arm, weil sie nicht nur völlig mittellos, sondern auch ohne jegliche Bildung sind“.35 Ein Grund für diese konträren Einschätzungen dürfte die doch eher sekundäre Zuwendung zu den syrisch-orthodoxen Christen seitens des Missionspersonals sein. Jakob Künzler unterstützte schließlich den syrisch-protestantischen Pfarrer Djürdji Schammas, als der mit seiner syrischen Schule vor dem Aus stand. Künzler spricht davon, dass die Schule „verwahrlost“ gewesen sei.36 Er erschloss Spenderkreise in der Schweiz, organisierte den Neubau der Schule und brachte die zusätzlichen Lehrerkosten auf.37 Die kleine syrisch-protestantische Gemeinde zählte dreihundert Gläubige.38 Djürdji Schammas war am amerikanischen Seminar in Marasch ausgebildet 30 PA, 80. Brief, Urfa 22.04.1900 LR, 52. 31 Cf. La Roche, Doctor, 52. 32 Cf. PA, 53. Brief, 01.10.1899, La Roche, Doctor, 52–53. Portraitfoto des Bischofs als Abbildung 42 ibid. 33 Cf. PA, 67. Brief, Urfa 21.01.1900, La Roche, Doctor, 53. 34 Cf. La Roche, Doctor, 53. 35 Christlicher Orient 7, H 10, 169. 36 Eckart, Schulwesen, 59. 37 Cf. La Roche, Doctor, 143. Der syrisch-protestantische Pfarrer hatte 1903 sich selbst brieflich an Künzler gewandt und um Hilfe gebeten. Künzler wandte sich zunächst an Christ, der dann an seinen Vater, der wiederum an den Basler Pfarrer Sarasin-Forcart, der prompt das Geld für das Jahresgehalt eines Lehrers mittels einer Sammlung zusammenbrachte. Cf. Meyer, Armenien und Schweiz, 74. 38 Cf. La Roche, Doctor, 53.
110 Martin Tamcke worden.39 Künzler beruft sich bei seinem Engagement auf den den Syrern näher stehenden Christ und zitiert diesen stets mit dem Satz: „Eins ist vor allem nötig für dies Volk: eine gute Schule!“40 Djürdji Schammas, der die Schule von seinem Vater übernommen hatte, gelang nicht nur der Aufbau neuer Schulen, sondern auch, dass seine Schüler das Reifezeugnis für den Besuch des College in Aintab erlangen konnten. Seither verbesserte sich die Situation der Syrer in der Stadt spürbar.41 Djürdji Schammas wurde gemeinsam mit dem Lehrer und Prediger Sarkis Levonian (1851–1909), der 1896 nach dem Pogrom in die Schweiz floh und an der Universität Basel Biologie studiert hatte, und einigen anderen Armeniern auf der Reise von Aintab nach Adana 1909 ermordet.42 Genauso waren bei den Pogromen 1909 im Schatten der Konterrevolution also ebenfalls Syrer unter den Opfern. Künzlers Aussagen zu den syrischen Christen in der Stadt dürften zwar trotz all seinen Engagements europäische Wahrnehmungen sein, aber verstärken doch die Sicht, dass die Syrer in der Stadt sozial nicht zu gut gestellt gewesen sind. Er glaubt, dies sei die Folge der mangelnden Bildung. Sie seien Lastträger oder Handlanger, Weber, die sich mühselig durchschlügen, und nur ein oder zwei Häuser gehörten Kaufleuten.43 Überdies stammen von der Ärztin Josephine Zürcher Berichte zu dem schwierigen Kampf der Ärzte in der Stadt gegen die dort ausgebrochene Cholera-Epidemie. Einer ihrer Nachfolger, Vischer, wies bereits im Bericht für Herbst 1913 bis Herbst 1914 auf die Beunruhigung der Christen aufgrund der Ausrufung des Heiligen Krieges hin.44 Viele Muslime verträten nun die Ansicht, „es sei nun der Augenblick gekommen, alle Christen ohne Ausnahme zu vertilgen“.45 Einerseits berichtete die Mission in ihrer 39 40 41 42 La Roche, Doctor, 53. Cf. Christlicher Orient 7 (1906), H 10, 172. Ibid. Cf. La Roche, Doctor, 151, Anm. 54 zu Levonian (mit zahlreichen Quellennachweisen). Er war zunächst Lehrer am College in Aintab gewesen, wurde in den USA und England zum Biologen ausgebildet, kehrte 1883 nach Aintab als Lehrer für Mathematik und Biologie zurück. Zugleich betätigte er sich von da an als Prediger. Während seines Studiums in Basel wohnte er bei Pfarrer Karl Sarasin-Forcart. 43 La Roche, Doctor, 151. 44 Cf. Vischer, Bericht, 5. 45 Ibid.
Die Stationen der deutschen Orientmissionen im Sayfo 111 Zeitschrift noch über die furchtbaren Auswirkungen der erneut ausbrechenden Flecktyphus-Epidemie, andererseits geschah alles nur noch andeutungsweise: „Unsere Leser sehen an diesen sporadischen Berichten, daß die Hauptsache mit Rücksicht auf die Zensur immer umgangen werden muss. Wir wissen zwar mehr als genug, um uns ein vollständiges Bild von den Vorgängen im Innern zu machen, da aber die Zensur eine öffentliche Berichterstattung über die Ereignisse nicht gestattet, müssen sich unsere Freunde gedulden, bis wir mehr darüber sagen können.“46 Berichte wurden zeitweilig nur noch mit der Auflage an die Mission ausgehändigt, dass die auf deren Veröffentlichung verzichte.47 Die Berichte seien nicht zur Veröffentlichung geeignet.48 Dabei wurden ebenso die armenischen Mitarbeiter der Mission, Ärzte, Apotheker, Hausväter, Krankenschwestern, deportiert, die Apotheke geschlossen und das Hospital in ein Militärlazarett umfunktioniert. Die Zensur schnitt selbst in zurückhaltend formulierten Berichten die Hälfte des Textes weg und schwärzte andere Partien der Texte.49 Und natürlich fanden auch die wenigen verbliebenen Mitarbeiter nun keine Zeit mehr für Berichte. „In der gegenwärtigen Zeit Berichte zu schreiben, geht nicht an.“50 Frauen und Kinder konnten zuweilen durch Arbeitseinsätze vor dem sicheren Tod bewahrt werden.51 Die Situation bei den einstweilen Überlebenden war dramatisch: „An Bekleidung ist nicht mehr zu denken. Brot, Brot, ist jetzt das, wonach alle schreien.“52 Nun ging es darum, das nackte Überleben der Hungernden zu ermöglichen.53 Die Not sei zehnfach größer „als nach den großen Massakres von Abdul Hamid“.54 Ende April 46 47 48 49 50 51 52 53 54 Künzler, Nachrichten 29.2.1916, 4. Cf. Lepsius, Mitteilung, 55. Ibid. Cf. Künzler, Nachrichten 19. Nov 1915, 3. Ibid. Dennoch liefen die Nachrichten zur Situation auch im Reichsaußenministerium ein und informierten immer wieder zum Völkermord auch in Urfa. Erste Sichtungsversuch zu den Berichten, die die Westsyrer/Syrisch-Orthodoxen/ Aramäer betreffen: Tamcke, Schicksal (Teil I), 19–21; id., Schicksal (Teil II), 19–22; id., Collapse, 15–24. Cf. Lepsius, Mitteilung, 56. Ibid. Cf. Kieser, Der verpasste Friede, S. 467. Ibid.; Christlicher Orient 16 (1915), 76–77.
112 Martin Tamcke wurden die Lehrer gefangen gesetzt, Mitte Mai wurden 18 armenische Notablenfamilien nach Rakka deportiert, Ende Juli begannen die eigentlichen Deportationen. Die Ausgewiesenen mussten zu Fuß gehen. Die Benutzung von Wagen war verboten. Die beiden armenischen Deputierten im osmanischen Parlament gehörten zu denen, die gen Norden deportiert und sämtlich ermordet wurden.55 Der Stadtarzt wurde gezwungen, das Todesattest auf „Typhus“ auszustellen. Ein priesterlicher Totenschein musste beigebracht werden.56 Mit Ankunft von Ahmed Bey und Halil Bey setzte dann endgültig die konsequente Vernichtung ein. Auch die 1.000 Angehörigen der zum Straßenbau eingesetzten Arbeiterbatallione wurden ermordet.57 Die völlig verstümmelte Berichterstattung ließ schon gar keine Rückschlüsse darüber mehr zu, wie hoch der Anteil der syrischen Christen unter den Betroffenen war, den die Mission versorgte. Die Ausrottung der christlichen Bevölkerung „traf unterschiedslos Süryani wie Armenier“.58 Im Basar wurden 200 Christen erschossen und erstochen. Über tausend Verfolgte fanden in der Teppichfabrik der Mission Unterschlupf.59 Der Aufstand der Überlebenden führte im September und Oktober türkisches Militär nach Urfa. Das Armenierviertel verteidigte sich hinter Barrikaden. Auf türkischer Seite befehligte Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg (1875–1954) eine das Viertel mit Kanonaden zerstörende Einheit.60 Nach siebzehn Tagen Belagerung ergaben sich die Armenier, was Künzler stets rätselhaft bleiben sollte. Künzler musste mit ansehen, wie die Menschen, die ihm verbunden waren, ihn anflehten, sie zu retten. Dann begannen die Erschießungen auf dem Moscheeplatz. Künzler spricht von „Abschlachtung“.61 Die unter Muslimen wohnenden syrischsprachigen Christen nahmen zunächst armenische Flüchtlinge auf, doch schickten sie sie fort, als ihnen gedroht wurde, sie würden gleichermaßen deportiert, wenn sie diese Praxis fortsetzten.62 55 56 57 58 59 60 61 62 Cf. Christlicher Orient 22 (1921), 5. Cf. Kieser, Der verpasste Friede, 470–471 und Anm. 692. Cf. ibid., 471. Ibid., 472. Ibid. Cf. Feigel, Das evangelische Deutschland und Armenien, 199. Kieser, Der verpasste Friede, 475. Cf. Kieser, Der verpasste Friede, 479.
Die Stationen der deutschen Orientmissionen im Sayfo 113 4 Erste Notizen zur verlassenen Station in Diyarbakir Dass aber z.B. im Kontext der verlassenen Missionsstation in Diyarbakir auch syrische Christen betroffen waren und Zuflucht fanden, wird am Einsatz des einstigen Missionars Dietrich von Oertzen in Diyarbakir deutlich. Der einst im Iran für die Mission tätige Mann wirkte in Mardin als Leiter des deutschen Soldatenheimes und kümmerte sich sowohl um Mission als auch um die syrisch-protestantische Kirche in Mardin. Von einer Dienstreise nach Diyarbakir in das dort ehemals von der Mission unterhaltene Waisenhaus brachte er zwei syrische Kinder zu ihren Verwandten nach Mardin, deren Eltern getötet worden waren.63 Ausdrücklich kümmerte er sich um überlebende syrische Christen in der Stadt.64 Er selbst empfand diese Möglichkeit der Arbeit unter den Überlebenden des Genozids als beglückend. Im Sommer 1917 beendete von Oertzen seine Arbeit als Leiter des Heimes in Mardin.65 Diese ersten Blitzlichter aus den Aktenbeständen sind weit davon entfernt, Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Und was die Beobachtungen zu den Syrern betrifft, so können sie nur der Anfang einer Spurensuche sein. Immerhin wird deutlich: Auch die deutschen Quellen haben einen Beitrag zu leisten zur Aufarbeitung des Völkermords an den Christen syrischer Sprache in Urfa und Umgebung. Zu viel an belastbaren Informationen aber darf man bei den Missionsleuten, die sich in erster Linie mit den Armeniern verbunden gefühlt haben, nicht erwarten. 5 Hermannsburg verbundene syrische Christen in der Urmia-Region Ein Blick auf die mit der Hermannsburger Mission verbundenen Priester der Kirche des Ostens, die syrischen Gemeinden dieser Kirche vorgestanden haben, soll das Bild hinsichtlich der über die Stationen hinausgehenden Arbeit der deutschen Missionen im Orient komplettieren. Ihre Briefe und Reporte sind relativ ergiebig. Nie arbeitete ein deutscher Mitarbeiter der Mission in der Region, sondern ausschließlich in Deutschland geschulte 63 Oertzen, Christuszeuge, 87. 64 Cf. ibid., S. 88. 65 Ibid.
114 Martin Tamcke Priester der Apostolischen Kirche des Ostens. Der Gründer der Hermannsburger Arbeit in der Region, der Priester Pera Johannes, wurde schon zu Beginn gänzlich ausgeraubt und konnte nur noch mit Not nach Urmia zu seinem Sohn fliehen.66 Seine Gemeinde Wasirabad wurde 1915 vollständig verwüstet. Seine Kirche wurde in Brand gesteckt. Er floh mit seiner Familie und seinem Sohn zunächst nach Hamadan, von dort zurück nach Urmia und dann nach Tiflis. In Tiflis arbeitete er noch unter den dort lebenden Ostsyrern. Ein armenischer Mittelsmann berichtete der Mission, dass er völlig gebrochen sei. Erst Jahre nach dem Ende des Weltkriegs konnte er mit seiner Familie über Konstantinopel zu seinem mittlerweile im Elsass lebenden Sohn migrieren, der von dort aus auch die syrischen Flüchtlinge in Marseille versorgte. In einem Stift unweit von Straßburg fand er mit seiner Frau und seiner behinderten Tochter Aufnahme. Seine Frau und Tochter blieben nach seinem Tod sowie der weiteren Auswanderung seines Sohnes nach Amerika am Ort. Sein Sohn Luther Pera hatte wie sein Vater in Deutschland Theologie studiert und trat als wichtiger Übersetzer lutherischer Schriften ins Ostsyrische auf.67 Er wirkte zuletzt als Priester der einzigen geöffneten Kirche der Apostolischen Kirche des Ostens in Urmia auf Wunsch seines ebenfalls in Urmia ansässigen Bischofs Elia. Luther Pera, der bereits beim ersten Fluchtabschnitt seinen Sohn aufgrund einer unter den Flüchtlingen grassierenden Typhusepidemie verloren hatte, wurde in Urmia durch einen muslimischen Bekannten gerettet. Nach erneuten massiven Ausschreitungen floh er mit seiner Familie mit den abrückenden russischen Truppen über Russland und Schweden nach Deutschland. Hier informierte er deutschlandweit zu dem Völkermord. Seine Berichte fallen dadurch auf, dass er sich beständig um Erklärungsmuster für das Geschehen bemüht und Informationen zu dem Geschehen aus anderen Orten in seine Berichte einbaut. Ein Bericht aus dem Jahr 1915 zeigt exemplarisch die Gestalt seiner Berichte: „Wenn ich die Erlebnisse der letzten 10 Monate beschreiben soll, so müsste ich ganze Bücher schreiben. Aber ich muß mich ganz kurz fassen. Etwa Mitte 66 Cf. Tamcke, Pera Johannes; id. Hermannsburger Mission. Zum Völkermord generell in dieser Region cf. id, Genozid an Assyrern; id., Vernichtung der Ostsyrischen Christen; id., World War I; id., Hermannsburger Erfahrung. 67 Cf. Tamcke, Luther Pera’s Contribution; id., Urmia und Hermannsburg.
Die Stationen der deutschen Orientmissionen im Sayfo 115 Dezember vorigen Jahres zogen plötzlich die Russen von Urmia ab. Viele Christen von der Stadt und den am Wege liegenden Dörfern zogen mit ihnen. Sonnabend, den 20. Dezember (…), waren alle Russen fort. Am Sonntag, den 21. Dezember, waren alle Christen schutzlos der fanatischen Wut der mohammedanischen Bevölkerung preisgegeben. Alle christlichen Dörfer und Häuser in Dilguscha und um Urmia herum wurden ausgeplündert, alle Männer, Frauen und Kinder ihrer Kleider und ihres baren Geldes beraubt. Alle Männer und jungen Leute aus den Dörfern, welche etwas weiter von der Stadt entfernt waren, wurden von Mohammedanern niedergeschossen. Sobald die Kurden von der mohammedanischen Stadtbevölkerung sichere Nachricht erhalten hatten, dass die Russen fort seien, überschwemmten sie das Land. Gogtapa, wo Leute aus 20 christlichen Dörfern Schutz gesucht hatten, wurde durch den Heldenmut des amerikanischen Missionsarztes Dr. Packard und zweier syrischen Jünglinge, des Joseph Khan und des Dr. David Khan, von der gänzlichen Niedermetzelung gerettet. Er ritt mit seinen Begleitern am Montag, den 23. Dezember […], zu den kurdischen Häuptlingen, welche Gogtapa mit mehreren Tausenden von Kriegern belagerten. In einer Verhandlung von mehreren Stunden konnte Dr. Packard von den Kurden nur das erreichen, dass die Bewohner von Gogtapa sich ergeben und ihre Seelen, d.h. nur das nackte Leben, dem Dr. Packard zum Geschenk gegeben werden, aber alle ihre Habe den Kurden gehören solle. […] So wurden viele Tausende gerettet und zum amerikanischen Missionshaus gebracht. – Wir wurden wie durch ein Wunder Gottes gerettet. Unsere Wirtin ließ einen jungen Mohammedaner rufen, welcher mit ihrer Familie befreundet war. Weil ihr Mann mit den Russen geflohen war, beherbergten wir ihren Gast. Er sagte uns am Abend, falls etwas passiere, würde er uns nach seinem Hause mitnehmen. Am Sonntag Morgen, den 21. Dezember, wurden wir vom mohammedanischen Pöbel belagert. Wir waren wie verloren. Aber, wie von Gott gesandt, kam jener junge Mohammedaner mit seinen fünf Brüdern, und sie halfen uns, unsere Teppiche und Möbel einzupacken und nach ihrem Hause zu transportieren. Am Abend nahmen sie uns mit in ihr Haus, wo wir 1 ½ Monate zubrachten. – Ich war sehr besorgt um meinen Vater und seine Familie. Aber nach drei Tagen kamen sie gänzlich – auch der Kleider – beraubt in das amerikanische Missionshaus. Ich nahm sie mit zu uns in jenes mohammedanische Haus. … Die Greuel, welche Mohammedaner und Kurden verübt haben, sind unbeschreiblich. Aus der französischen Mission wurden 46 Personen in Haft behalten, Arm an Arm gebunden und auf Befehl der Türken erschossen. In Gulfaschan wurden über 80 Personen getötet. Frauen und Mädchen waren den unreinen Lüsten dieser wilden Rotte preisgegeben. […] Dabei hatten der türkische Konsul und kurdische Scheich dem Dorfe Gulfaschan volle Sicherheit versprochen. In vielen Dörfern, wie Ada und Supurgan, sind unbeschreibliche Greuel geschehen. Viele starben als Märtyrer um ihres Glaubens willen. Sehr viele Frauen und Mädchen wurden von Kurden und Mohammedanern entführt. […] Von unserm kleinen Völkchen sind 8.000 Personen gestorben, getötet und untergegangen. Alle Kirchen, auch unsere in Wasirabad und Gogtapa, wurden abgebrannt. Solange die Türken hier herrschten, durfte in der Stadt keine
116 Martin Tamcke Glocke geläutet werden. Viele Christen aus der Stadt wurden verhaftet und auf unmenschliche Weise Geld von ihnen erpresst. Manche wurden aufgehängt, darunter ein Kurde, der Christ geworden war. Am heiligen Osterfeste hörten wir anstatt des Glockengeläutes die Hilferufe der Frauen und Kinder, in deren Haus Mohammedaner eingebrochen waren. Fast jede Nacht wurde in ein Haus eingebrochen und geraubt. Wir haben manche Nacht in den Kleidern geschlafen, um zur Flucht bereit zu sein. – Die presbyterianischen Missionare haben während der fünfmonatlichen Bedrängnis sich selbst verleugnet und jedem, ob Freund oder Feind, gedient. Sie haben Achtung von Mohammedanern, Türken, Christen und Juden geerntet. Man bedenke die Last von 15.000, mindestens 12.000, Personen in den engen Räumen einer Mission eingesperrt und von der Mission gespeist. Zuerst starben die Kinder an Masern, dann aus Kälte und Blöße an Dysenterie; zuletzt entstand der Typhus und raffte die besten Jünglinge und Jungfrauen, welche unter der amerikanischen Fahne dem Schwert entronnen waren, hinweg. Es starben täglich 30 – 40 Personen in der Mission. … Es ist ein Wunder Gottes, dass ich bis jetzt mit meiner Familie nicht des Hungertodes gestorben bin.“68 Der mit Pera Johannes eng zusammenarbeitende Priester Jaure Abraham leitete die Gemeinde in Gogtapa. Seine Berichte zum Genozid geben den unmittelbarsten Eindruck in das Geschehen.69 Sie lassen das Geschehen ganz aus der Perspektive eines hilflos Ausgelieferten vor den Augen der deutschen Briefpartner erstehen. Erwägungen zu Hintergründen oder Erklärungen für den Ausbruch der gegen sie gerichteten Gewalt bietet er kaum. Alles schrumpft auf das Erleben eines um sein Überleben Ringenden zusammen, der zugleich um das Überleben seiner Familie kämpft und an dessen Schilderung der sukzessive Verlust auch aller Habseligkeiten während der panischen Flucht in den Blick gerät. 68 Zitiert wird der Brief Luther Peras hier in seiner von Röbbelen besorgten Veröffentlichung in den NLMP 2/4 1. September 1915, Hermannsburg, 13–16. Röbbelens redaktionelle Zusätze zur Zeitrechnung und sein Hinweis auf Luthers Predigttätigkeit in Dilguscha wurden im Text belassen. Den Text veröffentlichte auch Gabriele Yonan. Auch sie beließ die redaktionellen Zusätze Röbbelens in ihrem Abdruck des Textes. In Ardischai starb der mit Hermannsburg verbundene Priester Ablachat. Zu ihm: Tamcke, Kascha Ablachat. 69 Sein Sohn Lazarus Jaure, der vor dem Ersten Weltkrieg zeitweilig für die Mission auf deren Station in Mahabad eingesetzt war, informierte auch im Auftrag des Vaters nach seiner Flucht nach Schweden zum Völkermord cf. Tamcke, Brief des Lazarus Jaure. Zu Lazarus Jaure cf. id., Eingeborener Helfer; id., Akademiker; id., Academic.
Die Stationen der deutschen Orientmissionen im Sayfo 117 „Am 18. Juli 1918 verließen wir Urmia und flohen nach Süden, nach Hamadan. Diese Flucht dauerte 22 Tage. Das ganze Volk war unterwegs mit Wagen, Pferden und Habe. Auf dem Wege wurden wir achtmal vom Feinde umzingelt; einige Tausend wurden getötet oder gefangen weggeführt. Am vierten Tage unserer Flucht ließen wir unsern Wagen, vor dem vier Ochsen gespannt waren, alle unsere besten Sachen, die Bücher usw. zurück. Meine Frau ritt auf einem Pferd, das wir noch hatten; wir andern flohen zu Fuß. Den ersten Tag machten wir ungefähr 70 km zu Fuß ohne Schuhe und Strümpfe in der Sommerhitze auf den sandigen Wegen Persiens. Selbstverständlich waren Tausende von Menschen in derselben Lage wie ich. Das fliehende Volk bestand annähernd aus 90.000 Seelen. Säugende Frauen ließen ihre kleinen Kinder am Wege liegen und flohen. Auf dem ganzen Wege begegneten wir Kindern, die von ihren Eltern verlassen waren. Sie liefen den Flüchtlingen entgegen und riefen den Fremden weinend zu: ‚Papa, Mama, nimm mich mit!‘ Aber niemand konnte helfen. Neugeborene Kinder ließ man liegen. Väter und Mütter, die schwach waren, wurden im Stich gelassen. Andere starben unterwegs und blieben unbeerdigt liegen. Wir mußten hungern, denn alle Vorräte ließen wir unterwegs, drei Tage waren wir ohne Brot und ohne Wasser. Denn die Tausende von Menschen mit ihrem Vieh tranken alles Wasser weg. Beinahe das ganze Volk wurde an Dysenterie krank; auch Cholera raffte viele Menschen weg. Als wir uns Hamadan näherten, wurde meine Frau krank. Wir hatten in Hamadan angesehene Verwandte. Sie nahmen uns als Gäste in ihre Häuser auf. Meine Frau lag eine Woche krank. Am 10. August nahm sie der Herr zu sich. Am 11. wurde sie bestattet unter großer Teilnahme der angesehenen Männer zu Hamadan und der syrischen Flüchtlinge. Ich fiel in tiefe Betrübnis. Wir blieben vier Monate in Hamadan. Dann begaben wir uns im Winter auf die Reise nach Täbris, die einen Monat währte. Ich kam krank und schwach dorthin. Hier lag ich zwei Wochen krank, an Brust und Knien leidend infolge der Kälte. Als ich gesund ward, erkrankte mein Sohn am Typhus. Auch er ist jetzt gesund. Aber es ist uns sehr schwer geworden, in einer fremden Stadt ohne Geld unter diesen Umständen zu leben.“70 70 Röbbelen veröffentlichte große Teile des über die Vorgänge und die Flucht berichtenden Briefes des Jaure Abraham vom 16. Juli 1919 unter der Überschrift
118 Martin Tamcke 6 Hinweis auf die Missionsstation der Deutschen Orientmission in Dilguscha Ein letzter Blick soll der Missionsstation der Deutschen Orientmission in Dilguscha gehören. 1899 errichtete dort die Mission zunächst ein Waisenhaus, das schon 1900 einhundert ostsyrische Waisen versorgte.71 Zu Kriegsbeginn wurden auf russischen Druck hin die deutschen Missionsmitarbeiter seitens des offiziell neutralen Iran des Landes verwiesen. Die Leiterin, Anna Friedemann, übergab große Teile der Arbeit den amerikanischen Lutheranern am Ort. Fortan blieb ihr nur der briefliche Kontakt zu ihren einstigen Schützlingen. Eines der Waisenmädchen listet in einem Brief die während der Verfolgungen verstorbenen Waisenkinder auf, die großenteils im Garten der Missionsstation beigesetzt wurden, während türkisch-kurdisches Militär sich in der Station einquartiert hatte. Vieles bleibt aus Rücksicht auf die deutsche Adressatin nur angedeutet. „Ach, meine liebe Mama, ich will dir nicht zu viel von unserem Hause erzählen. Das würde Dir zu wehe tun.“72 7 Schluss Diese ersten Einblicke zeigen, dass sowohl die deutschen Missionsstationen als auch ihre Korrespondenzen und Publikationen einen gewichtigen Beitrag zur Erforschung des Völkermords an den Syrern zu leisten vermögen. Die Erschließung dieser umfangreichen Quellenbestände – möglicherweise in Kombination mit den entsprechenden Beständen in den politischen Archiven – wird noch einige Zeit benötigen. Doch ist diese Erschließung dringend geboten, weil hier umfangreiches Quellenmaterial direkt in die historische Situation führt und nicht erst sich nachträglichen Aufzeichnungen verdankt. Das Material bietet Sichtweisen, die uns von anderen europäischen Missionen für diese Zeit nicht zur Verfügung stehen, da englische, französische, italienische und russische Missionen kriegsbedingt ihre Arbeit haben einstellen müssen, etwas später ist dann auch die „Ein Brief aus Persien“; die Mission hatte fünf Jahre keinen direkten Kontakt zu Jaure Abraham mehr gehabt: Röbbelen, Brief aus Persien, 3–4. 71 Cf. Feigel, Das evangelische Deutschland und Armenien, 117–118. 72 Der Christliche Orient 16 (1915), 93–94.
Die Stationen der deutschen Orientmissionen im Sayfo 119 Berichterstattung der amerikanischen Missionen erloschen. Natürlich gibt es zahlreiche Probleme bei der Auswertung. Deutsche Quellen sind immer auch mit ihrem deutschen Kontext zu lesen, syrische Quellen und Übersetzungen syrischer Quellen ins Deutsche wiederum haben ihrerseits ihnen spezifische Sichtweisen, etwa die Sicht zum Protestantismus Konvertierter, die sowohl mittels ihres Protestantismus zu einer Minderheit in der Region gehört haben als auch durch ihre Verbindung mit Deutschland und dessen Luthertum zu einer Minderheit innerhalb der syrisch-protestantischen Minderheit. Literaturverzeichnis Eckart, F., „Das Schulwesen in Urfa und die Entwicklung unser deutschen Schule“, in: Lepsius, Johannes (Hrsg.), Der Christliche Orient 8 (1907). Feigel, Uwe, Das evangelische Deutschland und Armenien. Die Armenierhilfe deutscher evangelischer Christen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der deutsch-türkischen Beziehungen, Göttingen 1989. Fritzmaurice, G. H., Blutbäder in Urfa, Armenien und Europa, hrsg. von Johannes Lepsius, Berlin 1897. Frutiger, Uarda, Ärztin im Orient auch wenn’s dem Sultan nicht gefällt. Josephina Th. Zürcher (1866–1932), Basel 1987. George, Karimpumannil Mthai/Hoefer, Herbert E., A dialogue begins. Papers, minutes and agreed statements from the Lutheran-Orthodox Dialogue in India, 1978–1982, Madras 1983. Goltz, Hermann (Hrsg.), Deutschland, Armenien und die Türkei 1895–1925. Dokumente und Zeitschriften aus dem Dr. JohannesLepsius-Archiv, 3 Teile, München, 1998–2004 (1. Band: Katalog, 2. Band: Microfiche-Edition; 3. Band: Lexikon). Hosfeld, Rolf (Hrsg.), Johannes Lepsius – Eine deutsche Ausnahme. Der Völkermord an den Armeniern, Humanitarismus und Menschenrechte, Göttingen 2013. Joseph, John, The Modern Assyrians of the Middle East. A History of their Encounter with Western Christian Missions, Archeologists, and Colonial Powers, Leiden 2000.
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124 Martin Tamcke Tamcke, Martin, “The Collapse of the Ottoman Empire and the ‘Seyfo’ against the Syrians”, in: Omtzigt, Pieter H./Tozman, M.K./Tyndall, A. (Hrsg.), The Slow Disappearance of the Syrians from Turkey and of the Grounds of the Mor Gabriel Monastery, Münster 2012. Tamcke, Martin, „Erst das Leben muss des Lebens Wert zeigen“, Der Syro-Iraner Lazarus Jaure und die Deutschen, Berlin/Tübingen 2013. Tamcke, Martin, “Mardin Bölgesinde Almanlar. Almanya’nin Sark Misyonu, Bagdat Demiryolu ve I. Dünya Savasi Baglaminda Karsilasmalar”, in: Aktar, Cengiz et al. (Hrsg.), Mardin Tebligleri, Mardin ve Cevresi Toplumsal ve Ekonomik Tarihi Konferansi, Istanbul 2013, 183–192. Tamcke, Martin, „Mardin und der Tur Abdin in Interaktion mit der Deutschen Orientmission“, in: Tamcke, Martin (Hrsg.), Zur Situation der Christen in der Türkei und Syrien. Exemplarische Einsichten (Göttinger Orientforschungen SYRIACA 43), Wiesbaden 2013, 75–81. Tamcke, Martin, „Mardin, Bagdadbahn“, in: Mélanges Offerts à l’Abbé Élie Khalifé-Hachem (Parole de l’Orient 41), Kaslik 2015, 523–532. Vischer, Andreas, „Bericht über die Tätigkeit des Krankenhaus in Urfa“, in: Lepsius, Johannes (Hrsg.), Der Christliche Orient 16 (1915).
Volker Metzler Mission M/macht Politik: Die OIK und ihre Einflussarbeit hinsichtlich der armenischen Frage 1918 Abstract: During World War I, the Protestant ‘Commission of Orient and Islam’ was well connected to the German government and supported their military interests. In context of the German-Ottoman alliance, this connection resulted in a lack of supporting measures for distressed Syriac Christians. Der Titel dieses Beitrages ist bewusst zweideutig formuliert. Man kann einerseits beim Begriff der „M/macht“ einen Großbuchstaben einsetzen, dann hätten wir es mit drei Größen zu tun, nämlich mit der Mission, der „Macht“ und der Politik. Andererseits kann man aber auch aus dem ersten Teil des Titels einen Verbalsatz formen, sodass eben hinsichtlich der armenischen Frage Mission tatsächlich Politik „machte“.1 Im Fall der OIK, also der „Orient- und Islamkommission“ des Deutschen Evangelischen Missionsausschusses, sind tatsächlich beide Lesarten möglich: Diese Kommission pflegte zur Zeit des Ersten Weltkrieges nicht nur einen engen Kontakt zur politischen Macht in Deutschland, sondern beförderte auch aktiv deren Kriegsziele, sodass hier Mission de facto Politik betrieb. Dies soll im Folgenden exemplarisch an der Bearbeitung der armenischen Frage durch die OIK im Jahr 1918 dargestellt werden, die freilich eine sehr viel längere Vorgeschichte hatte.2 Eine Folgewirkung dieser gegenseitigen Durchdringung von Mission, Macht und Politik im Kontext der deutschtürkischen „Waffenbrüderschaft“3 bestand schließlich auch darin, dass 1 2 3 Die Titulatur dieses Beitrages orientiert sich in modifizierter Form an dem Aufsatz von Eiselen, Mission macht Politik. Die folgende Darstellung enthält Auszüge meiner publizierten Dissertation Metzler, Mission und Macht. Referenzen zu verwendetem Quellenmaterial werden fortlaufend nach dem Schema „Name des Archivs/Signatur der Akte, Verfasser an Adressat, Datum“ geboten. Dieser Begriff findet sich bereits bei Mühlmann, Deutschland und Türkei, 38.
126 Volker Metzler Hilfsmaßnahmen für weitere notleidende Christinnen und Christen im Orient, wie etwa für die syrischen Christen,4 durch diese Kommission gar nicht erst eingeleitet wurden. Auch diesem Umstand wird im Folgenden Beachtung geschenkt. Doch zunächst wird die Gründung und Vernetzung der OIK im Raum von Mission und Politik dargestellt. Ein wesentlicher Impuls zu einer verstärkten Aktivität lag in der Reise von Johannes Lepsius5 begründet, die er im Juli 1915 nach Konstantinopel unternommen und im Zuge derer er sich ein Bild von der Not der Armenier in der Türkei hatte verschaffen können. Kaum nach Deutschland zurückgekehrt, setzte er sich mit August Wilhelm Schreiber, dem Direktor der Deutschen Evangelischen Missionshilfe (DEMH)6, in Verbindung, um eine Besprechung aller Orientmissionswerke einzuberufen. Schreiber lud zu einer vertraulichen „Orient-Konferenz“ am 9. Oktober 1915 nach Berlin ein. Dort erstellte ein Ausschuss, der aus Johannes Lepsius und den drei späteren maßgeblichen Leitungsfunktionären der OIK, Karl Theodor Axenfeld, Julius Richter und A.W. Schreiber, bestand, eine proarmenische Petition an Reichskanzler Bethmann Hollweg.7 4 5 6 7 Einen Überblick dazu bietet Tamcke, Christen Tur Abdin, 71–98. Eine knappe Einführung in die Vita der einflussreichen Persönlichkeit von Johannes Lepsius (1858–1926) bietet Andreas Baumann in seiner Einleitung zu Lepsius, Wiedergeburt Orient, 9–18. Bei der DEMH handelte es sich um eine Art „fundraising“-Agentur für die Sache der deutschen evangelischen Mission, welche Ende 1913 unter dem Patronat des Kaisers gegründet worden war, um die Beteiligung unter wohlhabenden Bevölkerungskreisen an der Mission zu fördern, cf. Gründer, Christliche Mission, 110. Der Kaiser durfte ein Mitglied des 16-köpfigen Vorstandes bestimmen, der vom DEMH-Verwaltungsrat gewählt wurde. Die jährlichen Sitzungen des Verwaltungsrates tagten bis 1918 unter Anwesenheit eines Mitgliedes der kaiserlichen Familie im großen Sitzungssaal des Preußischen Herrenhauses in Berlin, cf. Müller-Bay, Deutsche Evangelische Missionshilfe, 14, 20. 1971 wurde die DEMH als Stiftung erneuert und trat dem Evangelischen Missionswerk bei. Bis heute besteht ein Vorstand und ein Kuratorium, cf. Hering, Art. Missionshilfe, 1313. Zu Ursprung, Gründung und inhaltlicher Ausrichtung der DEMH cf. ferner Schreiber, Deutsche Evangelische Missions-Hilfe, 351–357. Cf. U.A. (Unitätsarchiv der Evangelischen Brüder-Unität, Herrnhut)/A.J.H. 18, (Eingabe an den Reichskanzler), 15. Oktober 1915. Diese Petition ist auch zu finden bei Lepsius, Deutschland und Armenien, 183–189. Deren Kernstücke gibt ebenfalls wieder Meißner, Christliche Welt, 225.
Mission M/macht Politik 127 Diese umfasste insgesamt sechs abschließende Forderungen: Zum einen sollte weiteren Deportationen von Armeniern in bisher nicht betroffenen türkischen Städten und Distrikten wie Konstantinopel, Adana oder Smyrna „ein Riegel vorgeschoben“ werden. Zum anderen sollten den bereits deportierten Hunderttausenden Frauen und Kindern wirksame Hilfsmaßnahmen zukommen, sowie weitere Übergriffe gegen die noch lebenden Armenier verhindert werden. Bei Friedensschluss möge schließlich den Zwangsislamisierten ihre Rückkehr zum christlichen Glauben, den christlichen Minderheiten in der Türkei ihre Rechte und der christlichen Liebes- und Kulturarbeit generell ihre Fortführung verbürgt werden. A.W. Schreiber teilte sodann in einem Rundschreiben vom 20. November 1915 an die Unterzeichner der Petition die an ihn gerichtete Erklärung des Reichskanzlers vom 12. November 1915 mit. Hiernach sähe es die kaiserliche Regierung auch weiterhin als eine ihrer vornehmsten Pflichten an, dass christliche Völker nicht um ihres Glaubens willen verfolgt würden und der Reichskanzler alles in seiner Macht stehende tun werde, um den von den Unterzeichnern vorgetragene Sorgen und Wünschen Rechnung zu tragen.8 Doch vermeldete Schreiber knapp vier Monate später, dass dieses provisorische Gremium seine Tätigkeit als beendet ansehe, da nun die Bildung einer neuen Kommission im Gange sei.9 Tatsächlich hatte im Januar 1916 der Deutsche Evangelische Missionsausschuss (DEMA), der damalige zentrale Interessensverband deutscher evangelischer Missionswerke,10 beschlossen, die 8 Cf. U.A./A.J.H. 18, Schreiber an Unterzeichner, 20. Nov. 1915; Meißner, Christliche Welt, 226 f. 9 Cf. U.A./A.J.H. 18, Schreiber an Unterzeichner der Eingabe, 7. Februar 1915. 10 Der DEMA war bereits 1885/1886 gegründet worden, da die deutsche evangelische Mission eine gemeinsame Vertretung vor staatlichen Instanzen benötigt hatte, cf. Hogg, Mission und Ökumene, 88. Als der Deutsche Evangelische Missionsbund (DEMB) am 11. Oktober 1922 als erweiterter Interessensverband gegründete worden war, agierte der DEMA fortan als dessen Vorstand und Exekutivorgan, cf. Ar.EMW (Archiv des Evangelischen Missionswerks in Deutschland, Hamburg)/DEMA/DEMR 1/0718, (vertraulicher Entwurf der Vertreterversammlung), 11. Oktober 1922. Schließlich kam es bei den Tagungen des DEMA und des DEMB am 17. Oktober 1933 bzw. vom 18. bis 20. Oktober 1933 in Barmen zur Transformation dieser beiden Gremien in den Deutschen Evangelischen Missionsrat (DEMR) und Deutschen Evangelischen Missionstag (DEMT) aufgrund des Drucks der Deutschen Christen, cf. Schendel,
128 Volker Metzler OIK als einen institutionalisierten Zusammenschluss aller deutschen evangelischen Orientmissionsgesellschaften unter dem Vorsitz von Axenfeld zu bilden. Die Motivation des DEMA zur Gründung der OIK zeugte allerdings von einem als selbstverständlich vorausgesetzten engen Verhältnis von Mission, Macht und Politik, da man mithilfe dieser Kommission beabsichtigte, „eine einheitliche Stellung der beteiligten deutschen Missionskreise nicht nur zur Armenierfrage sondern auch für die Aufgabe Deutschlands im Morgenlande und gegenüber der ganzen Welt des Islams herbei zu führen.“11 Somit bleibt also festzuhalten, dass eine Spezialkommission entstanden war, mit deren Hilfe der Missionsausschuss in Fühlungnahme mit allen deutschen evangelischen Orientmissionen treten wollte. Ziel war dabei die Herbeiführung einer „einheitlichen Stellung“ der Missionsgesellschaften, also ein regierungsfreundliches Handeln derselben – bei der „Aufgabe Deutschlands im Morgenlande“ im Allgemeinen und bei der „Armenierfrage“ im Speziellen. Tatsächlich traten sodann am 23. Juni 1916 in Berlin12 alle 13 Orientmissionsgesellschaften der OIK bei, welche zudem einen achtköpfigen OIK-Arbeitsausschuss bildeten.13 Missionsanstalt Hermannsburg, 210. Zum Zeitpunkt der OIK-Gründung (1916) umfasste der DEMA 19 Mitgliedsgesellschaften. 11 Ar.EMW/DEMA/DEMR 1/0318, Hennig/Schreiber an DEMA-Mitglieder, 19./20. Januar 1916. 12 Cf. U.A./A.J.H. 18, (streng vertrauliche Mitschrift zu den Verhandlungen vom 23. Juni 1916), o.D. Meißner, Christliche Welt, 235–238 gibt ebenfalls die Grundzüge des Konferenzverlaufs wieder und nennt dort für die Konferenztagung den 23. Juli 1916, was jedoch nicht zutrifft. 13 Es handelte sich hierbei um folgende Werke: 1. DAG, Marburg; 2. Deutsche Orientmission, Potsdam; 3. Deutscher Hilfsbund für christliches Liebeswerk im Orient, Frankfurt/M.; 4. Deutsches Blindenheim in Malatia, Berlin-Friedenau; 5. Direktion der evangelischen Brüderunität, Verwaltungsausschusses des Aussätzigen-Asyls „Jesushilfe“ in Jerusalem, Herrnhut; 6. Direktion der Kaiserswerther Diakonissenanstalt, Kaiserswerth; 7. Evangelischer Karmelverein, Klein Welka; 8. Evangelisch-Lutherische Mission in Persien, Hermannsburg; 9. Jerusalemsverein, Wustrau; 10. Kuratorium des Syrischen Waisenhauses, Köln; 11. Nestorianisches Hilfswerk, Lerbeck; 12. Notwendiges Liebeswerk, Marburg; 13. Sudan-Pionier-Mission, Wiesbaden. Der Arbeitsausschuss umfasste folgende Personen: 1. D. Karl Axenfeld, Direktor der Berliner Missionsgesellschaft, Mitglied des DEMA, Vorsitzender; 2. Pastor A.W. Schreiber, Direktor der DEMH, Schriftführer; 3. Bischof Paul O. Hennig, Missionsdirektor, Vorsitzender des
Mission M/macht Politik 129 Dort waren nicht nur Hilfsorganisationen für Armenier vertreten, sondern auch Werke, die sich hauptsächlich um andere christliche Denominationen im Orient kümmerten. So machte Pastor Karl Röbbelen von der Hermannsburger „Evangelisch-Lutherischen Mission in Persien“ in einem Brief an A.W. Schreiber am 7. Juni 1916 vehement darauf aufmerksam, dass nicht nur Armenier, sondern auch syrische Christen von den Gräueltaten im Osmanischen Reich betroffen seien, sodass sich 35.000 Gläubige auf die Hochebene von Salamas in Persien geflüchtet hätten: „Sie bedürfen ebenso unserer Hilfe wie die Armenier und insofern in noch [xx] Maße, als sie nicht reiche Volksgenossen haben, die ihnen Hilfe leisten können, während es in Rußland sehr reiche Armenier gibt, die viel für ihre notleidenden Landsleute tun.“14 Auch Pfarrer Otto Wendt vom sogenannten „Nestorianischen Hilfswerk“ aus Lerbeck wollte die Verfolgung nichtarmenisch-orientalischer Christen stärker als zuvor gewürdigt wissen und versuchte während der OIK-Tagung am 23. Juni 1916 in Berlin auf die Not syrischer Christen aufmerksam zu machen, die von der Ausrufung des Dschihad in der Türkei weiter verschlimmert worden war.15 Doch konnten weder Röbbelen noch Wendt Mehrheiten für die Sache der aramäischsprachigen Gemeinschaft innerhalb der OIK organisieren. Dies lag nicht nur daran, dass die anderen OIK-Mitgliedswerke sich tatsächlich primär um armenische Christen kümmerten,16 sondern war wohl auch darin begründet, als dass das Schicksal der Syrier DEMA, Herrnhut; 4. Prof. D. Julius Richter, Mitglied des DEMA, Berlin; 5. Pastor D. Ludwig Schneller, Vorsitzender des Kuratoriums des Syrischen Waisenhauses, Köln; 6. Direktor Friedrich Schuchardt, Stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Hilfsbundes für christliches Liebeswerk im Orient, Frankfurt/M.; 7. Pastor Johannes Stursberg, Vorsteher der Diakonissenanstalt Kaiserswerth; 8. Pastor Max Ulich, Schriftführer des Jerusalemsvereins, Wustrau. Eine undatierte Liste dieser Mitgliederverzeichnisse bei Löffler, Kritik, 349–351. Allerdings sollte sich der Arbeitsausschuss auf Drängen der SudanPionier-Mission noch um dessen Missionsinspektor Johannes Held erweitern und damit 1916/1917 auf neun Personen vergrößern, cf. EZA (Evangelisches Zentralarchiv, Berlin)/BMW 1/1977, Axenfeld/Schreiber (Jahresbericht OIK 1916), 26. Februar 1917. 14 EZA/BMW 1/1978, Röbbelen an [Schreiber] [hs.], 7. Juni 1916. 15 U.A./A.J.H. 18, (Protokoll der OIK-Versammlung am 23. Juni in Berlin), o.D. 16 Neben den beiden bekanntesten Armenierhilfswerken, „Deutscher Hülfsbund für christliches Liebeswerk im Orient“ (Ernst Lohmann) und „Deutsche Orient
130 Volker Metzler aus deutscher Sicht missionspolitisch zu unbedeutend war. So orientierte sich die OIK-Spitze um Axenfeld, Richter und Schreiber weitestgehend an der Position der deutschen Diplomatie, die bereits mit Beginn des Jahres 1916 ihr Interesse an der Not der Aramäer zunehmend verloren hatte. Der Botschafter des Deutschen Reiches in Konstantinopel, Graf Wolff-Metternich, hatte am 14. Februar 1916 dem Reichskanzler gemeldet, dass etwa die in Mardin und Midyat entstandenen „Schwierigkeiten“ zwischen syrischen Christen und türkischen Behörden nun behoben seien, was freilich den tatsächlichen Vorgängen keinesfalls entsprach. Doch war nach dieser Meldung offenbar für die führenden deutschen diplomatischen Kreise die Sache der Syrer zunehmend nachrangig geworden: „Es muss festgehalten werden, dass nach dieser Meldung des deutschen Botschafters das Interesse der deutschen Diplomaten am Schicksal der syrischen Christen zusehends erlahmte.“17 Machtpolitisch dringlicher als diese Fragen war es dagegen im Interesse des deutschen Staates wie auch der Missionsspitze, dass die OIK hinsichtlich der Not der Armenier eine einheitlich-regierungsfreundliche Haltung einnahm – insbesondere angesichts des deutsch-türkischen Kriegsbündnisses. Und so verwundert es nicht, dass der OIK-Vorsitzende Axenfeld ab Beginn des Jahres 1918 auf höchster diplomatischer Ebene intervenierte, um als Missionsfunktionär die Kriegsinteressen der deutschen Politik im Kontext der armenischen Frage voranzutreiben. Die rechtspolitische Voraussetzung dazu war, dass Axenfeld vom DEMA im Sommer 1916 für die „in den Mission“ (Johannes Lepsius), hatte auch der Jerusalemsverein auf die Not der Armenier reagiert und bereits 1898 ein „Armenisches Waisenhaus“ in Bethlehem erbauen lassen, cf. Foerster, Frank, Jerusalemsverein, 455. Christoffels Blindenheim Bethesda in Malatia wiederum besaß nicht nur armenische Mitarbeiter, sondern wurde zusehends ein Refugium für Hunderte verfolgte armenische Männer, Frauen und Kinder, cf. Thüne, Ernst Jakob Christoffel, 55. Die Kaiserswerther Schwestern im Orient verschrieben sich ebenfalls der Armenierhilfe, cf. Ar.FKSK (Archiv der Fliedner- Kulturstiftung, Kaiserswerth)/2-1 DA 1820, Axenfeld an Stursberg [hs.], 20. März 1917. Lepsius versuchte außerdem über die DAG die deutsche Öffentlichkeit in Kirche, Mission und Gesellschaft für die Vorgänge in der Türkei politisch zu sensibilisieren, cf. Meißner, Christliche Welt, 13, 352–353, 364, 399–400, 424, 427; Gust, Völkermord Armeniern, 99–100. 17 Cf. Tamcke, Christen des Tur Abdin, 86–87.
Mission M/macht Politik 131 Aufgabenkreis seiner Kommission fallenden Aufgaben“18 bevollmächtigt worden war, als Vertreter der OIK bei einschlägigen Angelegenheiten „Anfragen oder Eingaben an das Auswärtige Amt oder andere Behörden zu richten […].“19 Damit war ein kurzer Weg zwischen OIK-Spitze und Auswärtigem Amt vorgezeichnet. Die institutionalisierte Vernetzung von Mission, Macht und Politik sollte mit den nun zu schildernden Ereignissen ab Beginn des Jahres 1918 evident werden: Zunächst hatten sich die Machtkonstellationen verschoben: Die Türkei hatte nach dem Waffenstillstand von Erzincan mit Russland, der am 5. Dezember 1917 ausgehandelt worden war, am 13. Februar 1918 begonnen, diese Stadt zu besetzen. Sie war daraufhin weit tiefer in armenisch besiedeltes Gebiet östlich davon vorgedrungen, als ursprünglich im Abkommen von Brest-Litowsk vorgesehen worden war.20 Bereits die Brest-Litowsker Vertragsregelungen zur kaukasisch-armenischen Frage in Art. IV. waren aus armenischer Sicht dramatisch gewesen. Russland hatte sich verpflichtet, „die sofortige Räumung der Provinzen Ostanatoliens und deren ordnungsgemäße Rückgabe an die Türkei sicherzustellen. Darüber hinaus sicherte Russland zu, die Sandjaks (Bezirke) Ardahan, Kars und Batum ebenfalls zu räumen. Die Reorganisation der Sandjaks wurde der dortigen Bevölkerung in Übereinkunft mit den Nachbarstaaten, namentlich der Türkei, übertragen. In einem Zusatzvertrag übernahm Russland auch noch die Verantwortung für die Demobilisierung, Auflösung und Zerstreuung armenischer Banden.“21 Aufgrund dieses türkischen Drucks und der internen Konflikte musste sich die erst am 22. April 1918 begründete sogenannte „Transkaukasische Demokratisch-Föderative Republik“, bestehend aus Georgien, Armenien und Aserbaidschan, bereits nach einem Monat am 26. Mai wieder auflösen. Stattdessen wurde am 28. Mai 1918 die unabhängige, kaum überlebensfähige Demokratische Republik Armenien in der Ararat-Ebene mit der Hauptstadt Jerewan ausgerufen.22 Die Verantwortlichen sahen sich durch das sogenannte 14-Punkte-Programm von US-Präsident Woodrow 18 U.A./A.J.H. 18, (streng vertrauliche Mitschrift zu den DEMA-Verhandlungen vom 23. Juni 1916), o.D. 19 EZA/BMW 1/8346, Hennig an AA, 24. Aug. 1916. 20 Cf. Kieser, Der verpasste Friede, 361. 21 Meißner, Christliche Welt, 241. 22 Cf. Gazer, Reformbestrebungen, 155.
132 Volker Metzler Wilson ideologisch gestützt, der sich zu Beginn des Jahres bei einer Rede vor dem US-Kongress für das Selbstbestimmungsrecht der Völker starkgemacht hatte.23 Axenfeld schwebte angesichts dieser Turbulenzen in der Osttürkei das Aushandeln einer Amnestiezusage von türkischer Seite für die um ihr Überleben kämpfenden aufständischen Armenier vor. Zugleich sollten die bestehenden territorialen Verhältnisse des Osmanischen Reiches im militärbündnis-freundlichen Sinne erhalten bleiben. Diesen Plan stellte er im AA vor, und gab zudem die Notwendigkeit einer gewissen Selbstverwaltung der armenischen Gebiete zu bedenken – freilich erst für den Fall, wenn diese von der Türkei wieder zurückerobert seien, also im Sinne hoheitlich-türkischer Garantien, nicht im Sinne eines autonomen armenischen Staatsterritoriums.24 Dazu hatte Axenfeld am 28. Februar 1918 mündlich mit dem Geheimen Legationsrat Otto Goeppert im Auswärtigen Amt (AA) folgende strategische Einflussmaßnahme abgesprochen: „Ich fügte vertraulich hinzu, daß ich, falls die deutsche Regierung in diesem Sinne nachdrücklich auf die türkische einwirken wolle, meinerseits denjenigen deutschen Armenierfreunden, die durch ähnliche Kreise des neutralen Auslandes die kämpfenden Armenier unter Umständen erreichen können, nahelegen würde, ihren Einfluß dahin geltend zu machen, daß solche Amnestie angenommen und durch Niederlegung der Waffen beantwortet werde.“25 Freilich zeigte sodann der Austausch auf der OIK-Sitzung am 15. März 1918 in Berlin, dass ein Amnestieabkommen noch gar nicht vorhanden, sondern allenfalls „zu erwarten“ sei. Dennoch wurde beschlossen, dass Axenfeld mit seinem staatsloyalen Amnestieplan weiterhin armenophile Kreise „im Sinne seiner Vorschläge zu beeinflussen suchen“ und im AA dahingehend wirken solle. Prägnante Reformvorschläge vonseiten der Kommission waren die Rückführung der Deportierten, deren Wiedereinsetzung in enteigneten Landbesitz, Rücknahme der Zwangskonversionen und die politische Rechtsgleichheit zwischen Armeniern und den „übrigen türkischen Untertanen“. Eine staatliche Autonomie lehnte man also auch 23 Die Rede vor dem Kongress fand 8. Januar 1918 statt, cf. Kieser, Verpasster Friede, 361; Meißner, Christliche Welt, 242, 245. 24 Cf. EZA/BMW 1/1976, Axenfeld an OIK-Mitglieder, 28. Februar 1918. 25 EZA/BMW 1/1980, Axenfeld an Göppert, 4. März 1918.
Mission M/macht Politik 133 innerhalb des Kreises der OIK-Mitgliedswerke ab.26 Am 29. April 1918 fand dann in Berlin ein Treffen zwischen Axenfeld und drei Mitgliedern des armenischen Nationalrates statt.27 In der „Denkschrift der Delegation des armenischen Nationalrates über die Lage der Armenier“ warben diese für die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, sodass in den armenisch geprägten Provinzen Kars, Ardahan und Batum keine türkische Einmischung geduldet werden dürfe. 28 Doch war Axenfeld davon überzeugt, dass die Armenier einen großen Teil der Schuld an ihrem Elend selbst trugen, da sie sich mit der Entente verschworen hätten.29 Eine Hilfe Deutschlands könne es deshalb seiner Meinung nach nur unter zwei Vorbedingungen geben: Wenn sich erstens Armenier und Armenierfreunde jeglicher „deutschfeindlichen Agitation“ enthielten und wenn zweitens das Ziel einer Unabhängigkeit Armeniens und damit die „Zerstörung der Türkei“ aufgegeben werde: „Daß solcher Verzicht nötig ist, weil Gott in diesem Kriege für Deutschland und gegen die Entente entschieden hat, ist ja jetzt nicht mehr schwer zu sehen.“30 26 Cf. EZA/BMW 1/1976, Axenfeld/Schreiber (Sitzung der OIK in Berlin am 15. März 1918), o.D. 27 Weitere Teilnehmer waren Schreiber, Richter und James Greenfield; bei den Mitgliedern des Nationalrates handelte es sich um Rechtsanwalt L. Nasariantz, Bankdirektor A. Djamalian und G. Melik-Karageosian, allesamt ehemalige Mitglieder der Duma, cf. EZA/BMW 1/1976, [Schreiber] (hs. Notiz), o.D. [terminus a quo: 3. Mai 1918]. 28 Cf. EZA/BMW 1/1980, „Denkschrift der Delegation des armenischen Nationalrates über die Lage der Armenier“, o.D. [terminus ad quem: Mai 1918]. Noch bis heute schlägt sich die bewegte Geschichte dieser ehemaligen armenischen Provinzen auf türkischem Gebiet in der Literatur nieder. So lässt der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk seinen Roman „Schnee“ ganz bewusst in Kars als Verwaltungszentrums der gleichnamigen ostanatolischen Provinz spielen und verarbeitet dort kontemporärbrisante Themen, wie etwa den Antagonismus des politischen Islamismus gegenüber der säkular orientierten staatlich-militärischen Willkür, cf. Pamuk, Schnee. Zur im Verlauf des Romans hintergründig geschilderten und analog spannungsreichen Historie von Kars, die 1918/1919 für kurze Zeit sogar die Südwest-Kaukasische Republik von Kars umfasste, cf. ibid. 29, 193, 196, 198–199, 224. 29 Cf. Goltz/Meißner, Dokumente Lepsius-Archiv, 13807, Axenfeld an Favre, 8. Juni 1918. 30 Ibid.
134 Volker Metzler Als am 28. Mai 1918 die unabhängige Demokratische Republik Armenien gegründet worden war, kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der OIK-Spitze in Berlin und armenischen Politikern, nämlich mit den bevollmächtigten Vertretern der armenischen Regierung Dr. H. Ohandschanian und A. Suraboff, die vom deutschen General Otto von Lossow begleitet wurden.31 Axenfeld zeigte sich anschließend besonders von einem Gespräch mit von Lossow sehr beeindruckt. Demnach hätten sich die türkischen Versprechungen zur Schonung der Armenier als nichtig erwiesen, da die Jungtürken mit dem armenischen Volk „Schluss machen“ wollten.32 Daraufhin habe Axenfeld die beiden armenischen Delegierten empfangen und die Unterstützung Deutschlands zugesagt – allerdings abermals zu folgenden Bedingungen: „Sie haben auf meinen Rat beschlossen, durch den Botschafter in Bern den Armeniern in Genf zu schreiben, sie, d.h. die Beauftragten des Nationalrates und des armenischen Volkes, sähen […] ihre einzige Rettung bei Deutschland. Die deutsche Regierung bemühe sich, ihnen zu helfen. Daher warnten sie die in Europa und Amerika weilenden Armenier, diese Bemühungen irgend dadurch zu stören, dass sie sich weiterhin auf Verbindung mit der Entente und ihrer deutschfeindlichen Propaganda einlassen, oder sich durch trügerische Versprechen der Entente betrügen lassen.“33 Diese Überzeugung vertrat der OIK-Vorsitzende außerdem auf der DEMASitzung im Leipziger Missionshaus am 12./13. Juni 1918. Dort berichtete er nicht ohne Stolz vom engen Verhältnis zur politischen Machtelite, sodass ihm die geplanten politischen und militärischen Maßnahmen der deutschen Regierung in der Türkei „unter Verschwiegenheit mitgeteilt“ worden seien. Im Gegenzug habe er armenischen Kreisen eingeprägt, von deutschfeindlicher Agitation abzurücken „und sich der deutschen Leitung vertrauensvoll zu fügen“: 31 Cf. EZA/BMW 1/1976, [Schreiber] (hs. Notiz), o.D. [terminus a quo: 10. Juni 1918]; DAK (Deutsch-Armenische Korrespondenz) 1 (12. November 1918), 7. Am 5. und 14. Juni 1918 besprach man sich dazu im Berliner Adlon-Hotel unter Beteiligung von J. Greenfield und dem Genfer Pastor Adolf Hoffmann, dazwischen fand eine Begegnung zwischen von Lossow und Axenfeld statt, cf. ibid. 32 Cf. EZWA/BMW 1/1976, Axenfeld an Richter et al. (vertraulicher Umlaufbrief), 14. Juni 1918. 33 Ibid.
Mission M/macht Politik 135 „Sowohl der deutschen Regierung wie den Armenierkreisen erkläre ich beharrlich, daß der einzige Gesichtspunkt, der uns leitet und zur Beteiligung an diesen Beratungen und Arbeiten treibt, der des christlichen Erbarmens ist, das dem Verderben eines unglücklichen Volkes steuern helfen möchte.“34 Dieses von Axenfeld betriebene „christliche Erbarmen“ erkannte allerdings als primäre Referenzgröße nur die Interessenslage der deutschen Regierung an, obgleich sowohl das Ausmaß des Elends der Armenier als auch die Verantwortung der türkischen Seite bekannt war. So verabschiedete man etwa auf der OIK-Tagung vom 17. Juli 1918 in Berlin folgendes Votum: „Die auch von deutschen leitenden militärischen Stellen als notwendig anerkannten militärischen Massnahmen der Dislocierung der Armenier von der russischen Grenze ist nicht in abendländischer, sondern nach türkischer Art zur Ausführung gebracht und zur Durchführung einer längst gewünschten politischen Massnahme ausgenutzt worden; nämlich die Vernichtung des armenischen Volkes.“35 Trotz dieser Faktenlage blieb für Axenfeld als legitimes proarmenisches Engagement nur das Aushandeln eines Amnestieabkommens vorstellbar, um die Türkei als deutschen Bündnispartner nicht zu brüskieren und damit die Beziehung zur deutschen Regierung zu belasten. So kam die OIK am 27. September 1918 in Berlin zusammen und sollte dort ein letztes Mal ausführlich zur armenischen Frage Stellung beziehen.36 Dort erwähnte Axenfeld, dass er eine Eingabe an den Reichskanzler Georg von Hertling gerichtet habe, wo er u.a. erneut eine Amnestieanerbietung an die kämpfenden Armenier eingefordert habe.37 Im Gegenzug habe man die 34 EZA/BMW 1/8186, Axenfeld („Orient-& Islam-Kommissionsbericht“), 13. Juni 1918. 35 EZA/BMW 1/1976, (Besprechung der OIK in Berlin am 17. Juli 1918 bei Pastor Stoevesandt), o.D. 36 Cf. EZA/BMW 1/1976, [Schreiber] (Protokoll der OIK-Sitzung in Berlin) [hs.], 27. September 1918. Während zwei ms. erstellte Einladungen mit einer voneinander abweichenden Anzahl von TOP bekannt sind (cf. U.A./A.J.H. 18, Axenfeld [Tagesordnung zur OIK-Sitzung am 27. September 1918], 21. September 1918; ibid., Tagesordnung zur OIK-Sitzung am 27. September 1918, o.D.), liegt das Protokoll dazu nur in dieser hs. Mitschrift vor, für deren Dechiffrierung ich der Hilfe von Herrn Dr. Frank Aschoff herzlich danke. 37 Hier kann es sich schwerlich um die Eingabe an Graf von Hertling vom 11. Februar 1918 handeln, da dort keine Rede von einem Amnestievorschlag vonseiten
136 Volker Metzler Armenier zu beeinflussen versucht, dieses Angebot anzunehmen und auf Ausschreitungen gegen Muslime zu verzichten.38 Die regierungskonformen Bahnen jeglicher Armenierhilfe strich Axenfeld schließlich in einem Bericht an den DEMA vom 25. September 1918 abermals heraus, da das Bündnis mit der Türkei generell „unentbehrlich“ gewesen sei; zudem schuldeten nicht zuletzt die Armenier selbst Deutschland Dank und Anerkennung für dortige Bemühungen im Rahmen des Zulässigen innerhalb der Waffenbrüderschaft: „Wenn von dem unglücklichen Volk der überlebende Rest, vielleicht ein Drittel, schließlich doch noch auf freiem Boden im kaukasischen Armenien zu einer erträglichen Existenz gelangt, so hat er dies in erster Linie Deutschland zu verdanken.“39 Insgesamt gesehen war es zu einem Amnestieabkommen im Sinne Axenfelds zwischen Türken und Armeniern unter deutscher Vermittlung freilich nie gekommen, sondern vielmehr zur systematischen Dezimierung eines gesamten Volkes. Dabei zeigte die Einflussarbeit der OIK-Spitze, dass gegen Ende des Ersten Weltkrieges Mission, Macht und Politik in Deutschland nicht als unabhängige Größen agierten, sondern sich gegenseitig gewissermaßen durchdrangen, wobei das politische Element eindeutig dominierte.40 Somit „machte“ die deutsche evangelische Mission Politik, indem Hilfsleistungen für Christinnen und Christen im Orient an deren Bedeutung für die deutschen Kriegsinteressen geknüpft wurden – zulasten Axenfelds war, cf. EZA/BMW 1/1976, Axenfeld an von Hertling, 11. Februar 1918; Meißner, Christliche Welt, 242, 254. Entsprechend müsste es danach eine weitere, bisher unbekannte Eingabe an den Reichskanzler gegeben haben, oder aber Axenfeld projizierte manche späteren Entwicklungen in besagte Eingabe zurück. 38 Cf. EZA/BMW 1/1976, [Schreiber] (Protokoll der OIK-Sitzung in Berlin) [hs.], 27. September 1918. 39 EZA/BMW 1/8186, Axenfeld an Hennig (OIK-Bericht für die Konferenz der Missionsgesellschaften am 26. September 1918 in Berlin), 25. September 1918; cf. auch Richter, Lage Heidenmission,18. 40 Selbstverständlich umfasste das Engagement der OIK auch bescheidene praktische Hilfsleistungen für Armenier, welche bisweilen nicht vom politischen Diskurs dominiert wurden. Detaillierte Informationen hierzu in Metzler, ­Mission.
Mission M/macht Politik 137 der notleidenden Armenier, wie auch zulasten der aramäischsprachigen Gemeinschaft, die dabei erst gar nicht angemessen in den Blick geriet. Literaturverzeichnis Eiselen, Tobias, „Mission macht Politik. Der Missionswissenschaftler Walter Freytag im Zentrum deutschen protestantischen Missions­ managements zur Zeit des Nationalsozialismus“, in: van der Heyden, Ulrich/Stoecker, Holger (Hrsg.), Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen. Europäische Missionsgesellschaften in politischen Spannungsfeldern in Afrika und Asien zwischen 1800 und 1945 (Missionsgeschichtliches Archiv 10), Stuttgart 2005, 663–674. Foerster, Frank, „Der Jerusalemsverein 1852–1945. Die deutsche Palästinamission im Wandel politischer Orientierungen“, in: van der Heyden, Ulrich/Stoecker, Holger (Hrsg.), Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen. Europäische Missionsgesellschaften in politischen Spannungsfeldern in Afrika und Asien zwischen 1800 und 1945 (Missionsgeschichtliches Archiv 10), Stuttgart 2005, 451–463. Gazer, Hacik Rafi, Die Reformbestrebungen in der ArmenischApostolischen Kirche im ausgehenden 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1996. Goltz, Hermann/Meißner, Axel (Hrsg.), Deutschland, Armenien und die Türkei 1895–1926. Dokumente und Zeitschriften aus dem Dr. Johannes-Lepsius-Archiv an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, Teil 1, Katalog, München 1998; Teil 2, Mikrofiche-Edition mit Begleitband, München 1999. Gründer, Horst, Christliche Mission und deutscher Imperialismus. Eine politische Geschichte ihrer Beziehungen während der deutschen Kolonialzeit (1884–1914) unter besonderer Berücksichtigung Afrikas und Chinas, Paderborn 1982. Gust, Wolfgang, Der Völkermord an den Armeniern. Die Tragödie des ältesten christlichen Volkes der Welt, München, Wien 1993. Hering, R., Art. „Missionshilfe“, in Betz, Hans Dieter et al. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 4 2002, 1313. Hogg, William Richey, Mission und Ökumene. Geschichte des Internationalen Missionsrats und seiner Vorläufer im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1954.
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Mission M/macht Politik 139 Thüne, Sabine, Ernst Jakob Christoffel – Gründer der Christlichen Blindenmission im Orient. Leben und Werk. Der Freundeskreis. Die Mitarbeiter, anhand von Briefen, Schriften und Dokumenten, im Auftrag der Christoffel-Blindenmission zusammengestellt von Sabine Thüne, Bensheim 2004.

Andreas Schmoller „Sayfo continues today“: Erinnerungsdiskurse und Identität im Kontext von Syrienkrieg und „Islamischen Staat“ Abstract: The article describes and discusses the dynamics of the commemorative culture of the Syrian community in Austria concerning the Sayfo. It explores its relation to the perception of the present-day situation concerning the Syrian Civil War and the ‘Islamic State’ and discusses its impact on the identity formation in the diaspora. Dieser Beitrag verfolgt ein zweifaches Ziel. Er versteht sich erstens als Impuls für eine gedächtnisgeschichtlich angelegte Forschung zum Sayfo. Die hier angestellten Überlegungen wollen aufzeigen, dass diese für verschiedene Disziplinen anschlussfähig ist. Zweitens wollen die hier formulierten Beobachtungen sowie die Kontextualisierung der Sayfoerinnerungskultur eine Perspektive anbieten, die auf die gruppenspezifischen Dynamiken und Debatten von außen blickt. Dieser externe Blick nach innen kann naturgemäß distanziert und kühl wirken, im besten Fall ergeben sich daraus aber brauchbare Erklärungs- und Verstehensangebote. Diese Zielsetzung ist von der Einschätzung getragen, dass im Westen häufig die Stimmen und Positionierungen der syrischen Christen im Kontext der Ereignisse in Syrien und dem Irak nicht oder unzureichend verstanden oder wahrgenommen werden. Der Beitrag kreist um die Frage, welche Bedeutungen der Sayfo heute hat. Hierfür sind die theoretischen Unterscheidungen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung von Aleida Assmann hilfreich. Ich werde konkret zwei Formen von kollektivem Gedächtnis herausgreifen, um die Nachgeschichte des Sayfo zu qualifizieren. Im ersten Teil blicken wir auf die politische Gedächtnisformation des Sayfo und beleuchten die Funktion für die Identitätsbildung insbesondere im Diasporakontext. Hierfür bietet sich eine gedächtnisgeschichtliche Kontextualisierung an, die den Wandel der Opferdiskurse im Rahmen der Holocausterinnerung
142 Andreas Schmoller aufzeigt. Im zweiten Teil ist eine zweite Gedächtnisformation von Relevanz – das tradierte soziale Familien- und Gruppengedächtnis –, wenn wir klären wollen, aus welchen Gründen bzw. mit welchen Motiven der Sayfo mit heutigen Verfolgungsformen in Beziehung gebracht wird. Die Bedrohung durch den »Islamischen Staat« (IS) in Irak und Syrien sind hier der zentrale Ausgangspunkt. Daraus ergeben sich im dritten Teil Beobachtungen zu Erfahrungen der Nicht-Anerkennung bzw. Wahrnehmung syrischer Christen. Ich möchte dabei auch die Probleme aufzeigen, die sich für eine Identitätsbildung ergeben, die sich auf historischen Opferdiskursen und Genoziddiskursen gründet. Ziel ist es, Sensibilität dafür zu schaffen, dass die legitime und bedeutsame Erinnerung an einen Genozid, wie jenes des Sayfos, immer auch in die Gefahr gerät, als Legitimierung von Abgrenzungen genutzt zu werden. Das ist kein Spezifikum der Sayfoerinnerung, sondern gilt generell für Erinnerungskulturen. Methodisch greift dieser Beitrag einerseits auf Interviewmaterial und Feldforschung aus einem persönlichen Forschungsprojekt zu orientalischen Diasporagemeinden in Österreich, journalistische Berichterstattung zu den Konflikten in Syrien und Irak sowie einschlägiger Forschungsliteratur aus den behandelten Themenbereichen zurück. 1 Sayfoerinnerung im Kontext von Diasporaidentität und Opferdiskursen Der Sayfo, der Genozid an den syrischen Christen 1915, steht im Schatten des Genozids an den Armeniern und ist selbst heute noch wenig international bekannt bzw. offiziell anerkannt.1 Dabei ist festzuhalten, dass es in Ländern wie Deutschland und auch Österreich den Diasporacommunities syrischer Christen gelungen ist, die Anerkennungsfrage auf politischer Ebene voranzubringen.2 In Schweden ist der Sayfo seit dem Jahr 2010 1 2 Ich verwende im Folgenden den Begriff „syrische Christen“ nicht für die Christen Syriens sondern als Sammelbegriff für alle Christen syrischer Tradition, das heißt für die syrisch-orthodoxen und assyrischen sowie deren katholischen „Pendants“ syrisch-katholischen und chaldäischen Christen. Zum journalistischen Umgang mit der mangelnden Bekanntheit des Sayfo cf. Güsten, Jahr des Schwertes. Zu Deutschland: Plessentin, Potentiale. Generell zu Anerkennungserfolgen cf. Travis, Assyrian Genocide, 128; Armbruster, Faith, 52.
„Sayfo continues today“ 143 offiziell anerkannt. Das österreichische Parlament hat sich anlässlich des 100-jährigen Gedenkens trotz türkischer Warnungen dazu durchgerungen, am 21. April 2015 eine gemeinsame Erklärung abzugeben, die nicht nur explizit die Ereignisse von 1915 als Genozid bezeichnet, sondern neben den Armeniern auch andere christliche Opfergruppen nennt: „Am 24. April jährt sich der Genozid, welcher durch das Osmanische Reich an 1,5 Millionen Armeniern verübt wurde, zum hundertsten Mal. Vor diesem Hintergrund gedenken wir der Opfer von Gewalt, Mord und Vertreibung, zu denen auch zehntausende Angehörige anderer christlicher Bevölkerungsgruppen im Osmanischen Reich, wie jene der Aramäer, der Assyrer, Chaldäer und der Pontos-Griechen gehören.“3 Warum ist die Anerkennung so wichtig? Zuerst kann man auf die gruppeninterne Bedeutung blicken, und feststellen, dass es vor der erreichten Anerkennung durch die Aufnahmegesellschaften, die kollektive Erinnerung an den Sayfo selbst ist, die „Kohäsion zwischen verstreuten Gruppen“ und ein Zugehörigkeitsgefühl zwischen Individuen herstellt.4 Dies gilt vor allem für die syrischen Christen, die in der Diaspora verstreut sind, unterschiedlichen Konfessionen angehören und konkurrierende ethno-religiöse Identitäten ausgebildet haben. Der programmatische Anspruch nach internationaler Anerkennung der Verfolgungen vor 100 Jahren als „Genozid“ hat zweifelsohne Mobilisierungs- und Einigungscharakter.5 Assmann hat für diese spezifische Form des kollektiven Gedächtnisses den Begriff des politischen Gedächtnisses verwendet. Er charakterisiert sich durch das Hervorbringen starker Loyalitätsbindungen und vereinheitlichender Wir-Identität.6 Politisches Gedächtnis wird durch Geschichtsbilder, die im Interesse einer Gemeinschaft formuliert sind, vor allem symbolisch in Form von Gedenktagen, Monumenten, 3 4 5 6 Zitiert nach: Der Standard, Parlamentsklubs. Heyberger/Girard, Nouvelles conditions, 27. Die Fragmentierungen betreffen dabei nicht nur die konfessionellen Aufsplitterungen und ethno-nationalen oder ethno-religiösen Strömungen wie Assyrertum und Aramäertum, sondern auch konfessionsinterne und häufig auch gemeindeinterne Spaltungen in der Diaspora. Zu Ersterem cf. zentral: Gharib, Priester; Atto, Hostages. Assmann, Schatten, 36.
144 Andreas Schmoller Reden, Geschichtsbüchern etc. vermittelt.7 Das politische Sayfogedächtnis, das in den vergangenen fünfzehn Jahren an Konturen gewonnen hat, äußert sich – neben den im Zusammenhang mit den EU-Beitrittsbemühungen aufgetauchtem Lobbying – für die Anerkennung des Genozids auf europäischer Ebene in der Publikation von Forschungsergebnissen, themenspezifischen Programminhalten in den TV-Spartenkanälen Suroyo TV und Suryoyo Sat, Oral History Projekten und in der Errichtung von Sayfo-Denkmälern weltweit.8 So wurden in 2005 in Sarcelles (Pariser Vorort im Départment Val d’Oise), 2007 in Kalifornien (Tarzana), 2010 in Paris und Fairfield (Australien), 2012 in Adelaide (Australien), Jerewan und Chicago sowie 2013 bei Lüttich in Belgien und Paris jeweils neue Monumente oder Gedenkstätten eingeweiht. An vielen weiteren Orten entstanden im Jahr 2015 Denkmäler anlässlich des 100. Jahrestages der Ereignisse, so wie am Luisen-Friedhof Berlin Charlottenburg. Zu den Denkmälern an öffentlichen Plätzen bzw. in der Nähe von Versammlungszentren der Communities kommen Denkmäler in Kirchengebäuden, wie jenes in der am 7. Dezember 2014 von Patriarch Mor Ignatius Aphrem II eingeweihten syrisch-orthodoxen Gemeinde St. Ephrem in Wien. Als Sayfo-Gedenktag wird in Österreich der 24. April genutzt, also jener Tag, an dem auch die armenischen Christen an den Genozid erinnern. In Deutschland etabliert sich nunmehr mit dem 2. Juni (bzw. 15. Juni im Julianischen Kalender) ein eigener Sayfogedenktag.9 Diese erinnerungskulturelle Aktivität ist jungen Datums. Das Buch von Gabriele Yonan Ein vergessener Holocaust aus dem Jahr 1989 steht am Anfang 7 8 9 Der Einfachheit halber gehe ich hier nicht auf den Bedeutungsunterschied zum kulturellen Gedächtnis ein, den Assmann verwendet, um darauf aufmerksam zu machen, dass nicht jegliche Gedächtnisarbeit offiziell gesteuert ist, sondern auch von der Zivilgesellschaft bzw. der Wissenschaft und Kunst ausgeht und damit einen heterogenen Charakter hat. Dementsprechend müsste man richtigerweise auch Sayfogedächtnis in eine politische und kulturelle Gedächtnisformation unterteilen. Im Rahmen dieses Beitrags ist diese Differenzierung jedoch nicht vorrangig. Cf. Armbruster, Faith, 52–53. Bzgl. Hintergründe zur Wahl des Datums (= Vernichtung der syrischen Stadt Nisibis im Jahr 1915) cf. Nisibin, Sayfo-Gedenktag.
„Sayfo continues today“ 145 dieser Entwicklung und wird als Impuls aus der Forschung verstanden.10 Syrische Christen in ihrer Heimat Türkei hatten keine Möglichkeit den Sayfo zu thematisieren und die syrisch-orthodoxen Kirchenführer hießen offene Kommunikation über die Vergangenheit aus Furcht vor repressiven Maßnahmen in Türkei nicht gut.11 Die Erinnerung an eine leidvolle kollektive Vergangenheit definiert neue Zugehörigkeitsgrenzen, die einerseits als Gemeinschaftskitt wirksam werden können, andererseits aber neue identitäre Abgrenzung bewirken. Dies wird durch einen Vergleich mit dem Shoahgedächtnis deutlich, das sich im Zuge der 1960er und 1970er Jahre in Europa, den USA oder Israel entwickelt hat. Nimmt man etwa das Beispiel Frankreich zur Hand, so fällt die Phase eines spezifischen identitätsstiftenden Shoahbezugs der französischen Juden in eine Phase, wo sich die bis dahin weitgehend laizistisch geprägte französische jüdische Community durch den schnellen Zuzug von Juden aus den unabhängig gewordenen Maghrebstaaten kulturell und religiös rapide änderte.12 „Israel-Loyalität und Shoah-Erinnerung bildeten in dieser Situation ein substituierendes Äquivalent zur klassischen jüdischen Identität.“13 Darüber hinaus wuchs zu diesem Zeitpunkt im Windschatten der „ethnical revivals“ ein neuer nationaler Identitätsdiskurs, nämlich jener des Rechts auf Differenz:14 Minderheiten wollten im Unterschied zu den Bürgerrechtsbewegungen der 1950er und 1960er Jahre nicht nur unter dem Blickwinkel der Bürgerrechte, sondern auch unter jenem der Kultur betrachtet werden. Dieses Verlangen wird durch ein „Bekenntnis zu Vergangenheit und somit zu einer Geschichte“ zum Ausdruck gebracht.15 Die Shoah war in dieser Konstellation neben der Identifikation mit Israel (vor allem nach dem siegreichen Sechs-Tage-Krieg 1967) ein neuer Referenzrahmen für jüdische Identität und jüdische Zusammengehörigkeit. Nur 10 Yonan, Holocaust. Zur bislang noch wenig erforschten Gedächtnisgeschichte, cf. Atto, Oral Transmission. Cetrez, Psychological Legacy; Numansen/Ossewaarde, Patterns. 11 Cf. Atto, Oral Transmission, 184. 12 Cf. Wieviorka, Kulturelle Differenzen, 31. 13 Schmoller, Vergangenheit, 99. 14 Cf. Dray-Bensousan, Shoah, 72; Smith, Revival. 15 Wieviorka, Kulturelle Differenzen, 32.
146 Andreas Schmoller nebenbei sei erwähnt, dass die Namens- und Identitätsdebatten um Assyrertum und Aramäertum in der Diaspora sich zeitlich vor dem Hintergrund dieses Differenzparadigmas abspielen und dessen Logik folgen, auch wenn ihnen zusätzlich eine viel diskutierte spezifische Charakteristik eigen ist.16 In einem weiteren Punkt ist der Vergleich mit der Gedächtnisgeschichte der Shoah hilfreich. Auf die Rekonfiguration jüdischer Identität folgte in Etappen die politische und gesellschaftliche Anerkennung sowie juristische Institutionalisierung der Shoah als Verbrechen in vielen Ländern weltweit. Dieser historische Prozess hat als „modèle de combat“ seither Nachahmer gefunden wie bei den Armeniern oder Vereinigungen von Opfern kolonialer Verbrechen.17 Schließlich folgte darauf nicht zuletzt die Kritik an einer Instrumentalisierung der Shoah für kommunitaristische oder nationale Bedürfnisse. So kritisiert Moshe Zimmermann die Versuche Israels, die Shoah zur Legitimation Israels zu missbrauchen.18 In ihrem Bestreben um Anerkennung hatten die jüdischen Communities Prototypwirkung und somit entstand eine Situation, die sogar als „Konkurrenz der Opfer“ bezeichnet worden ist.19 Sollen Staaten, Parlamente oder internationale Einrichtungen dann überhaupt kollektive Verbrechen der Vergangenheit anerkennen, wenn damit neue oft ethnisch konnotierte Identitäten in ihrer Konstruktion unterstützt werden? Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Schon Assmann hat darauf hingewiesen, dass es eine zweite Seite der Medaille gibt, die sich im Zuge der Holocausterinnerung herausgebildet hat: Die „viktimologische Identitätspolitik“, der es nicht um „Geschichte im Allgemeinen, sondern um das Gedächtnis von Gruppen [geht], die auf dieser Basis eine neue Identität aufbauen, wobei sie mediale Aufmerksamkeit und soziale Anerkennung ebenso einfordern wie materielle Restitution und symbolische Reputation.“20 Blicken wir kurz auf die gedächtnisgeschichtlichen Hintergründe, die erklären helfen, warum westliche Gesellschaften den Holocaust und andere Genozide anerkennen und anerkennen sollen. 16 17 18 19 20 Vor allem bei Atto, Hostages. Dray-Bensousan, Shoah, 77. Zimmermann, Shoah. Chaumont, Konkurrenz. Assmann, Schatten, 79.
„Sayfo continues today“ 147 Die Anerkennung von Genoziden – und hier ist vorrangig an Genozide in der Vergangenheit gedacht – ist an Shoahdiskurse gekoppelt. Die Shoah wurde spätestens in den 1980er Jahren eine „allgemeine, international verfügbare Katastrophenchiffre“, die sich nach und nach auch auf den Genozidbegriff übertragen hat. Die moralische Aufladung des Begriffs zeigt sich, wie Yvonne Robel richtig festhält, auch am Gebrauch des G-Wortes oder der Endung -zid (etwa in Ökozid oder Fötozid) in anderen Zusammenhängen.21 Die sogenannte Singularitätsthese, wonach die Shoah als der Genozid schlechthin nicht mit anderen Ereignissen vergleichbar ist, da dies – so ein gängiger Kurzschluss – auf die Relativierung der Shoah hinauslaufen würde, hat besonders im deutschen Kontext dazu beigetragen, dass die Verwendung des Genozidbegriffs und auch die vergleichende Genozidforschung etwas verzögert – nämlich Ende der 1990er Jahre – eingesetzt hat.22 „Der Konflikt um den Vergleich ist auflösbar“, befindet Boris Barth, denn erst durch den Vergleich des Holocaust mit anderen Genoziden werden auch dessen „extremen Besonderheiten“ sichtbar.23 Die Anerkennung anderer Genozide heißt insofern nicht, den Holocaust als Genozid mit ultimativem Charakter infrage zu stellen. Es geht in Genoziddiskursen als Anerkennungsdebatten primär um das Bekenntnis eines Staates oder sonstigen Instanz, den „Genozidbegriff als anwendbar“ zu erachten.24 Dieses Benennen ist im Grunde genommen ein Anerkennen. Eine weitere, die höchste, Stufe der Genozidanerkennung wäre ein Gesetz, dass die Leugnung eines Genozids unter Strafe stellt, wie dies zum Beispiel bei der Shoah oder dem armenischen Genozid in manchen Ländern der Fall ist.25 Ohne in diesem Zusammenhang auf die naheliegende Problematik der türkischen Leugnung des Genozids von 1915 im Detail einzugehen, ist für deren Einordnung folgende Differenzierung hilfreich. Beim Begriff 21 Cf. Robel, Verhandlungssache, 65–66. Diese moralische Chiffrenfunktion von den Begriffen Holocaust bzw. Shoah und deren Übertragung zeigt sich im Fall des Sayfo etwa auch im Wandel der Buchtitel. Während Yonan 1989 „Vom vergessenen Holocaust“ sprach, nannte Sebastien de Courtois sein 2002 erschienenes Buch „Le génocide oublié“. 22 Cf. Robel, Verhandlungssache, 68–71. 23 Barth, Genozid, 56. 24 Ibid., 74, kursiv im Original. 25 Lagrou, Europe, 283.
148 Andreas Schmoller »Genozid« handelt es sich eben nicht nur um einen juristischen Begriff, der einen durch die UN-Völkermordkonvention von 1948 festgelegten Tatbestand beschreibt, sondern ebenso sehr um einen geschichtspolitischen Begriff, der seine normative Kraft aus seinem „moralischen Verweisungscharakter“ bezieht.26 Mit dem Genozid ist ein Stigma verbunden, weil er als „Verbrechen der Verbrechen“ gilt, und somit die Täter in eine besondere Verbrechensklasse einordnet, die in historischen Geschichtsbildern auch die Nachfolgegesellschaft in die Pflicht nimmt. Ob man mit der Begriffsverwendung den EU-Beitrittskandidat Türkei diesem Stigma aussetzt oder eben nicht, bestimmte beispielsweise auch einen Teil der Debatten im deutschen Bundestag, der am 16. Juni 2005 einstimmig eine Resolution verabschiedet hatte. Diese benannte zwar einerseits neben den armenischen auch die aramäischen, assyrischen und chaldäischen Opfer, sparte aber den Genozidbegriff bewusst aus.27 Auf Grundlage dieser Entwicklung wird deutlich, dass Anerkennungspolitik in der moralischen Sphäre der Opferanerkennung angesiedelt ist. Ein passiver Opferbegriff rückt dabei in den Vordergrund. Das heißt, die Opfer werden aus der Gegenwart, so Aleida Assmann, unter einer „viktimologischen Logik von Verlust, Erleiden und Gewaltunterworfenheit“ wahrgenommen.28 Gerade dadurch funktioniert die Anerkennung des Holocaust international als prototypisch für andere Gruppen, da die ihnen gewährte Anerkennung aus einer ethischen Perspektive geschieht und Gruppen nur in Form einer Opferidentität anerkannt werden, wie der französische Soziologe Shmuel Trigano etwa mit Blick auf Frankreich meint, wo stets jegliche Form eines communitarisme abgelehnt wird.29 Die Anerkennung vergangener Verbrechen, so Jean-Michel Chaumont auf die zivile Opferjustiz verweisend, ist gesellschaftlich auch deswegen so wichtig, weil diese „jenes Vertrauen wiederherstellen kann, das so gravierend zerstört wurde“.30 26 27 28 29 Robel, Verhandelungssache. Kursivsetzung von mir. Ibid., 230–235. Assmann, Schatten, 77. Cf. im Folgenden ibid. „On ne reconnait les collectivités ou les communautés que sous la forme victimaire.“ Trigano, Mémoire, 42. 30 Chaumont, Konkurrenz, 304.
„Sayfo continues today“ 149 Auf Seite der Opfer geht es um nicht weniger als die Anerkennung einer Gruppenidentität. Charles Taylor meint mit Blick auf den Multikulturalismus, dass unsere Identität „teilweise von der Anerkennung oder NichtAnerkennung, oft auch von der Verkennung durch die anderen geprägt“ werde. Nicht-Anerkennung könne also Schädigungen bei den Betroffenen herrufen, da diese ihre Identität nicht bestätigt sehen, was zu einer „selbstentwertenden Verinnerlichung“ führe.31 Diese Überlegungen lassen uns zu dem Schluss kommen, dass wir es tatsächlich mit zwei Seiten einer Medaille zu tun haben, wenn wir im Sinne einer ethischen Wendung hin zu einer viktimologischen Erinnerungskultur kollektives Erinnern und damit verbunden offizielles Anerkennen von Genoziden befürworten und damit auch neue Identitätsbildungen bestätigen (oder im gegenteiligen Fall verwehren). Es gibt wie genannt gute moralische Gründe, diese Identitätsbildungen auch anzuerkennen, umso mehr als individuelle wie kollektive Verletzungen durch Leugnung oder aufgrund von Ignoranz verstärkt und tradiert worden sind und die NichtAnerkennung selbst zur Gruppenidentität beiträgt. Aus der Praxis wissen wir, dass die Anerkennung von Genoziden meist von anderen Faktoren dominiert bleibt.32 Wir haben z.B. den geringen Bekanntheitsgrad des Sayfo angesprochen, den man als Ursache betrachten kann. Darüber hinaus ist aber das demografische Gewicht (manchmal auch im Hinblick auf potentielle Wählerschichten) wie jener der syrischen Christen sowie deren gesellschaftlicher Position in einem Land von Bedeutung, ob Anerkennungslobbying erfolgreich sein kann. Interessensgruppen spielen in jedem Fall eine zentrale Rolle.33 2 Vergangene und heutige Genozide: Die Relevanz des Sayfo im Kontext der Ereignisse im Nahen Osten Der Sayfo begegnet uns allerdings nicht nur in Form eines politischen (und kulturellen) Gedächtnisses, das gemeinschaftsbildend wirkt, er ist vor allem tief im sozialen Gedächtnis der Familien und Gruppen verankert, 31 Taylor, Multikulturalismus, 13. 32 Cf. hierzu die Ausführungen bei Chaumont, Konkurrenz. 33 Cf. Barth, Genozid, 49.
150 Andreas Schmoller wo die mündliche Überlieferung tradiert wurde.34 Als kommunikatives Gedächtnis umfasst dieses nach Aleida Assmann überschaubare Gruppen, wie Familie, Pfarre, Verein etc. und ist eingebettet in den Zeithorizont von ca. vier Generationen. Heidi Armbruster hat im Zuge ihrer ethnologischen Feldforschungen im Tur Abdin die soziale Dimension herausgestellt: “The sayfo was etched in peoples’ consciousness and marked off historical time, whereby something happened ‘before’ or ‘after’ the massacre. It has left the mark of an unresolved, irreconcilable crime, and has conditioned attitudes towards Turks and Kurds.”35 Welche Rolle hat diese Nachgeschichte im Kontext der aktuellen Ereignisse in Syrien und dem Irak für die syrischen Christen. Betrachtet man die sich wandelnde Wahrnehmung und Reaktion auf die Ereignisse im Nahen Osten seit dem Ausbruch des Syrienkrieges 2011, wird sichtbar, dass es zu einer schrittweisen Verflechtung von Sayfo und Gegenwart gekommen ist. Die Verwendung der Begriffe »Sayfo« oder »Genozid« im Kontext des Syrienkrieges ist m.E. in der Phase vor dem rasanten Aufstieg des Islamischen Staates (IS) in der öffentlichen Sphäre nicht anzutreffen, weder in Interviews noch in journalistischen Berichten.36 2.1 Etappen der Perspektivlosigkeit: Syriens Christen in der Revolte Vor dem Aufstand im Jahr 2011 profitierten Syriens Christen vom offiziellen staatlichen Säkularismus des Assadregimes, das eine Politik der religiösen Toleranz verfolgte, die Minderheiten anzog.37 Die Christen waren mit fast keiner Diskriminierung konfrontiert, weder durch den Staat noch durch die Gesellschaft. Dadurch wurde Syrien zu einem der sichersten Orte im Nahen Osten für religiöse Minderheiten; dies gilt vor allem für Christen im Irak nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein 34 Cf. vor allem Atto, Oral Transmission; Tamcke, Tur Abdin, 90–97. 35 Ibid., 53. 36 Eine Ausnahme bildet: Al-Abed, Assyrians. Er thematisiert bereits 2014, dass die assyrischen Christen in der Dschazira Nachfahren von Überlebenden des Sayfo waren, die sich angesichts der Ereignisse vor einer neuen „wave of displacement“ fürchteten. 37 Farha/Mousa, Autocracy, 179.
„Sayfo continues today“ 151 im Jahr 2003.38 Die Reaktion der Christen auf den syrischen Aufstand 2011 reichte von der expliziten Unterstützung Bashar Al-Assads über ein Schweigen zu den Protesten bis hin zu Vorschlägen für bescheidene demokratische Reformen.39 Man vermied, mit der Oppositionsbewegung in Verbindung gebracht zu werden.40 Dieses Bewusstsein für die existenzielle Bedeutung konfessioneller Grenzen breitete sich unter den Minderheiten Syriens mit hoher Geschwindigkeit nach Beginn der Revolte und nicht erst mit dem Erstarken islamistischer Milizen aus.41 Je stärker die Christen mit der Gewalt gegen ihre Einrichtungen und Personen, wie die Zerstörung und Plünderung von Kirchen, Geiselnahmen und Ermordungen in den sogenannten befreiten Gebieten von Syrien konfrontiert wurden, desto mehr empfanden sie jegliche Alternative zu Assads Regime als bedrohlich. Christoph Leonhardt kommt zu dem Schluss, dass die Entführung des griechisch-orthodoxen Bischofs Boulas Yazigi und des syrisch-orthodoxen Bischofs Youhana Ibrahim von Rebellengruppen im April 2013 einen Wendepunkt darstellte.42 Die Ablehnung der Opposition stieg ebenso wie die Loyalität gegenüber dem Regime. Die Zahl derer, die Syrien hinter sich ließen, wuchs an. Die Christen wiederholten das Verhalten der Generationen zuvor und wählten anfänglich bevorzugt und soweit möglich den offiziellen Weg der Ausreise.43 Unterstützung des Assadregimes schien angesichts der Unsicherheit, was ein Regimewechsel in Syrien bedeuten würde, eine vernünftige Wahl zu sein.44 Die sektiererische Dynamik, die der Syrienkonflikt nicht erst seit dem Aufstieg des IS genommen hat, machte auch 38 39 40 41 Cf. Sfeir, Chrétiens. Becker, Autokratie. Farha/Mousa, Autocracy, 179–180. Cf. Barber, Christian Communities. Ähnlich wie die Christen verbanden andere Minderheiten des Landes mit den Protesten das Szenario einer negativen Entwicklung, was sich an einer Analyse der geografischen Verteilung von Protesten für und gegen das Regime relativ klar nachweisen lässt. Cf. ibid. 459. 42 Leonhardt, Christen, 7. Man kann zu dieser Einschätzung, die auf Feldforschungsinterviews basiert kritisch anmerken, dass es sich dabei um einen von betroffenen Christen retrospektiv konstruierten Wendepunkt handeln könnte, der de facto bereits zu einem früheren Zeitpunkt des Geschehens anzusetzen wäre. 43 Institute of Eastern Christian Studies, Christians. 44 Balanche, Communautarisme, 39–40.
152 Andreas Schmoller sein Bedrohungspotenzial für die religiösen Minderheiten aus.45 Unter den Christen hatte und hat dieses unsichere Zukunftsszenario direkte Relevanz für die Frage, welcher Platz für sie in Syrien zukünftig noch bleibt. Die Furcht vor der Auslöschung der christlichen Präsenz ist im politischen Diskurs und in vielen Erzählungen eng an das Überleben des Assadregimes gekoppelt.46 Je fraglicher dies schien und je mehr Gebiete von islamistischen Gruppierungen dominiert wurden, umso häufiger wählten Christen den Weg der Migration. Andreas Bandak fasst auf Basis von Feldforschung die Stimmung unter den Christen Syriens im Jahr 2012 düster zusammen: “What seems to win out is rather a sickness unto death, where nothing new and positive is anticipated to come from the uprising, only further death and extinction.”47 Das bedeutet, dass das Wohl und Wehe einer Person von ihrer Gruppenzugehörigkeit abhängig zu sein scheint. Dies spiegelt sich in vielen Interviews mit syrisch-christlichen Flüchtlingen derart wieder, dass in ihren lebensgeschichtlichen Erzählungen nicht so sehr der persönliche Verlust der Heimat im Vordergrund steht, sondern die größere Geschichte, wonach das Ende der Christenheit in Syrien bevorsteht.48 In der Erzählung von Flucht und Exil wird die persönliche Entscheidung vor dem Hintergrund des beschworenen Schicksals einer Religionsgruppe verhandelt. „No future for Christians in Syria!“, äußert Tuma, ein syrisch-orthodoxer Christ aus Aleppo, der Ende 2013 nach Europa geflohen war.49 Aus sozialpsychologischer Perspektive ist eine Verbindung zwischen dieser Diagnose und der intergenerationellen Wirkung von Traumata, die zum Beispiel aus 45 Balanche, Ethnic cleansing; zu einer differenzierten Analyse des sektiererischen Gehalts des Konflikts cf. Phillips, Sectarianism. Ich bevorzuge die direkte Übersetzung des englischen Begriffes sectarianism bzw. sectarian gegenüber des deutschen Begriffs Konfessionalismus bzw. konfessionalistisch, mit dem man eher die Zugehörigkeit zu einer Konfession als Teil einer größeren Religion verbindet. Sectarianism verweist auf die kollektive politische Identität und Mobilisierung einer konfessionellen Gruppe. 46 Bandak, Reckoning. 47 Ibd., 683. 48 Schmoller, Life. 49 Interview des Autors, Wien, 03.10.2014. Interviewmaterial des Autors stammt aus dem genannten Forschungsprojekt und wurde durch Verwendung von Pseudonymen anonymisiert.
„Sayfo continues today“ 153 dem Sayfo, aber auch aus anderen Verfolgungserfahrungen resultierten, die in der Community zur Tradierung von Misstrauen beitrugen, in Verbindung zu setzen.50 Gerade in Syrien oder dem Irak waren orientalische Christen von Gewalt betroffen, deren Vorfahren Opfer des Sayfo waren.51 Dies ist von zentraler Bedeutung, weil eine rein politikwissenschaftliche Perspektive diesen Aspekt ausblendet und die geschilderte Perspektivlosigkeit syrischer Christen primär vor dem Hintergrund des syrischen Kriegskontexts analysiert. Diese sieht in der Positionierung der Christen vor allem eine Bestätigung einer von Assad nach Ausbruch der Revolte bewusst betriebenen Konfessionalisierung (»sectarianization«) des Konfliktes. Nach Ansicht von Analyst/inn/en hatte diese eben genau das Ziel, die Bevölkerung Syriens, insbesondere die Minderheiten, zu polarisieren und den Konflikt als eine Bedrohung von konfessionellen Gruppen in ihrer Gesamtheit zu verstehen mit dem Ziel, sie auf diese Weise auf die Seite des Regimes zu bringen.52 Man verweist dann gerne darauf, dass der minority complex, der sich als kollektives Angstgefühl vor der demografischen Mehrheit äußert, vor allem durch die westliche Kolonialpolitik geschaffen und vertieft wurde, womit der sozialpsychologische Zugang erst recht wieder erschwert wird.53 2.2 Ein neuer Genozid? Der IS in Mosul (2014) und am Khabur (2015) Die Eroberung Mosuls durch den IS im Sommer 2014 markiert eine deutliche Zäsur. Mosuls Christen gehörten zu den ältesten christlichen Gemeinschaften der Welt. Ihre Vertreibung durch den IS im Juni und Juli 2014 ist wie die Bedrohung der Jesiden im Sindschargebirge von westlichen Medien stark aufgegriffen worden, wenngleich syrische Christen der Diaspora den Eindruck hatten, dass dem Schicksal der Jesiden unverhältnismäßig mehr öffentliches Interesse entgegengebracht wurde als dem der irakischen Christen. Am 18. Juli wurden die Christen in der Stadt über Lautsprecher 50 Hinzu kommt, dass die syrischen Christen 2011 das tragische Schicksal der irakischen Christen als Vergleichsfolie vor Augen hatten. Cf. Balanche, Scénario. 51 Cetrez, Breaking the Silence. 52 Cf. Philips, Sectarianism. 53 Cf. Dam, Struggle, 4 f.
154 Andreas Schmoller gewarnt, die Stadt zu verlassen, da sie sonst durch das Schwert umkommen würden. Eine Woche zuvor forderte der IS sie auf, zum Islam zu konvertieren oder die Dschizja zu bezahlen, d.h. die im Islam traditionell von Juden und Christen eingezogene Kopfsteuer, mit der der Schutzstatus als Dhimmis gewährt wurde.54 Ihre Häuser wurden mit einem N bezeichnet. Dieses steht für nassarah, dem Terminus, der im Koran für die Bezeichnung der Christen verwendet wird. Das Eigentum wurde zudem als Eigentum des IS deklariert. Offizielle irakische Quellen schätzen, dass der IS 120.000 Christen aus Mosul bzw. der gesamten Ninive Ebene im Jahr 2014 vertrieben hat.55 Es gab einzelne Berichte über Morde an Christen im Zusammenhang mit der Ausweisung durch den IS, auch wenn genaue Angaben aufgrund der Unzuverlässigkeit der Quellen schwierig sind.56 Durch zahlreiche Videos belegt ist die kontinuierliche Zerstörung von Kirchen und christlichen Erbes in der Region von Mosul seit 2014. Die Kennzeichnungslogistik erinnerte nicht nur Diasporachristen der zweiten Generation, die durch das österreichische Schulwesen sozialisiert wurden, an Diskriminierungs- und Beraubungsmethoden der Nationalsozialisten und somit an das Genozidverbrechen des 20. Jahrhunderts schlechthin. Lydia, eine syrisch-orthodoxe Jugendliche in Wien, etwa meinte: „Österreich hat die Nazizeit miterlebt und was gerade im Irak und Syrien passiert, wo sie z.B. die Häuser mit einem arabischen N markieren, für Nazarener, damit man genau dort angreift und dort die Minen gelegt werden, dass man dort die Frauen vergewaltigt, dass man dort …., das ist ja nach dem Naziregime gemacht.“57 Die Bedrohung durch den IS verstärkte nicht nur die sektiererische Wahrnehmung und Dynamik auf den Kriegsschauplätzen im Nahen Osten, sie war für die Christen nun noch greifbarer, weil der IS die Verfolgung religiöser Minderheiten gemäß koranischer Bestimmung zum Programm machte. Die Ereignisse verweisen auf die historischen und damit symbolischen Bedeutungen des Gebiets für das orientalische Christentum einerseits und auf das strategische Vorgehen des IS andererseits. 54 55 56 57 Fattal, Statut légal. Mamoun, Christian. Erste gute Analysen dazu bei: Barber, Christian Communities. Interview des Autors, Wien, 21.11.2014.
„Sayfo continues today“ 155 Auf diese Vertreibung der Christen im Sommer 2014 folgten in vielen europäischen Städten erstmals seit dem Ausbruch des Syrienkrieges Demonstrationen, die explizit auf die Verfolgung der Christen in diesem Konflikt hinwiesen und den „Stopp des IS“ forderten. In den Demonstrationszügen, die orientalische Diasporachristen in Europa mit lokalen christlichen Aktivisten organisierten, wurden die Ereignisse auf Bannern unter anderem auch als Genozid bezeichnet.58 In der internationalen Presse wurden nun Berichte zahlreicher, welche vor einem Genozid bzw. einem Völkermord warnten oder beklagten, dass dieser unbemerkt vor den Augen der Weltöffentlichkeit bereits im Gange sei.59 Die Genozidgefahr bestand damals am stärksten für die Jesiden, die in strikter Anwendung der IS-Ideologie weder als Muslime noch als Schutzbefohlene Anhänger der Buchreligionen galten und daher nur durch Konversion dem Tod entgehen konnten. Berichte von systematischer Versklavung und Vergewaltigung jesidischer Mädchen drangen in die westlichen Medien. In Bezug auf die Christen betonten jedoch die Journalist/inn/en in der Regel, dass mit der Flucht der Christen aus Mosul, Qaraqosh, Tal Kaif, Bartella, Karamlesh und anderen Orten sowie der Zerstörung der christlichen Bauten und Kulturschätze das Ende einer fast 2.000 jährigen Präsenz absehbar sei. Wenige Monate später bedrohte ein weiterer Angriff des IS eine andere Gruppe des nahöstlichen Christentums in seiner Existenz. Am Morgen des 23. Februar 2015 überfielen Truppen des IS viele der 34 assyrischen Dörfer am Fluss Khabur, nahmen bis zu 253 Gefangene und zerstörten Gotteshäuser wie Mat Maryam, eine assyrische Kirche des Ostens in Tel Nasri. 3.000 Bewohner flüchteten nach Kamischli oder Hassake.60 Die Apostolische Kirche des Ostens (Assyrische Kirche) bemühte sich ein Jahr lang um die Freilassung der Geiseln, wobei den IS-Terroristen hohe Lösegeldbeträge 58 So lautete eines der Banner auf der von der Union Orientalischer Christen organisierten Demonstration in Wien am 10.08.2014, an der nach offiziellen Angaben rund 1.000 Personen teilnahmen: „Ein neuer Genozid im 21. Jahrhundert und die Welt schaut noch zu.“ 59 Für den deutschsprachigen Raum cf. e.g. Aschwanden, Völkermord; Hermann, Christen; Schneider, Gefahr; Gehlen, Angst. 60 Cf. Institute of Eastern Christian Studies, Christians; Assyrian International News Agency, ISIS; Assyrian International News Agency, Assyrians.
156 Andreas Schmoller gezahlt werden mussten. Die Freilassung der Geiseln erfolgte jeweils in kleinen Gruppen.61 In der Folge vermehrten sich Sayfovergleiche, weil nicht nur gerade das Sayfogedenkjahr begangen wurde, sondern auch wegen der historischen Verbindung, die die Khaburchristen zum Sayfo haben. Es handelt sich hierbei nämlich um Nachfahren jener 9.000 assyrischen Überlebenden, die nach dem Massaker von Semile am 7. August 1933 im Irak entlang des von Hassake nach Ras-al-Ain fließenden Flusses nach Stammeszugehörigkeit in 34 völlig unkultivierten Dörfern angesiedelt worden waren.62 Diese Khaburchristen stehen daher nicht nur für das Massaker von Semile, dessen Datum die Assyrer heute als Feiertag begehen, sondern sozial und symbolisch für die letzten Spuren einer durch den Sayfo verlorenen Welt: Die Assyrer des historischen assyrischen Kernlandes im Hakkaribergland und in Urmia hatten nicht nur die Hälfte ihrer Bevölkerung, sondern auch ihr historisches Siedlungsgebiet verloren und wurden in die Diaspora zerstreut.63 Durch die am Khabur angesiedelten Assyrer wurde das Leben des Hakkariberglandes in einem anderen Kontext fortgesetzt. Ähnlich wie die Ereignisse in Mosul mobilisierte der Angriff auf die Khaburchristen die internationale Gemeinschaft orientalischer und insbesondere assyrischer Christen, was seinen Ausdruck weltweit auch in Demonstrationszügen fand.64 Nunmehr war der Genozid fixer Bestandteil des rhetorischen Repertoires. In Wien rief das eigens gegründete Aktionskomitee „Assyrer-Aramäer-Chaldäer EINE Stimme“ unter der Devise „Stoppt den Völkermord“ zu einer Demonstration am 21. März 2015 vor 61 Cf. die Meldung des generell sehr sorgfältigen Pressedienstes der Stiftung Pro Oriente, IS-Terroristen. 62 Hellot, Assyro-Chaldéens, 129; Bohas/Hellot-Bellier, Assyriens. 63 Als neues umfangreiches Referenzwerk muss hier genannt werden: Hellot-Bellier, Chroniques. 64 Nebenbei sei erwähnt, dass das politische Verhältnis vor und während des Syrien-Krieges der Anhänger der assyrischen Kirche des Ostens zum AssadRegime weitaus spannungsgeladener war als jenes der syrisch-orthodoxen aramäischen Christen, deren Anhänger und Kirchenautoritäten mehrheitlich als Unterstützer Assads betrachtet werden, der die Pflege des aramäischen sprachlichen und kulturellen Erbes – etwa in Maalula – im Einklang mit dem offiziellen Geschichtsnarrative förderte. Cf. Al-Tamimi, Assyrians; cf. dazu im Detail etwa die Studie von Pichon, Maaloula.
„Sayfo continues today“ 157 dem österreichischen Parlament auf, in der die Sprecherin des Komitees Renya Matti, den genozidalen Charakter der Ereignisse in das Zentrum ihrer Rede stellte: „Es ist ein Genozid ohnegleichen, der zwar nicht hier, aber gerade jetzt passiert.“65 Die breite internationale Anerkennung der Ereignisse im Norden des Irak im Jahr 2014 als Genozid ist bemerkenswert. Im Jahr 2016 haben das Europäische Parlament66, der Europarat67 und das Britische Parlament68 in die Verbrechen des IS an religiösen und ethnischen Minderheiten in Irak und Syrien (einschließlich Assyrer und Jesiden) in Abstimmungen als Genozid bezeichnet. Am 15. März 2016 hat auch das US-Repräsentantenhaus einstimmig abgestimmt, dass es sich bei den Angriffen des Islamischen Staates auf religiöse Minderheiten um Genozid handelt. Damit erhöhte sich der Druck auf die US-Regierung, die Verbrechen des IS im Norden des Iraks als Genozid einzustufen. Damit tat sich die US-Administration unter Präsident Barack Obama laut der in Schweden ansässigen assyrischen NGO A Demand for Action jedoch schwer.69 Im Dezember 2015 bestand laut inoffiziellen Informanten zufolge lediglich die Absicht, die Gewalt gegen Jesiden als Genozid zu qualifizieren, die Christen jedoch aus dieser Erklärung auszuschließen.70 Die politische Problematik der Benennung, die rhetorisch darum kreist, ob das G-Wort ausgesprochen wird oder nicht, hat sich bereits 1994 angesichts des Genozids in Ruanda gezeigt, wo dies die Clinton-Administration abgelehnt hat. Der Grund liegt in den einschneidenden Konsequenzen, die mit der Benennung auf internationaler Ebene verbunden sind.71 Diese Bezeichnung beinhaltet nicht nur die „Feststellung einer eventuellen juristischen Zuständigkeit“, sondern auch „die Entscheidung für oder wider eine ‚humanitäre‘ militärische Intervention.“72 Die schnelle Befreiung der Mosulebene vom IS 65 66 67 68 69 70 71 72 Matti, Schweigen. Cf. auch: Kino, Genocide. Europäisches Parlament, Joint Motion. European Centre for Law & Justice, Council of Europe. Wintour, Yazidis. Cf. A demand for action, http://www.ademandforaction.com/ (acc. 21.12.2015) Cf. Kino, G-word. Cf. Robel, Verhandlungssache, 52–56. Diese wollte die US-Administration 1994 in Ruanda – nicht zuletzt aufgrund der vorangegangenen Vorgänge in Somalia – vermeiden. Ibd., 53.
158 Andreas Schmoller und die Errichtung einer sicheren Lebensumgebung für die von dort vertriebenen Christen (etwa in Form von Schutzzonen oder semiautonomen Verwaltungsdistrikten) waren das erklärte Ziel jener Aktivisten, welche die Genozidnennung erforderten. Doch zurück zur sozialen Dimension des Sayfogedächtnisses im Kontext der IS-Verbrechen 2014/15. Die Wahrnehmung vieler syrischen Christen, „dass die Vorgänge in Mosul, in der Ebene von Ninive, am Ufer des Khabour ‚eins zu eins wie beim Völkermord 1915‘ abgelaufen“ wären, rekurrieren auf ein kollektives Gedächtnis und eine kollektiv angeeignete Erfahrung.73 Die Videos von Enthauptungen und ähnlichen Gräuelakten des IS zeigen zweifelsohne eine Nähe zu den mentalen Bildern und visual histories, die im kollektiven Gedächtnis des Sayfo transportiert und abgelagert wurden.74 Die Ikonographie des Sayfo, die durch Erzählungen, Texte, Lieder und Kunst geschaffen wurde, ähnelt diesbezüglich in erschreckender Weise den IS-Verbrechen. Hinzu kommen die Berichte von Entführungen und Vergewaltigungen von Frauen durch den IS, die ihr Pendant in den Sayfoerzählungen haben.75 In diesen wird diesbezüglich, wie Heidi Armbruster analysiert, die Verletzlichkeit der Community als Ganzes sichtbar, da sexuelle Gewalt und Entführung darauf abzielt, das „reproductive capital“ einer Gruppe zu zerstören.76 Sozialpsychologisch heißt dies, dass ähnlich wie bei Nachfahren von Holocaustüberlebenden durch den Sayfo – oder mit Blick auf den Irak auch in rezenteren Verfolgungen wie jener während der Saddam Hussein 73 So Aslan Ergen, assyrischer Bezirksvorsteher der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ), in Wien bei der Demonstration am 21.03.2015 in Wien. Cf. Pro Oriente, Christen. Dass Angehörige derselben Personengruppe, die vor 100 Jahren von Verfolgungen betroffen waren, nun wieder verfolgt wurden, griffen nun explizit auch westliche Medien auf. Cf. etwa: Winkler, Flucht. Allerdings waren schon zuvor in vielen Orten Syriens, etwa in Aleppo, Ra’s al-Ain oder Raqqa syrische oder armenische Christen von direkter islamistischer Gewalt bedroht, deren Vorfahren sich als Überlebende des Aghet oder Sayfo in Syrien angesiedelt hatten. 74 Beispielhaft ist es ausreichend, auf die übersetzte Dokumentensammlung bei Yonan zu verweisen: Yonan, Holocaust. 75 Diese Berichte liegen zwar primär für die jesidischen Opfer im Irak vor, für den Abruf aus dem kollektiven Sayfo-Gedächtnis spielt dies jedoch keine Rolle. 76 Armbruster, Faith, 56.
„Sayfo continues today“ 159 Diktatur – Traumata tradiert wurden, die durch heutige Ereignisse real und erinnerungsmäßig erneut einwirken. In der Post-Sayfophase wurden aus Ängsten resultierend soziale Normen geschaffen, die in der Erziehung der nächsten Generation eingeflossen sind. Diese produzierten Verhaltensweisen, die zu einer Verankerung der existenziellen Bedrohungsgefühle führten, die durch die aktuellen Ereignisse für die Betroffenen akut werden.77 Auch wenn nicht in allen Familien Traumata weitergegeben wurden bzw. werden, so sind sie auf der sozio-kulturellen Ebene von Relevanz, da sie mentale Strukturen der sozialen In-Group der syrischen Christen prägen. Bestehende soziale Verhaltensmuster (z.B. „Trau den Muslimen nicht“) und religiöse Wahrnehmungsmuster („… umgebracht, weil sie Christen waren“) werden verfestigt. Damit verbunden sind dichotomische Unterteilungen zwischen einem Wir („Christen“) und Sie („Muslime“), die starre Grenzen zwischen Stereotypen der Out-Group und Prototypen der In-Group schaffen, so Önver Cetrez. Diese sind sozial, politisch aber auch psychologisch problematisch und können schlimmstenfalls für ein Zusammenleben dysfunktional werden.78 Im Diasporakontext stoßen diese starken Grenzziehungen auf einen vor allem von der politischen Rechten ventilierten islamophoben Diskurs, wo der Islam als Feindbild propagiert wird. Ich mache nicht selten die Erfahrung, dass westliche Beobachter/inn/en im Bereich von Politik, Medien aber auch Wissenschaft orientalische Christen sehr schnell – in einer Art Kurzschluss – auf eine unterstellte Islamophobie reduzieren und dies mit einer vermeintlichen generellen Affinität zu politisch rechten Parteien zu untermauern versuchen. Damit nimmt man jedoch eine starke Verengung auf einen spezifischen westlichen Kontext vor und blendet in eurozentrischer Manier historische und sozialpsychologische Kontexte einer spezifischen Gruppe zur Gänze aus. Dies ist jedoch m.E. keinesfalls hilfreich dabei, Betroffene auf die durchaus vorhandene Problematik scharfer Grenzziehungen und damit verbundener vereinfachender 77 Zu Holocaust cf. Rosenthal, Shoah; Levita, Traumatisierung. Zur noch kaum erforschten intergenerationellen Sayfo-Traumatisierung cf. Cetrez, Psychological Legacy. Hierauf beziehe ich mich im Folgenden. 78 Cetrez, Psychological Legacy.
160 Andreas Schmoller Geschichtsbilder aufmerksam zu machen. Dies soll in differenzierter Weise im dritten Teil des Beitrages versucht werden. 3 Der Sayfo und heutige Verfolgung: Gruppenidentität, mangelnde Anerkennung und problematische Opfernarrative „Das ist jetzt so eine schwere Sache, wegen der Sache in Syrien, es gibt jetzt auch viele Suryoye in Syrien und ja man kriegt das schon mit in den Medien und es trifft einem dann auch, wenn man weiß, heh dein Volk ist noch dort und es werden wieder Menschen getötet, so wie beim Sayfo; es ist schon traurig einfach, so was zu sehen und mich trifft das auch auf eine Art und Weise, auch wenn ich vielleicht nicht mehr so viele Verwandte dort habe; aber trotzdem denkt man einfach, heh es ist dein Volk, dein Blut, du kommst dort her.“79 Die hier geschilderte connectedness mit den Christen im Nahen Osten ist für die Diasporakultur kennzeichnend. Ein kollektiver Identitätstyp wird in die subjektive Selbstbeschreibung eingefügt. Damit wird das Kollektiv zeitlich um eine neue Generation und räumlich um die Verstreuten der Diaspora erweitert. Angesichts der Dramatik der Ereignisse im Nahen Osten verstärkt sich diese Identifikation. Daraus resultieren konkrete soziale Praktiken wie familiäres, kirchlich-caritatives und politisches Engagement. Initiativen, die auf die Anerkennung der Ereignisse als Genozid drängen, sind unter diesem Gesichtspunkt Ausdruck einer Zugehörigkeit und eingebettet in ein Bestreben die Öffentlichkeit zu erreichen. Diese Verknüpfung zwischen dem Sayfo und den Verfolgungen im Nahen Osten heute dient dazu, mehr Aufmerksamkeit für die gegenwärtige Verfolgung und Bedrohung zu erreichen. Die Anerkennung als Genozid bzw. Vergleiche mit dem Sayfo im Zusammenhang mit den Ereignissen im Irak und Syrien werden im Westen aber mitunter als übertrieben bzw. als effekthascherisch eingestuft. Diese Forderung – so die Annahme – würde eine unzulässige Konkurrenz zwischen den Opfern der Konflikte in Syrien und dem Irak beinhalten, weil mit der Feststellung eines Genozids gegenüber einer Gruppe, die Verbrechen gegen andere Gruppen – und hier ist vor allem an die muslimischen Mehrheitsbevölkerungen zu denken – als weniger gravierend eingestuft wären. Analog dazu entsteht mit dem Genoziddiskurs mit 79 Interview des Autors mit Yasemin, Wien, 13.02.2015.
„Sayfo continues today“ 161 Bezug auf Täterschaft ein Fokus auf den IS und vergleichbare islamistische Milizverbände. Diese Wahrnehmung täuscht – laut Kritikern – über die Tatsache hinweg, dass die größte Zahl an Opfern in Syrien auf Verbrechen des Assadregimes bzw. deren regionaler und überregionaler Verbündeter zurückzuführen ist. Zu den komplexen Realitäten, die in diesem Kontext einen schalen Geschmack entwickeln, gehört auch, dass die Mehrheit der christlichen Führer des Landes das Regime aus oben beschriebenen Gründen unterstützt. Die verwehrte Anerkennung der Verfolgung von Christen im Nahen Osten setzt indes einen Kreislauf in Gang, der darin besteht, dass Anerkennungsforderer zu noch stärkeren rhetorischen Mitteln greifen, mit der Folge dass die grundsätzlich berechtigten Erwartungen auf Anerkennung noch weniger auf Resonanz stoßen, was wiederum das Gefühl der Marginalisierung und Unverstandenheit verstärkt. In einem Gespräch mit Lydia kommt diese marginalisierende Kränkung genauso zum Ausdruck wie der Einsatz starker rhetorischer Mittel, wenn sie die fehlende Anerkennung der Christen als Opfer des IS in Mosul 2014 im Kontext der ausgeprägten österreichischen NS-Erinnerungskultur unter dem „Nie wieder“-Topos für moralisch besonders problematisch hält: „Österreich hat die Nazizeit miterlebt und was gerade im Irak und Syrien passiert, wo sie z.B. die Häuser mit einem arabischen N markieren, für Nazarener, damit man dort genau angreift und dort die Minen legt, dass man dort die Frauen vergewaltigt, dass man dort [unterbricht]. Das ist ja nach dem Naziregime gemacht; und das kommt dann immer so: wir wollen keine Wiederholungstäter sein in Österreich; wir holen das immer herauf; der 2. Weltkrieg und wir waren Schuld und wir haben so viele Leute auf dem Gewissen; aber dass wir sehen, wir wollen nicht sehen, dass es gerade eben noch mal passiert, die Geschichte wiederholt sich gerade, nur in einem anderen Land; das ist etwas was mich total aufregt; denn warum mache ich das in der Schule 500-mal durch über den 2. Weltkrieg und über den Massentod an den Juden und das immer ja, dass es nicht wiederholt wird und nun wird es doch wiederholt und es ist aber jeden egal.“ Die Perspektive des Wir deutet hier die Identifikation mit Österreich an. Gleichzeitig ist die Marginalisierungserfahrung durch eine erfahrene Indifferenz gegenüber den Christen des Orients tief greifend und für die Betroffenen verstörend. Der Interviewausschnitt steht für viele ähnliche Wortmeldungen, die mir im Laufe meiner bisherigen Feldforschungen begegnet sind. Mit der Verweigerung von Anerkennung, akkumuliert bzw.
162 Andreas Schmoller aktualisiert sich wie bereits ausgeführt das Opferbewusstsein der betroffenen Gruppe, da sie zusätzlich Opfer der Leugnung (siehe das Beispiel der Genozidleugnung in der Türkei) oder des Vergessens wird. „Vergessene Genozide“ bilden einen eigenen Kanon, in welchem auch der Sayfo Aufnahme findet.80 Dieser ist in dieser Weise auch identitätsstiftend, weil er Vergleich unter einer Gruppe der Nicht-Anerkannten ermöglicht. Es gibt gute Gründe, Anerkennung eines vergangenen Verbrechens wie des Sayfos zu fordern oder das mangelnde internationale Engagement zum Schutz der christlichen Minderheiten im Nahen Osten zu kritisieren. Nichtsdestotrotz sind mit derlei Formen der Anerkennungspolitik (Sayfo damals – Genozid heute) auch problematische Wahrnehmungsmuster verbunden. „Sayfo continues today against our people“, formulierte der Patriarch der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien Mor Ignatius Aphrem II bei verschiedenen Anlässen im Jahr 2015 und brachte damit das Genozidgedenken mit den Ereignissen der Gegenwart in seiner Heimat Syrien in Verbindung.81 Meist bleibt es in Reden von Kirchenautoritäten wie dieser bei einer einfachen Verlinkung dieser beiden Ereignisse, die nicht argumentativ erläutert wird, aber inhaltlich eine durchaus bemerkenswerte Tiefe hat. Der Sayfo entwickelt, wie Armbruster festgestellt hat eine Chiffrenfunktion.82 Wie die Wörter Holocaust, Shoah oder Genozid verweist er moralisch auf ein Verbrechen. In dieser Verweisfunktion findet der Begriff Sayfo Verwendung, um auf die longue durée der Verfolgung orientalischer Christen hinzuweisen. Dieses umfasst eine demographische Apokalypse und ist mindestens seit dem 16. Jahrhundert im Westen bekannt. In den Grundzügen geht es darum, dass der christliche Orient aufgrund der leidvollen muslimischen Unterdrückung seinem Niedergang entgegen geht und auf Unterstützung und Protektion angewiesen ist.83 Ganz in diesem Sinn schließt der Patriarch an die Aussage folgendes Opfernarrativ an: 80 Cf. etwa den Sammelband Lemarchand, Forgotten genocides. 81 Ignatius Aphrem II, Syriac Christianity. Auf eine historische Zusammenfassung der als Sayfo erinnerten Ereignisse wird hier verzichtet. Zentrale Referenz: Gaunt, Massacres. 82 Cf. diesen Befund auch bei: Numansen/Ossewaarde, Patterns, 43. 83 Heyberger, Compassion, 10.
„Sayfo continues today“ 163 “As you know for the last several years the Middle East has been going through a turmoil that can only be described as devastating for the Christian presence in the Middle East. Whether it’s in Turkey, in Egypt, in Iraq, in Syria, in Jordan, in the Holy Land, Christians throughout the Middle East are suffering. And the biggest suffering for Christianity in general would be the end of the Christian Presence in the Middle East. And this is not too far to happen. Look at Turkey! After having a sizeable community there at the beginning of the last century, less than half a percent of Christians in Turkey [sic!]. Iraqis who had more than a million and half Christians now less than 300.000. Syria: We have lost already more than forty percent of our Christian population maybe to migration, leaving the country and coming to Europe […]”84 Diese und zahlreiche ähnliche Zahleneschatologien stimmen erstens faktisch kaum. Bezüglich der irakischen Christen vor dem Krieg 2003 werden in der Regel weitaus überhöhte Zahlen genannt. Zweitens zeigt eine differenzierte historische Analyse, dass diese demografische Entwicklung keinesfalls immer durch einen Rückgang des christlichen Bevölkerungsanteils im Nahen Osten gekennzeichnet war.85 Insbesondere in der Zeit des osmanischen Reiches stieg seit dem 16. Jahrhundert in der Levante der Anteil der Christen aufgrund mehrerer demografischer Faktoren (höhere Reproduktionsrate, niedrigere Mortalität, kaum Konversionen zum Islam) beträchtlich an, ist erst seit dem Ersten Weltkrieg rückläufig und befindet sich derzeit auf dem niedrigsten historischen Stand. Ursache dafür sind jedoch nicht ausschließlich Genozide und Vertreibungen, sondern in gleicher Weise andere demografischen Faktoren wie signifikant niedrigere Geburtenraten und höhere Mobilität. Die verzerrten demografischen Erklärungsansätze stehen in Verbindung mit einer opferzentrierten Wahrnehmung der Christen des Orients allgemein, 84 Ignatius Aphrem II, Syriac Christianity. Die Schätzung des Patriarchen für Syrien muss man gar als zurückhaltend niedrig bezeichnen, was damit begründet werden kann, dass mit der Zahl auch ein politisches Gewicht verbunden ist. Die Funktion der Kirchen als politische Repräsentationsfigur verliert mit der schwindenden Zahl an Christen auch das – oft ohnehin nur als symbolisch zu bezeichnende – Kapital. 85 Hier ist insbesondere zu nennen: Fargues, Arab Christians; Courbage, Démographie. So stieg nach den Berechnungen der Autoren der Anteil der christlichen Bevölkerung im Nahen Osten (Israel, Palästina, Jordanien und Syrien) von 8,1 % um 1580 auf 26,4 % am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Bis 1995 sank der Anteil der Christen wiederum auf 9,2 %.
164 Andreas Schmoller die auch heute noch die einzig mögliche Perspektive zu sein scheint, wie Bernard Heyberger feststellt, mit der die Aufmerksamkeit des Westens und einer medialen Öffentlichkeit gesucht wird.86 Der Sayfo wird, wenn er als Referenz im Zusammenhang mit den heutigen Ereignissen in Syrien ins Spiel gebracht wird, schnell in ein Opfernarrativ eingebettet, das den Niedergang des Christentums im Orient als einen langfristigen Prozess beschreibt. In den düstersten Interpretationen einschlägiger Literatur begann dieser mit dem Aufkommen des Islams im 7. Jahrhundert und umfasst nunmehr 1.400 Jahre erlittener Intoleranz und Gewalt.87 Dieser Opferdiskurs vereinfacht die historisch komplexen und lokal höchst unterschiedlichen Realitäten orientalischer Christen, in denen sie nicht nur Opfer sondern auch Akteure waren und sind, und führt tendenziell zu hermetischen Kategorien von Opfern und Tätern. Hier liegt ein besonderes Nahverhältnis zu jeglicher Art von Genoziddiskursen, weil darin die Frage nach dem möglichen Tatbestand im Fokus ist und somit weitestgehend auf Kategorien wie Täter und Opfer reduziert wird.88 Dies geht allerdings mit dem Verzicht auf die Komplexität von sozialen Realitäten einher, in die die Verfolgungsgeschichten eingebettet sind. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Ich argumentiere damit nicht, dass der Kampf auf Anerkennung vergangener (Sayfo) und gegenwärtiger Verbrechen (Irak, Syrien) als Genozid falsch ist, im Gegenteil, moralisch, sozialpsychologisch und auch rechtlich ist dies in jedem Fall bedeutend. Im Rahmen historischer Forschung und einer kritischen Gedächtnisgeschichte aber kommt der Fokus auf die Genozidfrage einem verengten Blick auf die Vergangenheit gleich, der homogenisierte Täter-Opfer-Kategorisierungen schafft, die für die Gesamtbetrachtung von Konflikten, wie jener des Syrienkrieges, nicht adäquat sind.89 Ein aktuelles Beispiel, einem Bericht der Assyrian International News Agency vom 27. Februar 2015 entnommen, mag zur Veranschaulichung hier genügen: 86 Heyberger, Compassion, 10. 87 Um nur zwei prominente Beispiele zu nennen: Valognes, Vie et mort; Bat Yeʾor, Niedergang. 88 Ich argumentiere hier ganz im Sinne von: Schaller/Zimmerer, Ottoman genocides. 89 So lässt sich der Genozid an den assyrischen Christen nicht ohne den Ersten Weltkrieges sowie den Einfluss der russischen Politik erklären, was in einer Reduktion der Debatte darauf, ob es sich bei den Ereignissen 1915 um Genozid
„Sayfo continues today“ 165 “It is ironic that the ISIS attacks on Assyrians in Syria is occurring in 2015, the centennial anniversary of the 1915 Turkish genocide of Assyrians, Greeks and Armenians, in which 750,000 Assyrians were killed (75 %), 500,000 Pontic Greeks and 1.5 million Armenians. This is not a coincidence. ISIS is pretty savvy and is historically informed. When ISIS pushed into the Nineveh Plain in Iraq last year, forcing 200,000 Assyrians to flee their homes, they began their invasion on August 7, which is the official Assyrian Martyrs Day, a day on which each year Assyrians remember their fallen.”90 Trotz des völlig berechtigten Anliegens, die Weltöffentlichkeit über die Gefahr eines Genozids aufmerksam zu machen, entsteht durch die Fixierung, Genozid nachzuweisen eine Darstellung, die man wissenschaftlich als problematisch einstufen muss, da sie einzelne isolierte Fakten zu einem exklusiven Erklärungsansatz verwendet. So ist für den angesprochenen Überfall der Khabur-Dörfer im Februar 2015 ein militärisch-territorialer Aspekt ausschlaggebend. Die Niederlage des IS in Kobane gegen die von den USA unterstützten kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG machte die Sicherung neuer Nachschublinien notwendig. Daraus lässt sich das Vordringen in diese Richtung zum konkreten Zeitpunkt erklären.91 Die Eroberung der Niniveebene einschließlich der Staat Mosul im Sommer 2014 war ein monatelanger Prozess und lässt sich nicht an einer bewussten Fixierung auf den assyrischen Feiertag festmachen, auch wenn der IS am 6./7. August die aus christlicher Perspektive sehr bedeutsame Stadt Qarakosh eroberte und deren christlichen Bewohner/innen vertrieb. 4 Abschließende Bemerkungen Es bleibt festzuhalten, dass die existenzielle Befindlichkeit der Christen im Nahen Osten sowie in der Diaspora von einer großen Spannung geprägt ist. Je mehr sie persönlich und als Gruppe von den Ereignissen in Syrien und dem Irak zutiefst beunruhigt sind, und sich daraus eine Stärkung der Loyalität abgeleitet hat, desto mehr befremdet sie eine fehlende bzw. unzureichende Anerkennung ihrer Opferidentität durch den Westen allgemein. handelt, tendenziell ausgeblendet bleibt. In diesem Sinne argumentiert allgemein: Lagrou, Europe, 284–285. 90 BetBasoo, Genocide. 91 Lund, Victory.
166 Andreas Schmoller Die Forderungen, die Verbrechen an den irakischen und syrischen Christen durch den IS als Genozid einzustufen, kann man insofern juristisch aber auch moralisch unterstützen, um dem Aspekt der Anerkennung Rechnung zu tragen.92 Gleichzeitig kann man auch Verständnis für die Position von Bernard Heyberger aufbringen, der die Verwendung des Begriffs des Genozids in diesem Kontext als übertrieben und vereinfachend hält, insbesondere weil sie regelmäßig eingebettet ist in ein vereinfachendes Geschichtsbild, in dem der Antagonismus zum Islam zentral ist.93 Eine Rolle für die Wahrnehmung im Westen mag schließlich auch die Tatsache spielen, dass die orientalischen Christen – etwa im Gegensatz zu den Jesiden – nur eingeschränkt als einzigartige Minderheiten registriert werden, die im Sinne einer westlichen Neugier in einem Exotisierungsdiskurs Platz fänden und somit mit Bewunderung und Wertschätzung aufgenommen würden.94 Daran sieht man, dass die beschriebenen Formen von Anerkennung bzw. Unterstützung nicht nur von einem ethischen Impuls abgeleitet sind, wie wir dies im Westen gerne idealisiert argumentieren. Nicht nur für Minderheiten bzw. Opfergruppen geht es um Identitätsbildung, sondern auch für die westlichen Akteure, die Anerkennung und Engagement stiften oder verweigern. Historisch fanden die orientalischen Christen vor allem bei christlichen Aktivist/inn/en verschiedenster Konfessionen im Westen Anklang, und man mag sich fragen, wie weit dieses Interesse nicht auch mit einer Projektion eigener religiöser Bedürfnisse nach Ursprünglichkeit und Spiritualität gepaart war und weniger einer Sensibilität für deren Andersartigkeit.95 Im Bereich der Politik heute ist beobachtbar, dass orientalische Christen in der Diaspora Fürsprecher in konservativchristlichen Parteien wie die CDU/CSU und ÖVP sowie nationalistischen 92 Ich habe hier auf die theoretische Weiterführung der Debatte zwischen Multikulturalismus und liberalen Universalismus und der damit verbundenen Frage, ob die Anerkennung von vergangenen Verbrechen und die damit einhergehende Bestätigung kollektiver Identitäten tatsächlich zufriedenstellend gelöst werden kann, verzichtet. Paul Ricoeur jedenfalls bezweifelte, dass solche Formen der »positiven Diskriminierung« letztlich ein tragfähiges Anerkennungsmodell wäre. Cf. Ricoeur, Anerkennung, 267–274. 93 Hoffner, Éradication. 94 Cf. dazu Nagel, Kreisverkehr, 73. 95 In diesem Sinne bei Heyberger, Compassion, 8.
„Sayfo continues today“ 167 Parteien oder Regierungen finden, die sich die Verteidigung des christlichen Abendlandes gegen eine »Islamisierung Europas« auf ihre Fahnen heften. Damit werden politische Unterstützung, Genozid- und Anerkennungsdiskurse immer auch vor dem Hintergrund politischer Kräfteverhältnisse und ideologischer Identifikationen verhandelt. Ob dies den Anfragen und Bedürfnissen orientalischen bzw. den syrischen Christen à la longue hilfreich ist, mag bezweifelt werden. 5 Danksagung Der Beitrag entstand überwiegend im Rahmen des Forschungsprojektes „Narrative der Diaspora – Orientalisches Christentum aus dem Nahen Osten in Österreich“, das durch Fördergelder des Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank (Projektnummer: 15.825) ermöglicht wurde. Ich danke Dorothea Weltecke und Dominik Giesen für kritische Kommentare, die in den Text eingeflossen sind, sowie dem Zentrum zur Erforschung des Christlichen Ostens (ZECO) an der Universität Salzburg, dass durch ein Forschungsstipendium im Jahr 2017 zur Fertigstellung dieses Beitrags mit beigetragen hat. Literaturverzeichnis Al-Abed, Tareq, “Syria’s Assyrians Threatened by Extremists”, Al-Monitor (28.04.2014), http://www.al-monitor.com/pulse/security/2014/04/syriaassyrians-threat-crisis.html (acc. 21.12.2015). Al-Tamimi, Aymann Jawad, “Syria’s Assyrians, Caught in the Middle”, The Daily Star (07.12.2012). Armbruster, Heidi, Keeping the Faith. Syriac Christian Diasporas, Canon Pyon 2013. Aschwanden, Erich, „Stoppt den Völkermord an den Christen“, Neue Zürcher Zeitung (01.10.2014). Assmann, Aleida, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. Assyrian International News Agency, ISIS Attacks Assyrian Villages in Syria, 4 Killed, Dozens Captured, Churches Burned (23.02.2015), http://www.aina.org/news/20150223174904.htm (acc. 21.12.2015).
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Boris Barth Der Sayfo im Rahmen der internationalen Genozidforschung Abstract: In the epilogue, the author discusses the contributions to this volume and classifies the Sayfo within the field of comparative genocide studies. Further, he points at various projections for further research on the Sayfo in perspective of comparative genocide studies. Wenn das viel zitierte Wort vom „vergessenen Völkermord“ auf ein bestimmtes Ereignis in der Geschichte zutrifft, dann auf den Sayfo. Aus Gründen, die bis jetzt noch nicht völlig klar sind, existiert das Wissen um diesen Genozid nur innerhalb der kleinen aramäischen bzw. syrisch-christlichen Gemeinschaft, sowie bei den Armeniern und anderen Opfern der jungtürkischen Genozide. Bei diesen Gruppen sind die Morde im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich sehr bekannt und präsent. Allerdings haben diese Christen bisher noch keine kohärente und allgemein akzeptierte internationale Erinnerungskultur herausgebildet. Dies hat sicherlich dazu beigetragen, dass selbst historisch interessierte Leser kaum etwas über diesen Völkermord wissen. Erst durch den Bürgerkrieg in Syrien und durch die Massenmorde des IS ist in Deutschland einer breiten Öffentlichkeit überhaupt bekannt geworden, dass es in Syrien und in einigen der angrenzenden Länder große christliche Gemeinschaften gab und gibt. In der vergleichenden wissenschaftlichen Genozidforschung, die in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren erhebliche Fortschritte gemacht hat, ist der Sayfo ebenfalls fast unbekannt. Dies zeigt ein beliebig ausgewähltes Beispiel: In dem Oxford Handbook of Genocide Studies, das eine extrem weite Definition von Genozid verwendet, Vollständigkeit anstrebt und Völkermorde bereits in der Antike verortet, tauchen weder die Opfer der Kirchen der syrischen Tradition, noch der Sayfo auf, obwohl sich ein ausführliches Kapitel mit den Verbrechen der Jungtürken im Osmanischen Reich befasst.1 Hier wird nur ganz am Rande erwähnt, dass der Genozid 1 Cf. Bloxham/Moses, The Oxford Handbook of Genocide Studies.
176 Boris Barth an den Armeniern nicht von der demographischen Politik getrennt werden kann, durch die auch Griechen, „Nestorianer“ [sic], syrisch-orthodoxe Christen, Tscherkessen und Drusen betroffen worden sind. Ein Abschnitt von 15 Zeilen befasst sich lediglich mit der Deportation von einigen so genannten „Nestorianern“ nahe der russischen Grenze im Jahre 1914. Auch wird angenommen, dass die Autoritäten in der Provinz die Anweisung erhalten hätten, syrisch-orthodoxe Christen anders als die Armenier zu behandeln.2 Diese Position ist im Lichte neuerer Forschungen nicht mehr haltbar und bezieht sich zudem nur auf sehr wenige regionale Quellen. Die Feststellung, dass der Sayfo bisher weitgehend ignoriert worden ist, soll kein Vorwurf gegen die beteiligten Historiker sein, die z.T. hervorragende Arbeiten zum Völkermord an den Armeniern und zur Geschichte des späten Osmanischen Reiches geliefert haben und liefern, sondern beschreibt eine simple Tatsache. Die vergleichende Genozidforschung ist zudem eine relativ junge Disziplin, in der Begrifflichkeiten und die Abgrenzung zu anderen Forschungsfeldern immer noch kontrovers diskutiert werden. Über die weiteren Gründe, warum nur so wenig über den Sayfo bekannt ist, kann zum jetzigen Zeitpunkt nur spekuliert werden. Einige Anhaltspunkte helfen aber vielleicht weiter. Sicherlich spielt eine wichtige Rolle, dass die aramäisch-sprachigen Christen niemals über einflussreiche pressure groups verfügt haben, die ihre Interessen in der Öffentlichkeit hätten wahrnehmen können. Eine veröffentlichte Meinung, an die sie sich hätten wenden können, existierte aber weder in der Türkei, wo die Regierung nach wie vor den Völkermord im Ersten Weltkrieg bestreitet, noch in Syrien, obwohl das Assad-Regime eine relativ liberale Religionspolitik betrieben hat. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstand zudem ein neuer freier Staat Armenien, dem ganz andere mediale Möglichkeiten zur Verfügung stehen, als den wenigen Christen mit syrisch-aramäischem Hintergrund, die in den westlichen Staaten lebten und leben. Bis zum Jahr 2014 haben die Christen der syrischen Kirchen auch keinen eigenen Gedenktag zum Sayfo begangen, sondern sie haben ihre Opfer meistens zusammen mit den Armeniern am 24. April geehrt. Während die 2 Cf. Kaiser, Genocide Twilight Ottoman Empire, 366 und 371–372.
Der Sayfo im Rahmen der internationalen Genozidforschung 177 Armenier damit zumindest in der westlichen Fachöffentlichkeit eine – wenn auch begrenzte – Präsenz zeigten, galt dies nicht für die anderen christlichen Gruppen, die ebenfalls im Verantwortungsbereich des Regimes der CUP massakriert worden sind. Zudem wird die archivalische Forschung zu allen Völkermorden im Osmanischen Reich immer noch durch ein grundsätzliches Problem behindert. Ein freier Zugang zu den entsprechenden Archiven ist für unabhängige Historiker nicht möglich. Außerdem besteht eine sehr hohe Sprachbarriere, verbunden mit einem Mangel an interdisziplinärer Kooperation. Viele Orientalisten, die die sprachlichen Möglichkeiten haben, die entsprechenden Quellen zu lesen, sind oftmals historisch nicht so interessiert oder verfolgen andere Fragestellungen, ein Umstand, der selbstverständlich völlig legitim ist. Wie für den Völkermord an den Armeniern gilt aber auch für den Sayfo: In den deutschen und in den österreichischen, aber auch in einigen US-amerikanischen Archiven existiert reichhaltiges Material, das bisher noch nicht oder nur im Ansatz gesichtet worden ist. In den Archiven weiterer Staaten, die im Ersten Weltkrieg neutral waren, aber Kontakte mit dem Osmanischen Reich hatten, dürften weitere Quellen vorhanden sein. Sehr wichtig sind aber besonders die deutschen, bzw. deutschsprachigen Schriftstücke: Deutsche waren im verbündeten Osmanischen Reich auf sehr vielen Positionen tätig und haben umfangreich an die deutsche Botschaft in Konstantinopel, an ihre Konsulate oder auch an diejenigen Organisationen im Deutschen Reich berichtet, für die sie tätig waren. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit handelte es sich um Offiziere und Soldaten, Ärzte und Krankenpfleger, Ingenieure, Bankiers, Geschäftsleute, Missionare, Archäologen oder um Wissenschaftler anderer Disziplinen. Die Erschließung dieser Quellen steht für den Sayfo noch ganz am Anfang. Die Stiftung für Aramäische Studien hat hier dankenswerter Weise Gelder zur Verfügung gestellt, mit denen eine unabhängige historische Forschung und eine erste Einordnung der deutschen Quellenkorpora ermöglicht werden soll. Das Ziel dieses hier vorliegenden Bandes besteht darin, ein erstes Zwischenfazit zu ziehen und einen vorläufigen Forschungsstand zu präsentieren. Hierbei werden sicherlich mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben, aber das dürfte ein legitimes Vorgehen sein. Die türkische Seite hat in der Vergangenheit stets behauptet, die CUP habe bei den Deportationen
178 Boris Barth seit 1915 lediglich auf die virulente armenische Unabhängigkeitsbewegung reagiert. Einige Bestrebungen nach Unabhängigkeit hat es zwar gegeben, sie spielte aber in der Realität keine wichtige Rolle, und die Aktivisten waren nach den Ereignissen von 1895/96 ohnehin sehr geschwächt. Zwar bestanden bei armenischen Intellektuellen einige Sympathien für das zaristische Russland, wo Armenier über größere Freiheiten verfügten als im Osmanischen Reich. Eine nationale Massenbewegung, die vor allem auch die Landbevölkerung erfasst hätte, hat es aber nie gegeben. Die Furcht vor einer angeblichen armenischen Unabhängigkeitsbewegung sagt mehr aus über die Paranoia der Jungtürken, als über die Realität. Das ohnehin sehr schwache Argument einer angeblichen armenischen Bedrohung, das schon lange im Kern widerlegt ist, wird nun vollauf entkräftet, zieht man den Sayfo als Vergleichsparameter heran. Eine nennenswerte Unabhängigkeitsbewegung der aramäisch-sprachigen Christen hat es nicht gegeben und kann es auch gar nicht gegeben haben, weil – anders als bei den Armeniern – nur sehr wenige und viel kleinere geschlossene Siedlungsgebiete existierten. Zudem begann – wie Tessa Hoffmann in diesem Band zeigt – das Morden an den Christen der syrischen Traditionen chronologisch bereits vor den Deportationen der Armenier. Dies ist ein Befund, der in der vergleichenden Genozidforschung viel stärker als zuvor aufgegriffen werden sollte. Die Jungtürken und einige lokale Machthaber schlachteten systematisch eine Bevölkerungsgruppe ab, die ihnen – selbst wenn sie gewollt hätte – in keiner Weise gefährlich hätte werden können. Über die Motive der jungtürkischen Führung und auch über die initiierende Verantwortung regionaler und lokaler Gruppen wie etwa kurdischer Clans ist noch bei Weitem nicht so viel bekannt wie erwünscht, und es besteht dringender Forschungsbedarf. Dies betrifft vor allem die Frage, ob hier Anfangs türkische Nationalisten regionale Freiräume nutzten, oder ob es wie bei den Morden an den Armeniern von Anfang an eine zentrale Steuerung durch das türkische Innenministerium unter Talat Pascha gegeben hat. Drei weitere Themen bzw. Problemkreise, die derzeit in der internationalen Genozidforschung intensiv diskutiert werden, spielten offenbar auch beim Sayfo eine Rolle. Erstens: Zwar versuchen die Täter zwar meistens die Morde geheim zu halten, dies ist aber bei einem Massenverbrechen dieser Größenordnung unmöglich. Genozid ist deshalb trotz aller
Der Sayfo im Rahmen der internationalen Genozidforschung 179 Zensurmaßnahmen und Abschottungen stets eine (halb-)öffentliche Angelegenheit. Eines der bekanntesten Beispiele aus dem Osmanischen Reich, an dem sich diese These belegen lässt, ist der deutsche Sanitätsoffizier Armin T. Wegener, der zahlreiche Fotografien von den armenischen Deportationszügen, von umherliegenden Leichen und von sterbenden Kindern fast ungehindert von den türkischen Autoritäten machen konnte. Dies gilt auch für die Shoah: Zwar waren die Details der Gaskammern in den Vernichtungslagern wohl der deutschen Öffentlichkeit kaum bekannt, dass die Juden im Osten aber in sehr großem Maßstab umgebracht wurden, konnte jeder wissen, der es wissen wollte. Auch der Genozid in Ruanda fand 1994 quasi vor laufenden Fernsehkameras statt. Diese (Halb-)Öffentlichkeit wird auch in dem Bericht von Ishaq Armaleh deutlich, der in diesem Band zum ersten Mal ausgewertet wird. Es muss auch bei den Morden an den Christen der syrischen Kirchen eine sehr große Zahl von Mitwissern und/ oder Zeugen gegeben haben, denn die Bemühungen um Geheimhaltung durch die Täter waren nicht sehr ausgeprägt. Dies leitet über zu einem zweiten Punkt, der bisher für das Osmanische Reich kaum erforscht worden ist, der aber ebenfalls zentral für das Verständnis des Sayfo sein dürfte. Wie vor allem Jacques Semelin schon vor einiger Zeit in einem einflussreichen Buch hervorgehoben hat, sind umfassende Massaker eine recht komplexe Angelegenheit. Es müssen eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt werden, bevor das Morden im großen Stil beginnen kann.3 Eine dieser wichtigen Voraussetzungen ist die Rolle der so genannten bystander. Gruppen von gewaltbereiten Paramilitärs, Milizen oder „Sondereinheiten“ lassen sich wahrscheinlich in jeder Gesellschaft rekrutieren. Diese können aber nur dann aktiv werden, wenn ein großer Teil der betroffenen Gesellschaft oder – wie im Osmanischen Reich – die Bewohner einer bestimmten Region diese Gewalt auch zumindest passiv dulden oder hinnehmen. Selbst das nationalsozialistische Regime brach die Euthanasie-Aktion zumindest offiziell ab, nachdem klar geworden war, dass sich in der deutschen Bevölkerung ein breiter und zunehmend aktiver Widerstand dagegen formierte. Wie die Rolle dieser bystander beim Sayfo einzuschätzen ist, lässt sich mit dem verfügbaren Material noch nicht beantworten. Indizien deuten aber 3 Cf. Semelin, Säubern und Vernichten.
180 Boris Barth darauf hin, dass die Morde an den aramäisch-sprachigen Christen von der übrigen Bevölkerung zumindest hingenommen, bzw. geduldet wurden, auch wenn Fälle von individueller Hilfeleistung bekannt sind. Bystander müssen noch nicht einmal mit den Morden sympathisieren, es reicht aus, wenn sie diese aus Furcht, aus Gleichgültigkeit oder aus Indifferenz hinnehmen. Auch über die Motive dieser bystander lässt sich bisher nur spekulieren. Habgier und der Wunsch nach persönlicher Bereicherung dürfte eine Rolle gespielt haben. Hinzu kam die Idee, eine potentiell konkurrierende politische oder nationale Gruppe endgültig ausschalten zu können. Ob und inwieweit religiöser Fanatismus ebenfalls vorhanden war, ist derzeit eine offene Frage, die dringend weiterer Forschung bedarf. Drittens fällt auf, dass den Tätern offenbar jedes Unrechtsbewusstsein fehlte. Auch dies ist typisch für genozidale Verbrechen. Häufig wird zur Rechtfertigung der Morde behauptet, einem höheren Zweck zu dienen oder eine (wenn auch wenig angenehme) historische Pflicht zu erfüllen. Heinrich Himmlers berühmt-berüchtigte Posener Rede, die er am 4. Oktober 1943 auf einer SS-Gruppenführertagung hielt, und in der er den Völkermord an den Juden, als eine Art von unvermeidlicher historischer Mission rechtfertigte, stellt hier den wahrscheinlich bekanntesten Fall dar.4 Im Falle des Sayfo ist die Frage des Unrechtsbewusstseins offen. In Opferberichten findet sich die Zuschreibung, die Täter seien einfach „böse“ gewesen. Doch greift dieser Erklärungsansatz, der aus der oft sehr begrenzten subjektiven Sicht der Betroffenen verständlich ist, im heutigen historischen Kontext deutlich zu kurz. Erklärungsbedürftig ist, warum gerade zu diesem bestimmten Zeitpunkt diese bestimmte Gruppe von Personen zur Anwendung extremer Gewalt bereit war. Auch der Hinweis auf die muslimische Religion der Täter kann nur begrenzt weiter helfen. In vielen islamischen Rechtsinterpretationen sind Zwangskonversionen verboten, wie sie aber offenbar während der Massenmorde häufig vorkamen. Auch der Schutz von Frauen und Kindern ist durchaus als religiöse Pflicht im Islam formuliert, vor allem, wenn es sich um Mitglieder der beiden anderen großen abrahamitischen Religionen handelt, die als „Schutzbefohlene“ besondere Rechte besitzen. Der Hinweis auf die Religion als alleinige Ursache der 4 Himmler, Geheimreden, 162–183.
Der Sayfo im Rahmen der internationalen Genozidforschung 181 Gewalt ist also zumindest aus der heutigen Perspektive nicht hinreichend. Ob und inwieweit auf der Täterseite immerhin mögliche religiöse Konflikte aufgetreten sind oder Diskussionen stattgefunden haben, bedarf ebenfalls eingehender weiterer Forschung. Genozidale Gewalt folgt häufig einer eigenen Logik, die rassistisch, ideologisch und in einigen Fällen auch religiös motiviert sein kann, auch ökonomische Interessen spielen häufig – wenn auch als primäre Motivation eher am Rande – eine Rolle. Diese Art von Gewalt tendiert, wenn sie einmal begonnen hat, zu einer grenzenlosen Eskalation, die sich systemimmanent oder systemkonform kaum aufhalten lässt. Ein einmal begonnener Genozid – zumindest zeigt dies die bisherige Erfahrung – kann nur von außen beendet werden. Den Tätern ist meistens vollständig bewusst, dass sie eine Grenze, eine rote Linie überschritten, bzw. unabhängig von ihrer Religion oder Kultur einen Tabubruch begangen haben. Genozidale Gewalt hat aber häufig auch eine sehr lange Vorgeschichte: Im Falle des Sayfo ist diese nicht wirklich klar. Das Argument, dass das zuvor erträgliche kurdisch-christliche Verhältnis im Zuge der Tanzimat-Reformen erheblichen Belastungen ausgesetzt wurde und schließlich in offenen Gewaltausbrüchen zerbrach, ist überzeugend. Zwischen den Tanzimat-Reformen und dem Völkermord im Ersten Weltkrieg liegen aber viele Dekaden. Zwar wurden Christen der syrischen Kirchen in dieser Periode zeitweise offen unterdrückt, aber Genozid unterscheidet sich grundsätzlich sowohl qualitativ als auch quantitativ von Repressalien. Bei den Massakern von 1894–96 ist auch eine unbekannte Zahl von Christen der syrischen Kirchen ermordet worden; die Details müssen noch intensiv erforscht werden. Inzwischen ist es – jenseits aller historischen Forschungskontroversen im Detail – beispielsweise für die Shoah, für den Völkermord an den Armeniern oder für den Genozid in Ruanda möglich, Zeitleisten zu erstellen, an denen eine wachsende Radikalisierung, mögliche Alternativen, Handlungsund Entscheidungszwänge oder die treibende Rolle einzelner Akteure oder Tätergruppen ablesbar sind. Dies gilt nicht für den Sayfo, auch in diesem Bereich steht die Forschung noch ganz am Anfang. Sie hat aber die produktive Möglichkeit, inhaltlich und methodisch Anregungen aus der vergleichenden Genozidanalyse aufzunehmen und weiter zu entwickeln.
182 Boris Barth Literaturverzeichnis Bloxham, Donald/Moses, A. Dirk (Hrsg.), The Oxford Handbook of Genocide Studies, Oxford 2010. Himmler, Heinrich, Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen. Mit 243 zum Teil unbekannten Bild- und Textdokumenten, hrsg. von Smith, Bradley F., Frankfurt/M et al. 1974. Kaiser, Hilmar, “Genocide at the Twilight of the Ottoman Empire”, in: Bloxham, Donald/Moses, A. Dirk (Hrsg.), The Oxford Handbook of Genocide Studies, Oxford 2010, 365–385. Semelin, Jacques, Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden, Hamburg 2007.